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Karte von Elduram

 

Erinnerungen

An Comhrac

Im Zeichen des Wassers, Hornung

Zyklus 999 nach der Ankunft der Menschen in Elduram

 

Yarim lag zwischen den hohen Gräsern der Savannenebene östlich der Damasia und starrte in den sternenklaren Himmel, ohne die funkelnden Himmelskörper wirklich wahrzunehmen. Seine Gedanken kreisten unablässig um die Ereignisse des vergangenen Zyklus und blieben stets bei der Begegnung mit dem Elementarfürsten Cerucoac und Mtawala hängen, die gerade einmal einen Mondkreis her war. Dennoch kam es ihm so vor, als hätte sich das alles in einem anderen Leben ereignet. Nur das schmerzhafte Ziehen in seiner Brust und das Gefühl plötzlich ins Bodenlose zu stürzen, wann immer er an seinen Freund und Mentor Elhan denken musste, bestätigte ihm, dass alles nicht einfach nur ein Traum gewesen war.

Der Druide war tot, gestorben in einem Kampf, der eigentlich gar nicht hätte stattfinden müssen. Auf der Suche nach Verbündeten unter den Elementaren, waren Yarim, Elhan, Xylife und die Druiden Danaidh, Byrann und Adair in Begleitung der Luftelementarin Kisulusuli ins Grenzgebiet zwischen den Reichen der Menschen und der Elementare gereist. Doch die Elementarfürsten waren über die Ankunft der Druiden und der beiden Halbelementare alles andere als erfreut gewesen. Selbst die Beteuerungen Kisus, die sich als Verwandte des Luftelementarfürsten Cerucoac entpuppt hatte, sie seien in Frieden und mit den besten Absichten gekommen, reichten nicht aus, um die beiden Anführer der Elementare zu überzeugen. Als bei Xylife das Medaillon des Großmeisters Voktan entdeckt worden war, das diese bei einer Rettungsaktion aus der Erdfeste des Cirkels gestohlen hatte, war die Spannung zwischen Menschen und Elementaren zum Zerreißen gespannt gewesen.

Genau diesen Moment hatte sich der Luftelementarfürst Cerucoac ausgesucht, um Elhan als ehemaliges Mitglied des Cirkels zu entlarven. Yarim hatte zu Beginn seinen Ohren nicht trauen wollen, war Elhan doch für ihn so etwas wie ein Vaterersatz geworden, nachdem er ihn nach der Vernichtung Nyrax aufgezogen und im Umgang mit seinen Kräften ausgebildet hatte. Doch der Druide selbst war derjenige gewesen, der schlussendlich die Schandtaten seines früheren Lebens bestätigte und die Situation eskalieren ließ.

Alle Reue, die Elhan an den Tag gelegt hatte, reichte nicht aus, um die brodelnde Wut Cerucoacs zu beschwichtigen. In dem Wunsch nach Rache für die Toten seines Volks, die Opfer eines von Elhan geführten Angriffs des Cirkels geworden waren, hatte der Luftelementarfürst den Druiden in den folgenden Kampfhandlungen umgebracht.

Nur dem beherzten Eingreifen Kisus war es zu verdanken gewesen, dass Elhan an dem Tag das einzige Todesopfer blieb. Dennoch hatte die Luftelementarin nicht verhindern können, dass die beiden anwesenden Fürsten Yarim und Xylife mit einem schier unmöglichen Auftrag betrauten. Nur wenn es ihnen gelingen würde, die vier Großmeister des Cirkels zu töten und als Beweis ihrer Vernichtung deren Medaillons an der Grenze an die Elementarfürsten zu überreichen, würden sie einem möglichen Frieden zwischen Menschen und Elementaren zustimmen und Danaidh, Byrann und Adair aus der Gefangenschaft freigeben.

In diesem Moment hockten die drei Druiden südlich der Grenze im Dschungel Eldurams in einem von Stechmücken und der feuchtwarmen Tropenluft erfüllten Erdhügel und konnten nichts anderes tun, als all ihre Hoffnung in die beiden Halbelementare und ihre elementare Begleiterin zu setzen.

Mit einem gequälten Seufzen drehte sich Yarim auf die Seite und schloss die Augen. Während Kisu in den Ästen einer nahegelegenen Akazie hockte und nach den Soldaten oder Habelementaren des Cirkels Ausschau hielt, versuchten Yarim und Xylife die kühleren Stunden der Nacht zur Erholung zu nutzen. Doch das gelegentliche Rascheln neben ihm verriet Yarim, dass es Xylife ebenso schwer fallen musste wie ihm einzuschlafen.

In dem vergangenen halben Mondkreis, seit sie die Lichtung der Elementare verlassen hatten, hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Xylife hatte mehrmals den Versuch unternommen, ein Gespräch in Gang zu bringen, doch Yarim hatte jedes Mal abgeblockt. So sehr er sich auch bemühte dem Gedanken einen Riegel vorzuschieben, es ging ihm einfach nicht aus dem Kopf, dass Xylife an allem schuld war. Wenigstens zum Teil. Hätte sie Voktans Medaillon nicht an sich genommen, oder es zumindest gegenüber ihm, Elhan oder Byrann erwähnt, wäre das Treffen mit den Elementarfürsten vielleicht anders verlaufen und Elhan noch am Leben.

Hinzu kam, dass sein bereits verebbtes Misstrauen der Halbelementarin gegenüber neu erwacht war. Er konnte einfach nicht glauben, dass sie das Medaillon aus purer Naivität zum Treffen mitgenommen hatte. Sie hätte doch wissen, oder zumindest vermuten müssen, dass dessen Anblick die Elementare gegen sie aufbringen würde.

Dennoch wusste Yarim, dass er Xylife immerhin teilweise Unrecht tat. Die letztendliche Eskalation hatte Elhans Vergangenheit herbeigeführt. Dennoch wisperte ihm eine kleine Stimme zu, dass der Tod des Druiden vielleicht hätte verhindert werden können, wenn die Situation nicht bereits durch Xylifes unbedachtes Handeln dermaßen angespannt gewesen wäre. Der argwöhnische Teil seiner selbst deutete mit unsichtbarem Finger auf Xylife und schrie ‚Verräterin‘.

Unruhig rollte sich Yarim nochmals auf seinem Mantel herum, bis er auf dem Bauch lag, die Hände als Kissen nutzend. Neben sich hörte er das leise Schnauben von Carok und Krodis. Sie hatten die beiden Pferde an den Stamm der Akazie gebunden, damit sie über Nacht nicht Reißaus nahmen. Obwohl sie nun schon seit geraumer Zeit mit Kisu reisten, hatten sich die Tiere immer noch nicht an die Anwesenheit der Luftelementarin gewöhnt.

„Yarim? Bis du noch wach?“ Xylifes leise Stimme wehte wie der Hauch des Windes zu ihm herüber.

Yarims erster Impuls war es, die geflüsterten Worte einfach zu ignorieren. Doch nach einigen Sekunden gab er sich einen Ruck und antwortete ebenso leise: „Ja.“

Er drehte den Kopf und sah zu Xylife hinüber. Sie hatte sich auf ihrem Nachtlager aufgesetzt, sodass ihre zierliche Gestalt von hinten vom Mond beschienen wurde. Ihre Gesichtszüge konnte Yarim nicht erkennen, nur zwei Türkis aufblitzende Iriden in der Dunkelheit.

„Was geht dir durch den Kopf?“

Was wohl, dachte Yarim bitter, schluckte seinen Ärger jedoch hinunter. Seine Gedanken hatten ihn bereits aufgestachelt, bevor Xylife auch nur den Mund aufgemacht hatte. Doch er wusste, dass er die junge Frau brauchte. Ohne ihre Hilfe, würde er den Auftrag der Elementare niemals erledigen und die drei Druiden aus deren Gefangenschaft befreien können. Xylife war die einzige, die ihm internes Wissen über den Cirkel liefern konnte. Er würde ab jetzt einfach auf der Hut sein.

Yarim spähte in die Dunkelheit und lauschte eine Weile den Geräuschen der Nacht, bevor er sich wieder zu Xylife herumdrehte. „Ich habe überlegt, wie wir morgen am besten vorgehen.“

Xylife löste die Arme von ihrer Brust und faltete die Hände locker im Schoß. „Du meist bei unserem Besuch in Brieuc?“ Ihre Stimme war ruhig und verriet nichts über ihre Gefühle.

„Genau. Auch wenn wir in der Wildnis alles zum Überleben finden, können wir nicht noch länger durch die Gegend ziehen, ohne zu wissen, was in Elduram vor sich geht. Wir brauchen unbedingt die Informationen, was der Cirkel als Nächstes plant, wo er seine Truppen hinschickt und ob sich die Großmeister in ihren Festungen aufhalten. Am einfachsten wäre es für uns, sie außerhalb ihrer Burgen zu erwischen. Beispielsweise auf einer Rekrutierungsreise, wie Voktan sie angeblich getätigt hatte, als wir Danaidh aus der Erdfeste befreie wollten. Doch um das zu erfahren, müssen wir mit den Bewohnern der Dörfer Kontakt aufnehmen.“

„Was zu unbequemen Fragen führen kann.“

Das plötzliche leise Säuseln neben seinem Ohr ließ Yarim erschrocken zusammenzucken. Beinahe hätte er einen Feuerball in die Richtung geworfen, aus der die Stimme erklungen war, konnte sich jedoch gerade noch so stoppen. „Verdammt nochmal, Kisu! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich nicht anschleichen sollst? Irgendwann passiert es und ich feure vor lauter Schreck einen meiner Angriffe auf dich ab.“

Selbst jetzt, wo Yarim wusste, dass die Luftelementarin genau neben ihm schwebte, hätte er sie fast übersehen. Nur die beiden weißen Flecken ihrer Augen waren zu erkennen, die einige Fuß über dem Boden in der Luft hingen. Der Rest ihres strudelförmigen Körpers war unsichtbar.

