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Prolog

Sommer 2005

 

Sie wähnte sich in Sicherheit. Wie konnte man nur so naiv sein? Und wie leicht sie es ihm machte, als wären die Mauern ihres Zimmers ein Hindernis für ihn. Schritt um Schritt erklomm er die alte Holztreppe, bedacht darauf keinen Laut von sich zu geben. Seine rechte Hand hatte das knorrige Holz des Geländers umspannt. Weiß stachen die Knöchel aus seiner Haut. In der ersten Nachthälfte sterben die meisten Menschen. Das hatte er mal irgendwo gelesen, aber er konnte sich nicht mehr genau an den entsprechenden Artikel erinnern. Die stickige Luft vernebelte seine Gedanken.

Den ganzen Tag über hatte man die Hitze im Haus riechen können. Sie kroch unter der Türschwelle hindurch und nistete sich in allen Ecken ein. Machte den Pflanzen zu schaffen und ihren Bewohnern. Mittlerweile focht diese einen unerbittlichen Kampf gegen die kühle Brise der Nacht. Und sie würde gewinnen, denn morgen sollte es wieder unerträglich heiß in Hagerstown werden. Der heißeste Tag des Sommers. Mitten im Juli. Ihm konnte das nur recht sein. Die Menschen verkrochen sich in ihrem Zuhause und würden ihn in Frieden lassen.

***

Oben im Flur angekommen, schien das fahle Mondlicht gespenstisch auf die Tür. Er zögerte kurz. In der Helligkeit konnte man zahlreiche Kratzspuren und Einkerbungen im Türholz ausmachen. Dahinter war alles still, nur ein leichter Luftzug störte die Ruhe. Sie hatte wahrscheinlich die Balkontür offen gelassen. Fast lautlos betrat er das Schlafzimmer. Sein Atem ging erstaunlich ruhig. Er würde das rasch hinter sich bringen.

Da lag sie, versunken in einem Kissenberg. Auf dem Stoff wiederholten sich Weidekätzchen, das konnte er in der spärlichen Dunkelheit erkennen. Nachts waren seine Sinne am stärksten. Einer Katze gleich streifte er zum Nachttisch. Dort stand ein goldfarbener Blumenkübel mit violett blühendem Flieder. Vorsichtig brach er eine Blüte ab und sog den betörenden, lieblichen Geruch der Pflanze ein. Erstaunt darüber, dass sie noch im Sommer blühte. Er zerrieb das feuchte Blatt zwischen seinen Fingerkuppen, während er weiter unverwandt auf das Bett starrte. Ihr Körper hob und senkte sich gleichmäßig im Einklang ihrer Atemzüge. Das lange schwarze Haar fiel ihr in leichten Wellen über die Schulter. Der porzellanfarbende Teint ihrer Haut war makellos. Als er sich weiter hinunter beugte, konnte er ein zaghaftes Lächeln erkennen, das ihre Lippen umspielte. Unwillkürlich musste er grinsen. Wie hübsch sie doch war. Nur würde sich niemand mehr ausgiebig an ihrer Schönheit erfreuen. Er hatte es viel zu lange vor sich hin geschoben. Ihm durfte kein Fehler unterlaufen und die Zeit lief davon. Er wusste, wohin diese Unruhe ihn brachte. Seine Hände fingen an zu zittern. Rasch ergriffen sie ein Daunenkissen, welches durch seine Fülle lebendig wirkte. Mit aller Kraft zerdrückte er die Federn. Eine Übung, für das, was als nächstes geschehen sollte. Für das, was man von ihm erwartete. Das, was er selbst von sich erwartete.

Während er ausatmete, packte er das Kissen und presste es mit aller Wucht auf ihr friedlich schlafendes Gesicht. Er würde ihr die Luft zum Atmen nehmen. Plötzlich zuckte sie wild mit den Armen, daraufhin drückte er noch fester zu. Doch mit jeder Sekunde verlor sie an Lebenskraft, bis ihr Kopf nach einer halben Ewigkeit reglos in die Kissen sackte. Ihre hohlen, weit aufgerissenen Augen starrten ihn an, verklagten ihn für das soeben Geschehene. Eine Welle von Erleichterung durchströmte seine Adern. Versetzte seinen Puls in den normalen Rhythmus zurück. Er fühlte sich gut. Nie zuvor war er so energiegeladen gewesen. Doch auch diesmal meldete sich sein Perfektionismus wieder zu Wort. Er biss sich wütend auf die Lippen, sodass es blutete. Der Geschmack von Eisen widerte ihn an. Irgendetwas störte ihn. Die Art und Weise, wie sie vor ihm lag, sah zu unbeschwert aus, fast so, als hätte sie nicht leiden müssen. Und das musste sie. Zur Not auch im Tod. Ihm kam eine Idee und er ärgerte sich, nicht schon früher darauf gekommen zu sein. Er hatte es sich zu leicht gemacht. Mal wieder.

***

Mit einem Knarren drang die Balkontür zurück in sein Bewusstsein. Er wusste, was er zu tun hatte. Immer noch durchflutete Kraft jede seiner Sehnen. Es war ein leichtes, ihren leblosen Körper in seine Arme zu schließen, in die er sie wie ein kleines Kind gebettet hatte. Das Morgengrauen begrüßte ihn. Erste Vögel zwitscherten in den Weiden, die den Friedhof unter ihm umrahmten. Zaghaft krochen die Sonnenstrahlen den Horizont empor. Er musste sich beeilen. Tick. Tack. Tick. Tack. Die Zeit rannte ihm davon. Niemand durfte ihm das kaputt machen.

Inzwischen hatten sie das Balkongeländer erreicht. Der Rost blätterte an den meisten Stellen ab und hinterließ ein hässliches Grau. Nur noch eine Bewegung. Erneut überkam ihn ein Glücksgefühl. Dann fiel sie. Ein dumpfer Aufschlag versicherte ihm, dass sie unten angekommen war.

»Auf Wiedersehen, Victoria«, sprach er. Ein schöner Name.

»Victoria. Victoria. Victoria«. Er ließ sich jeden einzelnen Buchstaben auf der Zunge zergehen.

***

Sie kamen, umschwirrten ihn, tanzten in der Luft. Er mochte diese Falter nicht. Die schuppenartigen Haare an Flügeln und Beinen ekelten ihn an. Er streckte die Hand nach den Tieren aus. Mit Erfolg. Eines der Exemplare kämpfte zwischen seinen Handflächen um ihr kleines erbärmliches Leben. Ein arabisches Sprichwort kam ihm in den Sinn.

»Fange einen Nachtfalter und du wirst jeden deiner Feinde erledigen.«

Mit einem breiten Lächeln im Gesicht drückte er seine Hand zu.

Kapitel 1

Fünf Jahre später

 

Ich trat auf die schattige Veranda. Noch bevor ich draußen war, wusste ich, dass es heftig geregnet hatte. Der Regenschauer hatte kleine Tropfen auf der Scheibe unserer Haustür hinterlassen. Zusammengekauert hockten sie an den unteren Fensterrändern.

»Viel Spaß in der Schule, Shay!«, rief mir mein Vater hinterher, ehe die Tür ins Schloss fiel. Meine Mutter hatte es längst auf die Arbeit verschlagen. Mit großem Ehrgeiz ging sie ihrem Job als Sekretärin bei der Polizei hier in Hagerstown nach. Das lag vor allem daran, dass mein Vater seit längerer Zeit arbeitslos war. Seine gelegentlichen Aushilfsjobs wie Fensterstreichen, Rasenmähen oder Kellerentrümpeln spülten bloß ein bescheidenes Einkommen in die Familienkasse. Früher hatte er eine Stelle als Tischler bei einem lokalen Handwerksbetrieb gehabt. Wie viele andere, musste dieser nach der Finanzkrise 2008 dicht machen. Bisher hatte ihm niemand mehr eine Festanstellung angeboten. Meine Mutter kam mit dieser Tatsache nicht gut klar. Auch wenn sie es selten zeigte, so spürte man, dass sie sich nach traditionellen Verhältnissen sehnte und unsere Geldprobleme zu verbergen versuchte.

Schnellen Schrittes eilte ich den langen Sandweg entlang, der zu unserem Anwesen führte. Der Sand war durch den stundenlangen Regen total aufgeweicht und an den Rändern hatten sich große Pfützen gebildet. Seit meiner Kindheit lebten wir im Süden von Hagerstown. Ich liebte die vielen kleinen Gauben, die sich auf der Vorderseite unseres Daches befanden. Rund um den Eingang hatte meine Mutter Astern gepflanzt und Kürbisse aufgestellt. Der Herbst war endgültig eingetroffen. Vor wenigen Wochen trugen die Bäume noch ihr grünes Sommerkleid, inzwischen hatten sich rote, gelbe und orange Farbtupfer eingeschlichen.

***

Ich musste einige Straßen hinter mir lassen, um die Bushaltestelle zu erreichen. Noch hatte die Morgenmüdigkeit die Bewohner im Griff und nur wenige Menschen bevölkerten die fast ausgestorbenen Bürgersteige. Irgendwo bellte ein Hund. Ich fluchte, als ein rasender Autofahrer das gesammelte Wasser auf der Straße aufwirbelte und ich gerade noch rechtzeitig zur Seite springen konnte. Wie jeden Tag trug ich meine blauen Chucks, nie würde ich auf diese Schuhe verzichten können und musste sie deshalb vor der Nässe in Sicherheit bringen. Als ich an der Haltestelle ankam, begann es leicht zu nieseln. Die kühlen Temperaturen ließen mich frösteln. Dort warteten schon einige Schüler, ich gesellte mich zu ihnen. Gelangweilt kickte ich eine zerdrückte Blechdose ins angrenzende Gebüsch.

Quietschend kam der gelbe Schulbus am Straßenrand zum Stehen. Wie aufgeweckte Vögel schwärmten die Schülerscharen in das Innere. Ich erreichte meinen Platz ganz hinten auf der linken Seite, dort saß ich fast immer. Ava, meine Freundin war noch nicht da. Typisch, ging es mir durch den Kopf, als ich ihre Gestalt ausmachte, die in letzter Sekunde den Bus erreichte. Keuchend ließ sie sich neben mir in den Sitz sinken. Feine Regentropfen glitzerten auf ihren schwarzen Haaren, die sie offen trug und zeugten von der Feuchtigkeit draußen.

»Und hast du deine Eltern gefragt?« Ava schaute mich gespannt an. Ich hatte mich innerlich schon für eine Antwort gewappnet, aber irgendwie fielen mir nicht die passenden Worte ein. Schließlich musste ich meiner Freundin gleich beibringen, dass sie im Februar alleine zum Bring Me The Horizon-Konzert nach Florida reisen musste. In unserer momentanen finanziellen Situation waren solche Extrawünsche einfach nicht drin. Die letzten Tage hatte ich zwar versucht meine Eltern zu überzeugen, aber sie konterten mit überzeugenden Gegeneinwänden und schließlich musste ich ihnen zustimmen. Denn so ein Konzert, was kilometerweit entfernt stattfinden würde, war schlichtweg zu teuer. Schon lange träumten Ava und ich davon, die britischen Jungs live zu erleben. Neben den tiefgründigen und harmonischen Texten schwärmten wir beide für Oliver Sykes, dem Leadsänger der Metalband. Bring Me The Horizon war einfach die beste Band der Welt. Wenn ich daran dachte, was ich verpassen würde, versetzte es mir einen schmerzlichen Stich. Das Leben konnte echt ungerecht sein.

»Mmh, im Februar wird es nichts, aber das nächste Mal komme ich ganz bestimmt mit.« Innerlich musste ich über die Tatsache schwer schlucken. Mein Traum war soeben endgültig geplatzt.

Avas Antwort fiel knapp aus.»Echt schade, Shay.« Sie bedachte mich mit einem mitfühlendem Blick und kramte anschließend in ihrer Tasche nach der heutigen Ausgabe des Hagerstown Newsletter. Avas Vater arbeitete in der Redaktion der Lokalzeitung und gab seiner Tochter immer ein Gratisexemplar mit. Ich wandte meinen Blick ab und beobachtete einige Schüler, die konzentriert über ihren Hausaufgaben brüteten, um sie noch rechtzeitig vor Schulbeginn fertigzustellen. Schweigend lauschte ich dem Knistern des Papieres, sobald meine Freundin umblätterte. Eine fettgedruckte Überschrift sprang mir in die Augen Suche dringend eine Babysitterin. Mir kam eine Idee, mit der ich vielleicht doch noch zum Konzert gelangen konnte.

»Gib mir mal kurz die Zeitung«, bat ich Ava. Sie blickte mich fragend an, tat aber was ich sagte. Konzentriert studierte ich die Stellenanzeige. Ein Job als Babysitterin konnte mir eventuell das nötige Geld beschaffen. Zusammen mit meiner Freundin Laura, hatte ich schon mehrmals auf kleine Kinder aufgepasst. So schwer war das eigentlich nicht. Eine gewisse Familie Moth suchte nach jemandem, der am Dienstag- und Donnerstagnachmittag zur Betreuung kommen würde. In meinem Kopf studierte ich meinen Terminplan, konnte aber nichts finden, was mich daran hindern würde, heute nach der Schule zum Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Es war eine Adresse und die Telefonnummer angegeben. Die Straße konnte ich nicht genau zuordnen, wusste aber, dass sie im Norden von Hagerstown liegen müsste. Ava hatte meine Entdeckung bemerkt und schaute mich hoffnungsvoll an.

»Ich glaub' ich habe einen Weg gefunden«, versicherte ich ihr und Vorfreude breitete sich in mir aus.

