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Schachfiguren

Der Bauer hat beim Schach mitzuspielen. Der König steht derweil auf seinem Posten – bequemt sich allenfalls zur Rochade. Vermutlich ist sein großes Vorbild der Löwe, der scheucht seine Gefährtinnen umher. Der Bauer kann seltsamerweise Karriere machen, indem er sich mustergültig durch das ganze Schachbrettmuster-Gebiet durchschlägt. Plötzlich ist er Leichtfigur oder Schwerfigur. Vielen bleibt das aber verwehrt, sie bleiben als Bauernopfer auf der Strecke, betrachten das weitere Spielgeschehen vom Spielfeldrand, feuern ihren König an. Treue Vasallen.

Das Jenseits beginnt hinter der h-Linie, was dort ist, wissen nur die rausgekickten Figuren. Man versucht, so lange wie möglich im Spiel zu bleiben; opfert sich aber zuweilen, wenn es für die Mannschaft gut ist.

Der Läufer ist immer ganz baff, wenn er den Auftrag erhält, den Gegner aufzumischen: Überraschungsangriff. Aber im Grunde lieben die Figuren das Opferschach nicht so sehr, es ist nicht ihre bevorzugte Strategie. Sie wollen sich ordentlich positionieren, so wie es sich gehört – hat aber den Nachteil, dass sie doch sehr vorhersehbar agieren; sie sind durchschaubar, da fehlt jegliche Raffinesse.

Opferschach hat den schönen Vorteil, dass es das Unerwartete inkludiert. Vielleicht kann davon sogar einer der Bauern profitieren – und schleicht sich am Feind vorbei zur gegnerischen Grundreihe. Überraschende Wende: Die anderen opfern sich mal für ihn, er ist der Held des Tages, er kommt durch. Lorbeeren inklusive. Er ist dann so stolz auf sich, kann dem gegnerischen König jetzt endlich sagen, was er von ihm hält, kann ihm auf die Pelle rücken – völlig indiskret, keinerlei falsche Scham und Rücksichtnahme. Der Ex-Bauer trumpft auf, er hat seine Beförderung in der Tasche, er hat seine Mission. Er fühlt sich gut ein in seine Rolle: Als Dame von Welt stehen ihm alle Türen offen – und besonders der Rückweg. Als Bauer gab es für ihn immer nur eine Richtung: Vorwärts Genossen! Jetzt ist das für ihn eher so etwas wie ein Ballett, totale Beweglichkeit, ungewohnte Bewegungsfreiheit; tolle Möglichkeiten. Oder er wird zum Springer, überhopst die trägen Mitspieler, gewinnt eine dritte Dimension hinzu.

Der König hingegen bleibt immer derselbe, man muss ihn beschützen, er muss sich in Acht nehmen – insgesamt ist ihm nicht wirklich königlich zumute; er hat den Eindruck, sie haben ihm da den blödesten Job übertragen. Ein ständig Gejagter, ohne die Lizenz zum Fighten.

Der Bauer hat sieben Geschwister, sie sehen sich sehr ähnlich; wobei die Mittelbauern einen Tick arroganter aussehen – aufgrund ihrer Position lastet ein enormer Erwartungsdruck auf ihnen; dem wollen sie gerecht werden; sie stehen zunächst im Fokus; während sich die Türme fragen, ob sie noch Brotzeit machen können, denn für sie tut sich ja in nächster Zeit ja doch nichts.

Die Springer hüpfen ungeduldig auf der Stelle – neugierig, wohin man sie wohl schicken wird. "Nicht schon wieder an den Rand!" – das ist ihre größte Sorge. Sie glauben wirklich, dass sie so etwas wie ein Turnierpferd sind, das die Enge der Stallbox verrückt macht. Sie sind eher als Schlachtross konzipiert – gleich zwei Gegner ins Visier nehmen – die berühmt-berüchtigte Gabel. Das Tolle daran: Sie bedrohen, ohne dass sie sich einer Gefahr aussetzen. Kein Wunder, dass der Bauer zuweilen davon träumt, ein Springer zu sein. Er bewundert ihre Wendigkeit, wie sie über ihn hinwegfliegen. Fast wie Pegasus – wobei dessen Terrain hier lediglich 8 Reihen umfasst. Eine begrenzte Welt; man verlässt sich aufeinander. Es gilt, den gegnerischen König kleinzukriegen, ihn zu bedrängen. Blöd nur, dass die Bauern meist auf Linie bleiben müssen, nur zum Schlagen sind sie ihrer Linientreue enthoben.