Von der anderen Seite hörte Yarim ein amüsiertes Glucksen. Xylife hatte sich als deutlich resistenter gegen Kisus plötzliches Auftauchen erwiesen. Die Luftelementarin schien Gefallen daran gefunden zu haben, die beiden Halbelementare gelegentlich zu erschrecken. Doch bei Xylife hatte sie bereits nach wenigen Malen keinen Erfolg mehr, sodass sie ihre gelegentlichen Späße nun ausschließlich mit Yarim trieb.

Im Stillen vermutete er, dass die beiden sich abgesprochen haben. Kein Mensch konnte dermaßen ruhig bleiben, wenn ein Elementar ohne Vorwahrung an seiner Seite auftauchte.

„Ich wollte euch lediglich auf die möglichen Komplikationen hinweisen“, kam es gelassen von Kisu.

„Ja ja, schon klar.“ Yarim bedeutete der Luftelementarin mit einer wedelnden Handbewegung sich zwischen ihm und Xylife zu platzieren. Er wollte gerne alle beide im Auge behalten, wenn er es schon mit zwei weiblichen Wesen zu tun hatte, die es scheinbar auf ihn abgesehen hatten. Oder ich werde langsam paranoid.

„Aber Kisu hat recht“, warf Xylife ein. „Es wird unweigerlich Aufsehen erregen, wenn zwei Fremde das Dorf betreten. Gerade hier in An Comhrac, wo jeder Reisende damit rechnen muss, von Elementaren überfallen zu werden, sobald er sein Dorf verlässt.“

„Das wollte ich ja auch gar nicht abstreiten.“ Ohne dass er recht wusste, wie es dazu gekommen war, sah sich Yarim plötzlich in eine Verteidigungsposition gezwängt. „Mir ist schon klar, dass wir lediglich von Angriffen durch Elementare verschont bleiben, weil wir im Auftrag zweier ihrer Fürsten reisen. Ich habe Kisu ja auch nicht widersprochen, oder?!“

„Nein“, kam die wie so häufig emotionslos wirkende Antwort von der Luftelementarin. „Dann solltet ihr überlegen, wie ihr eure Anwesenheit erklärt.“

„Ach wirklich? Darauf wäre ich nicht gekommen.“ Trotz der Dunkelheit konnte Yarim die kleinen Luftwirbel sehen, die kurz durch Kisus Gestalt zogen und sie für einen Moment sichtbar werden ließ.

Die Luftelementarin hatte auch nach zwei Mondkreisen, die sie nun schon zusammen unterwegs waren, immer noch Probleme damit menschlichen Sarkasmus zu erkennen. Die ironisch gemeinten Äußerungen schafften es nach wie vor sie zu verwirren. Gelegentlich entfachten sie sogar ihren Ärger, da sie glaubte, die beiden Halbelementare logen sie wissentlich an, um ihr Informationen vorzuenthalten. Erst nach einem klärenden Gespräch mit Xylife hatte sie verstanden, dass es eine nicht böse gemeinte Eigenart der Menschen war, die sich nur schwer ablegen ließ.

„Da ich davon ausgehe, dass du nicht so dumm bist, wirklich nicht von alleine darauf zu kommen, nehme ich an, dass deine Äußerung sarkastisch gemeint war.“

„Ja, Kisu, war sie“, brachte Yarim mit einem Seufzen hervor. Vielleicht hätte er sich Xylife gegenüber doch einfach schlafend stellen sollen. Dann wäre ihm das verworrene Gespräch zu solch später Stunde erspart geblieben. „Aber ich weiß, dass du uns nur helfen wolltest. Also danke.“ Er warf der Luftelementarin einen versöhnlichen Blick zu, bevor er in die Runde fragte: „Hat denn eine von euch eine Idee für einen plausiblen Vorwand, weshalb wir die Gefahren einer Reise auf uns nehmen, um durch An Comhrac zu reisen?“

„Wie wäre es, wenn wir uns wieder als Händler ausgeben?“

„Das wird nicht funktionieren.“ Abwehrend schüttelte Yarim den Kopf. „Wir haben immer noch weder Waren noch einen Karren, mit dem wir sie transportieren können. Niemand in An Comhrac würde uns abnehmen, dass wir tatsächlich Händler sind.“

„Und wenn ihr euch einfach wieder als Mitglieder des Cirkels ausgebt?“, schlug Kisu vor.

„Das funktioniert auch nicht. Erstens würden uns die Dorfbewohner dann gewiss nicht offen gegenübertreten und zweitens würde es nur Misstrauen erregen, wenn wir nach den letzten Handlungen des Cirkels fragen, wo wir doch angeblich zu seinen Anhängern gehören.“

Die nächsten Minuten war nichts zu hören außer dem Rascheln der Gräser, die sich in der kühlen Nachtluft hin und her wiegten, dem Flüstern des Winds in den Blättern über ihnen und dem gelegentlichen Schnauben der Pferde. Von Westen zog eine dünne Wolkendecke heran, die sich langsam vor den Mond schob und die Dunkelheit um sie herum noch dichter werden ließ.

„Vielleicht sollten wir anders an die Sache herangehen“, durchbrach Yarim schließlich das Schweigen. „Was würde dich motivieren dein sicheres Dorf zu verlassen und durch Elduram zu ziehen, Xylife.“

Planlos zuckte Xylife mit den Schultern. „Keine Ahnung. Du vergisst, dass ich das Leben in einem Dorf gar nicht kenne. Wie soll ich da wissen, wie sich ein Dorfbewohner verhalten würde.“

Auch wieder wahr, dachte Yarim. Also blieb es an ihm hängen, sich eine Tarnung auszudenken. Kisu würde als Elementarin die Handlungen eines Dörflers noch weniger nachvollziehen können als Xylife.

Weitere Minuten vergingen in stummer Grübelei, während Yarims Augen den dahinziehenden Wolken folgten, die sich weiß vor dem schwarzen Nachthimmel abhoben. Es war schon eine Weile her, dass die Sonne untergegangen war. Wenn sie noch genügend Schlaf bekommen wollte, um morgen ausgeruht in Brieuc zu erscheinen, dann sollte ihm schnell etwas einfallen.

Da kam ihm eine Idee. „Es ist vielleicht nicht die beste Ausrede, aber wie wäre es, wenn wir vorgeben auf der Reise zu unserer Schwester zu sein, um sie vom Tod unserer Eltern zu unterrichten?“

Der zweifelnde Ton in Xylifes Stimme war nicht zu überhören, als sie erwiderte: „Und warum sollten wir das tun? Warum lebst sie überhaupt in einem anderen Dorf?“

Yarim überlegte einen Moment. „Sie könnte sich in den Sohn eines Händlers verliebt haben, der immer in unser Dorf kam. Irgendwann hat sie dann beschlossen mit ihm zu gehen und seine Frau zu werden.“ Er hielt kurz inne, bevor er die Geschichte weitersponn. „Und wir nehmt die Reise auf uns, weil du als alleinstehende junge Frau unmöglich alleine wohnen kannst, nachdem ich beschlossen habe, mein Glück ebenfalls als Händler zu versuchen. Unsere Eltern sind nämlich bei einem Feuer umgekommen, bei dem auch die Werkstatt unseres Vaters abgebrannt ist. Da uns das Geld zum Wiederaufbau fehlt und ich weder Frau noch Kinder besitze, habe ich beschlossen, in das Händlergeschäft meines Schwagers einzusteigen.“

„Das klingt sehr verworren“, gab Kisu zu bedenken. In der durch die Wolkendecke verstärkten Dunkelheit glühten ihre weißen Augen wie zwei auf Höchsttemperatur erhitzte Stahlklumpen.

„Könnte aber funktionieren.“ Xylife löste ihre Beine aus dem Schneidersitz, winkelte sie vor der Brust an und legte das Kinn auf die Knie. Während sie die Arme um ihre Beine schlang, sagte sie: „Einen besseren Einfall habe ich auch nicht. Und so lange wir darauf achten, nicht versehentlich einem Soldaten oder anderem Halbelementar in die Arme zu laufen, sollte es kein Problem darstellen, das Dorf zur Not schnell zu verlassen.“

„Dann sollten wir uns vorsichtshalber nur noch überlegen, wo wir herkommen und wo wir hinwollen.“

„Das ist doch ganz einfach“, erwiderte Xylife und unterdrückte ein Gähnen. „Wir kommen aus einem Dorf weiter südlich und wollen in eines weiter nördlich. Die Bewohner Brieucs werden das kaum kontrollieren können.“ Nun doch von der Müdigkeit übermannt, rollte sich Xylife auf ihrem Umhang zusammen. Sie warf einen letzten Blick auf Yarim, der immer noch als unbewegliche schwarze Silhouette neben ihr saß. „Uns weitere Gedanken zu machen, bringt nicht viel. Die Vergangenheit hat uns doch gezeigt, dass eh alles anders kommen kann, als wir es planen.“

„Wohl wahr.“ Yarims leise gemurmelte Worte gaben einen Teil der Bitterkeit preis, die Xylifes Äußerung wieder in ihm wachgerufen hatte. Dennoch hatte sie recht. Ihrem Beispiel folgend, streckte sich Yarim wieder auf seinem eigenen Lager aus, auch wenn er bezweifelte, dass er bald würde einschlafen können.

Neben sich spürte er einen Luftzug, als Kisu wieder in die Äste der Akazie zurückschwebte. Kaum hörbar, wie das Flüstern des Windes, wünschte sie den beiden Halbelementaren eine gute Nacht, bevor sie erneut ihren Wachposten einnahm.

