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Interview mit dem Missverständnis

Moderator: "Heute bei uns zu Gast im Studio: das Missverständnis! Kein gern gesehener Gast in der Historie?"

 

Missverständnis: "Ich habe viel Gutes bewirkt. Mein Portefeuille in den Wissenschaften ist vorzeigbar. Aber viele Katastrophen gehen auf meine Kappe. Es kommt ja auch auf die Einstellung an: Sitzt man wirklich auf dem falschen Dampfer? Das neue Ziel bietet womöglich bessere Möglichkeiten? Irrungen und Wirrungen sind wie Friends with Benefits."

 

Moderator: "Der Vergleich hinkt."

 

Missverständnis: "Das tun meine Vergleiche immer."

 

Moderator: "Sollte man Missverständnisse aus der Welt schaffen? Sie ausräumen? Oder missverstehen wir Dein Anliegen?"

 

Missverständnis: "Ich missbillige ja meist selbst meine Auftritte. Gott, was bin ich peinlich! Der Zufall eilt mir oft zu Hilfe, er rettet die Situation. Gemeinsam ist uns viel Schönes gelungen. Zum Beispiel: Thomas Sullivan verschickte Tee-Proben in Seidenbeuteln. Die Empfänger warfen diese versehentlich mitsamt Beutel ins heiße Wasser und erfanden so unbeabsichtigt den praktischen Teebeutel. Die Erfindung des Mikrowellenherds: Ein Ingenieur bemerkte zufällig, wie ein Schokoriegel in seiner Tasche schmolz, während er mit Radarstrahlen arbeitete. Geburtsstunde der schnellen Küche. Champagner: Dom Pérignon versuchte eigentlich, das Blubbern aus dem Wein zu entfernen, was nicht gelang. Zum Glück, denn sonst hättet Ihr heute keine prickelnden Momente bei Feiern. Soll ich weitermachen?"

 

Moderator: "Das alles ist ja eher das Verdienst des Zufalls."

 

Missverständnis: "Teamwork. Demnächst veröffentliche ich mein Buch 'Die schönsten Zufälle der Geschichte'."

 

Moderator: "Fehleinschätzungen sind häufig. Man will sich zu etwas überreden, was einem im Grunde gar nicht zusagt. Nach einem Semester Jura war mir klar, dass ich unbedingt umschwenken musste auf etwas Geisteswissenschaftliches. In höherer Dosierung hat Jura etwas Geisttötendes."

 

Missverständnis: "Jura ist was für Dinosaurier. Ich behaupte, dass Ihr vor allem durch mich zu dem geworden sei, was Ihr seid: Nutznießer der Kreativität! Missinterpretationen, vom rechten Weg abkommen ... Alles halb so wild, wenn man wild auf Erkenntnis ist: Man sät gewissermaßen auf dem Feld des Zufalls. Und auch wenn man auf dem falschen Dampfer sitzt: Wenn es ein Vergnügungsdampfer ist – genießt die Fahrt!"

 

Moderator: "Kommen wir zu Deiner Schattenseite. Unaufgeklärte Missverständnisse sind verantwortlich für einen Haufen zerstörter Ehen."

 

Missverständnis: "Soll ich jetzt schuldbewusst dreinblicken? Ich erzähle lieber eine lustige Anekdote über Napoleon und seine Kaninchenjagd: Er wollte eine Feierjagd veranstalten. Die Organisatoren setzten zahme Stallkaninchen aus – die rannten auf ihn zu, weil sie Futter erwarteten. Ergebnis: Der Kaiser wurde von Kaninchen überrannt. Ist doch funny!? Oder die Mars Climate Orbiter Katastrophe 1999: NASA und Lockheed-Martin verwendeten unterschiedliche Einheiten. Zentimeter sind nicht gleich Inches. Resultat: die 327-Millionen-Dollar-Sonde verglühte. Der Mauerfall 1989: Günter Schabowski verkündet auf Nachfrage unbeabsichtigt, die Grenzen seien 'sofort' offen. Tausende DDR-Bürger nehmen ihn beim Wort, und die Geschichte nimmt ihren Lauf: Ein Missverständnis öffnet die Berliner Mauer schneller als gedacht."

 

Das Missverständnis sieht selbstzufrieden aus.

 

Moderator: "Mangelt es uns an Achtsamkeit? In das Juweliergeschäft meines Onkels wurde bei einbrechender Dämmerung eingebrochen: mit einem super lauten Presslufthammer. Die Nachbarn haben sich nichts dabei gedacht; keiner hielt es für nötig, die Polizei zu alarmieren. Es ist eine Wohngegend. Geräusche falsch zuordnen, etwas überhören, gedankenlos sein: Davon zehrst Du ja letztendlich."