***

Inzwischen hatte der Bus das Schulgelände der South Hagerstown Highschool erreicht. Immer mehr Schüler bevölkerten den Schulhof. In ihren bunten Jacken erinnerten sie mich an das Herbstlaub, was sich um die kahlen Bäume entlang des Parkplatzes ansammelte. Die Schule lag in der Innenstadt, so konnte man leicht die Bücherei, kleine Geschäfte und Cafés im angrenzenden Stadtzentrum erreichen. Hoch über dem Dach des Gebäudes ragte ein weißer Turm in den Himmel. Rund um das Grundstück waren zahlreiche Sportplätze untergebracht. Kurz vor dem Haupteingang verabschiedete sich Ava von mir. Wir schlugen getrennte Wege ein. Das lag an unseren unterschiedlichen Profilzweigen. Während es meine Freundin unter die Schriftsteller verschlagen hatte, besuchte ich die technischen Kurse. Dazu gehörten unter anderem Physik, Chemie und Informatik. Nicht gerade die Traumfächer für die meisten Mädchen in meinem Alter. Im Gegensatz zu ihnen hatte ich jedoch Spaß daran, an meinem Computer herum zuschrauben und eigene Software zu programmieren.

»Shay, hast du es schon mitbekommen? Info fällt heute aus.«Stürmisch kam mir mein bester Freund Thomas entgegen. Sein ansteckendes Lachen erfüllte den Gang vor mir.

»Bin gerade erst gekommen«, gab ich ihm als Antwort. »Du wolltest mich ja heute nicht mitnehmen.«

»Du weißt doch, dass ich heute Morgen der Werkstatt einen Besuch abstatten musste. Irgendetwas stimmt mit den Bremsen nicht.«

»Da kannst du ja froh sein, dass du noch nicht von der Straße geflogen bist.« Ich grinste ihn hämisch an. Thomas und ich kannten uns seit dem Kleinkindalter. Wir hatten den gleichen Kindergarten besucht. Bisher waren wir immer in einer Klasse gewesen. Gemeinsam hatten wir uns das Fahrradfahren beigebracht und erste Runden auf dem Skateboard absolviert. Verletzungen und anschließende Verarztung inklusive. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Die Montags wohnten neben uns und ich war ein willkommener Gast in ihrem Haus.

»Ich hab' nachher ein Vorstellungsgespräch als Babysitterin.« Stolz erzählte ich ihm von meinem Vorhaben.

»Viel Spaß beim Windelwechseln.« Thomas stierte mich mit seinen grünen Augen an, die wieder einmal von Lachfalten umgeben waren. Auf seinem Kopf hockte eine rote Cap, unter der seine dunkelblonden Haare wirr hervorstachen. Die Zeit zum Haarkämmen war ihm wie immer abhanden gekommen.

»Welche Familie hat denn die Ehre, dir ihre Kinder anzuvertrauen?«

»Ich glaub' die hießen Moth.«

Thomas stutzte über den Namen und klärte mich anschließend darüber auf.

»Marie ist mit George Moth zusammen. Ich wusste gar nicht, dass die kleine Kinder haben.« Marie war die ältere Schwester von Thomas. Dass sie einen Freund hatte war mir neu.

»Die beiden sind noch nicht lange zusammen.« Thomas schien meine Gedanken gelesen zu haben. »Mir ist trotzdem nicht ganz wohl bei der Sache. Gerüchten zufolge soll der Umgang mit ihnen schwierig sein. Sie haben kaum Kontakt zur Außenwelt und verschanzen sich auf ihrem Anwesen.«

»Marie hat es doch auch geschafft. Ich seh' mir die Leute einfach an, heißt ja nicht, dass ich den Job bekomme.«

***

Das Klingeln der Schulglocke unterbrach unser Gespräch. Lustlos wurden wir mit unseren Mitschülern in Richtung der Fachräume gespült. Nach einer öden Doppelstunde Physik konnte ich bereits den Weg nach Hause antreten. Ich versprach Thomas und seinem Auto die Daumen zu drücken und er wünschte mir ebenfalls Glück für später. Es musste noch einiges für das Gespräch bei den Moth vorbereitet werden.

Kapitel 2

Ich stolperte zu meinem Standspiegel zurück, vorher musste ich sämtliche Klamottenberge, die auf meinem Zimmerboden emporgestiegen waren, passieren. In meinem Kleiderschrank befand sich einfach kein Outfit, was für den bevorstehenden Anlass angemessen war. Kritisch beäugte ich meine schwarze Jeans, die ich zu einer weißen Bluse kombiniert hatte. Eigentlich war ich eher der sportliche Typ und trug hauptsächlich Tops und Jeans, was für ein Vorstellungsgespräch nicht gerade tauglich war. Als ich an das bevorstehende Gespräch dachte, bemerkte ich die Aufregung, die sich in meinem Körper ausbreitete und das Blut schneller durch die Adern fließen ließ.

***

Als ich das Haus verließ, stülpte ich mir einen Parka über, um mich vor den Regentropfen zu schützen, die noch immer das Wetter im Griff hatten. Schnell eilte ich zu unserer Garage, um mein Fahrrad zu holen. Das sportliche Zweirad war ein Geburtstagsgeschenk von Thomas gewesen und ich hatte mich damals riesig darüber gefreut. Auch heute, wo es schon sämtliche Kilometer auf Hagerstowns Straßen bewältigt hatte, konnte ich sicher sein, dass mich das Rad heil zur West Curch Street brachte. Die Moth wohnten im Norden der Stadt, eine Gegend dominiert von unberührten Wäldern und Wiesen, die bei diesem feuchten Wetter Teile ihrer Schönheit einbüßen mussten. Ich trat kräftig in die Pedalen, um den steilen Anstieg zu bewältigen, was mich zeitweilig nach Luft ringen ließ. Mein Atem brannte wie Feuer in meiner Lunge.

Immer wieder studierte ich die verwitterten Straßenschilder und irrte zwischen den vielen Abzweigungen hin und her. Zwar hatte ich mir vorher eine Karte ausgedruckt, aber wirklich helfen konnte sie mir nicht. Die Zeit drängte und ich wollte nicht zu meinem allerersten Bewerbungsgespräch zu spät kommen. Mit fünf Minuten Verspätung hatte ich endlich mein Ziel erreicht. Ein altes Anwesen schob sich in mein Blickfeld. Die heruntergekommenen Wände erweckten einen trostlosen Anblick. Da ich nicht wusste, wo ich mein Fahrrad abstellen sollte, lehnte ich es an die graue Backsteinwand, die fast vollkommen von Efeu eingewachsen war. Ein gigantisches Eingangstor verweigerte mir den Eintritt. Daneben befand sich ein Briefkasten, der vor lauter Zeitungen und Werbeprospekte zu platzen drohte. Anscheinend kümmerte sich hier keiner um die Post. Zögernd hielt ich vor dem verrosteten Klingelknopf inne. Ich rief mir Thomas Worte ins Gedächtnis, die er mir vorhin in der Schule über die Moth erzählt hatte. Eine merkwürdige Familie ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Wahrscheinlich war ich seit langem die erste Besucherin, die hier her kam. Von anderen Bewerbern fehlte jede Spur.

Ich warf die letzten Zweifel ab, schließlich konnte ich mir mit dem Geld den Traum von dem langersehnten Konzert erfüllen. Mein Finger löste einen nachhallenden Klingelton aus, der mich tief im Mark erschauderte. Eine brüchige Stimme meldete sich an der Gegensprechanlage.

»Ja, wer ist da?«

Sichtlich nervös antwortete ich.»Mein Name ist Shay Hilton, ich bin die Bewerberin für die Stelle als Babysitterin.«

Ohne eine Antwort zu bekommen, wurde das Tor geöffnet und ich trat auf den laubbedeckten Kiesweg, der zum Haus führte. Ein plötzlicher Windzug löste einige Wassertropfen von den herunterhängenden Zweigen einer Weide, als ich den Baum passierte. Das Nass fühlte sich auf meiner Haut wie gefrorenes Eis an. Unsicher blickte ich mich um, Meter für Meter näherte ich mich der Eingangstür. Die Flügelschläge aufgescheuchter Krähen, die über den Baumkronen verschwanden, drangen an mein Ohr. Auf dem Grundstück schloss ein verwilderter und liebloser Garten das Gebäude ein. Früher musste es hier traumhaft ausgesehen haben. Moosbewachsene Statuen und ein ausgedörrter Springbrunnen zeugten noch von der einstigen Idylle.

***

Bevor ich die große Steintreppe erreichen konnte, erschien eine gut situierte alte Dame, die mich kritisch beäugte. Ohne ein Wort der Begrüßung, bedeutete sie mir einzutreten. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit, als ich an ihr vorbeiging. Ich spürte wie sich ihre Blicke in meinen Rücken bohrten. Drinnen war es düster, nur wenig Licht fiel durch die verschmutzen Fensterscheiben. Irgendwie machte es mich traurig, wie man sein Zuhause so verwahrlosen konnte. Es mochte verrückt sein, aber ich mochte das Haus. Jedenfalls das, was ich bisher gesehen hatte. Hinter dem Flur konnte ich eine Diele erkennen, aus der Geräusche zu mir drangen. Die Frau schien ihre Sprache wiedergefunden zu haben.

»Miss Hilton, der Hausherr wartet bereits auf Sie.« Mit einem Nicken trat ich meinen Weg in den angrenzenden Raum an.

***

Auf einem weißbezogenen Leinensofa erwartete mich ein Herr mit schütteren grauen Haaren, unter denen große Ohren hervorstachen. Neben ihm saß ein deutlich jüngerer, dunkelhaariger Mann. Die Ähnlichkeit zwischen beiden war unverkennbar.

»Guten Tag Miss. Nehmen Sie bitte gegenüber Platz«, sagte der Ältere und deutete einladend auf einen bequemen Sessel, dessen Sitzpolster abgenutzt war. Unentschlossen machte ich einen Schritt auf die Sitzgruppe zu.

»Nur keine Scheu.« Der Schwarzhaarige zwinkerte mir aufmunternd zu. Seine braunen Augen strahlten eine ermutigende Freundlichkeit aus, die mir hier zum ersten Mal begegnete.

»Wie ist Ihr Name?«

»Shay Hilton. Ich besuche zur Zeit die South Hagerstown Highschool und habe Ihre Anzeige am Morgen in der Zeitung gelesen.«

»Jared Moth und das ist mein Enkelsohn George.« Mit einem undurchdringlichen Blick schaute er mir in die Augen, sodass ich mich gezwungen fühlte, ihn anzusehen.

»Wie alt ist Ihr Kind denn?« Ich versuchte das Gespräch wieder aufzunehmen.

»Großvater, das hast du doch nicht wirklich getan oder?« Vorwurfsvoll gestikulierte George mit seinen Händen.

»Das diskutieren wir später George!«

Verwirrt verfolgte ich die Auseinandersetzung, die sich vor mir abspielte. Ich hatte keine Ahnung worüber sich die beiden stritten.

»Tja, Kind ist der falsche Ausdruck, Großmutter trifft es wohl eher«, klärte mich George auf.

»Wie bitte?« Ich konnte kaum glauben, was mir da aufgetischt wurde. »Anstelle des Babysitten, soll ich mich um Ihre Oma kümmern?« Fassungslos darüber auf welche hinterhältige Weise sie mich hierher gelotst hatten, ergriff ich meine Handtasche und sprang auf.

»Warten Sie! Ich denke Sie brauchen das Geld«, hielt mich Jared Moth zurück.

George kam seinem Großvater zur Hilfe.»Meine Oma ist nur halb so schlimm wie ein quengeliges Kleinkind. Überlegen Sie es sich noch einmal, Shay.«

Sein flehender Gesichtsausdruck ließ mich weich werden. Ich konnte verstehen, was Thomas Schwester an diesem Kerl fand. Mit seinem dunklen Teint und dem Dreitagebart sah er ziemlich attraktiv aus. Frauen konnten ihm wohl nicht das Geringste ausschlagen.

»Ich schlage Ihnen einen Deal vor. Wie wär's wenn Sie am Donnerstag einen Nachmittag zur Probe hier arbeiten und meine Großmutter Bette kennenlernen. Ich verspreche Ihnen sogar das Gehalt um ein paar Dollar zu erhöhen. Wir suchen schon so lange nach jemandem, der die Zeit findet und Bette etwas Gesellschaft leistet.«

»Wie kann ich da nein sagen«, gab ich mich seinem Charme geschlagen. Und vielleicht war es gar nicht so schlimm ein paar Stunden am Tag mit einer alten Dame zu verbringen. Mit meiner Oma war ich schließlich auch immer gut ausgekommen.

Sichtlich erleichtert besiegelten die Moth und ich die Abmachung mit einem festen Händedruck.

»Damit Sie sich besser zurechtfinden, schlage ich vor, dass Miss Gilmore mit Ihnen eine Führung durch die Räume macht«, gab George von sich. Sein Großvater war die letzen Minuten ziemlich ruhig gewesen und schien nachdenklich.

***

Der Rundgang begann im Erdgeschoss, eines der Zimmer war ein Gästebad, zusätzlich durfte ich noch einen Blick in die Küche werfen. Ich musterte die schlichten Küchenschränke aus dunklem Eichenholz und fragte mich, ob diese Familie gemeinsam ihre Mahlzeiten zu sich nahm. Miss Gilmore, die langjährige Haushälterin der Moth, wie ich erfahren hatte, führte mich die Treppe hinauf. Die braune Holzvertäfelung an den Wänden nahm den Räumen jegliche Helligkeit. Auf sämtlichen Regalen und Bilderrahmen hatten sich Staubschichten angesammelt. Am Ende des Ganges lag das Zimmer von Bette, jedoch sollte ich sie heute noch nicht stören, da sie bereits schlief.