Latha na Brigid

Brieuc

Im Zeichen der Erde, Lenzing

Zyklus 999 nach der Ankunft der Menschen in Elduram

 

Die Sonne stand kurz vor dem Zenit, als Yarim und Xylife am nächsten Tag die Dorfgrenze Brieucs passierten. Obwohl das Dorf mitten auf der Savannenebene stand, war es durch seine Strohdächer und die aus dicken Ästen zusammengesetzten Hütten gut getarnt und fügte sich nahtlos in die Umgebung ein.

Beim Näherkommen hatte Yarim zum ersten Mal den Aufbau eines Schutzbanns erkennen können. Die drei Akazien und vier Nérén, bis zu sechzig Fuß hohe Laubbäume, die zweimal im Zyklus die in dieser Gegend Eldurams als Grundnahrungsmittel fungierende Hülsenfrüchte trugen, standen in einem fast perfekten Kreis um das Dorf herum und mussten für das ungeübte Auge wie normale Savannenbäume wirken. Doch die Anordnung der Akazien und Nérén in der sonst von einer weiten Graslandschaft dominierten Vegetation ließ darauf schließen, dass die Bäume gezielt gepflanzt worden waren, um als Stützpfeiler des Schutzbannes zu dienen.

Während Yarim und Xylife sich dem Dorfzentrum näherten, hockte Kisu weiter außerhalb in einer der wenigen Baumkronen und bewachte Carok. Sie hatten den Fuchs vorsichtshalber bei der Luftelementarin gelassen, um kein Misstrauen zu erregen. Keiner würde ihnen glauben, dass Yarim aus Geldnöten den Beruf des Händlers gewählt hatte, statt die Werkstatt seines Vaters wiederaufzubauen, wenn sie zwei Pferde besaßen. Eines alleine hätte bei einem großzügigen Käufer eventuell schon ausgereicht, um das benötigte Geld zusammen zu bekommen. Auch jetzt noch warfen ihnen die Männer und Frauen argwöhnische Blicke zu, als sie auf Krodis Rücken in das Dorf ritten.

Brieuc war nicht viel größer, als Nyrax es gewesen war. Die aus Ästen errichteten runden Holzhütten standen in drei Reihen um einen mit plattgetretener Erde befestigten Dorfplatz, auf dem mehrere Tische und Stühle um einen aufgeschichteten Holzhaufen herumstanden. Am Rand des Platzes saßen die Frauen Brieucs um mehrere kleine Feuerstellen, schälten Gemüse oder rührten in großen Kesseln, aus denen wohlriechende Dampfschwanden aufstiegen. Die Kleinkinder rannten kreischend und lachend umher, während die Älteren den Frauen zur Hand gingen

Verwundert ließ Xylife ihren Blick über den Platz schweifen. Auf der anderen Seite entdeckte sie zwei Männer, die dabei waren einer ausgewachsenen Antilope das Fell abzuziehen. Drei andere schnitzten einen langen Holzspieß und bereiteten die Feuerstelle zum Braten der Antilope vor.

„Sieht ganz so aus, als ob sie heute ein Fest feiern wollen“, raunte Xylife Yarim ins Ohr. Sie saß hinter ihm auf Krodis Rücken und spähte über seine Schulter auf das bunte Treiben. „Vielleicht hat einer ihrer bedeutenden Leute heute seine Zyklenfeier.“

„Gut möglich. Aber solange sie das Fest nicht dem Cirkel zu Ehren veranstaltet, ist mir eigentlich egal, was sie feiern.“

„Nicht so griesgrämig“ Gespielt pikiert knuffte sie Yarim in die Seite. „Es ist doch schön zu sehen, dass die Menschen noch feiern und sich amüsieren können, obwohl die Zeiten alles andere als rosig sind.“

Mit einem nichtssagenden Brummen betrachtete Yarim die Gesichter der umstehenden Dorfbewohner. Bis auf eine alte Frau, die gar nicht zu bemerken schien, was um sie herum geschah, hatten alle in ihren Arbeiten innegehalten. Die kleinen Kinder waren zu ihren Müttern gerannt und versteckten sich hinter deren bunt gemusterten Röcken, konnten es jedoch nicht lassen, mit großen Augen wieder neugierig hinter ihnen hervorzulugen. Die Älteren sahen leicht verunsichert zwischen ihren Eltern und den Fremden hin und her, während die Erwachsenen des Dorfs eine sichtbar abwehrende Haltung eingenommen hatten.

 „So viel zu einem freundlichen Empfang“, murmelte Yarim nüchtern.

„Vielleicht sollten wir uns erst einmal vorstellen.“ Xylife rutschte von Krodis Rücken, der mittlerweile neben einem der Tische angehalten hatte und die Nüstern blähend den Boden nach essbaren Gräsern absuchte. Als er nicht fündig wurde, schnaubte er unwillig und schüttelte die Mähne.

Den Hengst den Hals tätschelnd, richtete sich Xylife an die Bewohner Brieucs. „Ähm, hallo alle miteinander. Mein Name ist Alayna und das ist mein Bruder Njlos.“ Sie deutete auf Yarim, der bemüht freundlich in die Runde nickte, bevor er ebenfalls von Krodis Rücken glitt.

Um einer möglichen Entdeckung durch den Cirkel vorzubeugen, hatten sie beschlossen ihre echten Namen gegen Pseudonyme zu tauschen. Xylifes Name war dem Cirkel wohl bekannt und wenn er Yarims noch nicht in Erfahrung gebracht hatten, dann war das nur eine Frage der Zeit.

„Wir wurden von den Umständen gezwungen unser Dorf zu verlassen und zu unserer Schwester zu reisen. Bis jetzt hatten wir Glück, doch wir würden uns sehr freuen, wenn wir die heutige Nacht sicher in eurem Dorf verbringen dürften.“ Xylife deutete auf die offensichtlichen Vorbereitungen des Festes. „Wir werden eure Feier auch nicht stören. Versprochen.“

Zunächst machte es den Anschein, als fühlte sich keiner der Dörfler genötigt zu antworten. Sie blickten den beiden Fremden lediglich teilnahmslos entgegen.

Abwartend ließ Yarim seinen Blick über die versammelte Meute schweifen. Die Hautfarbe der Dörfler war ebenso wie bei den Bewohner Dun Laoghaires eine Spur dunkler als seine eigene und die von Xylife. Doch ihnen fehlten die scharfgeschnittenen Gesichtszüge der Dun Laoghairer. Stattdessen waren ihre Konturen weicher und ihre Gesichter im Allgemeinen etwas breiter, wie es bei den Menschen östlich der Damasia üblich war. Auch gab es nicht wenige unter ihnen, die helle Augen- und Haarfarben besaßen.

Yarim wollte gerade selbst das Wort an die Dorfbewohner richten, als ein Mann mittleren Alters nach vorne trat. Seine langen hellbraunen Haare trug er zu einem Zopf zusammengebunden und um seine Oberarme waren breite Lederbänder geschlungen. Über seinen Schultern trug er eine bunte Flickenfeste, wie die meisten Männer des Dorfs.

„Mein Name ist Karuso. Ich bin der Anführer dieses Dorfs.“ Er legte eine kurze Pause ein, in der er seinen Bick forschend zwischen Yarim und Xylife hin und her wandern ließ. „Was sind das für Umstände, die einen Mann und eine Frau in diesem Teil Eldurams alleine durch die Gegend ziehen lassen?“

 

Wie sie es in der Nacht zuvor besprochen hatten, schilderte Xylife so gefühlvoll wie möglich ihre erdachte Lebensgeschichte. Sie legte an den entsprechenden Stellen eine kummervolle Miene auf und gab ihrer Stimme einen brüchigen Klang. Als sie an der Stelle ankam, wo ihre angeblich gemeinsamen Eltern im Feuer der Werkstatt umgekommen waren, wirkte ihre Trauer und das Entsetzten auf Ihrem Gesicht so echt, dass Yarim sich nicht sicher war, ob er ihre Geschichte als Lüge enttarnt hätte.

Wie kann ich mir da sicher sein, dass der Rest, den sie uns bisher erzählt hat, nicht auch eine Lüge war? Der Cirkel würde alles tun, um seine Bemühungen und die seiner Freunde im Keim zu ersticken und was wäre da besser, als gleich zu Beginn einen Spion in ihre Gruppe zu schleusen. Aber vielleicht war er auch einfach nur zu leichtgläubig?

Doch ein Blick in die Gesichter der umstehenden Dorfbewohner zeigte ihm, dass die Menschen von Brieuc keine Zweifel an Xylifes Worten hatten. Auf vielen Gesichtern sah er Mitgefühl und Anteilnahme. Eine junge Frau hatte eine Hand vor den Mund geschlagen, während sie den anderen Arm um die Schultern des kleinen Jungen vor sich geschlungen hatte. Die beschützende Geste einer Mutter.

Nur eine alte Frau, die sich in den hinteren Reihen schwer auf ihren knorrigen Gehstock stützte, musterte Xylife aus zusammengekniffenen Augen. Ihre von Furchen durchzogene Stirn legte sich noch stärker in Falten, als Xylife erklärte, dass Yarim sich dem Geschäft ihres Schwagers anschließen wollte und sie ihn begleitete, um nicht als alleinstehende Frau in ihrem Heimartdorf leben zu müssen. Die wässrigen Augen der Alten wanderten zu Yarim und blieben auf seiner Gestalt liegen. Durchdringend und mit einer Intensität, die Yarim den Blick einer alten Frau gar nicht zugetraut hätte, musterte sie ihn. Einen Moment lang schien alles um sie herum still zu stehen. Dann bemerkte Yarim eine kaum wahrnehmbare Bewegung ihres Kopfes, bevor sie sich umwandte und mit langsamen Schritten von der Menschentraube entfernte.

