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Überraschungen

Werden Überraschungen einem rasch über? Ein überraschungsarmes Leben hat was Geisttötendes. Das Bewusstsein will Veränderung, Unvorhergesehenes – da wird es wach, es übernimmt das Steuer. Vorher: auf Autopilot. Man ist nicht wirklich wach ohne Überraschungen.

Erwartungen, die sich nicht erfüllen: Das Bewusstsein will seine Challenges. Das ist das Neue im Universum: Überall sonst geht es um den niedrigsten Energiezustand. Den Ball flach halten, elegant über die Runden kommen. Das Bewusstsein ist ein Problemlöser; es wird gerufen, wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie sollten.

Überraschungen sind ein Training fürs Bewusstsein – es kommt in Form, es entwickelt Strategien ... Und damit beginnt ein Dilemma: Immer mehr kann an das automatische System überantwortet werden. Das Bewusstsein steht nach und nach ohne Aufgaben da – es muss sich umsehen ... Es ist von Natur aus ein Problembesessener; Probleme sind seine Sparringspartner. Nur raus aus dem müden Milieu, dem alltäglichen Tran.

Eine Portion Dopamin, wenn man bloß was überraschend Erfreuliches ahnt, vermutet. Das Einerlei lässt das Bewusstsein in sich zusammensacken. Ist es so infam, dass es sich sogar kleine Katastrophen herbeisehnt, sie selber fabriziert – um sich sodann als Problemlöser in Szene setzen zu können? So wie ein Hund sich selber einen Ball oder einen Stock werfen würde – wenn er könnte? Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis tanzen. Man hat direkt Angst, laut zu äußern, dass alles paletti ist, dass die Dinge bestens stehen. Bewusstsein hört mit; es plant Gegenmaßnahmen. Seine Mission ist es ja, mit Ungewohntem, Unvertrautem fertig zu werden. Es wird magisch angezogen von allem Unbequemen, Leidigem. Das ist sein Revier, da kann es zeigen, was in ihm steckt beziehungsweise in was die Evolution da investiert hat.

Unverhofft kommt oft – vermutlich, weil das Bewusstsein es so eingerichtet hat; es lädt alle Probleme als Hausgäste ein, alle sind willkommen; je skurriler und ausgefallener, umso lieber. Bis man sich an die guten Tage mit dem Autopiloten zurücksehnt. Das war entspannend ... Aber das Bewusstsein misstraut dem Chillen; es zerrt neue Probleme herbei – seine neueste Beute. So wie eine Katze tote Vögel anschleppt und einem stolz zu Füßen legt. Sein Motto: Erst wenn man erledigt ist, ist alles erledigt.

Das Bewusstsein kann stressen; es ist zuweilen wie ein extrem nerviger WG-Mitbewohner. Voll auf Stress aus, Rumstressen ist angesagt. Alle im Universum wollen Siesta machen, sie wollen Ruhe, man folgt den gewohnten Bahnen – aber das Bewusstsein schert aus, kümmert sich einen Dreck um die Energiegesetze; es versprüht Vitalität. Lebensenergie, als wäre es Konfetti. Helau! Sehr freigiebig mit den Ressourcen.

Selbst völlig abwegige Rätsel findet es hochinteressant; ultra-abstrakte Dinge faszinieren es; man kann sich daran herrlich austoben. Wie ein Kauknochen für Hunde. Selbst wenn der schon völlig abgenagt ist – das ist alles besser, als zurück in die Hundehütte zu müssen zum inneren Schweinehund.

Das Bewusstsein will was erleben – und das geht nur, wenn man es ruft: so wie einen Dschinn, einen Flaschengeist. Es ist angewiesen auf den Meister, dass es befreit wird, dass es Wünsche erfüllen kann. Es gehört gar nicht so sehr der materiellen Welt an; es durchdringt alles mit Leichtigkeit. Fantasie und Kreativität sind seine besten Werkzeuge: das Vorstellungsvermögen, die Gabe vorauszudenken, zeitungebunden agieren zu können ... Es bewegt sich auf der Zeitskala wie ein hyperaktiver Zeitreisender. Springt von einem interessanten Zeitpunkt zum nächsten oder übernächsten.

Überraschungen sind sein Lebenselixier. Kostbarer Trank. Wertvoller als der Zaubertrank für die Gallier. In einer überraschungsarmen Welt hätte das Bewusstsein kein Existenzrecht, keine Überlebenschance. Es würde dahinkümmern. Ein Schatten seiner selbst. Wir wären so etwas wie Automaten-Zombies. Über sich hinauswachsen – das geht nur mit einem hellwachen Verstand.

Ist unsere Welt bereits zu verplant – gefährdet das das Existenzrecht des Bewusstseins? Man scrollt sich durch seine Lebens-Timeline. Man klickt, man nickt – aber man checkt nichts mehr? Überregulation ist Gift fürs Bewusstsein: Man signalisiert ihm, dass es nicht gebraucht wird, es bleibt untrainiert, es siecht so dahin. Es siegt aber gern; es will das Unerwartete – so wie ein Kind seine Geburtstagsgeschenke erwartet. Überraschungen sind ein Geschenk fürs Bewusstsein. Neue Daten sind gerade reingekommen, man muss was neu berechnen. "Lasst mich mal ran", meint das Bewusstsein siegessicher.

Es hilft uns unberechenbar zu sein, zu agieren: als Schachspieler oder Fußballspieler wäre es fatal, wenn man vorhersehbare Spielzüge macht. Einem Gespräch oder einer Story überraschende Wendungen geben können ... Das Bewusstsein führt einen steten Kampf gegen die Langeweile. Sie ist beinahe sein Erzfeind. Dem Phlegmatiker ist das alles gar nicht recht: Er will doch bloß seine Ruhe haben. Derweil übt das Bewusstsein: Es geht in Gedanken Schreckensszenarien durch, es fantasiert, es ist ein Strategie-Weltmeister. Der Phlegmatiker gibt sich auch mit einem Überraschungsei zufrieden – mehr Abwechslung ist gar nicht nötig.

Das Universum wirkt wie ein Autor, der seine Leser nicht langweilen will: jede Menge erstklassiger Plot Twists. Plötzlich ist alles anders, als gedacht. Reframing. Das Weltbild ändert sich in jedem Kapitel. Das Setting bekommt was Ungewohntes. Selbst das Vertrauteste offenbart plötzlich seine Geheimnisse. Das Bewusstsein heißt das gut; es ist ein Detektiv, ein Ermittler, ein Spürhund, ein Fanatiker, wenn es um Rätsel geht. Was hat sich die Evolution da bloß angelacht?

Unseren täglichen Plot gib uns heute. Sonst werden wir zum Bot. Wir brauchen Handlung, Verwicklung, Drama. Am schönsten ist es, wenn man sich selber überrascht. Man ist doch kein ausgelesenes Buch, kein Remake einer Serie. Originell sein, original – und erstaunlich problematisch. "Das muss kein Nachteil sein", meint das Bewusstsein. Irgendwie ist das tröstlich.

 

ENDE

 

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Publication Date: 10-03-2024

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