Cover

Prolog

 

Noch nie war ich ein Mensch, der auf Hörensagen viel gegeben hat. Ich musste mich schon immer von den Dingen überzeugen, die man mir vermitteln wollte.

Für meine Mutter war das schlichtweg nervtötend. Mein Vater lächelte immer und meinte dazu nur: „Lass ihn, so kann man ihn später einmal viel schwerer übers Ohr hauen oder täuschen.“

Er wusste damals nicht, wie recht er mit seiner Aussage behalten würde.

Er ließ mich immer gewähren mit meinen Fragen und dem neugierigen, naiven Drang, alles anfassen zu müssen - selbst wenn es etwas war, das mich eigentlich gar nicht betraf.

Wir lebten bis zu meinem sechsten Lebensjahr in Venedig. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Italiener.

So lange diese Zeit in Italien her ist, so stark sind trotzdem nach wie vor meine Erinnerungen an meine Heimat dort in Venedig und natürlich auch an Rom mit all seinen antiken Statuen, den romantischen Gassen und den alten, ehrfurchteinflößenden Bauten.

Ich kann selbst heute noch den Duft der Zitrusfrüchte und der Olivenbäume in der Luft riechen, wenn ich die Augen schließe.

Die Entscheidung meiner Eltern, nach Deutschland zu ziehen, kann ich bis heute nur vage nachvollziehen. Sicher, meine Mutter hat dort ihre Wurzeln, aber überwindet man dies nicht alles, wenn auf der Gegenseite ein so ein schönes Land wie Italien steht?

Ich verstehe nicht, was an Deutschland schöner sein soll als an Italien. Es fehlt hier einfach das romantische Flair, das Gefühl als befände man sich in eine andere Zeit versetzt und als wäre das Leben viel einfacher.

Hier ist nur die Geradlinigkeit, das stocksteife und kalte der Deutschen. Kein Wunder, dass man gemeinhin behauptet, Südländer würden einen Kulturschock bekommen, wenn sie nach Deutschland zögen.

Vermutlich könnte hierzulande jemand in einer Großstadt mitten auf einem gut begangenen Bürgersteig umfallen und keinen würde es kümmern. Das klingt hart, aber solch einen Eindruck hat man einfach des Öfteren, wenn man die strengen, gleichgültigen Mienen betrachtet, die einem jeden Tag verkommen.

Wenn man dann noch die aufmüpfigen Kinder in den Schulen beobachtet, bestärkt einen die Befürchtung nur noch. Wir ziehen hier keine Kinder groß, nein, es sind die Tyrannen von morgen.

Nichtsdestotrotz habe ich mich damals natürlich der Entscheidung meiner Eltern ohne Widerbart gefügt und nun leben wir schon fünfundzwanzig Jahre hier. Genauer gesagt in der Hauptstadt Baden-Württembergs im Süden von Deutschland: Stuttgart.

Ich bin hier zur Schule gegangen und habe mein Abitur gemacht. Nichts Weltbewegendes, wirklich nicht.

Viele Freunde haben wir hier gefunden, hatten in der Klasse logischerweise auch Außenseiter, haben Erwachsenen Streiche gespielt, Mitschüler geärgert, das ganze Programm eben.

Mein bester Freund, Noel Schäfer, hat mich die ganze Zeit über begleitet und ich war mehr als froh darüber als auch er sich dazu entschieden hat, das Abitur zu machen.

Wir beide sind so unterschiedlich wie zwei Menschen eigentlich nur sein können. Ich bin der typische südländische, braungebrannte Typ Mann, braune Haare, tiefbraune Augen, er hat leicht asiatische Züge – sein Großvater war Japaner -, ist relativ blass und wirkt eigentlich mehr als gehöre er der Gothic-Szene an, wenn man nach seinen schwarzen gestuften Haaren geht, die er fast kinnlang hält.

Der Weiberheld und der Grufti hat man uns manchesmal genannt. Es war uns herzlich egal.

Wir beide haben einander immer so viel Toleranz entgegengebracht, dass es für noch einen Freund mehr gereicht hätte.

Ich habe versucht, seinen Hang zum Mystischen nachzuvollziehen, er verstand meine Entzweigerissenheit zwischen Deutschland und Italien.

Ich machte mir nichts daraus, dass er gerne Accessoires wie Armbänder, Ringe oder Ketten trägt, er begleitete mich immer geduldig ins Fitnessstudio.

Das Einzige, was ich in letztgenannter Situation immer wieder versucht habe, war, ihn zu überreden, doch auch endlich einmal Hanteln und Gewichte zu stemmen.

Erfolglos. Sport ist Mord, lautet seine Devise auch heute noch. Nun gut, wenn man überlegt, wie viele Menschen das genauso sehen, kann man sich ungefähr vorstellen, wie erfolglos ich mit meinen Aufforderungen war.

Noel zog es vor, sich irgendwelche langweilige Zeitschriften zu schnappen und diese dann genauestens zu studieren, bis ich endlich mit meinem Fitnesstraining fertig war.

Selbst wunderte man sich natürlich wie ein solch schmaler, fast zierlicher Kerl wie er es nicht für nötig hielt, Muskelaufbau zu betreiben. Ich vermutete, es lag an seiner asiatischen Herkunft, dass er eher zierlich wirkte als kräftig.

Aber wie sagt man doch so schön: Es gibt Dinge im Leben, die muss man weder wissen noch verstehen.

Für Noel galt das wohl schon immer. Aber nicht für mich. Mein Wissensdurst und Tatendrang haben mich schon zu manchen Sachen getrieben.

Ein Beispiel dafür: Ich war gerade dreizehn Jahre alt, Noel elf. Wir waren an einem Sommer nachmittags zusammen in Stuttgart auf Streifzug unterwegs und fanden ein altes, leerstehendes Fabrikgebäude.

Klar und deutlich stand ein gelbes Warnschild vor dem verriegelten Eingang, das in schwarzer Schrift besagte, dass das Betreten des Gebäudes verboten sei und Eltern für ihre Kinder hafteten.

Ich grinste Noel geheimnisvoll an und fragte ihn dann: „Hast du Lust?“

Er schüttelte natürlich das Haupt und sah mich aus großen, blauen Augen ängstlich an. „Nein, da kann doch was passieren. Die Fabrik ist doch voll alt! Gehen wir lieber woanders hin, Jan.“

Seine Warnung hätte ich mir eigentlich zu Herzen nehmen müssen, tat dies aber wegen einem ziemlichen Überschuss an Tollkühnheit nicht.