»Mehr brauchen Sie von dem Anwesen nicht zu kennen«, beendete Miss Gilmore die Besichtigung.

»Wir freuen uns Sie übermorgen pünktlich begrüßen zu dürfen.« Die zwei Männer waren mir zur Eingangstür gefolgt.

Der frühe Abend empfing mich mit dichten Nebelschwaden, die von dem kleinen See, der unweit des Grundstück lag, aufgezogen waren. Ich versuchte schnellstmöglich zu meinem Rad zu sprinten, um noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen.

Kapitel 3

Bette Moth saß wie jeden Abend auf der weichen Daunendecke ihres großen Bettes. Links von ihr zog der Wasserdampf eines frisch aufgebrühten Tees in die Höhe. Victoria hockte auf ihrem Schoß. Behutsam fuhr sie mit einem Bronzekamm durch ihre langen schwarzen Haare. Gleichmäßig entwirrten die Zinken ihre widerspenstigen Strähnen. Gegenüber des Bettes stand ein Konsoltisch, auf dem Karaffen und pastellfarbene Dahlien platziert waren. Zwischen den Blütenköpfen konnte man Bettes' markante Wangenknochen aus ihrem runden Gesicht hervorstechen sehen. Umrundet wurde es von einer lockigen, grauen Haarpracht, die früher einmal blond gewesen war. Es schmerzte sie immer noch, dass Victoria die Haarfarbe ihres Vaters angenommen hatte. Schwarz wie Ebenholz hatte sie früher immer gesagt und ihre Tochter liebevoll Schneewittchen genannt. Doch das war lange her. Wie im Märchen hatte sich auch ihr Leben in einen wahren Albtraum verwandelt. Doch hier bei ihrer Mutter war Victoria in Sicherheit. Sie würde sie mit allen Kräften vor dem Bösen beschützen.

Vor den Fenstern veranstaltete der stürmische Wind einen Herbstzauber, indem er trockene Blätter aufwirbelte und ihre Schatten für einige Sekunden aus der Dunkelheit auftauchen ließ. Vorhin war jemand im Haus gewesen, ein junges Mädchen, das sie von ihrem Fenster aus beobachtet hatte. Hoffentlich war es für sie noch nicht zu spät.

Die Müdigkeit gewann die Oberhand über Bette und ihre Augenlieder wurden schwer. Es wurde Zeit, dass sie Victoria in den Schlaf begleitete. Sie begann die ersten Zeilen eines Liedes zu summen.

»Ich greif sie auf in jenem Traum, ich schleich hinaus aus diesem Raum, ich gleit hinüber merk es kaum. Ich bin ein Traumtänzer, ich tanz mein Leben, leb' den Traum.«

Fast traurig erfüllten Bette Moth Worte die abendliche Stille. Liebevoll wog sie Victoria in ihren dünnen Armen. Sie wollte sich gerade nach hinten drehen, als grelles Scheinwerferlicht ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

»Wer mochte das sein, der sie zu so einer späten Stunde noch besuchen kam?«

Sie trat näher an das Fenster heran und schob die schweren Gardinen ein Stück zur Seite. Gebannt lehnte sie sich mit der Stirn an die Scheibe, um besser sehen zu können. Ein Taxi hatte vor dem Eingangstor gehalten, aus dem eine dunkle Gestalt stieg. Ihr wurde Eintritt gewährt und Bette verfolgte jeden Schritt der fremden Person. Gleich müsste sie unter ihrem Fenster entlang gehen. Sie kniff ihre Augen zusammen, damit sie jedes Detail erkennen konnte. Im Licht der alten Gaslaterne, die von zahlreichen Nachtfaltern umschwärmt wurde, nahm das Gesicht des Besuchers eindeutige Konturen an. Sie kannte ihn, wusste genau wer er war.

»Gütiger Himmel, es ist Adrian!«

Mit einem Poltern war Victoria auf die Holzdielen gefallen. Um ihr rechtes Auge hatten sich feine Risse im Porzellan gebildet. Wenige Augenblicke später hörte sie, wie die Eingangstür ins Schloss fiel.

Kapitel 4

Mit einem kräftigen Schlag knallte ich die Autotür von Thomas schwarzem Geländewagen zu. Es handelte sich um einen deutschen Hersteller, darauf hatte er damals bestanden. Thomas Vater kam ursprünglich aus Deutschland. Vor zwanzig Jahren hatte es ihn nach Hagerstown verschlagen, ziemlich zeitgleich wurden unsere Eltern dann Nachbarn. Ich beneidete meinen besten Freund darum, dass er zwei Sprachen fließend sprechen konnte. Ich als Halbkoreanerin war nur mit Amerikanisch aufgewachsen, was ich sehr schade fand. Die Heimat meiner Mutter war nicht nur wegen ihrer Entfernung faszinierend für mich. Erst ein oder zweimal hatten wir dort meine Großeltern besucht und ich bekam die Möglichkeit in die fremdartige Kultur des Landes einzutauchen. Während der Fahrt hatte ich ihm von meinem Vorstellungsgespräch berichtet und dass ich anstelle eines Kindes mit einer Oma die Zeit rumschlagen musste. Daraufhin hatte er nur belustigt genickt und sowas wie »hab' ich es doch gewusst, dass mit denen etwas nicht stimmt« gemurmelt.

***

»Lass deine schlechte Laune nicht an meiner Autotür aus!«, ermahnte mich Thomas, als er auf Grund des lauten Knalls heftig zusammenzuckte.

»Ich hab' keine schlechte Laune!«, gab ich bissig zurück. »Ich habe nur keine Lust auf Chemie.«

»Also doch schlecht gelaunt.« Er gab mir einen Hieb in die Seite und zusammen quetschten wir uns durch die Schülermassen, die sich vor dem Haupteingang tummelten.

Unter einer Schulbank entdeckte ich eine zusammengekauerte rabenschwarze Katze und fragte mich, wie sie wohl auf das Schulgelände gelangt war. Eigentlich hatte der Hausmeister immer ein Auge darauf, dass hier niemand unbefugt Zutritt bekam, auch keine schwarzen Katzen. Als ich in ihre Richtung blickte, starrte sie mich mit ihren gelben Augen intensiv an. Ich mochte diese Art von Katzen nicht, sie verbreiteten mir Unbehagen und galten in der Welt meiner abergläubischen Großmutter als Unglücksboten.

***

Mrs. Camden wartete bereits vor dem Chemieraum und scheuchte uns ungeduldig auf die Sitzplätze. Wie immer trug sie ihren weißen Kittel, sowie ein paar knallgrüne Gummihandschuhe. In ihrem Outfit machte sie einen ziemlich lächerlichen Eindruck und wurde von den Schülern scherzhaft Mrs. Frankenstein genannt.

»Guten Morgen, heute werden wir uns dem Themengebiet der Aromaten zuwenden und hierfür müssen Sie einige Versuche durchführen. Dazu begeben Sie sich bitte in Zweiergruppen in den Vorbereitungsraum. Die Versuchsanleitung finden Sie auf Seite 598 im Buch. An die Arbeit!«

Thomas und ich folgten Mrs. Camdens Anweisung und bereiteten alles Nötige vor. Thema der heutigen Stunde war die Bromierung von Benzol. Wir beide wussten nichts mit den gegebenen Formeln und Skizzen anzufangen und machten uns unschlüssig an die Arbeit. Bevor ich das, für den Versuch benötigte Benzol in einen Rundkolben schütten konnte, klopfte es lautstark an der Tür. Die gesamte Klasse richtete ihre Aufmerksamkeit nach vorne.

»Wer könnte das sein?«,raunte mir Thomas ins Ohr. Da ich keine Ahnung hatte, zuckte ich mit den Schultern. Es kam selten vor, dass jemand während der Unterrichtszeit die Klassenräume aufsuchte. Dies galt besonders für die Stunden von Mrs. Camden.

»Ja, bitte?«, kam es von unserer Lehrerin, die mit diesen Worten dem Besucher Eintritt gewährte.

»Entschuldigung für die Verspätung.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, marschierte ein dunkelhaariger Junge auf direktem Weg in die hinterste Reihe. Sein plötzliches Auftreten löste heftiges Gemurmel aus. Gebannt lauschte ich einer Schülerin, die direkt vor mir saß.

»Weißt du wer das ist?« Ihre Freundin konnte genau wie ich, nur ratlos mit dem Kopf schütteln. »Das ist Adrian Moth, der kleine Bruder von George«, hauchte sie ehrfurchtsvoll und warf einen flüchtigen Blick nach hinten.

Thomas schaute mich alarmiert an.

»Moth? Ich dachte, die hätten nur einen Sohn. Marie hat nie etwas von einem Bruder erwähnt.« Während Thomas mir das sagte, konnte ich noch die Worte Der soll ein richtiger Psycho sein aufschnappen.

Neugierig wie ich war, drehte ich mich zu dem Neuen um. Er hatte seinen Blick nach unten gerichtet und schien die Tischplatte zu hypnotisieren. Seine Fingernägel hatten sich verkrampft in das Holz gebohrt. Als er kurz aufblickte, fielen mir dunkle Schatten auf, die um seine Augen lagen und auch die Haare reichten ihm tief in die Stirn. Ich konnte eine gewisse Ähnlichkeit zu George Moth feststellen, den ich erst gestern kennengelernt hatte. Merkwürdigerweise schien Mrs. Camden der Vorfall nicht im geringsten zu interessieren, denn sie blätterte unverwandt durch ihre Unterlagen. So, als wäre das eben Geschehene nie passiert.

Während ich die Reagenzgläser mit chemischen Substanzen füllte, beobachtete ich Adrian Moth heimlich weiter. Irgendwie schien er etwas auszustrahlen, etwas völlig Eigenartiges. Mit gesenkten Augen schielte ich zu ihm herüber, leider bemerkte er meinen Beobachtungsversuch. Ich konnte die Farbe seiner Augen sehen, sie waren schwarz. Schwarz wie die Nacht. Die feinen Härchen auf meinen Unterarmen waren wie elektrisiert und möglichst unauffällig machte ich mir einige Notizen zu dem Chemieversuch. Thomas studierte konzentriert die vielen Beschreibungen und schien kein Interesse an dem unheimlichen Jungen zu haben, der nur einige Schritte hinter uns saß. Die Stunde schien sich in die Länge zu ziehen. Doch mir und Thomas gelang es einfach nicht, ein erfolgreiches Resultat zu erzielen. Die meisten Klassenkameraden waren schon fertig und räumten bereits ihre Sachen weg.

»Irgendwas machen wir falsch Thomas.« Ungeduldig klimperte ich mit einem Glasstab in einem braungefärbten Rundkolben. Die Luft war von süßlichen Gerüchen erfüllt, die aus den Reagenzgläsern stiegen. Sie verursachten ein leichtes Schwindelgefühl bei mir.

»Keine Ahnung«, erwiderte er. Ich lächelte resigniert und meine schlechte Stimmung verfinsterte sich noch weiter.

Ich zuckte zusammen, als seine fast lautlosen Worte zu uns herüber drangen. »Ihr habt den Katalysator vergessen. Nur dadurch kann die Reaktion ermöglicht werden.«

Erstaunt, dass Adrian mit uns redete, schaute ich auf. Seine Haare waren zerzaust, so als hätte er gerade einen heftigen Sturm passiert. Sein Gesicht hatte einen freundlichen Ausdruck angenommen, was nicht zu seiner düsteren Aura passen wollte.

Thomas holte die Flasche mit Eisen-III-Bromid aus dem Nebenraum. Gereizt knallte er das Gefäß auf die Tischplatte. Überrascht über Thomas Verhalten, zog ich meine Augenbrauen zusammen. Er verzog sein Gesicht.

»Danke.« Mit einer ruppigen Bewegung bedeutete er Adrian zu verschwinden. Daraufhin wandte dieser sich ab und stapfte in Richtung Ausgang. Ich war verwirrt.

»Was sollte das?« Fragend schaute ich meinen besten Freund an.

»Ich brauche keine Hilfe von einem Verrückten!«

»Du kennst ihn doch gar nicht und es war echt nett, dass er uns geholfen hat.« Gleichzeitig griff ich nach dem Katalysator und füllte das Pulver in den Rundkolben. Dieses zeigte die gewünschte Wirkung und die braune Färbung verschwand. Ich versuchte Thomas wieder ins Gespräch einzubinden.

»Das hätten die ruhig im Buch erwähnen können!« Mein Gegenüber zuckte nur mit den Schultern. Ich verstand sein abweisendes Verhalten nicht, schließlich war seine Schwester mit Adrians Bruder zusammen.

In diesem Moment klingelte es zur Pause, Thomas schoss von seinem Platz hoch und raunte mir »Ich trau dem nicht und das solltest du auch nicht!« zu. Er streifte seinen Rucksack über und verschwand in den Schulgängen. Ich saß verdattert auf meinem Platz und schaute ihm mit leerem Blick nach.