„... nicht wahr, Njlos?“

Aus der eigenartigen Wirkung des Moments gerissen, wandte sich Yarim wieder Xylife zu. „Ähh ... was hast du gesagt?“

Ein warnendes Funkeln trat in Xylifes Augen. „Ich habe gemeint, dass wir uns nichts weiter wünschen, als für heute Nacht einen sicheren Ort zum Schlafen zu haben. Wir möchten das Glück, das wir bis jetzt auf unserer Reise hatten, nicht überstrapazieren.“

Yarim beeilte sich ihre Worte mit einem Nicken zu bestätigen. Er durfte auf keinen Fall Verdacht an ihrer Geschichte aufkommen lassen. „Wir werden euer Fest auch nicht stören. Wenn ihr es erlaubt, helfen wir euch als Dank für einen Schlafplatz bei den Vorbereitungen.“ Er ließ seinen Blick von Karuso über die übrigen versammelten Dorfbewohner wandern und schenkte ihnen ein freundliches Lächeln, das von vielen erwidert wurde. Doch es gab auch einige Gesichter, die ihre misstrauische Miene beibehielten.

Als er sich wieder Karuso zuwandte, erkannte er auch in den Zügen des Anführers verhohlenen Misstrauen. Auch wenn der ältere Mann eine lockere Haltung angenommen hatte, war die Partie um seine Lippen doch etwas zu verspannt.

Er ließ seinen Blick noch ein paar Mal zwischen Yarim, Xylife und den versammelten Bewohnern Brieucs hin und her wandern, bevor er einmal knapp nickte. „Keiner soll sagen können, wir verwehren schutzsuchenden Reisenden eine Nacht in unserem Dorf.“ Mit den Worten wandte er sich nach links und deutete auf eine Hütte weiter hinten, deren Dach zwischen zwei anderen hervorlugte. „Dort könnt ihr schlafen.“

„Habt vielen Dank!“ Überschwänglich ergriff Xylife die Hand des Dorfvorstehers und schüttelte sie, während Yarim ihm dankbar zunickte.

Xylife im Schlepptau, führte Yarim Krodis durch die Menge zu der Hütte. Sie war etwas kleiner als die Umstehenden und wirkte leicht verwittert. Das Strohdach schien zwar dicht zu sein, doch war es an einigen Stellen deutlich dünner als an anderen. Dennoch schien keiner es für nötig gehalten zu haben, das Dach neu zu decken. Entweder war diese Hütte verlassen worden, oder ihr Besitzer legte schlichtweg keinen Wert auf ein einwandfreies Dach. Wenn dem tatsächlich so war, gehörte diese Hütte wohl kaum Karuso. Sie kannten den Dorfvorsteher zwar nicht, doch der erste Eindruck ließ Yarim daran zweifeln, dass er ein Mann war, der nachlässig mit seinem Besitz umgeht.

Als sie die Hütte betraten, sah Yarim seine Vermutung bestätigt. Hier hatte seit längerem keiner mehr gewohnt. Zwar war das Innere sauber gehalten worden, dennoch wiesen kleinere Schäden in den Wänden darauf hin, dass hier niemand dauerhaft lebte. Andernfalls hätte ein Bewohner die kleinen Löcher und Spalten, durch die der Wind blies, sicherlich geschlossen.

„Naja, nicht gerade kuschelig, aber besser als nichts.“ Xylife war nach ihm ins Innere geschlüpft und besah sich ihr heutiges Nachtlager. „Ich würde gerne wissen, warum die Hütte leer steht. Irgendwer kann sie doch bestimmt gebrauchen.“

„Das geht uns nichts an.“

Seufzend ließ Xylife ihr Gepäck zu Boden sinken. „Okay Yarim, was ist los? Glaubst du mir ist nicht aufgefallen, wie du mir in letzter Zeit aus dem Weg gehst?!“ Auffordernd hob sie ihr Kinn und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand in ihrem Rücken.

Mit verbissener Miene drehte sich Yarim zu ihr herum und betrachtete sie eingehend. Eigentlich stand ihm der Sinn nach allem anderen, nur nicht danach sich jetzt mit Xylife auseinander zu setzen. Dennoch sagte er: „Ich verstehe einfach nicht, wie du so dumm sein konntest, Voktans Medaillon mit zur Grenze zu nehmen.“

Sofort erstarrte Xylifes Gesicht zu einer steinernen Maske. „Ich habe dir schon auf dem Weg hierher erzählt, dass ich das Medaillon aus dem Affekt heraus mitgenommen haben. Als Trophäe, wenn du so möchtest. Aber bestimmt nicht, um einen von uns zu schaden.“ Etwas milder fügte sie hinzu: „Willst du mich für immer mit Ablehnung strafen? Ich verstehe ja, dass du sauer auf mich bist, aber du musst mir glauben, ich habe das nicht mit böser Absicht getan.“

„Das ist es ja, das kann ich nicht ...“ Yarim hatte die Worte nur leise ausgesprochen, dennoch hingen sie wie Eisspeere zwischen ihnen in der Luft und schienen die Temperatur in dem kleinen Raum schlagartig um mehrere Grad zu senken.

Es vergingen mehrere Minuten, in denen keiner ein Wort sagte. Mit zusammengepressten Lippen starrte Yarim Xylife einfach nur an. Er hatte die Worte gar nicht sagen wollen, doch jetzt wo sie raus waren, fühlte er sich eigenartig erleichtert. Als hätten sie seit Wochen auf seinen Schultern gelastet, ohne das er ihr Gewicht wirklich wahrgenommen hätte. Doch jetzt, wo sie einmal ausgesprochen waren, konnte er ihre Wahrheit nicht mehr verleugnen. Sein Vertrauen war erschüttert. Mehr als er sich selbst hatte eingestehen wollen.

Auf Xylifes Gesicht war keine Regung zu erkennen. Starr wie eine Salzsäule stand sie da. Ihre Körperhaltung hatte sich kein bisschen verändert und auch ihre Mimik nicht. Nur in ihren Augen loderte es kurz auf, bevor sie sich abrupt umdrehte und aus der Hütte stürmte.

Die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, entfernte sich Xylife schnellen Schrittes von ihrer Hütte. Ohne ein Ziel vor Augen zu haben, lief sie immer am Dorfrand zwischen den Feldern und den ersten Behausungen entlang. Die Zähne aufeinandergebissen, drängte sie die Wut zurück, die Yarims Worte in ihr ausgelöst hatten.

„Suchst du etwas?“

Erschrocken zuckte Xylife zusammen und drehte sich nach der Stimme um, die sie aus ihren Gedanken gerissen hatte. Im Schatten der Holzhütte, die sie eben passiert hatte, hockte eine junge Frau. In ihrem Schoß ruhte ein aus Savannengräsern geflochtener Korb, der bis zum Rand mit den Hülsenfrüchten der am Dorfrand wachsenden Nérén gefüllt war. Vor ihr auf dem Boden standen zwei weitere Körbe. In einem lagen einige kleine braune Kugeln, die Néren, und in dem anderen die ockerfarbenen Schalen der Früchte.

„Ich … wollte mir nur etwas die Beine vertreten.“

„Wirklich? Ich hätte vermutet, du flüchtest vor einer unliebsamen Auseinandersetzung mit deinem Bruder.“ Mit einem leisen Knacken brach sie die nächste Schale auf, holte die Frucht heraus und legte beides in den dafür vorgesehenen Korb. Sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht streichend, sah sie zu Xylife auf. „Schau nicht so überrascht. Du bist nicht die einzige, die mit einem älteren Bruder gestraft ist. Meiner versucht mir schon mein Leben lang zu diktieren, was ich zu tun habe und was nicht. Er kann einfach nicht akzeptieren, dass ich meinen eigenen Weg gehe.“

Kurz entschlossen ging Xylife auf die junge Frau zu und setzte sich neben ihr in den langsam länger werdenden Schatten der Hütte. Das war allemal besser, als zu Yarim zurückzukehren oder weiter ziellos am Rand Brieucs entlangzulaufen.

„Ich bin Alayna.“ Mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht streckte sie der anderen die Hand entgegen, doch die Frau warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu, bevor sie nach der nächsten Hülsenfrucht griff.

„Ich weiß. Jeder weiß von eurer Ankunft im Dorf, selbst wenn er nicht auf dem Dorfplatz war.“

„Ver…stehe.“ Leicht irritiert ließ Xylife ihre Hand wieder sinken. Warum hatte die andere sie angesprochen, wenn sie doch kein Interesse an einem Kennenlernen hatte?

Xylife wollte sich gerade vom Boden abstützen, um wieder aufzustehen, als die junge Frau ihr direkt in die Augen blickte. „Ich bin Chaira. Karusos kleine Schwester.“ Bei dem letzten Satz legte sich ein verkniffener Ausdruck auf ihr Gesicht.

„Karusos Schwester? Aber warum ...“

„Sitze ich dann so alleine am Rad des Dorfes, statt mit den anderem auf dem Dorfplatz Latha na Brigid vorzubereiten?“ Schnaubend ließ Chaira die Hülsenfrucht, die sie gerade aufgehoben hatte, wieder in den Korb in ihrem Schoß sinken. „Weil ich keine Lust habe, dass jeder meiner Schritte von Karuso beobachtet wird und jede Frau mit einem heiratsfähigen Sohn in meinem Alter versucht, mich von den Vorzügen ihres kleinen Lieblings zu überzeugen.“

Aus den Augenwinkeln beobachtete Xylife die andere Frau dabei, wie sie wieder eine Nére aus dem Korb nahm und diesmal energischer als nötig die Schale aufbrach. In die Familienangelegenheiten der Dorfbewohner würde sich Xylife ganz gewiss nicht einmischen. Stattdessen wich sie auf ein unverfänglicheres Thema aus.

