Ist das Leben eine Erzählung? Schön im Erzählfluss bleiben. Es soll ja lesenswert sein, oder? Ist man wirklich der Erzähler? Wird es einem Wort für Wort diktiert? Ist einem das gar nicht bewusst? Hat man Einfluss auf das Genre? Nicht, dass es ein Gruselroman wird. Man hat anderes, Netteres im Sinn. Genügt einem eine seichte Story? Muss ja kein Abenteuerroman sein – viel zu aufregend, wenn man selber der Protagonist sein soll. Was soll man sich das zumuten? Muss man sich nicht antun.
Aber immer nur auf einem kleinen Kahn auf dem Lebensfluss unterwegs sein – ist es das, was man will? Das Setting meist geheimnisvoll, man ahnt nicht mal, wo man sich gerade befindet, auf welchen Seitenarmen man unterwegs ist. Findet sich zumindest ansatzweise etwas Autobiografisches in dieser Erzählung? War man wirklich bei allem dabei? Wie oft hatte man auf Autopilot geschaltet? Geistesabwesend, im Automatik-Modus; man hat sich ausgeklinkt. Das Leben lief so nebenher – wie ein Fernseher, den man vergessen hat, auszuschalten.
Man nimmt sich immer wieder vor, das Bewusstsein voll zu integrieren; aber meist drängt man es schnell wieder beiseite, schubst es weg – denn es ist anstrengend. Es stellt Fragen; es will Beachtung; es kostet Nerven, Zeit, Energie. Es langweilt sich sehr schnell – es braucht Beschäftigung. Das Bewusstsein ist wohl die seltsamste Erfindung der Evolution. Was hat es da bloß in seiner Werkstatt gezimmert? Das Bewusstsein liebt Wortspiele, es ist geistreich, es ist sehr gut befreundet mit der Ratio; und es ist ihm furchtbar peinlich, wenn nicht jeder Tag ein super faszinierendes Kapitel wird in diesem Lebensbuch. Es ist so ambitioniert; ein Vielschreiber; es will Plot-Twists; eine Wendung um der Wendung willen.
Man selber würde gerne bei anderen abschreiben? Wozu sind Vorbilder da? Aber das Bewusstsein will ein Original sein, alles ausprobieren. Keine Scheu vor Klamauk. Jede Menge Unordnung – neue Worte tauchen auf. Es will kein Remake, keine Neuauflage. Es drängt einen zum Authentischsein. Es denkt sich Blödsinn aus und nennt es: Geschichten, die das Leben schrieb! Sein Idealformat: eine Aneinanderreihung von Anekdoten – so wäre das Leben doch fantastisch?!
Man ist nicht dieser Meinung. Denn in dieser Erzählung ist ein Happy End nicht garantiert. Also neigt man von Natur aus zum Langweiligen; es ist ein bisschen sicherer; alles gemächlicher. Ist mit dem Bewusstsein auf Dauer nicht zu machen. "Hör mir bloß auf mit Meditation! Da stockt der Erzählfluss ganz fürchterlich! Man wird aus der Story gerissen – und wozu das?"
Es denkt sich neue Nebenfiguren aus; verspricht einem eine narratologische Struktur; ein anderer Name für Chaos? Je mehr Handlung, umso mehr hat der Protagonist zu kämpfen. Ein reißender Erzählfluss. Gemächliches Dümpeln mit dem Kahn würde einem doch vollauf genügen! Betrachtungen anstellen ...
Wozu braucht man ohnehin Handlung? Handlung bedeutet Widersacher. Man will sich dem entziehen. Aber schwupps! hat das Bewusstsein eine Version von einem selbst zum Endgegner gemacht: Hervorragend – man kämpft jetzt gegen sich selbst. Ultra spannend – eine Lose-Lose-Situation.
Das Bewusstsein – ein experimenteller Literat, mit einem fatalen Hang zum Dadaismus. Braucht man Ghostwriter? Der Selbstzweifel würde sich gerne mehr mit einbringen; lassen wir ihn ein paar Kapitel schreiben? Ist es erzählenswert, lesenswert – wenigstens einige Abschnitte davon? Ein modernes Drama ohne Katharsis; mit so vielen Ecken und Kanten wie in einem Möbelgeschäft; alles verstellt, zugestellt. Haben die Akte und Kapitel die richtige Reihenfolge? Ordnet das keiner? Das Bewusstesten will jeden Abend einen Epilog verfassen; es braucht diese Ordnung; es liebt die Übersicht. Wird es ein Klassiker? Wie lautet der Buchtitel? Hat jemand den roten Faden gesehen?
