Moderator: "Dank unseres Gemälde-Aktivators können wir auch direkt mit berühmten Gemälde-Figuren sprechen. Heute bei uns zu Gast im Studio: 'Das Mädchen mit dem Perlenohrring'. Oder soll ich sagen: 'mit dem Perlenohrgehänge'?"
Turban-Mädchen: "'Das Mädchen mit dem Turban' wäre auch okay. Was zeichnet einen aus? Sind es Accessoires, die mein Wesen bestimmen? Ich wage es nicht, meine Perlenohrringe abzunehmen. Sie bilden den Mittelpunkt meiner Existenz."
Moderator: "Du bist Dein Leben lang einen dunklen Hintergrund gewohnt. Wie ist es für Dich, ein anderes Framing zu erleben? Wie gefällt Dir das Real Life?"
Turban-Mädchen: "Ich bin ans Statische gewöhnt. Unbeweglichkeit. Sich betrachten lassen. So tun, als ob man sich ganz dem derzeitigen Bildbetrachter zuwendet; Interesse heucheln. Eingefrorene Bewegung: hinwenden, abwenden – dennoch keine Unentschlossenheit. Ein fragender Blick. Eine Aufforderung: Kommst Du mit? What's up? Als Gemäldefigur genügt das, es ist ausfüllend. Das Real Life ist fordernder. Da sitzt einem ein neugieriger Moderator gegenüber, der einen intensiver durchleuchten will als die Röntgen-Scanner. Mit Fragen den Kern des Ichs offenlegen. Was bleibt, wenn man allzu genau hinschaut? Wie bei meinem Perlenohrring: Er wirkt nur aus der Distanz echt. Dennoch ist man erpicht darauf, ganz nah ran ans Ich zu zoomen; es verflüchtigt sich alles; durch keine Illusion mehr zusammengehalten. Atomisierung, Sprengung Deines Sein-Konzeptes."
Moderator: "Erinnerst Du Dich an Jan Vermeer? Für Dich ist er ja so etwas wie ein Gott. Uns geht es auch so: Wir versuchen, uns daran zu erinnern, wer das Weltall gemalt hat mitsamt allerlei Beiwerk. Man ist letztlich Staffage ... Du aber hast einen eigenen Rahmen für Dich, Dein eigenes privates Universum. Du wirkst immer so, als ob Du allen die kalte Schulter zeigen würdest, trotz Deiner Aufforderung, Dir ins Bild zu folgen. Wie bei der Mona Lisa: gefangen im Widersprüchlichen, schwer deutbar. Man nennt Dich die 'Mona Lisa des Nordens'."
Turban-Mädchen: "Ein gutes Bild braucht Faszinationskraft. Jan Vermeer spendierte mir Ultramarin. Extrem teuer. Aus Lapislazuli. Er investierte viel Zeit in seine Gemälde. Auch ein Widerspruch: Es geht um einen winzigen Moment – um ihn aber korrekt wiederzugeben, braucht er ein halbes Jahr. 37 Gemälde – nicht viel für ein Lebenswerk. 15 echte Kinder. Man selbst ist so eine Art Geistes-Kind. Ich verweile in dem mir zugedachten Moment."
Moderator: "Wir haben hier auf dem Tisch einige Produkte mit deinem Konterfei. Es scheint, Du passt zu allem: zu Pillendosen, Lesezeichen. Notizbüchern, Brillenetuis, Briefbeschwerern ... Die ideale Merchandising-Figur. Wieso passt Du so gut in unsere Zeit? Jan Vermeer hat Dich so um 1665 gemalt."
Turban-Mädchen: "Ist das ein Kompliment, weil ich trotz meines Alters fit und unverbraucht aussehe? Ich bin eine Gefangene des Moments. Ich könnte sagen: 'Ich bin ein Star, holt mich hier raus!' Aber das Gemälde ist meine Heimat. Es existieren zwar jede Menge Kopien von mir, aber nichts wiegt das Gefühl auf, das Original zu sein. Inmitten von Abbildern bewahrt man sich seine Authentizität. Dennoch betrachte ich diese Merchandising-Produkte als meine Geschwister, als Verwandtschaft."
Moderator: "Würdest Du für uns Deinen Turban abnehmen?"
Turban-Mädchen: "Meine Haare sind in einem fürchterlichen Zustand. Seit über 350 Jahren nicht gewaschen. Früher hatte ich mal Wimpern. Die Zeit verfährt mit Gemäldefiguren zwar etwas sanfter, aber man freut sich doch über eine Restauration. Neuer Firnis, neuer Glanz. Der Glow-Effekt ist mir wichtig; es soll Euch umhauen. Eine schlichte Person – sobald sie in Kontakt kommt mit etwas Besonderem, verwandelt sie sich. Vielleicht ist der Perlenohrring ein Symbol für das Göttliche? Eine Leihgabe, ein Produkt der Imagination. Transformation durch den Anschein von etwas Wertvollem. Der Seele die Verwandlung gestatten."
Moderator: "Du wurdest viel rumgereicht. Wanderausstellungen. Überall der Publikumsliebling. Macht das mit der Zeit arrogant? Würdest Du Dich bei Tinder anmelden, jemanden daten? Ich wäre bereit, Dir das Küssen beizubringen. Und ich biete auch Kurse an für Fortgeschrittene."