 

Missverständnis: "Ich weiche mal geschickt aus. Die Entdeckung der Kartoffelchips – aus kulinarischem Trotz: Ein Koch ärgerte sich, weil ein Gast die Kartoffeln zu dick fand, und schnitt sie aus Trotz hauchdünn. Das machte ihn zum Erfinder der beliebten Chips. Voilà! – Ja, von so etwas zehre ich. Man muss an das Gute an sich glauben, auch wenn man rund um sich herum nur Chaos anrichtet. Oder der Post-it-Zettel – schwacher Kleber, starkes Ergebnis: Ein Wissenschaftler versagte dabei, einen starken Kleber herzustellen. Das schwach klebende Ergebnis wurde zu den weltberühmten Post-it-Zetteln. Solche Erinnerungen haften bei mir. Damit fühle ich mich nicht ganz so miserabel."

 

Moderator: "Mangelnde Vorbereitung bereitet den Boden für Fehleinschätzungen. Ich wollte in Norwegen in den Flüssen und Seen angeln – hatte aber keinerlei Ahnung. Die Fische haben sich aber durchaus interessiert meine Angel und die Blinker angeschaut; sie haben das geradezu studiert, fachmännisch eingeschätzt. Anbeißen, warum? Moral von der Geschichte: Man muss der Welt die richtigen Köder anbieten; sie zu blenden, reicht wohl nicht."

 

Missverständnis: "Ich liebe die Frage 'Ob das wohl gut geht?'. Da spüre ich doch, dass mein großer Auftritt kurz bevorsteht. Das Kribbeln, die Aufregung ... Das sind so meine Stichwort-Sätze: Vertrau mir! – Ich kenn mich da aus. – Das sieht stabil aus. – Ich hab ein YouTube-Tutorial gesehen. – Wir improvisieren einfach! – Wie schwer kann das schon sein? – Ach, das passt schon. – Das haben wir immer so gemacht. ... Ich könnte stundenlag fortfahren! Da kommen Erinnerungen hoch. Sich Zeit nehmen für Pannen, ihnen Aufmerksamkeit schenken. Ich habe hier einen Sticker: 'Warum Pannen verbannen?' Willst Du einen?"

 

Moderator: "Im Skiurlaub hatte ich bei meinen Skiern keine Skibremse oder Fangriemen. Ich ahnte nichts von Ihrer Tal-Sucht. By the way: In Skischuhen größere Strecken zu gehen, sollte man vermeiden. Man stampft durch die Welt wie ein müder Elefant. Ist ja oft so, wenn man sich einem neuen Hobby zuwendet: sehr viel Unkenntnis trifft auf Begeisterung."

 

Missverständnis: "Ideale Arbeitsbedingungen für mich! In der Bibel heißt es oft: 'Wer Ohren hat zu hören, der verhöre sich!' Eine deutliche Aufforderung, die Fantasie mitwirken zu lassen – die Sinne nicht alleine entscheiden zu lassen über das Wahrzunehmende! Irrtümer sind mein täglich Brot."

 

Moderator: "In einem Restaurant bei Stuttgart kühn die Tagesspezialität verlangt; ganz auf großer Herr machen. Serviert wurde mir etwas absolut Ungenießbares: War es flüssige Wurst? Die Füllung läuft aus, sucht sich ihren Weg auf dem Teller. Nennen wir es 'Wurst im Überraschungszustand'? Filet-Massaker im Naturdarm. Hausgemachte Füllwurst nach Art des Hauses – niemand weiß, was drin ist. Matschig, seltsam. Tagesmotto: 'Explodierende Wurst'? Ein Zombie-Fleischbrei? Die Wursthülle gibt beim Schneiden kaum nach.  Unerwarteter Widerstand. Ein größerer Wurstunfall? Eine Fusions-Spezialität? Wurst neu interpretiert – sehr avantgardistisches Experiment? Fleischbrei ohne Halt und Beilage."

 

Missverständnis: "Das Französische bietet ganz wundervolle Momente des Schreckens. Verführerische Gerichte.

Boudin de l’incertitude sur lit de regrets: Blutwurst der Ungewissheit auf einem Bett aus Bedauern.

Crêpe mystère au goût changeant: Mysteriöser Pfannkuchen mit wechselndem Geschmack.

Tarte fine aux pensées de la veille: Zarte Tarte mit den Gedanken von gestern.

Apropos: Tarte Tatin – ein Missgeschick à la française. Die französische Köchin Stéphanie Tatin vergaß den Teig, legte ihn aus Panik einfach obendrauf, und erfand so den französischen Dessertklassiker. – Schwelgen in Erinnerungen."

 

Moderator: "Aber es gibt ja auch die fatalen Fehler. Die 'Kriegserklärung' von Pearl Harbor von 1941: Die Japaner wollten den USA vor dem Angriff eine offizielle Kriegserklärung überreichen – doch wegen Übersetzungsproblemen und Bürokratie kam das Schreiben eine Stunde zu spät. Resultat: Statt Kriegsehre gab's den Ruf des heimtückischen Angriffs."

