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Monolog der Vergangenheit

Die Vergangenheit darf ein Gedicht schreiben; soso.

Heutzutage darf sich ja jeder äußern.

Meist kennt Ihr mich nur aus Euren Erinnerungen.

Da bin ich verzerrt, entstellt, verschleiert –

oft vergoldet oder geschwärzt.

Jetzt also ein Live-Auftritt.

Ich mute mich der Gegenwart zu.

Vermutlich eine Zumutung.

 

Alles veraltet ...

Fühle mich jetzt schon wie ein Zombie.

Warum bin ich nicht ganz passé?

Man will mich aufarbeiten, mich bewältigen,

man will sich mit mir auseinandersetzen.

Na gut, hier bin ich.

 

Sagt doch einfach: "Der Drops ist gelutscht!"

Alles ad acta gelegt.

Aber nein, Ihr zerrt an mir, wollt mich umgestalten.

Ich soll Euch zuliebe Verrenkungen anstellen.

Ihr nennt es Präsentismus:

Ihr messt mit dem Gegenwarts-Maß;

vermesst mich damit.

Wie vermessen!

 

Soll ich mich wegducken unter Eurem Blick?!

Ihr zerpflückt die Historie,

über alles rümpft Ihr die Nase.

Wie soll mir denn dabei zumute sein?

Eine Stufe überm Müll?

Das bin ich für Euch?

 

Aber auch Euren Altar der Gegenwart wird es treffen:

Verwandelt in Altlast.

Die Zukunft wird nicht zimperlich mit Euch umgehen.

Ich verwahre Echos; ein Echo-Verwahrer.

Ich sende Wellen in die Gegenwart –

das ist wohl meine eigentliche Aufgabe.

 

Als Vergangenheit erhält man nicht viel Medienecho.

Ich bin nicht aktuell.

Man überlässt mir ein Prosagedicht;

da soll ich mich austoben.

Seltsames Reservat.

 

Ihr fürchtet die Schatten der Vergangenheit.

Ich kann nichts dafür, dass ich so belastend bin.

Andererseits soll ich Euer Mentor sein,

ich soll Lehren für Euch haben.

Aber Ihr verachtet mich.

Das Nachfolgende ist zugleich auch immer das Bessere?

 

Ich bin unbequem.

Ich bin jemand mit Vergangenheit.

Von zweifelhaftem Ruf.

Ein Echo, das man übertönt mit Spektakel und Lärm.

Das ganze Jahr über Silvester-Krach:

Die Vergangenheits-Geister ängstigen Euch.

Sie suchen Euch heim.

 

Ihr sagt: "Die Angelegenheit ist abgeschlossen",

und dennoch schließt Ihr sie

bei nächstbester Gelegenheit wieder auf;

nur um nachzuschauen,

ob das Vergangene wirklich tot ist?

 

Ich habe wohl einen Zombie-Charakter.

Zum Seienden gehöre ich nicht.

Ich bin nicht Teil davon.

Das Sein steuert auf die Zukunft zu.

Ich bin die sterbende Zeit, das Abgelebte.

Dennoch das Fundament, die Plattform,

auf der die Gegenwart ihren kurzen Auftritt hat.

Sie ist ganz im Griff des Seins, ergriffen von ihm.

Ich bin da freier.

Es nötigt mich zu nichts.

Es verliert sein Interesse an mir –

wie ein Hund, der das Wild nicht mehr wittert.

 

Ich treibe weg vom Sein –

und dennoch werde ich von ihm angezogen;

besonders durch Euer Interesse.

Nett, dass Ihr so viele Erinnerungen an mich habt.

Manchmal sind es Fälschungen;

aber gibt es mich als Original?

 

Eventuell sollte ich mehr

mit der Gegenwart zusammenarbeiten, ihr helfen?

Aber ihr gehört die Show.

Ich will mich nicht aufdrängen.

Meine Tricks haben nicht funktioniert.

Soll sie ihr Glück versuchen.

 

Dennoch freut man sich,

wenn man als Berater hinzugezogen wird.

Eine persönliche Frage: Hat je jemand

Lehren aus der Vergangenheit gezogen?

Was Vernünftiges?

Ein Teich, in dem man nur alte Stiefel angeln kann –

so fühle ich mich an schlechten Tagen.

 

Was hätte ich anzubieten,

wo verwahre ich die Highlights, die Premium-Ware?

Ich müsste das besser sortieren;

Schaufenster wären gut.

Den Gammel wegsperren –

und das Vorzeigbare kommt in die Auslage.

Das wäre ein vernünftiges Konzept.

Ich mach mir was vor: Ich habe nichts Modernes,

nur Moderndes.

Stolz auf den Verfall?

Geister wohnen bei mir.

Abfallprodukte des Seins.

 

Manche leben in der Vergangenheit –

Nostalgiker & Co.

Fast so etwas wie Stammgäste.

Mit was bewirte ich sie?

Ich befürchte, es ist alles schal.

 

Abgelegte Tage – ich verwahre sie

wie eine monumentale, monströse Garderobe.

Tage, die man bei mir abgegeben hat.

Passt gut auf Eure Garderobenmarken auf!

So findet Ihr Eure Lieblingstage wieder;

ich händige Euch zumindest ein Replikat davon aus.

Ein geschickter Nachbau –

dafür haben wir Werkstätten.

Gedanken als Rohstoff.

Gedanken sind ein vorzügliches Baumaterial.

Ich frage mich, ob das Sein selbst

es für seine Zwecke verwendet.

 

Manche Tage wirken ohnehin

wie Kopien oder Raubkopien.

Ich habe es selten mit einzigartigen Tagen zu tun.

Ich staple sie übereinander,

bin eventuell etwas zu unachtsam

mit dem Gros der Tage.

Beichte, Reue – darüber brüten,

was man falsch gemacht hat:

Die Vergangenheit ist der ideale Ort dafür.

Nur nicht schüchtern!

Spart nicht mit Selbstvorwürfen.

Ihr habt ein unglaubliches Talent

für Fehler und falsche Entscheidungen.

Ich kann Euch ein Abo für Gewissensbisse anbieten.

Kurse: "Trübsal blasen für Fortgeschrittene"

und "Wie wird man zum Schatten seiner selbst?".

Ärger im Selbststudium – oder mit Anleitung?

 

Die Vergangenheit

als Land des unbegrenzten Bedauerns.

Im Lesesaal gibt es aber auch Erbauliches.

Bände mit einem bunten Einband:

Da verwahren wir

die erfreulichen Erinnerungen und Eindrücke.

Meist werden aber die

mit dem schwarzen Einband verlangt.

 

ENDE

 

Imprint

Publication Date: 06-01-2025

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