Stattdessen bezeichnete ich ihn provokant als einen Feigling, sodass ihm mehr oder weniger keine Wahl blieb als mit mir zu gehen und damit das Gegenteil zu beweisen.

Wir suchten uns also ein Fenster im Erdgeschoss, das ein Loch hatte, welches so groß war, dass wir einsteigen konnten und betraten – ich übrigens voran - das alte Gebäude, um direkt in einer großen Halle zu landen.

Modriger Gestank vermischte sich mit dem Geruch von altem Benzin und wir wirbelten bei jedem Schritt eine kleine Welle Staub auf.

Das weiche Licht der Nachmittagssonne brach sich durch die unzähligen gelben Fenster auf der anderen Seite und beleuchtete jedes auch noch so kleine Fusselchen, das durch die Luft schwirrte. Mir klopfte vor Aufregung das Herz bis zum Hals.

Hier und da standen alte Gerätschaften, irgendwelche Maschinen, die ihren Dienst vor vielen Jahren getan hatten und die nun ihre Ruhe hier zu genießen schienen. An einigen Stellen lagen Plastik- und Papiermüll herum, die Schriften und Aufdrucke aus den Fünfzigern oder Sechzigern trugen.

Es war hier drin als sei die Zeit stehengeblieben. Man hörte die Autos plötzlich nur noch in weiter Ferne vorbeirauschen. Stattdessen wurde das leise Pfeifen des Windes durch die kaputten Fensterscheiben lauter und machte die mystische Atmosphäre noch viel eindringlicher.

„Cool“, staunte mein jüngerer Freund und schien aus dem Umhersehen gar nicht mehr herauszukommen.

Das ließ natürlich meinen Stolz in der Brust schwellen. „Siehst du? Das könntest du nun alles gar nicht sehen, wenn du aus Angst weggeblieben wärst.“

Dazu konnte er natürlich nichts sagen. Er bewunderte mich sowieso, das wusste ich genau, nicht zuletzt deshalb weil ich der ältere von uns beiden war und damit der ‚Coole’.

Ich war es, der immer die große Klappe hatte und auch ich war es, dem grundsätzlich Ideen für irgendwelchen Firlefanz kam.

Noel zog zwar jedes Mal mit, aber meistens nur deshalb, weil ich der Vorreiter war.

So auch dieses Mal. Ich schlenderte voller Abenteuerlust durch die große Halle und war wachsam wie ein Raubtier auf Beutestreifzug, während ich hinter jeder Maschine oder Schrank ein Monster oder sonstige übernatürliche Wesen erwartete, vielleicht ja auch die Geister der verstorbenen Arbeiter, die hier bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen waren.

Ich spann mir sämtliche Geschichten zusammen und freute mich riesig, hier drin zu sein. Vielleicht würden wir ja sogar etwas Wertvolles finden, das uns später einmal als Trophäe dienen würde. Ein Andenken an die aufregende Zeit, in der wir voller Mut diese uralte Fabrik betreten haben, bereit, die Welt vor all dem zu retten, was da an Bösem auf uns warten würde.

Ein flatterndes Geräusch und Noels Angstschrei ließen mich erschrocken herumfahren. Es ging schon los? Musste ich Noel das Leben retten? War ein Monster oder gar ein Untoter im Begriff dazu, ihn zu zerfleischen?

Ich sprintete so schnell mich meine Beine trugen in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war, doch als mit eine Taube entgegengeflogen kam, wusste ich, dass er sich lediglich erschrocken haben musste.

Ich blieb schließlich neben ihm stehen und legte meine Hand liebevoll auf seine Schulter. „Alles okay mit dir?“

Er sah mich mit wässrigen Augen an, das schmale Gesicht ziemlich blass vor Schreck. „Ich dachte, da wäre jemand gewesen.“

„Das war nur eine Taube.“

„Hab’ ich gemerkt.“

Ich lächelte kurz, dann ging ich weiter, nicht wissend, ob ich nun froh darüber sein sollte, dass es nur eine Taube war oder nicht.

Ich beschloss, froh darüber zu sein. Menschenleben konnte ich später noch retten. Das musste nicht jetzt und hier mit Noel beginnen.

Also zog man frohen Mutes weiter, auf der Suche nach der begehrten Trophäe, was sie auch immer sein mochte.

Mein Weg führte mich quer durch die Halle, bis ich mich entscheiden musste, entweder die Türe in den Nebenraum zu nehmen oder die rostige, alte Metalltreppe nach oben zu beschreiten, die in den ersten Stock führte.

Ich konnte sehen, dass dieser ursprünglich einmal ziemlich verglast war, sodass man von oben genauestens beobachten konnte, was die Arbeiter unten trieben.

Welchen Weg würde ich nehmen?

Nun, die einfachste Lösung wäre gewesen, die Türe vor mir zu nehmen, aber gerade WEIL es so einfach war, entschloss ich mich, die Treppe nach oben zu nehmen.

Wie zu erwarten war, knarrte sie laut unter mir und jeden einzelnen Schritt bekam ich mehr Herzklopfen.

Ich war nun wirklich kein Schwergewicht mit meinen dreizehn Jahren und doch ächzte das Metallgestell so laut unter mir, dass ich befürchtete, nun jede Sekunde mit der Treppe nach unten zu brechen.

Sie brach nicht, ich hatte viel Glück.

Oben angekommen lief ich entlang der Brüstung vor dem Zimmer und suchte mit den Augen Noel.

Er stand gerade vor einem der großen gelben Fenster, mitten in dem Lichtstrahl, das die Nachmittagssonne hineinwarf. Tausend und abertausend Fussel schwirrten um ihn herum und er wirkte so blass, dass ich für einen Moment lang glaubte, er sei kein Mensch, sondern ein Geist oder ein Engel. Dieser Ort hatte wirklich etwas an sich, das alles verzauberte.

Noel hielt plötzlich eine Hand in die Luft und nun sah ich auch den Schmetterling, der um ihn herumflog und sich schließlich auf seinem ausgestreckten Zeigefinger niederließ.

Er war schon immer sehr feinfühlig gewesen und das schienen auch die Tiere zu spüren. Wir waren durch seine Fähigkeit des Feinfühlens und meiner Neugier einfach ein unschlagbares Team, machte ich mir stolz klar.

Der Schmetterling flog wieder von dannen und nun wagte ich es auch, Noel zu stören.