 

Missverständnis: "Ich kann das toppen. 'No comment' auf Japanisch: Als japanische Diplomaten 1945 'mokusatsu' – 'keine Stellungnahme' – sagten, wurde es von den Amerikanern als 'würdelose Ablehnung' übersetzt. Folge: Hiroshima. Die verschiedenen Bedeutungsebenen einer Übersetzung. 'Mokusatsu' kann bedeuten: ignore, take no notice of oder treat with silent contempt. Auf Deutsch also: ignorieren, nicht beachten oder mit stummer Verachtung behandeln. Die Feinheiten sorgen dafür, dass es manchmal unfein wird."

 

Moderator: "Bei einer Bergtour in Österreich, in Tirol, konnte nur die Aussicht auf ein Bier meinen Vater dazu bringen, diese Mühsal auf sich zu nehmen. Er wollte immer wieder umkehren – während wir Kinder das eher als Spaziergang empfanden. Mit Wanderstock, die Mädchen und Frauen trugen Dirndl. Kurze Lederhosen für uns. Schöne Kraxelei. Drei Stunden später herbe Enttäuschung: Die Gaststätte dort oben hatte zu. Selten war mein Vater so enttäuscht – von der Welt, vom Dasein. Ein nicht vorhandener Köder. Wieder mal. Lehre fürs Leben: Das Lockmittel sollte unbedingt in ausreichender Menge zur Verfügung stehen."

 

Missverständnis: "Ich enttäusche von Berufs wegen. In die Irre leiten ... Ich habe ein Ohr für all die Missverstandenen. George Bernard Shaw meint: 'Das größte Problem in der Kommunikation ist die Illusion, sie hätte stattgefunden.' Paraphrasierung wäre wichtig: mit eigenen Worten das Gehörte wiederholen. Oder spielen wir alle 'Stille Post'? Flüsterpropaganda wäre ganz in meinem Sinne. Oder 'Flüster-Panda' wie der Schwerhörige sagen würde."

 

Moderator: "Bei 7000 Sprachen ist die Chance für Missverständnisse und Fehlübersetzungen recht hoch. Ich habe das Gefühl, Dein Geschäft läuft gut."

 

Missverständnis: "Ich hasse es, wenn Leute diesen Hinweis verwenden: 'Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ...' Doch! Wir wollen Dich missverstehen! Errare humanum est. Aber Ihr müsst das auch regelmäßig praktizieren! Wunderbares Versteckspiel mit Worten: Was ist gemeint? Spielen Politiker zu gerne. Die besten und ergiebigsten Streite beruhen auf einem Missverständnis. Nicht nur in Filmen: herrliches Kuddelmuddel. Ich warne vor Aussprachen, klärenden Gesprächen. Ihr wollt mir entgegentreten? Übt Denkfehler. Führt Eure Ratio im Kreis. Ich sehe mich als Longenführer. Ich werde Euch noch lange longieren."

 

Moderator: "Das ist ganz wunderbar! Man kann Missverständnisse hervorragend für eigene Zwecke nutzen. Vom Kartoffelkönig zum Pommes-Kult: Friedrich der Große ließ Kartoffelfelder von Soldaten 'bewachen', damit die Bauern glauben, die Knolle sei wertvoll. Psychologischer Erfolg. Heute: Weltkult-Snack."

 

Missverständnis: "In diesem Zusammenhang muss ich mich bei der Serendipität bedanken. Den Zufall geschickt nutzen; was einem so zufällt. Man braucht etwas, womit man es auffängt, dann kann man damit etwas anfangen."

 

Moderator: "Kann ja auch ein Nachteil sein, wenn man immer klar verstanden wird. Kein Interpretationsspielraum. Wie sollen einem so rhetorische Ausweichmanöver gelingen? Immer flexibel bleiben, immer offen für Mehrfachdeutungen. Schwebende Existenz der Sätze. Völlige Unbekümmertheit gegenüber den Fakten. Wobei die Tragfähigkeit der Argumente nicht unwichtig ist; wie belastbar ist das? Mein Cousin hat am Meer ein Sinker Board verwendet zum Windsurfen. Als er weit draußen war, ließ der Wind nach; und er kam in echte Not. Dann lieber ein großes, schweres, stabiles Board wie mein HiFly 444. Etwas behäbig – aber es trägt einen zuverlässig. – Ich hoffe, wir haben jetzt ein besseres Verständnis für das Missverständnis. Grüß den Zufall und die Serendipität. Wir bitten das Publikum um eine kurze Paraphrasierung des Gehörten.

 

ENDE

 

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Publication Date: 06-08-2025

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