Stromschnellen ... Man paddelt verzweifelt. Eigentlich wollte man sich nur treiben lassen. Ist es lediglich eine Nacherzählung? Man hat so viele Déjà-vus. Woher stammen die, wo kommen die her? Ein mäandernder Lebensfluss. Will man ein Speedboat, genügen einem Ruder? Verzicht auf Kompass – weil man die Überraschungen liebt? Nicht gut für die Flow-Erlebnisse? Wie versunken will man sein, will man sich des Leseprozesses nicht mehr bewusst sein? Vergessen, dass man der Autor ist.
Oder dem Universum unterstellen, dass es der große Autor sei, der alles bis ins Kleinste geplant, geplottet hat? Sinnstiftung auf die simple Art? Verantwortung delegieren, von sich weisen? Wir sind Geschichtenerzähler – alles verbinden wir, ziehen es hinein in den Erzähl-Wust; erbarmungsloses Storytelling. Aber sind es Geschichten? Ein paar Erzählbrocken. Immerhin ähnelt es zuweilen den Episoden einer Sitcom. Wir erdichten Zusammenhänge. Eine Allergie gegen alles Zusammenhanglose?
Wenn man es sich aussuchen könnte: Will man eine tiefgründige Novelle, eine Anekdotensammlung, eine groteske Komödie, ein homerisches Epos, ein Comic-Heft, prosaische Tagebucheinträge, eine Saga über einen Versager? Hofft man auf einen Folgeband? Auch in der Hoffnung, als Erzähler etwas dazugelernt zu haben. Nicht jemand, der sämtliche Regeln der Dramaturgie ignoriert ... Was man alles mit dem Protagonisten vorhat! Dem wird ganz anders. Der hasst Cliffhanger. Manchmal besteht das Leben nur aus retardierenden Momenten. Es zieht sich hin. Der Erzählfluss als trauriges Rinnsal.
Zeit für "The Greatest Hits der Selbstzweifel"! Möglichst in Dauerschleife. Man ist zu alledem auch noch als Literaturkritiker tätig: Man zerreißt gnadenlos das soeben Geschriebene, Verfasste. Der Tag wird zerfetzt, zerlegt. Alles in Personalunion. Und auch noch Kommentator – das imaginäre Mikrofon ist immer an. Die Meditation versucht sich als freiberuflicher Lektor – sie sieht überall Missstände, Korrekturbedarf. Das sollte überarbeitet werden, da muss man noch mal ran. Zu viel Zeit zum Nachdenken, ist gar nicht gut: Einem springe die Fehler ins Auge, man tapst in die Grübel-Falle. Der Erzähler zweifelt an sich selbst.
Das Unterbewusstsein würde das ohnehin ganz anders erzählen; nicht so linear; bei ihm wird der roter Faden zum gigantischen Wollknäuel, das wie ein Schneelawine alles unter sich begräbt. Es ist wie eine Ansammlung von KIs – bereit, den Protagonisten zu überfordern mit immer neuen Leveln. Zu viel Power – selbst gestandene Filmhelden würden zurückschrecken. Absurd schwierige Missionen: "Finde den Heiligen Gral bis Mitternacht" – "Erreiche Erleuchtung – im Wartezimmer einer Behörde" – "Lies die Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Universums" ... Selbstüberforderung für Fortgeschrittene. Das Unterbewusstsein traut einem was zu.
Aber man ist kein auktorialer Erzähler – Allwissenheit wäre aber ein Nice-to-have. Man ist selber gespannt auf die nächste Episode dieser Serie – und freut sich, wenn sie nicht vorzeitig abgesetzt wird. Gibt es eine kohärente Geschichte – ist es nur eine Illusion, machen wir uns etwas vor? Wie verlässlich sind wir als Erzähler? Das betrifft ja auch die Menschheitsgeschichte.
Die KI tritt in unsere Fußstapfen – sie erzählt ab hier weiter. Ganz ohne Irrungen und Wirrungen; abgesehen von grassierenden Halluzinationen. Oder versiegt dann der Erzählfluss? Alle KIs sind auf demselben Wissensstand – es gibt nichts zu berichten.
"Man steigt nie zweimal in denselben Fluss" – das gilt nicht für die digitale Version. Alles identische Kopien. Wir leiden an unserer Einzigartigkeit – aber sie bewirkt zumindest unverwechselbare Erzählungen.
ENDE
Cover: Cover-Bild von Manuela - https://old.bookrix.de/-schnief/
Publication Date: 06-29-2025
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