„Hey, komm’ mal hier hoch, die Aussicht ist echt super!“

Er sah zu mir hoch und dann zur Treppe hinüber. „Ist gut, ich komme gleich.“
Ich hatte keine Lust, auf ihn zu warten, also öffnete ich die Türe zu dem verglasten Raum. Der Gestank feuchter, alter Luft kroch mir entgegen und meine Augen gewöhnten sich nur schwer an die Dunkelheit hier drin. Es fiel zwar Licht von außen herein, doch nicht genug, um den gesamten Raum so zu erhellen, dass man zweifelsfrei alles klar sehen konnte.

Doch das störte mich nicht weiter; waren doch der Wissensdurst und die Tollkühnheit solch beflügelnde Ansporne, die mich weitertrieben.

Meine Augen tasteten gierig alle Konturen ab, die sie fanden: einen Schreibtisch, hinten an der Wand ein paar Schränke, Müll auf dem Boden umgefallene, verrottende Holzstühle und unzählige Papierseiten.

Ich ging ein paar Schritte vorwärts und hob ein Blatt Papier auf. Der Boden unter mir knarrte unwillig. Die Feuchtigkeit hatte auch hier ihre Spuren hinterlassen.

Auf dem Blatt stand einiges, doch ich konnte es nicht entziffern, da die schwarze Schrift total verschwommen war. Zudem war es hier drin nicht sehr hell, also warf ich das Blatt achtlos zur Seite.

Der Schreibtisch wurde nun interessant. Er war in massiver, dunkler Eiche gehalten, hatte einige schön geschwungene Ornamente an den Fronten und wies einige Löcher und Schrammen auf. Das Ding war bestimmt schon zweihundert Jahre alt.

Ich schlich um das Möbelstück herum wie ein Löwe, der seine Beute prüfend umkreist, bevor er zum vernichtenden Sprung ansetzt.

Der Schreibtisch hatte einige Schubladen und die galt es nun zu durchsuchen.

Also begann ich sie der Reihe nach von oben nach unten zu öffnen.

Sie enthielten weitere Papiere, Bleistifte und ähnliche Büroutensilien, aber nicht wirklich etwas, das interessant für mich gewesen wäre.

Bis ich auf die unterste Schublade auf der rechten Seite stieß. Sie klemmte, da sich das Holz durch die Feuchtigkeit verzogen hatte, aber ich zog so fest an ihr, bis sie sich zumindest so weit öffnen ließ, dass ich mit meiner Hand ungehindert darin herumtasten konnte, was ich dann auch tat.

Ich stieß auf etwas Kaltes. Es schien so groß zu sein wie meine Hand. Ich ergriff es und wand meine Hand geschickt aus der Schublade heraus.

Es schien eine Art Medaille aus Silber zu sein, doch als ich sie genauer betrachtete, stellte ich fest, dass es etwas anderes sein musste.

Ein mir unbekanntes Zeichen war darauf zu sehen. Es sah aus wie eine Waage, über der eine geschwungene Linie thronte.

Ich wendete das metallene Ding, da auf der Vorderseite sonst nichts zu erkennen war.

Darauf stand in alter Schrift eine Jahreszahl.

1824.

So alt war dieses Ding also. Ich fragte mich, was dieses Zeichen darauf zu bedeuten hatte, beschloss dann aber, das Ganze abzuhaken und meinen Fund als Trophäe für unsere Anwesenheit hier zu verwenden. Was spielte es denn schon für eine Rolle, was dieses Ding vor so vielen Jahren einmal bedeutet hatte? Es zählte der Moment und der machte mich zu einem kleinen Helden.

Ich steckte meine Trophäe in die Hosentasche und war im Begriff, mich vom Schreibtisch zu entfernen als der Boden plötzlich unter mir nachgab und durchbrach.

Ich blieb zur Hälfte im Loch stecken und krallte mich an allem fest, was mich vor dem Fall aufhielt.

„Noel!“

Ich hoffte und betete, dass er mich hörte. Wo war er denn überhaupt so lange? Warum war er noch nicht da?

Ein Luftzug strömte von unten nach oben. Er war kalt und mich fröstelte trotz der warmen Jahreszeit.

Das Holz um mich herum knarrte verdächtig und stank total vermodert. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie tief es unter mir war und vor allem, was auf dem Boden auf mich warten würde. Monster? Ein noch viel größeres schwarzes Loch ohne Boden?

Endlich stürmte Noel herein.

„Jan! Wo bist du? Was ist passiert?“

Seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, doch er tastete sich hektisch voran.

„Bleib stehen!“, wies ich ihn an. „Der Boden ist sehr brüchig, geh’ lieber Hilfe holen.“

Mein Freund jedoch blieb unschlüssig stehen, überfordert mit meinem Gesagten. Ich konnte an seinen Umrissen erkennen, dass er nervös wurde. Seine Gestik verriet ihn ohne Zweifel. „Aber... bist du sicher?“

„Ja, mach’ schnell. Hol jemanden. Egal, wen. Und beeil’ dich!“
Er blieb noch etwa zwei Sekunden stehen, dann lief er los, so schnell ihn seine jungen Beine trugen.

Zurück blieb ich, feststeckend in dem Boden, wartend auf Hilfe oder gar darauf, dass der Boden vollends durchbrach und ich vielleicht beim Aufprall sterben würde, ich wusste es nicht.

Jeden Moment wurde mir banger. Die majestätische Stille, die die alte Fabrik bis dato noch ausgestrahlt hatte, wurde nun ersetzt durch eine bedrohliche Ruhe, die sich meiner bemächtigte und sich durch meine Glieder fraß.

Doch ich harrte tapfer aus.

Das Ende vom Lied war, dass Noel tatsächlich jemanden herbrachte, es war ein Passant gewesen, der dann die Feuerwehr rief, die mir aus dem Schlamassel heraushalf.

Von unseren Eltern ernteten wir natürlich Standpredigten, die sich gewaschen hatten. Was wir uns denn eigentlich dabei gedacht hatten. Ob wir nicht wüssten, wie gefährlich so etwas ist. Und dass so etwas gefälligst niemals wieder passieren dürfte, denn sonst würde es etwas setzen, das wir nicht vergessen würden.

Mit reumütigem Blick hörte man sich alles geduldig an.

Als wir am nächsten Tag wieder in der Schule waren und ich Noel unsere Trophäe zeigte, war die ganze Predigt der Eltern wieder vergessen.

Wir versprachen uns, das Silberemblem niemals wegzuwerfen, weil es ein Sinnbild unseres Mutes und unserer Neugier war.