Kapitel 5

Mit einer Hand führte ich den Basketball entlang der Wurflinie. Die raue Oberfläche fühlte sich auf meinen Fingerkuppen an wie Schmirgelpapier. Meine nassgeschwitzten Haare klebten mir im Nacken und ich wartete ungeduldig auf Thomas, dem ich den Ball zupassen wollte. Nach dem Vorfall im Chemieraum hatte ich ihn in der Pausenhalle aufgesucht und zur Rede gestellt. Inzwischen kursierten zahlreiche Gerüchte über Adrian Moth' Rückkehr. Auf der einen Seite beschuldigte man ihn, für den Selbstmord seines Vaters Randall vor einigen Jahren verantwortlich zu sein. Auch seine Mutter war vor fünf Jahren auf mysteriöse Weise verschwunden und niemand hatte sie je wieder zu Gesicht bekommen. Ihr Sohn wurde nach diesen Ereignissen in ein Internat geschickt. Doch viele glaubten nicht daran. Vielmehr vermuteten sie, dass Adrian lange Zeit in der Psychiatrie verbracht hatte. Ich konnte mir letzteres nicht wirklich vorstellen, da man ihn hier an der South Hagerstown Highschool als Schüler aufgenommen hatte. Thomas hatte ein ungutes Gefühl in Bezug auf Adrian und auch ich beschloss erst mal auf Distanz zu gehen. In einer gewissen Weise tat er mir leid, wie er unter vernichteten Blicken zahlreicher Schüler seinen Weg durch die Schule gehen musste. Überall wurde getuschelt und bevor er überhaupt richtig angekommen war, hatten sich sämtliche Mitschüler schon ein eigenes Bild von ihm gebastelt, zusammengesetzt aus Lügen und Gerüchten.

***

Thomas und ich verstanden uns ohne Worte, wenn es um das Zupassen von Bällen ging. Gekonnt fing er meinen Wurf auf und steuerte auf den gegnerischen Korb zu. Ich sprintete ihm hinterher, Seitenstiche zogen durch meinen Oberkörper, aber ich versuchte alles auszublenden. Endlich wollte ich den Crossover erfolgreich absolvieren und das heutige Training sollte dies ermöglichen. Mit einer Dribbelbewegung, auf die ein Kreuzschritt folgte, bereitete ich mich auf den Korbwurf vor. Wenig später spielte mir Thomas den runden Ball zu, mit einem Handwechsel zielte ich gekonnt auf das engmaschige Netz.

»Treffer!« Meine Teamkamerdaden kamen auf mich zu und beglückwünschten mich mit einem festen Handschlag.

»Super Paris!«, schrie Laura, die völlig außer Atem neben mir anhielt. Euphorie über den geglückten Versuch durchströmte mich, darüber vergaß ich auch die Anspielung auf Paris Hilton. Bis auf den Nachnamen hatten wir absolut nichts gemeinsam. Meine Eltern waren nicht steinreich, führten keine Luxushotelkette und äußerlich hatten wir keinerlei Ähnlichkeit. Meine dunkelbraunen Haare band ich mir immer zu einem hohen Zopf. Auf Make-up verzichtete ich größtenteils, lediglich Wimperntusche und Eyeliner zierten meine Augen.

Durch eine Trillerpfeife beendete Coach Naylor unsere Trainingssession. Mit wenigen Punkten Vorsprung hatten wir unsere Gegnermannschaft geschlagen. Seit Wochen arbeiteten wir auf das große Basketballtunier, an dem zahlreiche Highschools aus Maryland teilnahmen, hin. Unter dem Namen South High Rebels waren wir in den Vorjahren ziemlich erfolgreich gewesen. Unsere Logofarben Grün für das Vertrauen und Weiß für die Reinheit jagten dem ein oder anderen Spieler Angst ein, was uns umso mehr anspornte. Die Jungs- und Mädchenmannschaften im Basketball waren das Aushängeschild von Schuldirektor Jakoby. Dementsprechend stolz und ehrgeizig versuchte ich immer mein Bestes zu geben.

Erschöpft gönnte ich mir eine erfrischende Dusche in den Mädchenumkleiden. Das Wasser kühlte meinen erhitzten Körper. Mit noch feuchten Haaren verließ ich die Kabinen, um meine schweren Bücher in den Spinds zu verstauen. Das Basketballtraining war meine letzte Schulstunde gewesen und anschließend wollten Laura und Ava zu mir nach Hause kommen. Wir drei hatten einen DVD-Abend geplant.

***

Gelächter und ein wirres Durcheinander begrüßten mich in der Pausenhalle. Vor den Schließfächern hatten sich sämtliche Schüler versammelt, ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf den Tumult erhaschen zu können. Auf einem der Metallspinds prangte ein tiefroter Schriftzug. Psychopath hatte man in Großbuchstaben auf die Tür gesprayt. Adrian Moth hockte vor seinem randalierten Schließfach und packte wütend seine Unterlagen in einen Rucksack. Dabei mied er es, die Schülermengen direkt anzusehen. Mit gesenktem Kopf suchte er sich seinen Fluchtweg.

»Dem haben wir es gezeigt!«, brüllte ein stämmiger Junge neben mir und konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. Auch seine Kumpels stimmten in den Jubel mit ein. Ich konnte solche Leute nicht verstehen, die sich einen Spaß daraus machten, andere auf so eine Weise fertig zu machen. Ihr Verhalten war einfach nur feige. Auch wenn Adrian sich ziemlich sonderbar verhielt, konnte ich das Gefühl von Mitleid, was mich in diesem Augenblick überkam, nicht unterdrücken. In Chemie war er wirklich aufmerksam gewesen und hatte mir und Thomas geholfen. Vielleicht sollte man ihm eine Chance geben zu beweisen, dass er ganz anders war und nicht ein mordlustiger Psycho, zu dem ihn alle machten.

Ärgerlich drängte ich mich an den johlenden Jungs vorbei, ihre Stimmen verloren sich in den Weiten des Schulgebäudes, als ich nach draußen trat.

***

»Shay, kommst du bitte mal, eure Sandwiches sind fertig!« Die Rufe meiner Mutter drangen in mein Zimmer. In eine Wolldecke gehüllt, saßen meine besten Freundinnen zusammengequetscht auf dem Teppichboden. Draußen hatte es zu regnen begonnen und das Auftreffen der Tropfen hallte auf dem Dach wieder. Im Treppenaufgang nahm ich das Tablett von meiner Mutter entgegen und kehrte nach oben zurück.

»Endlich was zu essen! Ich sterbe vor Hunger.« Gierig streckte Laura ihre Finger nach dem Essen aus. In ihrem Gesicht zeichneten sich tiefe Lachfalten ab, die jetzt deutlich hervortraten. Sie war einfach immer gut gelaunt.

»Habt ihr das auch mitbekommen, das mit dem Spind von Adrian Moth?« Neugierig schielte ich zu den beiden.

»Mhm.« Ava legte ihr Toastbrot zur Seite. »Ich finde es voll heftig. Niemand hat es verdient, gleich am ersten Schultag so behandelt zu werden.« Ich konnte ihren Worten nur zustimmen. Ava sah immer zuerst das Gute in einem Menschen, was sie zu einer wahren Freundin machte.

»Aber unheimlich ist dieser Typ schon«, gab Laura zu bedenken, die bereits ihr zweites Sandwich in den Händen hielt . »Ich meine, der taucht hier einfach so auf. Glaubt ihr, dass an den Gerüchten um seine Eltern etwas dran ist?«

»Vielleicht kann ich ja mal mit Marie reden. Sie kennt George, seinen Bruder«, antwortete ich und pustete mir eine lästige Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Gute Idee. Irgendwie fesselt einen das Ganze ja doch, in Hagerstown ist sonst nie etwas los.«

»So jetzt vergessen wir erst mal diesen Adrian. Sonst schaffen wir nicht einen einzigen Film.« Laura lenkte unsere Gedanken zum eigentlichen Grund dieses Treffens zurück. Aus ihrer Tasche kramte sie zwei DVD-Hüllen.

»Wie wäre es mit Dirty Dancing?« Wenig begeistert tauschten Ava und ich gegenseitige Blicke aus. Laura war ein totaler Tanzfreak und hatte keinen einzigen Film darüber ausgelassen.

»Kommt schon Leute.« Bettelnd wedelte sie mit der Verpackung vor unseren Augen herum.

Ich hatte keine große Lust auf eine Auseinandersetzung, der Tag war schon anstrengend genug gewesen. Deswegen stimmte ich Laura zu und verfolgte geduldig die Lovestory zwischen Frances und Johnny. Auch die Gedanken an Adrian verloren sich in den Tanzschritten der beiden Hauptdarsteller.

Kapitel 6

Eine sanfte Brise wehte von der Wasseroberfläche des angrenzenden Sees zu uns herüber. Sie strich durch die dichten Bäume rund um den Garten der Moth. Das leise Wispern der Blätter begleitete jeden Schritt, den Bette Moth und ich zurücklegten. Die vielen Pfützen auf den verwunschenen Pfaden, die sich quer über das gesamte Grundstück schlängelten, verrieten, dass es in der Nacht heftig geregnet hatte. Obwohl der Tag bereits seit Stunden angebrochen war, verbarg sich die Sonne zum Großteil hinter dem Wald auf der anderen Seite des Sees, der unweit von uns ein gleichmäßiges Plätschern von sich gab.

»Gladiolen sind die unumstrittenen Königinnen unter den Herbstblumen. Sie können bis zu eineinhalb Meter groß werden. Mit ihren hübschen Blüten verleihen sie jedem Beet eine edle Note.«

Bette deutete auf eines der anmutigen Exemplare, dessen violetter Blütenkopf im Wind hin und her schaukelte. Seit etwa einer halben Stunde stellte sie mir sämtliche Pflanzen vor, die in dem riesigen Garten ihr Zuhause hatten. Ich hörte geduldig zu und untermalte mit einem Nicken, ihrer Erzählung aufmerksam zu folgen. Von George hatte ich erfahren, dass seine Großmutter ihr Leben lang eine leidenschaftliche Gärtnerin gewesen war. Seit einigen Jahren schien ihr die Arbeit zu viel geworden zu sein und sie musste ihr Reich der Natur zurückgeben. Sie hatte sich vehement gewehrt einem Gärtner die vielen Beete und Grünflächen zu überlassen.

Ich genoss den kleinen Spaziergang im Freien. Es war eine gute Möglichkeit die alte Dame näher kennenzulernen. Entgegen Thomas Warnungen war ich am frühen Nachmittag vor dem Eingangstor erschienen. Anzeichen, dass Adrian ebenfalls das Haus bewohnte, gab es keine. Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass er irgendwo alleine in einer einsamen Wohnung lebte. Das Aufsehen um ihn hatte sich überraschend schnell gelegt und nur noch vereinzeltes Getuschel verfolgte ihn, wenn er durch die Gänge der Schule strich. Weiterhin mieden es die Leute in Kontakt mit ihm zu treten. Ich war mir nicht sicher, wie ich mich in Bezug auf ihn verhalten sollte und war insgeheim froh, seiner Gestalt nur sehr selten zu begegnen. Bis auf den Chemiekurs hatten wir keinen weiteren Unterricht zusammen. Adrian strahlte etwas aus, das Ärger magisch anzuziehen vermochte. Und von dem wollte ich mich lieber fern halten.

»Guck mal, Schätzchen, wie wundervoll die Dahlien blühen. Jedenfalls ihnen konnte der ständige Regen nichts anhaben«, lenkte Bette meine Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart. Die Tatsache, andauernd Schätzchen genannt zu werden, störte mich nicht. Das Wort strahlte eine gewisse Vertrautheit zwischen uns aus, die bei den meisten Menschen erst nach und nach wachsen musste.

Nach meiner Ankunft hatte Miss Gilmore mich hinter das Haus geschickt. Zwischen den farbenfroh gefärbten, hundertjährigen Eichen hatte Bette auf mich gewartet. Unter den dunklen Schatten der Bäume wirkte sie wie verloren. Mein Beschützerinstinkt schlug sofort Alarm und ließ mich zu ihr eilen. Ich konnte nicht genau sagen, warum diese Frau meine Anwesenheit brauchte. Vielleicht lag es an den träumerischen Momenten, die sie zwischenzeitlich bekam oder dem Zeitmangel der restlichen Familie. Während unseres Rundganges wirkte sie manchmal abwesend und schien mit ihren Gedanken in der Vergangenheit festzustecken. Bei dem Anblick der vielen Blumen erhielten ihre Augen ein freudiges Leuchten und eine Erinnerung huschte über das faltige Gesicht. Sie musste hier früher einmal sehr glücklich gewesen sein.

***

Der Nachmittag neigte sich dem Ende und auch meiner Begleiterin war abzulesen, dass wir eine Pause einlegen sollten. Das viele Gehen hatte sie überanstrengt. Auf einer verwitterten Holzbank fanden wir ein ruhiges Plätzchen. Keuchend ließ sich Bette neben mir nieder. Ihre Finger zitterten und sie krallte sich an meinem Parka fest. Die Rufe einiger Vögel, die in den Bäumen über uns nisteten, vereinten sich zu einem beunruhigenden Flehen und jagten mir eine Gänsehaut ein. In diesem Augenblick flatterte ein Rabe aus dem Gebüsch und flog eine kurze Strecke, bis er sich auf einem Stein niederließ. Er legte seine Flügel an und blieb reglos sitzen. Meine Augen wanderten hin und her. Unterhalb der Krallen, mit deren Hilfe der Vogel seinen Halt suchte, bemerkte ich einen bleichen Schriftzug. Ein Kreuz stach mir in die Augen und ich erkannte, dass es ein Grabstein war, auf dem er thronte. Unweit davon ragten weitere von ihnen aus dem zugewachsenen Boden. Die Moth besaßen offenbar einen eigenen Privatfriedhof auf ihrem Anwesen.