„Was ist Latha na Brigid für ein Fest?“

Verblüfft hob Chaira den Kopf. „Du weißt nicht, was Latha na Brigid ist?“

Erst als Xylife den misstrauischen Blick der anderen wahrnahm, wurde ihr bewusst, dass sie gerade einen Fehler begangen hatte. Scheinbar wurde das Fest nicht nur in Brieuc gefeiert, sondern war auch über die Dorfgrenzen hinaus bekannt. Wenn sie und Yarim aus der Gegend stammten, hätte sie Latha na Brigid also eigentlich kennen müssen.

„Ich habe schon davon gehört, aber in meinem Heimatdorf wird das nicht gefeiert“, versuchte Xylife ihr Unwissen mit einem Schulterzucken abzutun. Zum Glück hatte sie in ihrer Geschichte ausgelassen, aus welcher Region Eldurams sie kamen.

Doch Chairas Lippen blieben weiterhin argwöhnisch zusammengepresst. Sie musterte Xylife noch einen Moment, bevor sie plötzlich den Korb von ihrem Schoß nahm und zwischen sich und Xylife abstellte. „Wo kommt ihr nochmal her, habt ihr gesagt?“

„Aus dem Süden. Um genau zu sein südlich von Louargat.“

Chairas Blick wanderte bei den Worten in die Ferne. „Ich kenne jemanden aus Carrick.“ Abwesend griff sie nach den beiden Körben mit den fertig geschälten Néren und den Schalen und schob auch diese ein Stück in Xylifes Richtung. „Wenn er hier ist, berichtet er von dem geschehen in der Stadt. Ich selbst wollte schon oft mit ihm dorthin reisen, doch Karuso war stets dagegen.“ Ihre Stimme hatte einen verächtlichen Unterton angenommen. „Er weiß natürlich viel besser was gut für mich ist, als ich selber.“

Bei den Worten schoss Xylife der Gedanke durch den Kopf, wo die Eltern von Chaira waren. Auch wenn Karuso mehrere Zyklen älter sein musste als sie, so schätzte sie die junge Frau circa auf ihr Alter. Doch die Frage wollte ihr einfach nicht über die Lippen kommen. Wenn Karuso die Vormundschaft über seine Schwester übernommen hatte, konnte sie sich denken, was mit den Eltern geschehen war.

„Aber zurück zu deiner Frage nach Latha na Brigid“, riss Chaira Xylife aus ihren Gedanken. Das eben noch vorhandene Misstrauen war aus dem Gesicht der jungen Frau gewichen. Stattdessen hatte sich ein Lächeln auf ihre Lippen gestohlen, das sogar bis zu ihren braunen Augen reichte. „Es ist das Fest der Aussaat, mit dem wir das erfolgreiche bestellen der Felder feiern und auf eine reiche Ernte hoffen. Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass es von jedem Dorf gefeiert wird. Eine gute Ernte bedeutet schließlich einen guten Zyklus.“ Grinsend deutete sie auf den Korb, der noch fast bis zum Rand mit den Hülsenfrüchten gefüllt war. „Die Nérén tragen einmal im Zeichen der Erde und einmal im Zeichen des Windes Früchte, weshalb sie bei uns weder bei Latha na Brigid noch beim Erntefest im Gilbhart fehlen dürfen. Du kannst mir beim Schälen helfen und währenddessen erzählen, womit dich dein Bruder zur Weißglut getrieben hat.“

Yarim folgte dem Lichtschein zum Dorfzentrum. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und die nächtliche Dunkelheit wurde von unzähligen Fackeln erhellt, die die Dorfbewohner am Rand des Platzes verteilt hatten. In der Mitte war der Scheiterhaufen zu einem mannsgroßen Berg aufgetürmt. Am Rand des Dorfplatzes zwischen den Fackeln waren mehrere Feuerstellen entzündet worden, über denen in Kesseln die verschiedenen Speisen des Festmahls vor sich hin köchelten. An einer dieser Feuerstellen vermutetet er Xylife. Nach ihrer Flucht aus der Hütte hatte er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Bestimmt war sie einer der Frauen zur Hand gegangen, um sich von ihrer kleinen Auseinandersetzung abzulenken.

Die Frauen musternd, ging Yarim von Feuerstelle zu Feuerstelle, doch nirgends konnte er Xylife entdecken. Vor den Kochstellen waren in kleinen Grüppchen Grasmatten auf dem Boden ausgelegt worden, auf denen sich bereits die Kinder tummelten, Rollen und Kopfstände übten und versuchten einander von den Matten zu stoßen. Die Älteren trugen Holzschalen und Löffel herbei und versuchten die Jüngeren von den Grasmatten zu verscheuchen, um sie für das Festmahl einzudecken.

„Hey, Nijlos!“ Dem Ruf folgend, wandet Yarim den Kopf und entdeckte Karuso, der neben einer der drei Feuerstellen stand, über der mittlerweile eine gehäutete Antilope vor sich hin brutzelte. „Wo ist deine Schwester? Das Fest beginnt gleich.“

„Keine Ahnung.“ Achselzuckend ließ Yarim seinen Block wieder über den Platz wandern, der sich nun schnell füllte. Aus den Gassen kamen immer mehr Dorfbewohner zusammengelaufen und nahmen auf den Grasmatten Platz. Eine Gruppe aus drei Frauen und vier Männern trugen Trommeln, Schellen und lange hölzerne Blasinstrumente auf den Platz. Sie platzierten sich zwischen zwei Fackeln und begannen leise eine langsame Melodie zu spielen.

Das schien für die übrigen Dorfbewohner das Zeichen zu sein, dass das Fest nun gleich beginnen würde. Die Kinder hörten auf herumzutollen und rannten zu ihren Eltern, wo sie sich gespannt auf den Matten niederließen.

Noch einmal ließ Yarim seinen Blick über den Dorfplatz schweifen und endlich entdeckte er Xylife. Sie kam gerade an der Seite einer braunhaarigen jungen Frau aus einer der Gassen geschlendert. Die beiden Frauen waren in ein scheinbar amüsantes Gespräch vertieft und trugen je einen geflochtenen Korb vor sich her. Als sie von den anderen bemerkt wurden, sprang jeweils das älteste Kind jeder Sitzgruppe auf, rannte mit einer der Holzschalen zu den beiden Frauen und füllte sie mit dem Inhalt der Körbe, bevor es zurück zu seinem Sitzplatz flitzte und die Schale in der Mitte der Matte abstellte.

Nachdem jedes Kind seine Schale gefüllt hatte, stellten Xylife und die andere Frau die Körbe am Rand des Platzes ab. Mit einem Wink bedeutete die Brünette Xylife ihr zu folgen. Sie führte sie zu einer Gruppe aus jungen Frauen, die auf einer der Matten beisammensaßen und quatschten.

„Das ist die Gruppe für die noch unvermählten Frauen des Dorfes.“ Karuso war neben Yarim getreten und Blickte zu den Frauen hinüber. „Da deine Schwester noch keinen Mann an ihrer Seite hat, kann sie ruhig dort sitzen.“ Er klopfte Yarim kurz auf die Schulter und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken ihm zu folgen. „Jede Familie hat ihren eigenen Stammplatz. Sobald die Kinder ins heiratsfähige Alter kommen, nehmen die Mädchen auf den Matten der unvermählten Frauen Platz und die Jungs auf denen der alleinstehenden Männer.“ Karuso deutete auf mehrere Matten zu ihrer rechten, auf denen mehrere junge Männer im Schneidersitz saßen.

Während der Älteste in Yarims Alter sein musste, war der Jüngste scheinbar erst vor kurzen zum Mann geworden. Yarim schätzte, dass er kaum mehr als sechzehn Zyklen zählte. Ein Blick zurück zu den unverheirateten Frauen zeigte ihm, dass sich unter ihnen auch einige befanden, die im selben Alter, wenn nicht sogar jünger sein mussten, als der Bursche zu seiner rechten.

„Sobald sich ein Paar gefunden hat, wird die Frau in die Familie ihres Ehemanns eingeführt und beide kehren zum Familienstammplatz des Mannes zurück. Als unverheirateter Mann kannst du dich auch zu ihnen setzen“, bot Karuso Yarim an und meinte damit die alleinstehenden Männer. „Oder du nimmt meine Einladung an und setzt dich als Gast zu mir und meiner Familie.“ Er deutete auf eine große Matte vor einer der Antilopenspieße, auf der bereits mehrere Personen saßen. In einer von ihnen erkannte Yarim die alte Frau vom Dorfplatz, die ihm bei ihrer Ankunft so eigenartig zugenickt hatte. Bis eben hatte Yarim den Vorfall fast vergessen, doch jetzt kribbelte es ihm plötzlich in den Fingern, die Alte nach ihrem eigenartigen Verhalten zu fragen.

„Wenn ich die Wahl habe, sitze ich gerne bei deiner Familie“, nahm er die Einladung mit einem Lächeln an. Er folgte Karuso zu der Grasmatte und nahm zwischen einer Frau mit einem Neugeborenen auf dem Arm und einem weißhaarigen Greis Platz.

Gerade, als er sich vorstellen wollte, klatschte Karuso dreimal laut in die Hände und alle Gespräche verstummten.