Wir hielten uns daran.

 

Kapitel 1

 

Es ist noch nicht lange her. Ich war einunddreißig. Noel hatte sein Anthropologiestudium in der Gerichtsmedizin absolviert, ich hatte meinen Abschluss als Archäologe bereits etwas länger mit Bravour bestanden– zum Stolz meiner Eltern.

Sie versprachen sich viel. Und nicht nur sie. Eine große Karriere stand mir bevor und ich stand erst ganz am Anfang davon.

Mir bot sich aufgrund meines – und ich wage an dieser Stelle zu behaupten - sehr guten Abschlusses die Möglichkeit, in eine ganz andere Gegend von Deutschland zu ziehen, um von dort aus meine Arbeiten anzutreten. Und natürlich in andere Länder zu reisen. In einer Bibliothek zu arbeiten oder sonst wo.

Ich hielt es nicht für eine besonders gute Idee. Jetzt befand ich mich bereits im Zwiespalt zwischen zwei Ländern, da musste nicht noch eine Entzweigerissenheit zwischen zwei verschiedenen Orten sein.

Nicht dass ich unflexibel wäre, aber es passte mir zu diesem Zeitpunkt einfach nicht in den Kram.

Zudem ist es nicht so als gäbe es in Deutschland keine Möglichkeiten, die Antike zu erforschen. Oder Gegenstände und Skelette auf Alter und Beschaffenheit zu untersuchen.

Was ich auf gar keinen Fall wollte, war, in der Theorie hängenzubleiben. Und außerdem wollte ich später einmal andere Länder bereisen, um dort meine Dienste anzubieten. Soweit der Plan.

Wie sich herausstellte, war es aber mitten in Deutschland, wo sich die bis dato größte Herausforderung meiner Karriere abgespielt hat, noch bevor irgendetwas anderes kam.

Es begann recht harmlos. Doch gleichzeitig ging damit ein Erlebnis beziehungsweise ein Fall einher, den ich niemals vergessen werde und der meine Ansichten über die Menschen in den kleinen Ortschaften auf dem Lande total über den Haufen geworfen, ja sogar komplett neu erstellt hat.

 

Es war an einem schönen Aprilnachmittag.

Ich studierte gerade einen aktuellen, informativen Artikel über Angkor Wat als mein Telefon klingelte.

Mit geübtem Schwung rollte ich zusammen mit meinem schwarzen Ledersessel über den Laminatboden, bis ich an dem kleinen Schränkchen ankam, auf dem mein mobiles Telefon stand und drückte die grüne Taste.

„Pazzo.“

„Hier Prof. Grünewald. Sie erinnern sich noch an mich?“

„Aber sicher doch.“

Wie konnte ich nicht? Er war mein bester Lehrer als ich noch Student war. Keiner hat mir damals mehr Wissen so logisch vermittelt wie er.

Sein raues Lachen drang mir freundlich ins Ohr und ich konnte mir bildlich seinen milden Blick durch die dicke Nickelbrille vorstellen.

Er war ein herzensguter Mensch. Und weil er das auch nach außen hin versprühte, wagte kein Student, dies auszunutzen.

Ich wusste, ich konnte mit sämtlichen archäologischen Fragen zu ihm kommen. Selbst jetzt noch, nach dem Studium.

‚Ich war auch einmal jung und weiß, wie unsicher der Anfang ist’, lautete seine Devise beziehungsweise Begründung dafür, uns sprichwörtlich unter die Arme zu greifen, wenn wir Hilfe brauchten.

„Was kann ich für Sie tun, Professor?“

Er räusperte sich kurz. „Nun, eigentlich dachte ich an die Untersuchung einer heute gefundenen Leiche. Sie waren es, der sich mit Mordfällen innerhalb der Archäologie so intensiv befasst hat. Ich bin ja immer noch der Meinung, Sie hätten ein Anthropologe mit Schwerpunkt Gerichtsmedizin werden sollen.“

Mein Herz begann, höher zu schlagen. Das klang irgendwie abenteuerlich – obwohl solche Untersuchungen meist nicht einmal halb so faszinierend sind wie sie im ersten Moment zu sein scheinen.

Ich drückte mich mit den Beinen am Boden ab und rollte an meinen Schreibtisch zurück, um Block und Stift aus der Schublade zu kramen, während ich das Telefon ungeschickt zwischen Ohr und Schulter presste, um weiter telefonieren zu können. „Wo wurde die Leiche gefunden?“

„Das klingt unglaubwürdig, aber es war wirklich so wie ich nun sage: die Leiche wurde in einem kleinen Ort gefunden, der nicht einmal fünfhundert Einwohner hat.“

Ich hob die Augenbrauen, mehr zu meinem eigenen Unglauben als des besseren Wissens, dass Prof. Grünewald mich ohnehin nicht sehen konnte.

„Tatsächlich? Und wie heißt der Ort?“ „Kornheim.“

„Kornheim...“, wiederholte ich nachdenklich.

„Den Ort kennen Sie sicherlich genauso wenig wie ich, Jan.“

Da hatte er Recht. Ich hatte diesen Namen noch nie zuvor gehört. Also stand eine Frage im Raum. „Wo soll dieses Kaff sein?“

Ein herzhaftes Lachen drang mir aus dem Telefon entgegen und ich zwang mich, mir kein Lächeln des Angestecktseins auf die Lippen zaubern zu lassen.

„Nun, was würden Sie sagen, wenn ich behauptete, dass dieser Ort nicht einmal dreißig Fahrminuten von hier entfernt liegt?“

Tja, was würde ich da sagen? Ich ging im ersten Moment von einem Scherz aus.

„Ich würde vermutlich denken, Sie wollten mich verarschen.“

„Das tue ich aber mitnichten, so gut sollten Sie mich mittlerweile kennen.“

Ich gab ein bejahendes Grunzen von mir. Natürlich verarschte er mich nicht. Dr. Grünewald verarschte nie jemanden. Ich vermutete, er konnte noch nicht einmal eine kleine Notlüge zustande bringen. Aber das machte auch gar nichts. Menschen wie er brauchten nicht zu lügen.

Ich notierte mir den Namen auf meinem Block und in Klammern dahinter die ungefähre Fahrtzeit.