»Mrs. Hilton?!« Erschrocken fuhr ich zusammen, als die Rufe der Haushälterin uns erreichten. Aufgeregt wedelte sie mit den Händen und bedeutete mir, zu ihr zu kommen. Ich schielte zu Bette, doch diese war tief in eine ihrer Erinnerungen versunken.

***

Unbemerkt erhob ich mich und steuerte auf den Wintergarten zu. Die vorbeiziehenden Wolken rasten über die blanken Scheiben. Die Fenster des Anbaus waren in der einsetzenden Dämmerung von goldenem Licht erleuchtet. Mit einem Tablett bestückt, eilte Miss Gilmore in meine Richtung.

»Sie braucht ihren Tee und die Medikamente. Zusätzlich habe ich eine Decke dabei. Sie müssen wissen, die Herrin beginnt schnell zu frieren.«

Ich kam mir ein wenig unfähig vor. Eigentlich war es meine Aufgabe, sich um die Bedürfnisse von Bette zu kümmern. Doch niemand hatte mir etwas von ihren Gewohnheiten oder benötigten Tabletten gesagt. Jared und sein Enkel hatten mich wortwörtlich ins kalte Wasser geschubst. George wollte mir später den Vertrag vorlegen und weitere Einzelheiten erklären. Meiner Meinung nach hätte dies ruhig vor meinem ersten Arbeitstag geregelt werden können. Meine Arbeitgeber glänzten jedoch mit Abwesenheit und vertrauten anscheinend darauf, dass ich alles richtig machte. Dieses Verhalten verschaffte bei mir den Eindruck, dass Bette lästig für die beiden war und es ihnen gelegen kam, sie an mich abzuschieben.

***

Mit den dampfenden Teetassen machte ich mich auf den Rückweg zur Bank, wo ich Bette wenige Minuten zuvor alleine gelassen hatte.

Kapitel 7

Bette verfolgte Shay's Gestalt, bis diese nach und nach zu einem kleinen Punkt wurde, der Richtung Wintergarten verschwand. Sie genoss die angenehme Ruhe, die sich um sie gelegt hatte. Der Wind streifte mit seinen feuchten Fingern ihr Gesicht und ließ sie frösteln. Dieser Herbst war überdurchschnittlich kalt und auch die Niederschlagszahlen lagen weit über den Normalwerten. Es gab kaum mehr einen Tag, an dem die Wolken nicht ihr aufgestautes Leid über den Köpfen der Menschen vergossen. Sie hasste es, wenn sich ihre Haare in der andauernden Feuchtigkeit zu kräuseln begannen und ihre Frisur ruinierten.

In der Ferne hörte sie die Stimme von Miss Gilmore, die sich gegen den aufkommenden Wind auflehnte. Wahrscheinlich hielt sie dem Mädchen wieder einen ihrer weisen Vorträge, in denen sie alles besser wusste und versuchte die Kontrolle über ihre Mitmenschen zu gewinnen. Bette hatte diese Frau nie gemocht. Mit ihren nachgezogenen Augenbrauen und den streng nach hinten geklemmten, roten Haaren, die inzwischen ihre leuchtende Farbe gegen blasses Grau eintauschen mussten, veranlasste sie die Leute, auf Abstand zu gehen. Seit über drei Jahrzehnten war sie für das Anwesen in der West Church Street zuständig. Sie erledigte die Einkäufe, kümmerte sich um die Wäsche und hielt den Haushalt größtenteils auf dem Laufenden. In letzter Zeit hatte Bette verstaubte Bücher und glanzlose Wandteller entdeckt. Das fortschreitende Alter hatte Miss Gilmore genauso wenig verschont wie sie selbst. Auch wenn es nur zwei Nachmittage in der Wochen sein würden, so brachte die junge Shay schon an ihrem ersten Tag neuen Flair in die veraltete Atmosphäre, die den sonst so trostlosen Alltag zu erdrücken drohte. Sie schien ein vernünftiges Mädchen zu sein.

Im Allgemeinen hatten die letzten Tage Bettes Leben durcheinander gebracht. Adrian war wie selbstverständlich erschienen, als wäre er nie fort gewesen. Dennoch hatte sie ihn kaum wieder erkannt. Die kindlichen Züge waren aus seinem Gesicht verschwunden und einem ernsten und verschlossen Ausdruck gewichen. Nach seiner Rückkehr bekam sie ihn erst am darauffolgenden Morgen zu Gesicht. Jared und George hatten alles in die Wege geleitet, damit er wieder zur Schule gehen konnte. Die Zeit im Internat hatte Spuren hinterlassen. Adrian war ihr distanziert und abweisend gegenüber getreten, auf eine Art, die sie verletze. Früher war er bei jeder Kleinigkeit zu ihr gekommen. Mit einem Lächeln erinnerte sie sich an die Dose mit Mandelbonbons, von denen sie ihm immer heimlich welche zugesteckt hatte. Victorias Vorwurf rückte in ihr Gedächtnis. »Mutter, du verwöhnst ihn zu sehr. Er muss lernen, dass er im Leben nicht alles bekommt.«

***

Bettes Beine wurden schwer und sie stand auf, um mit ein bisschen Bewegung die Wärme in ihren Köper zurück zu bekommen. Anscheinend hielt Miss Gilmore das Mädchen für eine längere Zeit in ihren Fängen fest. Als sie den Boden unter den Füßen spürte, schweifte ihr Blick über den Friedhof. Der sich dahinter befindende See strahlte eine überwältigende Größe aus, die sie auf sich wirken ließ. Sie war schon lange nicht mehr hier draußen gewesen. Meistens mied sie es in den hinteren Bereich des Gartens vorzudringen. Hier war der Fortmarsch der Natur am gewaltigsten und machte ihr klar, dass sie nicht mehr genügend Kraft aufbrachte, um ihren Garten zu pflegen. Die Nachmittage verbrachte Bette in der Regel auf ihrem Zimmer oder hinter den Fenstern des Wintergartens. Für gewöhnlich las sie einen alten Kriminalroman und sorgte sich um Victoria. Schmerzlich kam die Erinnerungen an ihr zersplittertes Gesicht zurück. Nur einen Moment hatte sie nicht aufgepasst und dann war es passiert. Sie hoffte ihren Fehler schnellstens in Ordnung bringen zu können.

Bette seufzte und mit einem Krächzen antwortete ihr der Rabe, der die ganze Zeit über auf dem Grabstein gelauert hatte. Er wandte den kleinen Kopf zu ihr und ein Ausdruck der Verblüffung überschattete sein Gesicht. Nach einigen Sekunden landete er mit einem Satz hinter dem Stein. Ein aufgeregtes Scharren drang an ihr Ohr und machte sie neugierig. Sie trat näher heran. Die kühlen Abendtemperaturen krochen ihr durch die Kleidung und raubten ihrem Körper das letzte Fünkchen Wärme. Sie musste sich endlich bewegen und machte ein paar Schritte in Richtung See. In der Dunkelheit zeichnetet sich ein vertrockneter Laubhaufen ab, von dem der Rabe vereinzelt Blätter rupfte. Fasziniert, wie geschickt das Tier bei seiner Arbeit vorging, verharrte sie kurz in ihrer Position. Ein ausgedörrtes Ahornblatt segelte zu Boden und entblößte eine helle Stelle. Dem Vogel schien die Angst zu packen und mit einem lauten Flügelschlag verschwand er über den Köpfen der Bäume. Bette ging in die Hocke und fegte weitere Blätter von dem Haufen. Dabei ging sie nicht annähernd so sorgfältig vor, wie der Rabenvogel vor ihr. Die helle Stelle vergrößerte sich und Bette arbeitete besessen weiter. Unter ihren Fingernägeln verfing sich die nasse Erdkruste und spitze Steine schabten ihr über die Hand. Mit einem Keuchen wich sie zurück. Aus der Ferne erkannte sie, was sie soeben ausgegraben hatte. Der Schock lähmte sie. Leblose Augen starrten sie an, eingelassen in eine Maske. Der Gestalt fielen lange, schwarze Haare über die Schultern, in denen sich dünne Äste verfangen hatten. Bette schluckte. Ihr Herz begann zu rasen und ein Bild blitze vor ihr auf. Victoria, wie sie ihr lachend um den Hals fiel und sie dann um Armeslänge entfernt, angestrengt betrachtete. Sie hatten sie so lange nicht gesehen. Plötzlich verwandelte sich ihre Tochter in eine leblose Silhouette. Das konnte nicht sein.

***

»Bette, wo sind Sie?« Atemlos kam das junge Mädchen hinter ihr zum Stehen. Ihre Schritte stockten und ein erschrockener Schrei entwich ihrer Kehle, ehe etwas scheppernd zu Boden ging. Süßlicher Teegeruch stieg Bette in die Nase.

»Oh Gott. Wer ist das?« Fassungslos legte sich Shay ihre zitternde Hand auf den Mund.

»Victoria, meine Tochter.«

Kapitel 8

»I was born one mornin', it was drizzlin' rain.« Im Rhythmus zu Johnny Cash's Gitarrenklängen tippte Natalie Weaver auf das Lenkrad ihres Dienstwagens. Die Zeilen passten perfekt zu dem Wetter, das jenseits ihrer Windschutzscheibe herrschte. Den ganzen Tag über war es überwiegend freundlich und trocken gewesen. Letztendlich konnten die Wolken ihre Wassermassen nicht mehr bei sich behalten. Sinnflutartig stürzten die Regentropfen vom Himmel herab und stellten Natalies Scheibenwischer vor eine große Herausforderung. Nur mit aller Mühe konnte sie die ungehinderte Sicht auf die Straße aufrecht erhalten. Das Auftreffen des Regens hallte laut auf dem Autodach wider, sodass Natalie das Radio lauter drehen musste. In dieser Gegend von Hagerstown war sie bisher nie gewesen. Erst vor rund einem Monat hatte man sie hierher an die Ostküste versetzt. Genervt griff sie nach einer zerfledderten Straßenkarte, die neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Bis zur West Church Street war es nur noch ein kleines Stück. Seit mehreren Minuten war sie an keinem einzigen Haus vorbeigefahren, lediglich ein paar Bäume reihten sich am Straßenrand. Sie kniff ihre Augen zusammen, um den Schlaglöchern vor ihr besser ausweichen zu können. In einiger Entfernung konnte sie parkende Autos ausmachen und hinter einem gelben Absperrband hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Das musste der Tatort sein. Natalie parkte ihren Chevrolet neben einem protzigen BMW.

***

Bevor sie aussteigen konnte, wurde ihr die Tür geöffnet.

»Sheriff Weaver, schön dass Sie auch endlich eingetroffen sind.« Der Mann trat einen Schritt zurück und bot ihr somit die Möglichkeit ihn genauer zu mustern. Er trug eine braune Lederjacke, die von der andauernden Nässe glänzte. Der Kragen war aufgestellt, was in der heutigen Zeit nicht sonderlich üblich war. Er war groß, mindestens eins neunzig. Das feuchte Haar schimmerte im Licht einer alten Gaslaterne rotgolden.

»Dankeschön. Und mit wem habe ich das Vergnügen?« Natalie war mittlerweile ausgestiegen und ihre braunen Schnürschuhe tief im matschigen Sandboden versunken. Sie hatte den Kerl noch nie gesehen. Denn an das Gesicht hätte sie sich erinnert. Unbekannte genauestens unter die Lupe zu nehmen, war eine ihrer Angewohnheiten, die ihr in ihrem Job oftmals zugutekam. Nicht umsonst war sie mit ihren siebenundzwanzig Jahren zum Sheriff für Hagerstown und Umgebung aufgestiegen.

»Detective William R. Ritch. Ehemals NYPD.« Die Art, wie er sich vorstellte, konnte ein gewisses Maß an Arroganz nicht verbergen. Er schaute sie erwartungsvoll an, als müsste sie sich, als ihm Untergeordnete, irgendwie dazu äußern. Natalie wischte sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn und stülpte sich die Kapuze ihrer olivfarbenen Regenjacke über. Anscheinend würden sie und dieser Ritch hier noch ein Weilchen länger stehen.

»Weiß man schon Näheres?«

»Die Tote heißt Victoria Moth und wird bereits seit fünf Jahren vermisst. Ihre Mutter hat sie gefunden.«

Natalie nickte. In der kurzen Zeit, in der sie hier lebte, war sie mehrmals über diesen Namen gestoßen. In einigen Polizeiakten war vom möglichen Selbstmord des Mannes der Toten die Rede gewesen. Man hatte diesen Fall nie vollständig aufklären können. Vielleicht war der Fund seiner Frau ein Verbindungstück, das die langjährigen Ermittlungen endlich zu Ende führen konnte.

»Sheriff Coroner ist bereits bei der Leiche. Wir sollten zu ihr gehen«, forderte Ritch sie auf.

***

Schweigend setzten sie sich in Bewegung, schlüpften unter dem Absperrband hindurch und steuerten auf die Gerichtsmedizinerin zu, deren weißer Overall in der einsetzenden Dämmerung leuchtete.

»Eine Leiche auf einem Friedhof, wie passend «, ging es Natalie durch den Kopf, als sie wenig später neben der Toten in die Hocke ging. Auf diese Weise konnte sie sich einen besseren Eindruck verschaffen und eine erste Verbindung zum Opfer aufbauen. Die Tote trug ein weißes Nachthemd, auf dem die Erde schmutzige Spuren hinterlassen hatte. Nirgends war Blut zu sehen. Ihr fielen die glatt gekämmten Haare auf, deren intensives Schwarz fast lebendig wirkte.