„Meine lieben Freunde! Wieder einmal begrüßen wir das Zeichen der Erde und bitten darum, dass unsere Saat aufgehen und reiche Ernte tragen möge. Lasst uns die anstrengenden Tage des letzten Mondkreisess feiern, in denen wir die Felder bestellt und die Aussaat getätigt haben. Jeder von uns hat seinen Anteil dazu beigetragen, denn nur als Gemeinschaft sind wir stark. Also lasst uns diese Gemeinschaft feiern, in der wir dicht beisammenstehen und uns alltäglich die Hände reichen. Möge aus dieser gemeinsamen Stärke etwas Neues erwachsen, das wir im Zeichen des Windes als reiche Ernte wieder einfahren können. Auf das Wachstum und die Gemeinschaft!“

„Auf das Wachstum und die Gemeinschaft!“ wurde Karusos Ausruf aus hundert Kehlen erwidert. Dann gingen die Worte in laute Jubelrufe über, die noch bis zum Rand des Dorfes zu hören sein mussten. Die Musikanten begannen auf ihren Instrumenten eine einfache Klangfolge zu spielen, die mit jeder Wiederholung schneller wurde. Unter den Anfeuerungsrufen der restlichen Dorfbewohner griff Karuso nach einer Fackel, die neben der Matte seiner Familie in der Erde steckte, und schritt mit ihr auf den Scheiterhaufen zu. Als sie Melodie der Musikant sich fast überschlug, steckte er die Fackeln in das trockene Holz. Kurz darauf züngelte eine Stichflamme in den dunklen Abendhimmel empor und die Anfeuerungsrufe endeten in einem lauten Freudenjubel.

Die Kinder sprangen von ihren Plätzen auf und rannten mit Schüsseln bewaffnet zu den Antilopenspießen oder den Kesseln, die über den nur noch glimmenden Feuerstellen hingen. An den Spießen wurden sie von jeweils einem Mann in empfangen genommen, der mit einem großen Messer Stücke aus dem Fleisch schnitt und an die Kinder verteilte, während Frauen die Inhalte der Kessel ausschenkten.

Nach kürzester Zeit war jede Gruppe mit Speisen versorgt und die Gespräche erzeugten ein heiteres Summen in der Luft.

„Habt ihr auf eurer Reise viele Elementare gesehen?“ Überrascht, plötzlich angesprochen zu werden, wandte sich Yarim der hellen Stimme zu und blickte in die erwartungsvollen Augen eines Jungen. Seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Er hatte sich gespannt nach vorne gebeugt und musterte Yarim aus verblüffend blauen Augen.

„Zum Glück nicht, ansonsten könnte ich heute vielleicht nicht mit euch feiern.“

„Aber irgendwelche müsst ihr doch gesehen haben“, ließ der Junge nicht locker. „Sie haben schon mehrmals versucht das Dorf anzugreifen, aber bis jetzt hat unser Schutzbann immer geholfen.“ Stolz drückte er den Rücken durch und deutete auf die alte Frau vom Vormittag, als er hinzufügte. „Urgroßmutter passt auf den Schutzbann auf und sorgt dafür, dass er nie an Stärke verliert. Sie wurde damals vom Cirkel hierhergeschickt und hat sich in meinen Urgroßvater verliebt. Der Cirkel wollte, dass sie zurückkehrt, aber der ist doof und ...“

„Tanuk!“, fuhr eine strenge Frauenstimme dazwischen und stoppte den Redeschwall des Jungen. „Was habe ich dir über unsere Familiengeschichte erzählt?“

Erschrocken und beschämt zugleich sank Tanuk in sich zusammen und senkte den Kopf. „Familiengeschichten erzählt man nur der Familie“, antwortete er kleinlaut.

Yarim hob seinen Blick von der Gestalt des Jungen, um der Mutter zu versichern, dass ihm die Mitteilsamkeit ihres Sohnes nicht störte. Als er jedoch in die Augen der Frau blickte, erkannte er zu seiner Überraschung keine Beschämung in ihnen, sondern Angst. Ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass auch die übrigen erwachsenen Mitglieder von Karusos Familie erschrockene Gesichter aufgesetzt hatten. Nur Karuso selbst und die alte Frau stellten eine teilnahmslose Miene zur Schau. Die Kinder hatten aufgehört herumzualbern und saßen ganz still. Auch wenn sie den Grund für den plötzlichen Stimmungswandel auf der Matte nicht verstanden, so spürten sie doch die plötzlich angespannte Atmosphäre.

Sie haben Angst, dass ich ein Sympathisant des Cirkels bin, schoss es Yarim plötzlich durch den Kopf. Es war ihm beinahe entgangen, dass die Äußerung des Jungen offenbarte, dass die Bewohner Brieucs dem Cirkel alles andere als wohlgesonnen waren. Wenn das die falschen Ohren mitbekamen, konnte es mit dem Dorf ganz schnell zu Ende gehen. Es war jetzt schon nur noch eine Frage der Zeit, bis die Zwangsrekrutierungen des Cirkels den Süden erreichten. Und wenn sie von der Einstellung der Dorfbewohner erfuhren, würden sie gewiss mit Brieuc beginnen.

Fieberhaft überlegte Yarim, mit welchen Worten er die Situation entspannen konnte, ohne zu viel von sich und Xylife preiszugeben. Wer weiß, vielleicht war das auch nur eine gut gestellte Falle? Doch wenn nicht, konnten sie über Tanuks Urgroßmutter vielleicht an die Informationen kommen, die sie benötigten.

„Unserer Meinung nach soll jeder über den Cirkel denken, was er will. Auch wir haben so unsere Erfahrungen gemacht.“ Den letzten Satz formulierte er absichtlich offen, wobei er der alten Frau forschend in die Augen sah.

„Gut, dann könne wir das Thema ja damit fallen lassen. Ich finde, es eignet sich nicht für eine lustige Feier“, beendete Karuso das Gespräche über den Cirkel bestimmt, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.

Sofort fingen die übrigen Familienmitglieder an über belanglose Alltäglichkeiten zu reden und auch Yarim nickte zustimmend. Dabei blieb sein Blick jedoch noch einen Augenblick auf Tanuks Großmutter liegen, die diesen eisern erwiderte.

Nachdem das Festmahl beendet war, standen die Musikanten von den Matten ihrer Familien auf und platzierten sich erneut mit ihren Instrumenten am Rand des Dorfplatzes. Sie stimmten eine flotte, zackige Melodie an, die bald die ersten Pärchen auf die Tanzfläche trieb. In wirbelnden Bewegungen drehten sie einander im Kreis und tanzten so auf dem Streifen zwischen den Grasmatten und dem Lagerfeuer um die Flammen herum. Nach und nach gesellten sich auch die Kinder dazu und sprangen zwischen den tanzenden Paaren um das Feuer.

Die Frau mit dem Neugeborenen, welche sich mittlerweile als Karusos Ehefrau entpuppt hatte, drückte das Kind in die Arme des Greises und zog Karuso lachend zur Tanzfläche. Bis auf die beiden Alten, einer hochschwangeren Frau und deren Gefährten, Karusos Cousin, waren alle Mitglieder der Familie beim Tanzen. Ab und zu stürmte eines der Kinder auf die Matte, um sich aus der Schale in der Mitte eine Handvoll der braunen Hülsenfrüchte zu schnappen und damit wieder auf der Tanzfläche zu verschwinden.

Auch viele der anderen Familien hatten sich den tanzenden angeschlossen, nur die noch unverheirateten Männer und Frauen hockten auf ihren Matten und warfen der jeweils anderen Gruppe verstohlene Blicke zu, ohne das sich einer traute den Anfang zu machen und zum Tanz aufzufordern.

Als Yarim zu den Frauen sah, begegnete sein Blick dem Xylifes. Kurz hielt Xylife den Blickkontakt aufrecht, bevor sie schnell wieder wegschaute und sich an die braunhaarige Frau wandte, mit der sie zum Fest erschienen war.

Ein Teil von Yarim wäre trotz allem was geschehen ist gerne aufgestanden und zu Xylife herüber gegangen, doch der andere, größere Teil konnte das erwachte Misstrauen einfach nicht überwinden, das sich wie eine Mauer zwischen ihnen aufgebaut hatte. Als sich Yarim wieder von der Frauengruppe abwandte, saß plötzlich Tanuks Urgroßmutter neben ihm.

„Eure Schwester scheint sich gut mit meiner Enkelin Chaira zu verstehen.“ Dabei betonte sie das Wort 'Schwester' dermaßen auffällig, dass kein Zweifel daran blieb, dass sie ihm und Xylife ihre Geschichte nicht abkaufte. Doch noch bevor Yarim etwas erwidern konnte, sprach sie bereits weiter. „Chaira ist ein liebes Mädchen aber dermaßen eigensinnig, dass sie jetzt schon die älteste der unverheirateten Frauen in Brieuc ist. Und sie macht keine anstellten etwas daran zu ändern. Jeder, der versucht sich mit ihr anzufreunden, wird von ihr vor den Kopf gestoßen. Umso mehr überrascht es mich, sie mit Eurer Schwester zusammen zu sehen. Letztes Jahr ist sie gar nicht erst zu Latha na Brigid erschienen. Den ganzen Abend haben die Kinder in Karusos Auftrag nach ihr gesucht, um sich als Belohnung eine Dose Kekse von seiner Frau zu verdienen. Doch keiner hatte Erfolg. Wenn Chaira nicht gefunden werden will, dann findet sie auch keiner.“

Ohne recht zu wissen, was er darauf antworten sollte, setzte Yarim seinen Metbecher an die Lippen und gab einen undefinierbaren Laut von sich, in der Hoffnung die Alte möge ihn so interpretieren, wie er ihr gefiel. Bei den nächsten Worten der Greisin verschluckte er sich jedoch an dem Met, der daraufhin ein unangenehmes Brennen in seiner Kehle zurückließ.