„Es ist nur eine Routinesache, aber ich dachte, Sie würden sich ihrer annehmen.“

Nun lächelte ich doch. „Danke, dass Sie dabei an mich denken. Ich werde mich selbstverständlich darum kümmern.“

„Ich wusste es“, triumphierte mein ehemaliger Professor. „Und nun zu dem, was die Polizei heute Vormittag an uns weitergeleitet hat. Der Hund eines Anwohners am Ortsrand hat die sterblichen Überreste im Garten freigegraben.“

„Im Garten?“

„Nun, das Ehepaar sei, wie mir mitgeteilt wurde, wohl erst eingezogen. Vermutlich hätte man dieses Skelett niemals gefunden, wenn diese Leute keinen jungen, neugierigen Hund hätten.“

Ich notierte mir nebenher stichwortartig die wichtigsten Informationen. „Was weiß man bisher noch?“

„Nun, dem ersten Eindruck zufolge ist die Leiche schon zig Jahre unter der Erde gewesen und genau das ist der Moment, in dem wir uns einklinken.“

Was mich an dieser Stelle brennend interessierte, war eines: „War es ein natürlicher Tod?“

„Den ersten Untersuchungen an Ort und Stelle zufolge ja. Man hat keine Spuren äußerlicher Gewaltanwendung gefunden.“

„Aber warum zum Teufel begräbt man diesen Menschen dann nicht im örtlichen Friedhof?“

„Das, Jan, ist etwas, das herauszufinden Ihre Aufgabe sein wird. Vielleicht hatten die Menschen hier vor hunderten Jahren dementsprechende Bräuche, was ich zwar ausschließe, aber nachforschen bringt Gewissheit. Dorfmenschen können sehr seltsam sein. Und eine gute Übung ist das Ganze zudem für den Anfang. Vielleicht finden Sie ja auch ein paar antike Gegenstände.“

Dem konnte ich natürlich nichts entgegensetzen. Eigentlich lag es klar auf der Hand, dass es vor zweihundert Jahren keinen Brauch gab, der besagte, jemanden außerhalb eines Friedhofes zu beerdigen.

Was Dr. Grünewald damit meinte, verstand ich beim besten Willen nicht.

Sicher, vielleicht waren die Leute auf dem Land manches Mal nicht unbedingt ganz so vornehm wie die Stadtleute, aber deshalb waren sie nicht grundsätzlich seltsam.

„Nun, dann wäre das ja geklärt“, schloss man also das Gespräch ruhig ab. „Danke für die Weiterleitung, Herr Professor.“

„Keine Ursache. Sie haben ein cleveres Köpfchen und werden die Sache meistern. Und wenn Sie Fragen haben, wissen Sie ja, wohin Sie sich wenden können.“

Er gab mir die Telefonnummer des leitenden Kripobeamten durch.

Da das Ganze bis auf die rätselhafte Lage des Skelettes mehr als offensichtlich war, fragte ich mich, was so schwer daran sein sollte, diese Sache zu meistern. Ich vermutete schwer, es ging meinem ehemaligen Professor mehr um die zwischenmenschliche Sache. Also quasi die Dorfbewohner gegen mich, den Stadtmenschen.

Ich hoffte, dass er falsch lag und die Menschen mir offen entgegentraten. Bei der Polizei taten sie es nämlich sicher nicht, wie ich mir vorstellen konnte.

„Vielen Dank nochmals und auf Wiederhören.“

„Wiederhören.“

Ein Knacken im Telefon verriet mir, dass er aufgelegt hatte. Ich betätigte die rote Taste und stellte das Telefon vor mich auf den Schreibtisch.

„Kornheim also“, murmelte ich vor mich hin und suchte nach meiner Landkarte.

Als ich sie gefunden hatte, suchte ich den Ort mit dem Zeigefinger.

Und ich wurde nach einer für meine Augen strapaziösen Suche fündig.

Der Name war kleiner und dünner geschrieben als die der größeren Ortschaften und Städte. Und der Ort war viel leichter zu übersehen.

Er lag im Süden von Stuttgart und schien nicht der Rede wert zu sein, wenn man das ganze Farbenspiel der Straßen so im Gesamten betrachtete, das die kleinen Orte regelrecht in sich zu verschlingen schien.

Ich kreiste den Ort mit einem roten Stift ein und ging im Internet auf die Suche nach der Ortschaft.

Tatsächlich gab es ein Kornheim in Baden-Württemberg, auf das die Beschreibung von Prof. Grünewald zutraf.

Ich studierte die Daten der Ersterwähnung. Sie reichten bis vor das zwölfte Jahrhundert zurück.

Ich war sicher, dass es dort auch dementsprechend alte Gebäude gab, die teilweise nicht abgerissen, sondern renoviert worden waren.

Das tat zwar dem Fund nach nichts zur Sache, doch ich war allgemein an den eventuellen Überresten in den Häusern interessiert, die dort verborgen sein konnten.

Überhaupt interessierte mich so vieles.

Beispielsweise wollte ich als Kind wissen, warum die Menschen früher eine tote Katze am Grundstein eines Hauses vergruben.

Oder warum man Salz als Schutz verwendete.

An Aberglaube dachte man damals natürlich als Letztes, doch dass ebendieser Menschen zu den seltsamsten Taten führen kann, ist mir spätestens seit meinem Archäologiestudium klar.

Wer schon einmal in Rothenburg ob der Tauber war, weiß spätestens seit den Museumsbesuchen dort, was es vor zweihundert Jahren hieß, abergläubisch zu sein.

Man trug auf winzige Zettelchen geschriebene Sprüche stets bei sich, um Hexen und Dämonen abzuwehren. Oder Kruzifixe aus Salz. Und natürlich unzählige, andere Schutzamulette und dergleichen.

Die Geschichte des Menschen ist ein einziger Aberglaube, geht man nach den unzähligen Relikten, die die Menschen vor bösen Geistern und Hexen oder Krankheiten schützen sollten.

Oder denkt man nur einmal an die Verhängung des Hexenhammers, der so viele unschuldige Frauen das Leben gekostet hat.

Natürlich ist man heute ebenfalls abergläubisch, aber Himmel, wer trägt denn heute noch Salz mit sich herum?

Das Ganze wird schön als winziger Schutzengel an einer Kette verpackt. Und wenn einer danach fragt, ist das Ding kein Schutzsymbol, sondern das Geschenk eines Freundes.

Ich scrollte mit meiner Mouse die Seite hinab. An Sehenswürdigkeiten gab es dort wie zu erwarten war nicht viel; lediglich die Kirche, bei der der größte Teil aus dem Mittelalter noch erhalten war. Und dann noch das Rathaus und die Kelter.