»Die Frau liegt noch nicht lange hier, somit kann ich den Garten als Tatort ausschließen«, meldete sich Sheriff Coroner zu Wort. Sie nahm ihre Brille von der Nase und putze die Gläser mit dem linken Ärmel ihres Overalls.

»Todeszeitpunkt?« Ritch war hinter Natalie getreten.

»Die Leiche ist eiskalt, als hätte man sie vor wenigen Stunden aus einer Gefriertruhe geholt. Sie liegt hier nicht länger als vierundzwanzig Stunden. Näheres kann ich erst nach der Obduktion sagen.«

»Irgendwelche Anzeichen von Gewalt?« Der Detective wollte sich nicht geschlagen geben.

»Bis auf eine Kopfwunde ist Victoria Moth unversehrt.«

Natalie gefiel es, dass Louisa Coroner die Opfer bei ihrem Namen nannte. Dadurch wurde die Würde dieser Menschen auch noch nach dem Tod aufrecht erhalten.

Durch die Scheinwerfer der Spurensicherung war alles hell erleuchtet. Natalie begutachtete ihre Umgebung. Alte verdorrte Äste mischten sich mit vom Regen aufgeweichtem Laub. Die glitschigen Blätter schienen den ganzen Erdboden des Friedhofes zu bedecken.

»Kein schöner Ort, um den Toten ihre letzte Ruhe zu erweisen«, stellte Natalie fest. Sie wendete sich noch ein letztes Mal der Toten zu. Victoria Moth hatte ein makelloses Gesicht, was selbst im Tod seine Schönheit nicht verloren hatte. Sie musste früher einmal eine sehr attraktive Frau gewesen sein, bevor man ihr von einem Tag auf den anderen das Leben genommen hatte.

Mit einem leisen Räuspern machte sich Ritch bemerkbar.

»Ich denke, es wird Zeit sich drinnen aufzuwärmen und den Angehörigen ein paar Antworten zu entlocken.« Seinen Worten folgte ein aufgesetztes Lachen, in das Natalie nicht einstimmen konnte. Humor hatte er anscheinend nicht.

***

Die beiden entfernten sich vom Tatort.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, als hätte jemand gewollt, dass man Victoria Moth hier finden würde.«

»Nach einem guten Versteck sah es jedenfalls nicht aus.« Ihr Gespräch wurde von zwei Sanitätern unterbrochen, die eine Bahre vor sich herschoben. Natalie drehte sich kurz nach ihnen um und sah, dass Sheriff Coroner den Männern ein paar Anweisungen gab. Vielleicht würde die Autopsie mehr Klarheit in den Fall bringen. Noch war sie optimistisch. Der Beginn eines neuen Falles war aufregend und jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung.

»Wir finden die Haushälterin und das Mädchen, das die Polizei verständigt hat, gleich da vorne.« Ihr Kollege deutete auf zwei Silhouetten, die schemenhaft hinter den Fensterscheiben des Wintergartens zu erkennen waren. Mit seiner anderen Hand griff er in seine Jackentasche und holte einen schwarzen Notizblock hervor.

»Zeit für eine Befragung.«

»Sie sind wohl noch von der ganz alten Schule.» Natalie wies mit einem Nicken auf den Block. Heutzutage war es üblich seine Notizen in einem Smartphone festzuhalten.

»Was dagegen?«

»War nur ne' Frage«, ärgerlich beschleunigte sie ihr Tempo und erreichte eine bröckelige Steintreppe. Links und rechts hauchten zwei Kürbisse den grauen Steinen etwas Farbe ein. Sie legte ihre Hand auf den Griff der großen Glastür. Das Metall fühlte sich eiskalt an. An einem massiven Holztisch hatten eine ältere Dame, die nervös an ihrem Seidentuch herumspielte und ein junges Mädchen Platz genommen. Der Schock stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Natalie seufzte. Am liebsten hätte sie den Leuten Zeit für sich gegeben, aber ihre Arbeitspflicht schrieb ihr anderes vor.

Kapitel 9

Ich weiß nicht, wie lange wir dort gesessen haben, ohne zu reden, bis die Kommissare in den Raum kamen. Der Mann trug keine Uniform, sondern eine gewöhnliche Lederjacke. Die Frau hatte sich als Natalie Weaver vorgestellt und mir freundlich die Hand entgegengestreckt. Mir fiel ihr dunkler Teint auf, der nicht zur eher bleichen Hautfarbe der meisten Leute hier an der Ostküste passen wollte. Wahrscheinlich kam sie aus einem der Südstaaten.

Der Schock saß immer noch tief. Mit der Hilfe einer Krankenschwester hatte man Bette ruhig stellen müssen, die sich voller Verzweiflung auf die Leiche gestürzt und an der toten Frau festgeklammert hatte. Die gesamte Szene hatte mich so gerührt, dass mir nach und nach die Tränen kamen. Bis zum Eintreffen der ersten Streifenwagen hatten Mrs. Gilmore, Bette und ich im Garten ausgeharrt. Wir hatten wie gelähmt vor den Grabsteinen gestanden, jeder für sich in seine Gedanken versunken. Es war wie im Film.

»Sie sind Sie bereit, sodass meine Kollegin und ich Ihnen ein paar Fragen stellen können?« Der Mann hatte wieder das Wort ergriffen. Irgendwie hatte ich mir seinen Namen nicht merken können und fand es unangepasst ein zweites Mal danach zu fragen. Mein Gehirn war benebelt von den vorigen Ereignissen und würde sicherlich noch einige Tage brauchen, um sich davon zu erholen.

Ein Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Mrs. Gilmore war aufgestanden, um einige Holzscheite in die gierigen Flammen des Kamins zu werfen. Für einen Moment war nichts anderes zu hören, als das heiße Feuer, welches am trockenen Holz nagte. Die Gestalt der Haushälterin stand mit dem Rücken zu mir und blickte verloren auf den langegestreckten Garten, der in ein trübes Herbstlicht getaucht wurde. An der Dunkelheit draußen fiel mir erst auf, wie spät es schon war. Die Polizisten hatten bereits meine Eltern verständigt und ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie sie reagieren würden. Bisher hatte ich es nicht für nötig gehalten, ihnen von meinem neuen Job bei den Moth zu erzählen. Ich wollte endlich etwas alleine auf die Reihe kriegen.

»Sind Sie in der Lage ein paar Dinge zu beantworten?« Erst jetzt bemerkte ich, dass keiner von uns dem Kommissar geantwortet hatte, sodass er seine Worte wiederholen musste. Ich nickte benommen.

Er stellte uns alle möglichen Fragen und beobachtete uns mit zusammengekniffenen Augen, zwischen denen sich eine Zornesfalte gebildet hatte. Seine Kollegin blieb die ganze Zeit über ruhig. Während ich redete, spulte sich das ganze Szenario ein zweites Mal vor meinen Augen ab. Bette, wie sie verloren neben ihrer Tochter am Boden saß, ihre kalten Finger mit den ihren verschränkt. Das Tablett, das scheppernd zu Boden fiel. Und wie ich zurück zu Miss Gilmore rannte. Der Mann machte sich eifrig Notizen, was meine Nervosität noch verstärkte. Ich hatte das eigenartige Gefühl, das alles was ich hier sagte, irgendwann gegen mich verwendet werden konnte.

»Wie lange arbeiten Sie schon für die Familie Moth?« Diesmal richtete er seine gesamte Aufmerksamkeit auf mich. Unter dem Blick seiner fast schwarzen Augen, rutschte ich unruhig auf dem roten Kissen eines Korbstuhls hin und her.

»Heute war mein erster Tag«, brachte ich mühsam zu Stande. Es fühlte sich an, als hätte ich etwas verbrochen. Als wäre mein Auftauchen der Grund für diese Katastrophe.

»Das ist ja ein netter Einstieg.« Ein Lächeln erschien in seinen Mundwinkeln. Aber ehe es seine Augen erreichen konnte, war es wieder erloschen. Ich konzentrierte mich darauf, die Blütenblätter einer Orchidee zu zählen, die vor mir auf dem Tisch stand. Wann war dieses Verhör endlich zu Ende?

***

Aus dem Eingangsbereich drangen aufgeregte Stimmen zu uns und ließen mich in die triste Realität zurückkehren. Im Türrahmen zum Wintergarten erschien Jared Moth. Es lagen fast zehn Meter zwischen uns, dennoch konnte ich einen angespannten Ausdruck in seinen Augen erkennen. Nach einem Augenblick des Stillschweigens, erhob er seine Stimme.

»Wir konnten leider nicht früher kommen. Der Berufsverkehr, Sie wissen schon.« Er wandte sich dem Detective zu. Offenbar waren auch er und sein Enkelsohn informiert worden. Ich fragte mich, ob Adrian auch bei ihnen war.

»Frau Hilton. Ich denke, es ist jetzt Zeit zu gehen. Oder haben Sie noch irgendwelche Fragen, Herr...?«

»William R. Ritch.« Eine leichte Spannung breitete sich zwischen den beiden Männern aus. Es glich einem Kräftemessen.

»Nein, es ist alles gesagt. Frau Hilton kann gehen.«

Unsicher erhob ich mich von meinem Platz und murmelte ein leises »Auf Wiedersehen«, ehe ich in den Flur hinaustrat. Am Treppenaufgang begegnete ich Adrian und seinem älteren Bruder. Dunkle Ringe hatten sich unter ihre Augen gelegt. Für einen Moment bekam ich keine Luft. Adrians Gesicht war schmaler geworden und es legte sich Verwunderung in seinen Blick. Zumindest kam es mir so vor.

»Ich werde nach Großmutter sehen«, flüsterte er und schaute seinen Bruder an. Von einem Augenblick auf den anderen befand er sich auf der Treppe und ging zielstrebig nach oben. Seine abweisende Haltung verletze mich. Aber was konnte man anderes erwarten. Ich kannte ihn kaum und er hatte vor wenigen Stunden erfahren, dass seine Mutter nicht nur verschwunden, sondern tot war.

»Es tut mir leid«, stotterte ich, obwohl ich wusste, dass Adrian mich nicht mehr hören konnte.

»Ist schon in Ordnung.« George guckte mich traurig an. Im Vorbeigehen legte er kurz seine Hand auf meine Schulter und verschwand schließlich in dem Raum, in dem man bereits auf ihn wartete. Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden und flüchtete aus der beklemmenden Atmosphäre nach draußen.

***

Ein modriger Geruch stieg mir in die Nase, als ich unter dem Vordach hinaus in den Regen trat. Zu diesem Zeitpunkt, vermisste ich den Sommer und den Duft nach frischem Gras. Bei dem deprimierenden Wetter der letzen Wochen, sehnte ich mich nach den tröstenden und wärmenden Strahlen der Sonne. Ich bog auf die Auffahrt. In der Ferne krochen zwei dumpfe Scheinwerferlichter auf mich zu. Ich ging zwischen den Bäumen hindurch, die wild nebeneinander wucherten und erreichte das Eingangstor. Mit einem großen Ausfallschritt stieg ich über die fauligen Zeitungen hinweg, die verteilt auf dem Boden lagen.

»Shay, was machst du für Sachen?« Meine Mutter schaute mich vorwurfsvoll an, nachdem sie den Wagen abgestellt hatte. Ihr Gesicht verschwamm, als ich schluchzend in ihre Arme lief. Ihre kühle Hand legte sich auf meine Stirn.

»Mein Gott, Shay!« Mein Körper bebte und mir war schwindelig. Die Gedanken kreisten nur so in meinem Kopf. Doch ich wollte überhaupt nicht mehr denken.

»Geht schon wieder«, setzte ich an, verstummte aber vorzeitig vor Erschöpfung. Einige Minuten später saß ich im Auto, meinen Kopf zurück gelehnt und meine Augen geschlossen. Zuvor hatte meine Mutter noch mein Fahrrad in den Kofferraum verfrachtet. Die leisen Klänge des Autoradios waren beruhigend für meine Nerven.

***

Ich wachte von einem Klopfen an der Tür auf und warf einen verdatterten Blick durch die Fensterscheibe. Mit einem Seufzer richtete ich mich auf. Kaum zu glauben, dass ich wirklich eingeschlafen war. Mein Vater streckte seinen Kopf zu mir herunter und öffnete die Tür von außen.

»Meine Kleine. Komm' ich bringe dich ins Haus.« Wankend krallte ich mich am Ärmel seiner braunen Cordjacke fest und schlurfte an seiner Seite nach drinnen.

»Ich denke, du hast uns einiges zu erklären«, setze meine Mutter an.

»Nicht jetzt, Aya. Du siehst doch, dass es ihr nicht gut geht. Es ist für uns alle das Beste, wenn wir uns morgen in aller Ruhe zusammensetzen.«

Einen Streit zwischen meinen Eltern konnte ich nicht auch noch ertragen und ging wortlos in mein Zimmer. Aus dem Wohnzimmer drangen hitzige Stimmen zu mir, die zu einem stummen Hintergrundgeräusch wurden, als ich die Tür ins Schloss fallen ließ. In der Mitte wartete mein Bett auf mich. Ich hatte nur noch die Kraft, meinen Parka und die Chucks auszuziehen, bevor mir die Augen zufielen.

In der Nacht wurde ich von wirren Träumen heimgesucht. Ich durchlebte die Rückfahrt vom Moth' Anwesen nach Hause noch einmal. Doch anstelle meiner Mutter, war es Victoria Moth, die neben mir am Steuer saß. Sie trug ein cremefarbenes Abendkleid im viktorianischen Stil. Unterhalb eines schwarzen, eng anliegenden Korsetts fiel bleicher Tüll Stoff um ihre dünnen Beine. Anstatt auf die Straße zu achten, starrte sie mich unverwandt an.