„Was glaubt Ihr, wie ist es mit Euch? Wird man euch finden, wenn ihr es nicht wollt, oder gelingt es Euch, euch und die andere Halbelementarin vor dem Cirkel zu verstecken?“

Gefahr in der Nacht

Brieuc

Im Zeichen der Erde, Lenzing

Zyklus 999 nach der Ankunft der Menschen in Elduram

 

Keuchend klammerte sich Yarim an seinen Becher und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Mit brennenden Augen starte er in das Gesicht von Tanuks Urgroßmutter und versuchte durch den Tränenschleier in ihren Augen zu lesen. Doch die bereits leicht trüben Iriden gaben nichts preis. Auch nicht als er die Tränen fort geblinzelt hatte und wieder scharf sehen konnte.

„Ich sehe schon, soviel Scharfsinn habt Ihr einer alten Frau nicht zugetraut.“ Schmunzelnd wandte die Alte ihren Blick ab und ließ ihn über die feiernden Menschen schweifen. „Allerdings befürchte ich auch, dass dies nicht der richtige Ort für solch ein Gespräch ist. Wir sollten die gute Laune meiner Leute nicht stören. Heutzutage gibt es so wenig, wofür es sich zu feiern lohnt. Da sollten wir ihnen nicht einen der seltenen freudigen Momente trüben.“

Fordernd streckte sie ihre faltige Hand aus. „Helft einer alten Frau hoch und geleitet sie nachhause, ja?!“

Zögernd warf Yarim einen letzten Blick in Xylifes Richtung, bevor er aufstand und die Hand der Greisin ergriff. Auch wenn es zwischen ihm und Xylife alles andere als rosig stand, wollte er sie nicht in einer brenzligen Situation alleine lassen. Doch die Dorfbewohner machten nicht den Eindruck, als ob sie sich gleich kreischend auf ihre Besucher stürzen würden. Sie bemerkten nicht einmal, wie Yarim Tanuks Urgroßmutter von der Festlichkeit wegführte und mit ihr zwischen den Hütten verschwand.

Schweigend schritt er neben der alten Frau her, die ihn in der Dunkelheit zielsicher zu ihrer Hütte lotste. Sie öffnete die Tür und bat Yarims ins Innere, bevor sie sie hinter ihnen schloss. Einen Moment war es stockfinster in der Hütte. Dann vernahm Yarim ein geflüstertes 'Mito' und das Feuer in einer kleinen Kochnische erwachte flackernd zum Leben.

Sofort verspannte sich Yarims Nackenmuskulatur und er ging automatische in eine Kampfhaltung über. Diese alte Frau war gefährlich. Wenn sie tatsächlich für den Schutzbann Brieucs zuständig war, gehörte sie zu den Kinetikdruiden. Ihr Umgang mit dem Feuer hatte jedoch bewiesen, dass sie auch die Elementarmagie beherrschte. Zumindest etwas. Damit gehörte sie zu der kleinen Gruppe an Druiden, die beide Magie in sich vereinten, wie Elhan es getan hatte.

„Wie ich sehe, schaltest du schnell. Gut, gut.“ Ohne sich von Yarims Gebaren beeindrucken zu lassen, ging sie zu dem einzigen Stuhl im Raum und ließ sich seufzend darauf nieder. „Das Ganze auf dem Boden hocken ist nichts mehr für eine alte Frau. Vergib mir meine Unhöflichkeit, aber du wird mit dem Boden vorliebnehmen müssen, wie es bei uns eigentlich Sitte ist.“ Damit deutet sie auf eine Grasmatte, die neben einem Lager aus Antilopenfellen lag.

Einen Moment verharrte Yarim noch an Ort und Stelle, dann kam er der Aufforderung nach. „Wer seid ihr?“

„Ah, eine scheinbar interessante Frage, dabei ist es doch so offensichtlich, nicht wahr?“ Schmunzelnd verschränkte die Alte ihre Hände im Schoss. „Ich bin eine einfache alte Frau, die sich nichts mehr wünscht, als ihren Lebensabend in Frieden mit ihrer Familie verbringen zu können. Nun, vielleicht nicht eine sooo einfache Frau, immerhin bin ich eine Druidin, nicht wahr? Doch das wolltest du nicht wissen. Aber für die richtigen Antworten, musste du auch die richtigen Fragen stellen.“

Nur mit Mühe konnte Yarim ein Zähneknirschen unterdrücken. Er hatte fast vergessen, wie mühsam es war mit alten Leuten zu reden. Es machte fast den Eindruck, als wäre es ihr einziges Vergnügen in rätselhaften Phrasen zu sprechen, statt zügig zum Punkt zu kommen.

„Also gut, wer wart Ihr?“

„Schon besser. Ich war einst ein junges Mädchen, das beim Cirkel aufwuchs und als Druidin ausgebildet wurde. Da ich beide Magiearten in mir vereine, war ich für Großes bestimmt. Doch wer Großen leisten soll, muss zunächst Erfahrung sammeln. Also schickte man mich nach Brieuc, um den altersschwachen Druiden abzulösen, der hier den Bannzauber aufrechterhielt. Ich lernte von ihm das bereits erlangte theoretische Wissen praktisch anzuwenden, bevor er starb und ich das einzige war, was zwischen den Bewohnern Brieucs und den Elementaren stand. Mit der Zeit sahen mich die Dorfbewohner als eine der ihren an und wie es bei jungen Menschen zuweilen passiert, verliebte sich einer der Jungen in mich. Beim Cirkel hatte ich nie wahres Interesse an meiner Person kennengelernt, es sei denn es ging um mein magisches Potenzial. In Brieuc war das anders. Natürlich wurde ich für meine Arbeit mit dem Bannzauber geschätzt, doch anders als beim Cirkel schätzte man mich nach einer Weile auch als Mensch.“ Auf den Gesichtszügen der Alten hatte sich ein sanftes Lächeln ausgebreitet, dass nach den nächsten beiden Sätzen jedoch zu Stein erstarrte.

„Der Junge warb um mich und irgendwann erlag ich seinem Charme und verliebte mich meinerseits in ihn. Wir heirateten und ich wurde schwanger, doch unser Glück sollte nicht lange dauern. Als der Cirkel von meiner Schwangerschaft erfuhr, bestimmte er, es sei an der Zeit für mich zurückzukehren und das Kind in seinen Reihen zu gebären, um auch aus ihm einen großen Druiden zu machen. Ich vermute, man hoffte, ich würde meine Fähigkeit beide Magiearten zu beherrschen an mein Kind weitervererben. Ich schickte eine Taube zum Cirkel und fragte an, wer meinen Platz einnehmen und das Dorf von nun an vor den Elementaren schützen würde, doch alles was ich als Antwort erhielt, war die Nachricht wann ich in der Feuerfeste erwartet wurde und dass mich die Zukunft Brieucs von nun an nichts mehr anginge. Da wurde mir klar, dass man keinen Druiden zum Schutz Brieucs abstellen würde. Warum auch? Brieuc ist ein kleines Dorf. Wäre es größer, hätte es auf Grund seiner Nähe zur Damasia vielleicht einen strategischen Wert, doch so war es kaum mehr als ein unbedeutender Fleck auf der Landkarte. Warum also Ressourcen verschwenden, die an anderer Stelle besser zum Einsatz kommen konnten? Die einfachen Menschen haben dem Cirkel noch nie etwas bedeutet.“ Der letzte Satz war kaum mehr als ein Knurren.

Gespannt wartete Yarim darauf, dass Tanuks Urgroßmutter weitersprach, während sie auf der Suche nach einer bequemeren Position auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. Endlich schien sie sie gefunden zu haben und fuhr fort: „Doch bei mir war das anders. Ich hatte mittlerweile so viel Zeit in Brieuc verbracht, dass ich hier Freunde gefunden hatte und Familie. Etwas, was beim Cirkel undenkbar gewesen wäre. Also beschloss ich, meinen Tod vorzutäuschen und in Brieuc zu bleiben. Dem Cirkel jedoch schrieb ich, dass ich mich nach der nächsten Erneuerung des Bannzaubers, die unmittelbar bevorstand, auf den Weg zur Feuerfeste begeben würde.

Und das tat ich auch. Doch ich reiste nicht alleine. Stattdessen nahm ich die Leiche einer jungen Frau mit, die wenige Tage zuvor einem Fieber erlegen war. Als ich circa ein Drittel der Strecke nach Corcaght zurückgelegt hatte, immer durch die Damasia, zog ich der von Sonne und Sand schon leicht konservierten Leiche meine Druidenrobe an und setzte sie in Brand. Ich achtete darauf, dass die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verbrannte, aber ein Stück der Robe dennoch erkennbar blieb. Das Ganze stellte ich so an, dass es nach einem Überfall von Feuerelementaren aussah. Dann reiste ich zurück und versteckte mich in der Nähe von Brieuc.

Als ich nicht in der Feuerfeste auftauchte, schickte Rowan seine Halbelementare aus mich zurückzubringen. Doch meine Leute erzählten Ihnen die vereinbarte Geschichte, dass ich schon längst das Dorf verlassen hätte und nie zurückgekehrt sei. Sie beschrieben ihnen den Weg, den ich angeblich nehmen wollte, und stießen sie somit direkt auf die von mir platzierte Leiche.

Natürlich haben sie nicht sofort an meinen Tod geglaubt, schließlich war ich nicht irgendeine Druidin und schon mehrere Male alleine durch Elduram gereist. Rowan schickte in unbestimmten Abständen Halbelementare nach Brieuc, um zu kontrollieren, ob ich nicht doch überlebt hätte und ins Dorf zurückgekehrt sei, doch ich achtete stets darauf nicht entdeckt zu werden.