Man pries ebenfalls den Wein und den Most an, die dort und in der Umgebung hergestellt wurden.

Es gab viele Wingerte, die im Besitz alteingesessener Familien dort waren und somit bestand die Tradition des Weinherstellens in der Region dort. Man konnte sagen, viele der Menschen dort bestritten einen entsprechenden Teil ihrer Einkünfte mit dem Wein.

Im selben Moment hoffte ich, dass die Herrschaften in Kornheim alle Menschen, die im Büro ihren Unterhalt bestritten, als untauglich für das wahre Leben abtaten.

Ich würde es ohnehin früher oder später erfahren, rügte ich mich im Stillen, also ließ man die Grübelei getrost sein.

Stattdessen starrte ich den Zettel vor mir auf dem Schreibtisch an, der vollgekritzelt war mit mehr und weniger lesbaren Notizen.

Die Nummer des Kripobeamten stand wie zu erwarten war immer noch darauf.

„Dann wollen wir mal“, nuschelte ich mehr zu mir selbst als zu einer imaginären Person, die gedanklich neben mir stand, wer es auch immer sein mochte, und wählte die Nummer.

Es tutete mehrere Male, bevor eine männliche Stimme meinen Anruf entgegennahm. „Braun.“

„Guten Tag, Pazzo mein Name. Mir wurde mitgeteilt, dass Sie heute Morgen eine Leiche in Kornheim gefunden haben. Ich bin Archäologe.“

„Ah“, grunzte die nicht besonders sympathische Stimme am anderen Ende der Leitung. „Nun, eigentlich arbeiten wir in solchen Fällen mit gerichtsmedizinischen Anthropologen zusammen, aber man sagte mir, Sie seien sehr qualifiziert.“

Eigentlich hätte ich mich über dieses Kompliment freuen müssen, doch bei dem kalten Klang seiner Stimme verging mir das, noch bevor die Freude großartig aufkommen konnte.

„Ist das Skelett noch an der Fundstelle?“

„Und ob. Wir haben das Gelände abgeriegelt. Am besten, Sie sehen sich das gleich einmal an.“

In seiner Stimme schwang Ungeduld mit. Ich schätzte den Kerl auf Anfang bis Mitte Vierzig.

Ich sah kurz auf meine Armbanduhr. 15:36 Uhr.

„In Ordnung. Ich bin in etwa zwanzig Minuten da.“ „Gut.“

Ohne weitere Umschweife hatte er auch schon aufgelegt. Entweder der Kerl hatte die Nase in den Wolken aufgrund seines Berufes oder er war von Natur aus unumgänglich.

Ich verfrachtete meine notwendigen Arbeitsmaterialien für Untersuchungen vor Ort in mein Auto – einem Mercedes C 180. Mancher italienische Landsmann würde mich für solch einen Stilbruch so lange im Kreis prügeln, bis ich eine Ecke fände, aber ich mag die Automarke Fiat bis heute nicht.

Mit geübten Fingern gab ich die Zieladresse in mein Navigationsgerät ein, das mich dann in Richtung Kornheim dirigierte.

Die Landschaft änderte sich in den rund zwanzig Minuten nicht sehr; lediglich Weinberge wurden es mehr und mehr.

Und dann – es war der letzte Kilometer zum ziel hin - erblickte ich Kornheim in einiger Entfernung.

Es war wirklich nur ein kleiner Ort, kaum der Rede wert.
Verschlafen, keine Frage.

Kornheim war umgeben von kleineren Wäldchen, die sich mit grünen Wiesen abwechselten, dazwischen schlängelte sich ein kleiner Bach hindurch. Die Sonne erleuchtete die gesamte Gegend in einem freundlichen hellen Licht. Die Kulisse wurde im Hintergrund von aufragenden Wingertbergen abgeschlossen, die akkurat angelegt waren und dem Betrachter eine tiefe Ordnung vermittelten, die sich selbst in so einem kleinen Nest abspielte.

Fraglich, wie sich die Dorfbewohner wohl fühlten, wenn nun diese Ordnung durch solch einen seltsamen Leichenfund gestört wurde.

Ich fuhr in den Ort hinein und war bemüht, langsam zu fahren, um mir einen Eindruck über die Gebäude verschaffen zu können.

Viele waren renoviert worden, aber man konnte noch genau die ursprünglichen Mauern sehen, die zwischen der neuen Fassade hervorragten und trotz all den vielen Jahren nicht ihren ursprünglichen Charme eingebüßt hatten.

Genau dieser Charme war es gewesen, der mich zu meiner Studienzeit dazu bewegt hatte, ein Haus zu kaufen, das über hundert Jahre alt war und eigentlich komplett neu saniert hätte werden müssen.

Ich zog es vor, in diese Bruchbude – wie meine Mutter das Gebäude netterweise zu bezeichnen beliebte – einzuziehen, anstatt in eine kleine Wohnung in Miete zu gehen, die etwa zehn Jahre alt war.

Vermutlich machen solche Entscheidungen einen guten Archäologen aus – wenn man nachts Langeweile hat, braucht man nur die Böden aufzubrechen und zu hoffen, dass dort irgendwelche Kostbarkeiten vorzeiten versteckt wurden und dann in Vergessenheit geraten waren.

Meine Eltern jedenfalls konnten es nicht verstehen.

Und meine damalige Freundin Maya ebenfalls nicht, aber sie hatte sich gefügt.

Wir waren drei Jahre lang ein Paar gewesen. Ich liebte sie über alles und konnte mir vorstellen, mit ihr das Leben zu verbringen.

Wir hatten uns während dem Studium kennengelernt.

Ich war 24, sie war 23 gewesen. Ihre langen dunkelbraunen Haare, die ihr schönes Gesicht zart umspielten, bezirzten mich vom ersten Moment an. Zuerst war die Freundschaft platonisch gewesen, doch je öfter sie ihren Augenschlag aus dem tiefen Grün machte, umso höher schlug mein Herz.

Wir gingen ins Kino, Essen, Tanzen und irgendwann war es um uns geschehen. Drei Monate, nachdem wir uns kennengelernt hatten, gestand ich ihr meine Liebe. Sie beruhte auf Gegenseitigkeit.

Meine Eltern waren glücklich und empfingen meine Freundin mit offenen Armen.

Und dann ging ich auf Wohnungssuche. Maya war dafür, in Miete zu gehen, aber ich machte ihr lang und breit klar, wie schnell ein Monat herumging und schon wieder die nächste Miete fällig war. Außerdem hasste ich die Kehrwoche in den Gebäuden, wo mehrere Parteien wohnten.