»Ich bin tot.« Ihre Stimme glich einem Windhauch, der zu mir herüber wehte. Ihre Mascara schien sich zu verflüssigen und lief in dunklen Bahnen ihr Gesicht herab. Auf dem Kleid angekommen, verwandelten sie sich in rote Blutstropfen. Ich versuchte zu schreien. Aber meiner Kehle wollte kein Laut entweichen.

»Ich bin tot.« Ich wollte mir meine Ohren zuhalten, aber meine Hände bewegten sich nicht. Wie angegossen klebten sie in meinem Schoß fest. Plötzlich wurde das Licht der Autoscheinwerfer gebrochen, als abertausende kleiner Falter auf uns zukamen. Mit ihren zerbrechlichen Körpern setzten sie sich auf der Windschutzscheibe ab. Neben mir riss Victoria das Lenkrad um und versuchte den Motten irgendwie auszuweichen. Vergebens. Kurz darauf befanden wir uns in absoluter Dunkelheit. Das Letzte, was ich vernahm, war das Zerbrechen von Glas und einen schneidenden Schmerz, der sich auf meiner Stirn entlang zog.

Kapitel 10

Der bitterkalte Sturm peitschte gegen mein Fenster und ein kühler Luftzug ließ mich in meinem dünnen Schlafanzug frösteln. Wie immer trug ich nur ein weites, weißes T-Shirt und eine kurze Shorts. Meine Hände waren kalt und meine Lippen und Wangen wie betäubt. Ich schlang mir meine noch warme Bettdecke um die Schultern und lehnte meinen Kopf an das eiserne Bettgestell. Gestern hatte man eine Unwetterwarnung für den heutigen Samstag herausgegeben und die Bewohner gebeten, nur in Notfällen ihr Haus zu verlassen. Ein Sturmtief über Florida hatte mittlerweile Maryland erreicht und wütete seit letzter Nacht auch in Hagerstown.

Ich schreckte zusammen, als die Fensterläden laut gegen die Hauswand schlugen und vergrub mich noch tiefer in meinen Kissen. Den gestrigen Tag hatte ich zu Hause verbracht, größtenteils in meinem Zimmer. Wie von meinem Dad vereinbart, musste ich mich am Morgen einigen unangenehmen Fragen am Frühstückstisch stellen. Immer wenn es etwas ernstes zu bereden gab, setzte meine Mutter eine Teekanne mit Maesilcha auf. Dabei handelte es sich um ein Geheimrezept meiner Großmutter, um aufgeheizte Gemüter zu beruhigen. Lediglich der intensive Geruch nach Aprikosen gab eine der geheimen Zutaten preis.

»Wie um alles in der Welt bist du auf die Idee gekommen ausgerechnet bei dieser Familie zu arbeiten?«, fragte meine Mutter und versteifte ihren Rücken noch mehr, als sie es ohnehin schon tat. Ich wollte mich nicht für meine Taten rechtfertigen und starrte auf die vielen Wandteller, die ich im Alter von sieben Jahren zusammen mit Thomas und meinem Vater mit bunten Farben bemalt hatte.

»Antworte mir gefälligst, Shay!«, schrie sie in meine Richtung.

Mein Vater war auffallend ruhig. Er saß nicht mit uns am Tisch, sondern hatte sich an die hölzerne Anrichte gelehnt, die im Übergang zu unserer Küche stand. Ich hatte den Eindruck, als wollte er dem Streit am Tisch entgehen. Ein Anflug hilfloser Wut überkam mich, da es mir immer sehr schwer fiel, mich gegenüber meiner Mutter zu verteidigen.

»Ich brauchte das Geld für das Konzert.« Ich sah wie mein Dad seine Hände verschränkte und nachdenklich auf seine Finger schaute. Kleine Falten bildeten sich auf seiner Stirn.

»Meine Kleine, ich weiß, dass wir im Moment finanziell gesehen nicht unsere besten Zeiten haben. Dennoch hättest du uns von deinem Job erzählen können. Ich verstehe nicht, warum du nichts gesagt hast.«

»Genau darum. Immer meinen alle alles besser wissen zu müssen. Außerdem kennt ihr die Familie doch gar nicht oder wart ihr jemals dort?«

»Darum geht es hier nicht«, mischte meine Mutter sich wieder ein und zupfte am Kragen ihrer rosafarbenen Strickjacke. »Es ist ein Mord passiert und du wirst nie wieder einen Schritt auf deren Grundstück setzen!«

»Ich werde in einem Jahr achtzehn und kann auf mich selbst aufpassen.«

»Aber nicht, wenn ein Mörder frei herumläuft«, schnitt mir mein Vater das Wort ab. Die Diskussion zog sich in die Länge und ich hatte keine Chance, die beiden von meinen Ansichten zu überzeugen. Fortan musste alles, was ich unternehmen wollte erst bei einem gemeinsamen Essen durchgesprochen werden. Ich fühlte mich bevormundet wie ein zehnjähriges Kind.

***

Zum tausendsten Mal versuchte ich das Gespräch aus meinem Kopf zu verbannen. Ich dachte an Bette und daran, wie es ihr wohl ging. Würde man sich gut um sie kümmern? Bei der Sorge um sie, spürte ich, wie mein Herz zusammenkrampfte. Sich unentwegt Gedanken über andere zu machen, war eine typische Angewohnheit von mir. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie es war, wenn man seine fünf Jahre lang vermisste Tochter im eigenen Garten leblos auffand. Fünf Jahre voller Ungewissheit, aber mit der winzigen Hoffnung, sie eines Tages wiederzusehen. Mir stiegen die Bilder von vorgestern Nacht wieder in den Kopf. Der grässliche Albtraum zog mich erneut in seinen Bann. Mein Puls begann zu rasen. Durch die aufkommende Panik zitterten meine Hände.

»Shay, es war nur ein Traum. Nur ein Traum«, versuchte ich mich zu beruhigen und richtete meinen Blick auf den Laptop, der schwer in meinem Schoß lag. Ich hatte ihn gegen die Bettdecke eingetauscht. Um ein wenig Routine in mein Leben zurückzubekommen, testete ich ein neues Programm, welches ich vor einigen Wochen selbst erstellt hatte. Ich tippte die letzten Befehle in den Quelltext und drückte auf »Ausführen«. Wie gewünscht, erstreckten sich zahlreiche Framegerüste über den Monitor. Zufrieden drückte ich auf den Speicherbutton. Endlich lief mal etwas so, wie ich es wollte.

***

»Shay ist oben in ihrem Zimmer. Geh einfach hoch.« Die Stimme meines Vaters ließ mich aufhorchen und nur wenige Sekunden später stand Thomas vor meiner Bettkante.

»Na, du«, begrüßte er mich. »Da du ja gestern der Schule fern geblieben bist, habe ich dir ein paar nette Arbeitsaufträge mitgebracht. Und ich soll dich ganz lieb von Mrs. Frankenstein grüßen. Unser Versuch hat bei ihr anscheinend als bester abgeschnitten.«

»Du weißt aber, dass das Adrians Verdienst ist oder?«, erinnerte ich ihn. Thomas' Gesicht wurde einen kurzen Augenblick ausdruckslos.

»Ja, natürlich.« Er zwang sich zu einem müden Lächeln.

Mir war klar, dass ich das falsche Thema angesprochen hatte und wollte ihn aus dieser Ecke locken. Der tosende Wind beanspruchte kurzzeitig unsere Aufmerksamkeit und bot mir die Gelegenheit, Thomas wieder auf andere Gedanken zu bringen.

»Wie hast du es eigentlich unbemerkt geschafft, bei diesem Wetter dein Haus zu verlassen und zu mir herüber zu kommen? Du hättest von einem Ast erschlagen werden können.«

»Ich fürchte, ich hatte einfach Glück«, sagte er lächelnd und klopfte auf ein schwarz gepunktetes Kissen. Genau das schätze ich an ihm. Er war nicht nachtragend und keiner konnte ihm lange böse sein. Wenn ich Streit mit Ava oder Laura hatte, war immer er es, der zwischen uns vermittelte.

Mit einem Pling machte sich mein Handy bemerkbar, das auf meinem Nachttisch lag. Neugierig darüber, wer mir eine Nachricht hinterlassen hatte, streckte ich meine Hand nach dem Gerät aus. Es war eine SMS von Laura.

»Und wer sehnt sich nach dir?«, fragte Thomas und zwinkerte mir zu.

»Nach uns«, verbesserte ich ihn und ergänzte »Laura will, dass wir Sonntag zusammen zum Gründerfest gehen.«

»Ach stimmt, das hatte ich ganz vergessen, sie hat mich gestern schon in der Schule danach gefragt. Also ich muss sowieso hin, Marie verkauft irgendein wohltätiges Zeug und ich wurde zum Kartonschleppen verurteilt.«

Ich nickte stumm. Eigentlich hatte ich nicht wirklich Lust auf das Fest. Mir war nicht nach großer Gesellschaft und außerdem feierten wir diesen Tag zu Ehren von Jonathan Hager ohnehin jedes Jahr. Großartig verpassen, würde ich wohl nichts. Thomas atmete einmal tief ein und aus, bevor er sich neben mich auf die Matratze plumpsen ließ.

»Mein Gott Shay, ich verstehe ja, dass dich der ganze Vorfall ziemlich mitgenommen haben muss, aber du verkriechst dich jetzt seit eineinhalb Tagen in deinem Zimmer. Du musst mal wieder etwas anderes sehen, als dein zerkratztes Parkett, was obendrein noch ziemlich durchgelatscht ist.«

»Wie kann ein Parkett bitte durchgelatscht sein?« Bei Thomas' komischer Wortwahl konnte ich nicht anders und musste lauthals loslachen. Er stimmte mit ein und warf ein Kissen nach mir, welches ich geschickt mit meiner Faust in Richtung Boden lenkte.

Thomas beugte sich zu mir und starrte mir durchdringend in die Augen.

»Bitte, bitte, bitte komm mit. Tu es für mich!« Theatralisch warf er sich wieder nach hinten und gluckste wie ein aufgedrehtes Huhn.

»Wenn du schon so bettelst, kann ich ja nicht anders als »Ja« zu sagen.«

»Yes, yes, yes. Ich habe es geschafft, Shay Hilton zu überzeugen.« Er boxte siegessicher seine Fäuste in die Lust.

»Du bist ein echter Knallkopf.« Kopfschüttelnd stand ich vom Bett auf und griff nach dem Kissen am Boden. Erschrocken fuhr ich zusammen, als ich realisierte, was sich darunter befand. Ein kleiner Nachtfalter streckte seine Flügel aus, hob und senkte sich. Ich stolperte einige Schritte zurück, blinzelte und versuchte klar zu denken.

»Was hast du denn?«, fragte Thomas verwundert. Keuchend zeigte ich auf das Insekt vor mir.

»Das ist ne' Motte, nichts weiter?« Argwöhnisch schaute er mir ins Gesicht.

»Motten verkünden negative Ereignisse wie Sterben und Unglück«, flüsterte ich. Mir drangen die unzähligen Nachtfalter ins Gedächtnis, denen Victoria und ich im Traum in wilder Panik entflohen waren.

»Seit wann glaubst du denn an so etwas?«

In meinem Kopf schwirrte es.

»Shay, verheimlichst du was vor mir?« Ich antwortete nicht. Er hatte recht-ich verschwieg ihm was, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihm von dem unwirklichen Traum zu erzählen. Ich glaubte selbst nicht mal richtig daran. Also hielt ich es vorerst für das Beste, mit niemandem darüber zu reden. Es war schließlich nur ein Traum, nichts weiter. Bloß ein Schock über das, was sich am Donnerstag bei den Moth ereignet hatte.

»Ne, es ist nichts. Alles in Ordnung.«

»Wenn es dich stört, kann ich sie für dich rausbringen. Aber ich kann dir nicht versprechen, was passiert, wenn ich das Fenster bei diesem Sturm da draußen öffne.«

»Tu es doch einfach!«, forderte ich ihn auf und verfolgte, wie er das Tier behutsam in seine Hände nahm und zum Fenster schritt. Die Gegenwart dieses Flügeltieres war mir ziemlich unangenehm.

Der Wind heulte, als Thomas den Falter in die Freiheit entließ. Für einen Moment konnte man seinen verzweifelten Kampf gegen das Wetter beobachten, bevor er mit einer heftigen Böe davon gerissen wurde.

Kapitel 11

Thomas Montag lenkte den Wagen die lange Auffahrt der Moth hinunter und fuhr mit heruntergelassenen Scheiben zurück zu seinem Elternhaus. Es war ungewöhnlich warm und statt dem trüben Dämmerlicht spannte sich ein wolkenloser Himmel über ihm. Das Wetter zeigte sich gnädig mit dem Gründerfest und seinen Veranstaltern. An diesem Sonntag rechnete man mit einem kleinen Besucheransturm in der Innenstadt. Aber dafür musste man den kommenden Gästen auch etwas bieten. Auf Wunsch von Marie war Thomas am frühen Morgen vor dem Anwesen in der West Church Street erschienen und hatte mit Hilfe der Haushälterin etliche Kisten zu seinem Auto geschleppt. Es hatte alles problemlos in den Kofferraum seines schwarzen Geländewagens gepasst. Immer wieder musste er der gebrechlichen Dame die schweren Kartons abnehmen, unter deren schwerer Last sie zusammenzubrechen drohte und ihr versichern, dass er das auch gut alleine bewältigen konnte.