Stürzt sich die Dame zu früh ins Getümmel, dann wird sie von den Leichtfiguren und den Bauern gejagt; sie versperren ihr den Weg, sie sind überhaupt überaus lästig. Eine Dame muss auf ihr Umfeld achten. Wie ein Star, der in einer Spelunke auftritt. Macht sich nicht so gut. Kann auch sein, dass einige Bauern rausgeschmissen werden wollen – sie halten die Nervenanspannung nicht gut aus – und am Rand, als Zuschauer, ist man der Verantwortung enthoben.

Den Türmen ist es immer furchtbar peinlich, wenn sie Stress mit einer der Leichtfiguren haben – sie protestieren: Sie werden wahrhaftig für einen Springer geopfert. Erkennt denn keiner hier ihre Wichtigkeit?! Sie halten sich am Brett fest – aber es ist sinnlos: Das Konzept sieht es so vor. Sie dürfen dem Tjostieren mit dem Springer nicht ausweichen. Auch wenn der Turm gute Beziehungen zum König hat – gerade bei der Rochade kamen sie sich sehr nahe -, so ist es dennoch entschiedene Sache: Das Gemeinwohl will es so. "Dabei bin ich doch immer so geradeheraus", lautet sein Einwand. Ein bisschen unheimlich ist ihm die Dame – diese seltsame Mischung aus Turm und Läufer. Ein Zwitterwesen. Er sollte sich auch mit dem Läufer zusammentun. Zusammen könnten sie was auf die Beine stellen. So sinniert er außerhalb des Spielfeldes; da hat man Zeit für Betrachtungen; bedauert es, dass man abserviert wurde. Aber man feuert seine Truppe noch an; emotionale Unterstützung ist wichtig. Oder soll er türmen? Sich einem anderen Spiel zuwenden? Er wäre überall bloß eine Spielfigur. Und was würde das "Mensch ärgere Dich nicht"-Brett sagen, wenn er da auftauchen würde, so unvermittelt? Die hätten doch gar keine Verwendung für ihn. Aber er würde gerne mal beim Monopoly über Los gehen, was einsacken, den Reibach machen. Vielleicht würden sich einige Bauern ihm anschließen? Bauernrevolte – soll ja vorgekommen sein. Dann sperrte man sie allerdings in den Turm. Üble Verwandtschaft. Auch der Schiefe Turm von Pisa und der Turm zu Babel ... zwar berühmt, aber keinesfalls Spielfeld-tauglich.

Der Läufer würde gerne mal seine Felderfarbe wechseln – aber das ist streng verboten. Er hat das mal versucht. Riesenzoff mit dem König. Ihm war so langweilig als Diagonal-Apostel.

Die Bauern schubst man voran. Zwei-Felder-Wirtschaft am Anfang – da hat man noch Optionen; der Schwung lässt nach; andere stellen sich einem in den Weg. Ein Geschubse, Gedränge. 8 mal 8 Felder sind einfach nicht genug. Jeder sollte sein Areal bekommen. Mehr so ein Miteinander. Aber man tritt sich auf die Füße. Bauer schreckt nicht davor zurück, einen Springer zu schlagen, sogar ziemlich rücksichtslos.

Der Läufer heißt zwar Läufer – "Aber wohin kann ich schon groß rennen? Ein Hamster im Laufrad hat mehr Möglichkeiten als unsereins", beklagt sich der Läufer. Manchmal ist dem Bauer, als sei der Läufer sein großer Bruder – wenn er verwegen genug ist, diagonal als Schläger unterwegs zu sein. Das "En passant" findet er besonders elegant. Man geht nicht einfach grußlos an ihm vorüber. Wenn das Schachbrett ein Acker wäre, wäre er der König. So bewegt er sich auf einem Parkett und in einer Umgebung, wo er der Schwächste ist. Aber der soziale Aufstieg ist ihm nicht völlig verwehrt – wenn einen nur 6 Felder vom Triumph trennen. 5 Züge zur Verwandlung.

 

ENDE

 

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Publication Date: 08-16-2020

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