Es wurde geschimpft, wenn der Vorgänger nicht hundertprozentig gearbeitet hatte, man wurde gerne bespitzelt, wenn man an der Reihe war und seltsamerweise hatte niemand Zeit, die Kehrwoche für einen zu übernehmen, wenn man in den Urlaub wollte und so musste man zusehen, wie man jemanden auftrieb, der dies in der Absenz übernahm.

Mal von dem überheblichen Lächeln der Menschen aus den anderen Gegenden Deutschlands abgesehen. Die Baden-Württemberger und ihre schwäbische Kehrwoche. Aber immerhin haben wir es daheim dann schön sauber.

Nein, auf solch ein Hickhack hatte ich beim besten Willen keine Lust. Und da nützten Mayas Überredungskünste auch nicht viel.

Ich suchte ein Zuhause in Stuttgart, sodass ich in der Nähe meiner Eltern sein konnte.

Manche Menschen wollen weit, weit weg von den Eltern, wenn sie ausziehen und das Verhältnis zueinander kalt ist, doch ich gehörte weiß Gott nicht dazu. Ich liebte meine Eltern über alles.

Als hätte das Schicksal es gut mit mir gemeint, verkaufte man mir ein alleinstehendes, altes Haus. Baujahr 1850.

Es hatte Charakter durch die ruhige Lage, die alten Fenster, den Rissen in der Fassade und der angebauten Scheune hinten.

Meine Eltern gaben mir einen Zuschuss als Starthilfe. Das weitere Abzahlen regelte ich durch einen abendlichen, gut bezahlten Nebenjob – Türsteher.

Das jahrelange Fristen im Fitnessstudio machte sich bezahlt.

Noel lachte herzhaft als ich ihm von meinem Nebenjob erzählte und bezeichnete das Ganze als etwas, was ich mir redlichst verdient hätte durch – ich zitiere – ‚die endlose, schweißtreibende Folter’, der ich mich auch noch freiwillig unterzog.

Im selben Atemzug jammerte er mir dann vor, dass er trotzdem niemals in ein Fitnessstudio ginge, weil das ein sicheres Todesurteil für seinen göttlichen Körper wäre.

Und nein, die gute Bezahlung würde ihn auch nicht locken, nicht einmal für eine Million Mark (die im Übrigen nicht sehr viel später zum (T)Euro wurde).

Nicht einmal als ich ihm vorhielt, dass er für sein Alter noch ziemlich kindliche Gesichtszüge habe, ließ er sich breitdrücken.

Doch keine Spur Neid war in seiner Stimme oder gar in seinen mandelförmigen, asiatisch anmutenden Augen zu sehen. Und darüber war ich mehr als froh.

Denn Neider hatte ich weiß der Geier mehr als genug. Das fing schon bei den Nachbarn an.

Und dabei waren wir nichts Besonderes. Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater Anwalt. Gut, er übte seinen Beruf sehr gründlich und gewissenhaft aus, was ihn zu einer kleinen Berühmtheit bei den anderen Anwälten – und nicht nur dort – machte, aber er blieb immer auf dem Boden und war niemals überheblich.

So etwas zählt aber leider nun einmal nicht bei den Neidern. Man lästert trotzdem über Menschen, die mehr Geld haben als man selbst. Schrecklich. Aber am schlimmsten traf mich die Nachricht, dass auch einige Verwandte uns den Erfolg meines Vaters nicht gönnten.

Ich brauchte eine Weile, um das zu verdauen, aber meine Eltern nagen auch heute noch daran, während ich mir sprichwörtlich ein dickes Fell dagegen habe wachsen lassen.

Kurzum, Maya zog nach den gröbsten Renovierungsarbeiten – die im Übrigen von meinem Onkel, einem Experten in dieser Richtung, vorgenommen wurden – bei mir ein.

Die erste Zeit funktionierte alles reibungslos, aber nach etwa einem Jahr konnte ich zweifelsfrei Unzufriedenheit bei ihr ausmachen, doch immer, wenn ich sie darauf ansprach, tat sie so als sei nichts.

Und nach dem dritten Jahr erwischte ich sie in flagranti mit einem Kerl in unserem Bett als ich zwei Stunden früher als geplant vom Studium zurückkam, weil Unterricht ausgefallen war.

Ich machte sofort Schluss mit ihr, auch wenn es höllisch wehtat. Das Vertrauen war total zerstört. Und dass sie es mit diesem Kerl in meinem Haus trieb, in unserem Bett, war zusätzlich wie ein Schlag mitten in mein Gesicht.

Maya machte danach auch gar keine Anstalten, um unsere Liebe zu kämpfen, was mir nur noch deutlicher klarmachte, wie wenig sie zuletzt noch für mich empfunden haben musste.

Über die Trennung bin ich selbst heute noch nicht hinweg.

Seit diesem Zeitpunkt wohnte ich alleine in dem Haus. Ich hatte Noel mehrere Male angeboten, doch bei mir einzuziehen, da er dann mietfrei wäre und ich nicht mehr so ganz alleine in dem großen Haus, aber er lehnte dankend ab, weil er selbst noch nicht lange her umgezogen war in eine Mietwohnung.

Ich wollte aber nicht ausziehen, also blieb ich weiter in meinem Haus und schwor mir selbst, dieses Haus niemals zu verkaufen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Es war mein Eigentum und auch wenn die schmerzlichen Erinnerungen an Maya bleiben würden, würde ich weitermachen.

Reflektiertes Sonnenlicht in einem Fenster blendete mich und riss mich aus den Gedanken.

Weiter vorne, am Rand der Ortschaft, stand ein Polizeiauto.

Ich drosselte meine Geschwindigkeit und parkte dahinter.

Es war das letzte Gebäude hier in Kornheim, auf dessen Gartengelände die Leiche gefunden worden war.

Mein Blick glitt flüchtig über das Anwesen; es war wohl einst ein großer Bauernhof gewesen. Die Holzscheune im Hintergrund war teilweise eingefallen, doch das kleine Backhaus daneben aus Stein war fast noch so schön wie wohl vor hundert Jahren.

Ein Stück weiter hinten war eine weitere Scheune, wobei hier die untere Hälfte aus Backsteinen bestand; sie war nachträglich gebaut worden. Vermutlich war entweder mehr zum Lagern nötig oder aber man war schlichtweg zu faul gewesen, die ältere Scheune zu renovieren beziehungsweise ganz abzureißen.