»Ich schaffe das schon.« Genervt hatte er die Pappkartons aus dem Keller getragen und vor seiner Kofferraumklappe abgeladen. Von George Moth, der ihm eigentlich unter die Arme greifen sollte, fehlte jede Spur.

»Der hat wohl besseres zu tun.« Mit diesen Gedanken hatte er sich schließlich inmitten der verlassenen Waldgegend wieder auf den Weg gemacht. Von Jared Moth und diesem Adrian war ebenfalls nichts zu sehen gewesen. Thomas hasste es, wenn man sich auf Leute nicht verlassen konnte.

***

»Warum hat das denn solange gedauert?« Mit einem vorwurfsvollen Blick kam Marie den gepflasterten Fußweg entlang geeilt. Thomas ließ den Wagen an und stieg aus.

»Sorry, aber dein achso toller Freund hatte anscheinend keine Lust mir bei dem Scheiß zu helfen.«

»Thomas!?«

»Was willst du hören? Ist doch war. Wir hatten einen Termin ausgemacht und dann stand ich mit diesem unfähigen Hausdrachen alleine da.«

»Dafür gibt es bestimmt eine Erklärung. George lässt niemanden ohne Grund sitzen.«

»Wäre ja auch noch schöner.« Thomas verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln und stapfte an seiner Schwester vorbei ins Haus.

Seit Marie mit George Moth ausging, gab es fast nur noch Streit zwischen den Geschwistern. Zu allem Überfluss hatte es Shay auch in den Bann dieser Familie gezogen. Er traute George ebenso wenig wie seinem Bruder Adrian. Der Fund der Frauenleiche am vergangenen Donnerstag hatte sein Misstrauen umso mehr gestärkt.

»In der Küche stehen zwei Körbe mit Brezeln. Wärt ihr so nett und könnt die auch noch mitnehmen?«, rief Lara Montag, seine Mutter aus dem Wohnzimmer.

»Geht klar.« Thomas schnappte sich die beiden Körbe und trat wieder nach draußen. In einer Stunde musste ihr Stand auf dem Festplatz komplett aufgebaut sein. Marie wollte neben den Brezeln, Bücher und Vasen anbieten. Von diesen Dingen hatten die Moth offenbar eine gigantische Sammlung.

Ihr Wohnhaus lag nur wenige Minuten von der Stadtmitte entfernt. Auf der Hauptstraße, an der sich zahlreiche Bars und Lokale befanden, reihten sich parkende Autos am Straßenrand. Thomas fand eine geeignete Lücke. Einen ausgedehnten Moment lang herrschte Schweigen.

»Okay, es tut mir wirklich leid, dass ich dich verärgert habe.« Marie war die erste, die die Stille durchbrach. Thomas stellte den Motor ab und wandte sich seufzend an seine Schwester.

»Schon vergessen. Du kennst mich doch, wenn man mich versetzt, reagiere ich entsprechend.«

Marie strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr und überprüfte im Spiegel ihre schwarz getuschten Wimpern. Ungeschminkt war die Ähnlichkeit zu ihrem Bruder nicht zu leugnen. Sie hatten die gleichen Gesichtszüge und zahlreiche Lachfalten, die sich um ihre Augen legten. Marie war zwei Jahre älter als Thomas und absolvierte zur Zeit ein Überbrückungsjahr, bevor sie ein Fotografiestudium beginnen wollte. Für einen sofortigen Platz an der Universität hatten ihre Schulnoten nicht ausgereicht.

»Dann mal los!« Thomas öffnete vorsichtig die Fahrertür und lud die vielen Kisten aus dem Kofferraum. In einiger Entfernung konnte er zahlreiche Menschen erkennen, deren bunte Kleidung zwischen den weißen Zelten hervorstach. Eine Kapelle probte gerade einige Musikstücke ein. Andere waren damit beschäftigt, die Tische vor ihnen mit Verkaufswaren zu bestücken. In der Mitte des Platzes lockte ein bunt geschminkter Clown kleine Kinder zu sich. Die Sonne trocknete die Pfützen der letzten Tage und zauberte den Menschen ein Lächeln aufs Gesicht. Die Volksfestatmosphäre ergriff die beiden sofort und sie machten sich an die Arbeit, um ihren Stand schnellstmöglich aufzubauen.

Ein intensiver Duft von Gewürzen stieg Thomas in die Nase. Auslöser waren selbstgemachte Seifenstücke und getrocknete Kräuter, die eine Frau neben ihm auf den Verkaufstisch legte. Anscheinend konnte man heute von Taschenbüchern bis Waschmittel alles kaufen. Gerade legte er eine Sammlung von Märchenbüchern auf die Tischplatte, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Thomas zuckte zusammen, ehe er in die lachenden Gesichter von Laura, Ava und Shay blickte.

»Na, haben wir dich erschreckt?« Schmunzelnd blickte Ava ihn an. Ihre hellblonden Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt.

»Nein, natürlich nicht. Ich war gerade nur sehr in meine Arbeit vertieft und habe euch deswegen nicht bemerkt.«

»Ja, ja, rede dich nur raus, wir haben doch genau gesehen, wie du zusammengezuckt bist«, konterte Laura.

»Und schon was Interessantes entdeckt?«, setzte Ava die Unterhaltung fort.

»Sehe ich aus, wie das Programmheft? Marie und ich sind keine Stunde hier und bis auf die weiße Plane unseres Zeltes habe ich noch nicht allzu viel zu Gesicht bekommen«, murmelte Thomas und wieder stahl sich ein Lächeln in die Runde. Die Ausnahme war Shay. Sie wirkte nachdenklich und abwesend. Thomas fiel auf, dass sie bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte. Etwas beschäftigte sie, dunkle Ringe unter ihren Augen zeichneten sich ab. Shay's sonst so strahlender Teint wirkte blass, fast so, als hätte sie einige Woche eingesperrt in einem Krankenhaus verbracht. Anscheinend hatte sie gemerkt, dass Thomas sie für einige Sekunden angestarrt hatte und senkte ertappt den Blick. Was war nur los mit ihr? Früher war Shay mit ihren Problemen immer zu ihm gekommen.

Ärgerlich stapelte er einen weiteren Stapel von Büchern auf den Tisch. Daran war nur diese Familie Schuld. Womöglich hatte der Vorfall Shay mehr zu schaffen gemacht, als sie zugeben wollte. Thomas drang die Motte von gestern ins Gedächtnis. Shay war völlig panisch geworden, so hatte er sie noch nie zuvor erlebt. Er musste dafür sorgen, dass Shay sich zukünftig von dem Anwesen und auch von Adrian fernhalten würde. Vielleicht würde sich später eine Möglichkeit ergeben, um ungestört mit ihr zu reden.

Durch seine Unkonzentriertheit ließ Thomas ein kleines Gesangbuch fallen, welches krachend auf dem Boden aufschlug. Er bückte sich, doch anstelle des Gesangbuch berührten seine Finger die Hand von Shay. Sie hatte sich ebenfalls auf den Boden gekniet.

»Shay wenn dich etwas beschäftigt, muss du es mir sagen«, flüsterte er ihr unbemerkt zu. Sie hatte seine Worte gehört, doch anstelle einer Antwort wandte sie sich an Ava und Laura.

»Auf dem Hinweg habe ich einen Stand mit Zuckerwatte gesehen. Hat jemand Hunger?«, antwortete sie stattdessen.

»Auja, das habe ich schon ewig nicht mehr gegessen«, entgegnete Ava.

Shay's Abweisung ihm gegenüber versetzte Thomas einen Stich. Er verzog das Gesicht.

»Geh ruhig, ich komme schon alleine klar.« Marie hatte seinen quälenden Gesichtsausdruck bemerkt. Wahrscheinlich dachte sie, dass er die drei begleiten wollte. Thomas überlegte kurz, ehe er den Mädchen folgte, die bereits das Zelt verlassen hatten.

***

Inzwischen hatte sich die Luft in eine erdrückende, feuchte Schwüle verwandelt. Besucher bevölkerten die schmalen Wege, die sich über den ganzen Platz erstreckten. Wie auch die Jahre zuvor, erzählten verkleidete Schauspieler die Geschichte von Hagerstown. Ein Mann der sich als Jonathan Hager ausgab, begeisterte einige Schaulustige, indem er sie in das achtzehnte Jahrhundert zurückversetzte.

»Als ich Deutschland 1714 verlassen hatte, gelang es mir im Westen von Maryland Fuß zu fassen. Das Volk war vom Krieg gezeichnet, zahlreiche Städte waren bis auf ihre Grundmauern niedergebrannt.« Der Schauspieler machte eine dramatische Geste und strich sich über die schwarze Perücke, die in einem geflochtenen Zopf endete. »Die Menschen hatten ihre Heimat verloren, also beschaffte ich ihnen ein neues Zuhause. Ich gründete Hagerstown.«

Thomas war stolz, dass seine Stadt eine deutsche Geschichte hatte, da sein Vater dort geboren worden war. Er beschloss weiterzugehen, damit er die Mädchen nicht aus den Augen verlor. In der Menge erkannte er Avas pink gepunktete Tasche. Er hatte sie gefunden.

»Thomas! Hat deine Schwester dich entlassen, wie großzügig von ihr«, begrüßte Laura ihn, die währenddessen ein großes Stück ihrer weißen Zuckerwatte abriss.

»Wärt ihr nicht so schnell verschwunden, hättet ihr vielleicht auch bemerkt, dass ich mitkommen wollte.« Thomas setzte ein beleidigtes Gesicht auf.

»Komm, dafür kaufe ich dir eine Zuckerwatte.« Fast flehend blickte Shay ihn an. Ihr schien der Zwischenfall im Zelt leidzutun. Aber so einfach würde er es ihr nicht machen. Wenn sich eine passende Gelegenheit ergab, würde er sie zur Rede stellen.

Mit reichlich Süßem ausgerüstet, beschlossen die vier, eine Zaubershow anzusehen. Vor der Bühne hatte man einige Standtische aufgestellt. An einem von ihnen lehnte George Moth. Er war in ein angeregtes Gespräch vertieft und schien die vier noch nicht bemerkt zu haben.

»Typisch, der macht sich hier wichtig, anstatt seiner Freundin bei ihrem Verkaufstand zu helfen.« Verbittert trat Thomas gegen eine milchige Glasflasche, die daraufhin zersplitterte.

Das Brechen des Glases hatte die Aufmerksamkeit von George Moth und zwei weiteren Männern, die mit ihm am Standtisch lehnten, geweckt. Er hob den Kopf und winkte ihnen zu. Beim genaueren Hinsehen, konnte Thomas den einen Mann als Mr. Parker ausmachen. Er war noch relativ jung und erst seit einigen Jahren Geschichtslehrer an der South Hagerstown Highschool. Thomas mochte ihn nicht besonders, wobei er mit dieser Meinung ziemlich alleine dastand. Er sah ziemlich attraktiv aus und entlockte der ein oder anderen Schülerin heimliche Schwärmereien. Seiner Meinung nach, waren solche Männer einfach nur arrogant.

Aus den Augenwinkeln sah er Shay auf das Trio zugehen und schnappte Fetzen von Georges Begrüßung auf.

»Darf ich euch unsere neue, fleißige Angestellte vorstellen. Ihre Arbeit ist wirklich beeindruckend.« Shays Lachen drang zu Thomas herüber und Georges Augenzwinkern war das letzte, was er sah, ehe sich eine Horde seiner Teamkollegen aus der Basketballmannschaft in sein Blickfeld schoben.

»Ey, Thomas! « Andrew klopfte ihm auf die Schulter.

»Na, Lust auf ne' kleine Runde Basketball. Wir treffen uns später mit ein paar anderen Jungs auf dem alten Spielplatz«, fuhr Andrew fort. Den alten Spielplatz nutzen sie schon lange als heimliches Übungsgelände. Mit den heruntergekommenen Spielgeräten und den zugewucherten Sandflächen, wirkte er für Kinder alles andere als einladend. Aber für den Austragungsort eines kleinen Basketballturniers war er perfekt.

»Klar doch, ich frage Shay auch, ob sie mitkommen will«, nahm Thomas die Einladung von Andrew an.

Als Thomas sich gerade zu ihr umdrehen wollte, entdeckte er eine verlorene Gestalt an einem der hinteren Standtische. »Was will der denn hier?«, fragte sich Thomas. Adrian Moth schien ihn nicht bemerkt zu haben, denn wie auch Thomas einige Minuten zuvor, starrte er zu dem Standtisch, an dem sein Bruder George immer noch das Gespräch lenkte.

Thomas versuchte sich durch die Menschenmasse durchzuzwängen, um Shay am Standtisch abzufangen. Als er endlich einen Weg inmitten des Gedrängels gefunden hatte, konnte er Shay am Tisch nirgends entdecken. Lediglich Ava und Laura waren zurückgeblieben und lauschten den Geschichten von Mr. Parker. Wo war Shay bloß abgeblieben? Mit einem unguten Gefühl drehte sich Thomas zu den hinteren Standtischen um, doch Adrian Moth war genauso vom Erdboden verschluckt worden wie Shay zuvor.

Imprint

Text: S.19: Traumtänzer-Schandmaul; S.39: Sixteen Tons-Johnny Cash
Images: deviantART
Publication Date: 01-06-2014

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Dedication:
Meinen neuen Roman widme ich erstens an all meine Bookrix-Leser! Danke Leute ♥ und zweitens an meinen besten Freund Nick.

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