Turban-Mädchen: "Das ist sehr nett. Vielleicht sollte ich mich mehr dem Hedonismus zuwenden? Der Lust mehr Rechte einräumen?"
Moderator: "Auf jeden Fall! Hier hast Du ein Gutscheinheft für 10 Küsse."
Sie küssen sich.
Turban-Mädchen: "Brauchen wir Jan Vermeer ja nicht zu sagen. Ich gelte als sein Meisterwerk, ich will ihn nicht enttäuschen. Das Real Life ist nicht ungefährlich. Neulich klebte sich einer bei mir fest mit Sekundenkleber. Dann gab es Tomatensuppe. Ich bin immer noch ganz geschockt! – Was hast Du noch für Gutscheinhefte?"
Moderator: "10 Dates in Restaurants Deiner Wahl."
Turban-Mädchen: "Klingt gut. Aber die servieren doch keine Tomatensuppe? – Im Grunde bin ich aus dem Atelier nie herausgekommen. Ich trage es in mir. Ich bin ein Atelier-Geschöpf. Schmücke mich mit Exotik; aufgerufen, den Betrachter gen Orient zu geleiten. Habe selber keine Orientierung. Rasend schnell drehe ich mich um die mir zugedachte Achse."
Moderator: "Wir sollten tanzen! Pirouetten des Geistes können da nicht mithalten!"
Er wirbelt sie herum.
Turban-Mädchen: "Nicht, dass wir Ärger kriegen mit der Gemälde-Behörde. Was erlauben einem die Grafen der Paragrafen-Welt? Bin ich es leid, eine brave Gemäldefigur zu sein? Hast Du ein Gutscheinheft für Abenteuer?"
Die Band spielt wilde Musik. Das Publikum feuert die beiden an. Sie tanzen eine Mischung aus Rock 'n' Roll und Breakdance.
Turban-Mädchen: "Mein Turban ist verrutscht. Außerdem habe ich meinen linken Perlenohrring verloren. Wie soll ich so wieder in mein Gemälde kommen? Ich darf mich nicht verändern! Wer bin ich dann? 'Das Mädchen ohne Perlenohrring'? Das ist absurd! 'Das Mädchen mit zerzausten Haaren'? 'Das Mädchen, das hyperventiliert'?"
Moderator: "Mona Lisa hat sich nicht so angestellt. Die nordischen Frauen sind wohl komplizierter."
Turban-Mädchen: "Du gibst Deine Gutscheinhefte wohl jeder?! – Sogar Schlafmasken mit meinem Bild! Allmählich finde ich das alles ziemlich pervers!"
Sie schmeißt den Tisch mit den Merchandising-Artikeln um.
Turban-Mädchen: "Eine Einkaufstasche!? – Du könntest mit mir shoppen gehen. Das würde mich versöhnlich stimmen."
Sie nimmt sich einen der silbernen Merch-Perlenohrringe.
Turban-Mädchen: "Muss so gehen. Billiger Ersatz. – Ich komme aus einer idealen Welt. Ewige Stagnation. Im Real Life stößt man sich an Tischen. Rüpelhaftes Benehmen ist an der Tagesordnung – und jeder findet das in Ordnung. Mein Wert ist gestiegen – 1881 waren es 2 Gulden, 1892 schon 40.000 Gulden. Astronomische Höhen. Ich bin ein Star. Aber nur, wenn ich mich ruhig verhalte. Abstand wahren vom jeweiligen Zeitgeist. Mich nicht hineinziehen lassen in das Business des Seins."
Moderator: "Vielleicht ist Walzer eher was für Dich?"
Turban-Mädchen: "Am besten, Du schaltest den Gemälde-Aktivator wieder aus. Ich vermisse meine Perfektion. Bei Euch bin ich ein Tölpel, ein Tollpatsch. In meinem Gemälde stimmt das Licht, ich werde zum Licht. Im Grunde liebe ich das Gemälde – ich verweile dort gerne. Im Real Life hätte ich es nie so weit gebracht. Der Turban wäre unpassend ... Im Gemälde kann ich meinen rot schimmernden Mund in immer derselben Stellung lassen. Es ist bequem. Man muss sich nicht entscheiden, welche Mimik angebracht wäre. Ich habe Millionen Bewunderer. Im Real Life muss man um jeden Kuss betteln."
Sie zieht den Moderator zu sich.
Moderator: "Wir wollen immer die Bedürfnisse unserer Gäste befriedigen. Dadurch kommt es zu wirklich fantastischen Erlebnissen."
Turban-Mädchen: "Ich erwarte ja gar keine Glanzleistungen. Ein wenig Fun nach 350 Jahren sollte genügen. – Wirke ich zu barock? Wirke ich seltsam? Ich trage meine Zeit mit mir, sie haftet an mir, ich kann sie nicht einfach ausziehen wie einen Rock."
Moderator: "Ich habe das Gefühl, ich entwickle gerade eine Schwäche fürs Barocke. – Damit ist unsere Sendezeit leider vorüber. Wir suchen jetzt noch gemeinsam den Perlenohrring und das Glück. Schönen Abend noch."
ENDE
Publication Date: 01-06-2023
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