Das Bauernhaus an sich war stattlich an Größe; ich schätzte es auf etwa dreihundert Quadratmeter.

Am Eingang waren noch die ursprünglichen Balken aus Stein angebracht. Über der Türe war in den Stein ein Wappen eingemeißelt und darunter eine Jahreszahl, die ich aber aufgrund der Entfernung nicht lesen konnte, also beließ ich es für den Anfang.

Meine Augen glitten weiter, vorbei an den Vorratsschuppen, hinüber auf das grüne Gelände mit den vereinzelten Bäumen, wo nicht weit entfernt zwei Männer standen. Einer trug eine Polizeiuniform, der andere nicht. Ich wusste, dass es sich bei Letzterem um den Kripobeamten handeln musste.

Der Fundort des Skelettes war unter einem großen Baum und großzügig mit Pflöcken abgegrenzt, um die sich ein gelbes Band schlang.

Die zwei Männer standen innerhalb der Begrenzung und unterhielten sich. Sie bemerkten mich erst als ich nähergekommen war, meine Tasche fest umklammert in der Hand.

Jedoch ließ ich mir meine brennende Neugier mitnichten anmerken. Solch eine Blöße wollte ich mir nach diesem Telefonat sicherlich nicht geben. Ich hatte keine Lust darauf, in eine Schublade der Voreingenommenheit gesteckt zu werden, denn in die wurde man gerne hineingepfropft. Grünschnabel war die meist gebrauchte Bezeichnung für Menschen wie mich. Oder auch die Verwendung des Wortes altklug. Und dabei war ich doch schon über dreißig, verdammt!

Der Beamte in Uniform und der Kerl in Zivil drehten sich um, um mich weniger neugierig als vielmehr abschätzig zu mustern.

Ich vermutete, sie trauten einem Archäologen nicht über den Weg, wenn er nicht mindestens zwanzig Berufsjahre vorweisen konnte oder kurz vor der Rente stand.

Nun, da musste ich sie beide leider enttäuschen. Ich war weder noch. Und trotzdem war ich qualifiziert.

Der Mann in Zivil nahm einen Zug aus seiner Pfeife und streckte mir dann lässig die Hand entgegen. „Sie müssen also dieser junge Archäologe Pazzo sein.“

Ich nahm sie, um sie selbstsicher zu drücken und kurz zu schütteln. „Der bin ich.“

Er musterte mich erneut. Seine Augen waren schmal und sein Blick scharf. Er schien sie alles zu durchschauen, was um ihn herum vorging – ob er es nun wissen durfte oder nicht. Unwillkürlich schwebte mir die Frage durch den Kopf, wie viele Morde er wohl bisher erfolgreich aufgeklärt hatte.

Die Fältchen um die Augen wirkten viel mehr als kamen sie von vielen schrecklichen Fällen, die man ihm zugeteilt hatte als weniger von einem unbeschwerten Leben kommend.

Das Leben und die Kriminalfälle hatten sein Gesicht gezeichnet. Er sah älter aus als er war, dessen war ich mir sicher.

„Hauptkommissar Braun von der Direktion in Ludwigsburg. Mir wurde dieser Fall zugeteilt.“

Er sprach das so beiläufig aus als sei es das Normalste der Welt, eine Leiche in einem verschlafenen Nest zu finden. Offensichtlich hatte ihn die Zeit abgehärtet gegen das Entsetzt sein oder gegen Schocks. Wogegen es ihn aber am meisten abgehärtet hatte – und das hatte er sicher noch nicht bemerkt – waren Mitgefühl und Takt.

Ich beschloss, mir eine bissige Bemerkung darüber zu verkneifen. Ich kannte Braun noch zu wenig als dass ich mir so etwas erlauben konnte und wollte. Dieser Schuss konnte nämlich mächtig nach hinten losgehen.

Braun deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des Polizisten. „Meyer. Er macht das, was ich nicht gerne tue.“

Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen, doch meine Miene blieb kalt wie Stein. Wenn er gedacht hatte, ich würde über solch einen geschmacklosen Pseudo-Witz auf Kosten eines anderen Menschen lachen, dann hatte er sich geschnitten. Aber gründlich.

Sein Lachen ertrank in seinem Raucherhusten, dann knurrte er kopfschüttelnd. „Meine Güte, mit Witzverständnis ist es bei diesen Großstädtlern aber auch nicht von weit her.“

Ich atmete triumphierend durch. Er hatte nun hoffentlich etwas mehr Respekt vor mir.

Braun überging das Ganze aber einfach schnell, indem er sich umdrehte und mit der Hand, in der er seine Pfeife hielt, hinabdeutete. „Der da hätte sicherlich gelacht.“
Ich zischte spöttisch durch meinen leicht geöffneten Mund. „Wohl kaum.“

Braun hob den Kopf und sah mich bezeichnend an, um schon Luft zu einer bösartigen Bemerkung zu holen als ich ihn einfach überging und mich in die Hocke begab, um das Skelett zu begutachten.

Es lag in der Erde als wäre ein unsichtbarer Sarg um es herum, auf dem Rücken, die Arme an den Seiten anliegend.

Die Füße zeigten in Richtung des Baumes. Die Knochen waren nicht ganz freigelegt und teilweise noch von der Erde verdeckt.

Braun nahm einen Zug aus der Pfeife und blies hörbar Rauch aus. „Und? Wie lange, schätzen Sie, liegt dieser arme Teufel bereits unter der Erde?“
Er klang bemüht routiniert, aber er konnte die Neugier darin nicht verbergen.

Ich betrachtete die Knochen näher. Die Struktur war noch nicht so zerfallen als sei diese Leiche schon Jahrhunderte lang tot, wie ich auf den ersten Blick ausmachen konnte. Der hier war ganz und gar nicht so alt wie es vielleicht den Umständen nach zu sein schien.

Zweifelsfrei aber konnte man das nur im Labor ausmachen. „Hm, ich vermute, zwischen fünfzig und neunzig Jahren.“

Ich sah an Braun hoch, der darüber nicht sehr

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 09-19-2015
ISBN: 978-3-7396-1443-4

All Rights Reserved

Dedication:
Ich widme dieses Buch meiner Schwester Nicole und meinen Eltern. Meine Liebe zu euch hat es mir erst ermöglicht, das alles hier durchzuziehen. Mein Dank geht an meinen lieben Bekannten Ralf Isau, der mir eine große Hilfe war bei meinen ersten Schritten als Autorin.

Next Page
Page 1 /