Halbelementare sind überhebliche Kreaturen“, brachte sie schnaubend heraus, ohne an Yarims empörter Miene Anstoß zu nehmen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Rowan bereits nach einem halben Zyklus die Suche nach mir aufgab. Doch da die Halbelementare irgendwann nicht mehr auftauchten, um nach mir zu suchen, gehe ich davon aus, dass ihnen die Aufgabe zu langweilig geworden war. Einmal nur kamen seitdem Halbelementare nach Brieuc und das nicht, um nach mir zu suchen, sondern nach zwei anderen Halbelementaren und drei Druiden. Druiden sehe ich zwar nirgends, doch ein Halbelementar erkenne ich auch hundert Meilen gegen den Wind.“ Langsam richtete sich die alte Frau in eine aufrechte Position auf, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Yarim direkt in die vom Feuerschein ockerfarbenen Augen. „Wo habt ihr eure Druidenfreunde gelassen und was wollt ihr wirklich in Brieuc?“

Es vergingen einige Sekunden in reglosem Schweigen, in denen Yarim den Blick der Druidin starr erwiderte. Wie viel sollte er preisgeben? Es bestand kein Zweifel, dass die Alte wusste, was er und Xylife waren. In dem Punkt zu lügen, würde keinen Sinn machen. Aber Yarim wollte auch nicht mehr verraten, als die Greisin ohnehin schon wusste. Schließlich antwortete er: „Die Druiden sind nicht bei uns. Alayna und ich mussten uns von ihnen trennen und sind alleine unterwegs.“ Das sie in Begleitung eines Luftelementars waren, verschwieg er vorsichtshalber ebenso wie ihre wahren Namen. Nur weil die Alte ihm ihre Lebensgeschichte erzählt hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass er ihr vertraute.

„Warum habt ihr euch getrennt?“, hakte die Druidin nach.

Wieder zögerte Yarim einige Sekunden, bevor er antwortete: „Die Umstände haben uns dazu gezwungen.“

Der Blick der alten Frau wurde intensiver. Ihre Augen bohrten sich in Yarim, ganz so, als wolle sie bis auf den Grund seiner Seele schauen. Das Schweigen in der Hütte dehnte sich aus, schwoll an, bis es sich zu verstofflichen schien und wie ein bleierner Schleier auf Yarims Schultern drückte.

„Was waren das für Umstände? Dieselben, die euch den Cirkel auf den Hals gehetzt haben?“, bohrte die Greisin weiter. Sie stützte ihre Ellenbogen auf den Knien ab und lehnte sich nach vorne, bis ihr Kinn auf ihren verschränkten Händen ruhte. „Ich würde nur allzu gerne wissen, was zwei Halbelementare angestellt haben müssen, damit der ganze Cirkel hinter ihnen her ist. Doch noch viel mehr interessiert es mich, wo ihre Elhan gelassen habt.“

„Ihr kanntet Elhan?“, platzte es aus Yarim heraus. Im nächsten Moment hätte er sich für die eigene Dummheit ohrfeigen können, aber nun hatte er seine Verbindung zu Elhan bereits verraten. So gelassen wie möglich blickte er der alten Druidin in das faltige Gesicht.

„Nun, wie ich schon sagte, bin ich eine der wenigen Druiden, die beide Magiearten beherrschen. Natürlich kenne ich die wenigen anderen, die über dieselbe Fähigkeit verfügen.“ In den Augen der Greisin blitzte es auf, als wolle sie noch etwas hinzufügen, doch plötzlich zogen sich ihre Brauen zusammen und die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. „Du sagtest ‘kanntet‘“, wechselte sie ohne Ankündigung zum Du. „Heißt das, Elhan hat uns verlassen?“

Yarim presste die Lippen zusammen und nickte. Elhans Tod war nun etwas mehr als einen Mondkreis her und immer noch verspürte er ein Stechen in der Brust, wann immer er seinen Gedanken erlaubte, zu dem Moment zurückzukehren.

„Erzähle mir, was geschehen ist!“, forderte die Druidin. Ihre Stimme hatte einen eisernen Ton angenommen. Diesmal würde sie keine vagen Andeutungen durchgehen lassen.

Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Wenn die Dorfbewohner sie verraten wollten, dann würden sie es tun, egal wie viel sie tatsächlich wussten. Doch wenn die Alte die Wahrheit gesagt hatte und die Bewohner Brieucs dem Cirkel tatsächlich den Rücken gekehrt hatten, dann war das ihre Chance an Informationen zu kommen. Eine bessere Quelle als eine ehemalige angesehene Druidin des Cirkels gab es kaum.

Die Arme vor der Brust verschränkend, lehnte sich Yarim an die Holzwand in seinem Rücken. Er überlegte kurz, womit er seinen Bericht beginnen sollte und entschied sich schließlich für das Treffen mit Dalarion in Menosga.

Als Yarim mit seiner Erzählung geendet hatte, blieb es bis auf das Knistern des Feuers still in der Hütte. Von außen drangen gedämpft die Geräusche des Festes ins Innere, deren Heiterkeit im starken Widerspruch zu der gedrückten Atmosphäre zwischen Yarim und der Druidin standen.

Yarim hatte es sich bei seinem Bericht erspart, zu sehr ins Detail zu gehen, doch auch die knappe Zusammenfassung der Ereignisse hatte genügt, um die alte Frau in ihrem Stuhl zusammensacken zu lassen. Starr stierte sie auf ihre verkrampften Hände hinab, an denen die Fingerknöchel weiß hervortraten.

„Das sind schlimme Neuigkeiten“, brachte sie schließlich mit kratziger Stimme hervor. „Weiß Jefaridas schon davon?“

Überrascht hob Yarim den Kopf. Woher wusste die Alte von Jefaridas? Bei seiner ganzen Erzählung hatte er darauf geachtet, keine Namen zu nennen.

„Schau mich nicht so an, als sei mir plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen.“ Mit einem Schnauben lehnte sie sich zurück und blickte Yarim auffordernd an. „Elhan hat immer große Stücke auf dich gehalten, Yarim. Da wirst du ja wohl eins und eins zusammenzählen können.“

Konnte er das? Yarim kam nur eine Erklärung dafür in den Sinn, dass die alte Druidin so viel mehr wusste, als er ihr erzählt hatte. Wie meinen wahren Namen. Doch die Erklärung klang so weit hergeholt, dass er sie selbst nicht so recht glauben konnte. Andererseits, was hatte er schon zu verlieren?

Halb in der Erwartung, dass die Alte bei seinen nächsten Worten in gackerndes Gelächter ausbrechen würde, antwortete Yarim: „Ihr … gehört auch zum Widerstand, den Jefaridas, Elhan und all die anderen aufgebaut haben.“

Einen Moment schien es so, als würde die Druidin auf diese Äußerung hin nichts erwidern, dann öffnete sie den Mund …

„YARIM!“

Der schrille Ruf war kaum laut genug, um bis ins Innere der Hütte vorzudringen, dennoch bohrte er sich in Yarims Trommelfell und ließ seine Nackenhaare zu Berge stehen. Ruckartig sprang er aus seiner sitzenden Position hoch und rannte zur Tür, noch ehe der Nachhall ganz verklungen war.

„Was war das?“

Ohne auf die Frage der alten Frau einzugehen, riss Yarim die Tür auf. Die Druidin hatte sich mittlerweile aus ihrem Stuhl erhoben und machte Anstalten die Hütte ebenfalls zu verlassen.

„Wartet hier!“, forderte Yarim die Greisin auf und stürmte nach draußen.

Kühle Nachtluft und die Klänge der Musikanten empfingen ihn. Aufmerksam musterte Yarim seine Umgebung, doch er konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Weder kam eine Gestalt durch die Dunkelheit auf ihn zu, noch konnte er irgendein anderes Lebewesen entdecken, das den Ruf ausgestoßen haben könnte.

„YARIM!“

Da war es wieder! Blitzschnell drehte sich Yarim in die Richtung, aus der der Laut gekommen war und rannte los. Es gab nur ein Wesen, von dem er stammen konnte.

Kisu! So schnell ihn seine Beine trugen, stürmte Yarim zum Dorfrand. Schon als er die letzten Hütten passiert hatte, entdeckte er Kisu am Rand des Bannzaubers. Die Luftelementarin hatte ihre Deckung aufgegeben und schwebte weithin sichtbar am Nachthimmel. Ihn ihrem Körper zuckten helle Blitze von einer Seite zur anderen und verwandelten die Elementarin in ein lebendes Signalfeuer.

„KISU!“, rief Yarim schon von weitem. „Was ist passiert!“

Mit einem halsbrecherischen Sprung setzte Yarim über einen großen Findling hinweg und raste weiter über die das Dorf umgebende Ackerfläche auf die Grenze des Bannzaubers zu. Adrenalin rauschte durch seine Adern und er konnte unter der Haut das wohlbekannte Kribbeln der erwachenden Elementarmagie spüren. Ohne an sich herunterzuschauen wusste er, dass seine Haut ein rotes Glühen abgab, das die Nacht um ihn herum erhellte.

„Beeile dich, Yarim!“ trieb Kisu ihn zu einem noch höheren Tempo an. „Wir müssen ihm helfen, oder sie werden ihn töten!“

„Wem helfen?“, fragte Yarim, der mittlerweile bei der Luftelementarin angekommen war. Doch Kisu gönnte ihm keine Zeit zum Verschnaufen, sondern flog sofort in die Savanne hinaus, sobald Yarim sie erreicht hatte.

Wie die Menschen es taten, streckte Kisu eine ihrer Schwingen aus und deutete nach vorne. „Ein Mann auf einem Pferd nähert sich dem Dorf. Ich habe ihn schon von weitem entdeckt. Plötzlich tauchten sechs Erdelementare auf und hefteten sich an seinen Versen. Ich habe versucht mit ihnen zu reden, doch sie hören mir nicht zu.“ Kisu stockte kurz, bevor sie verbissen hinzufügte: „Sie meinten, eine Verräterin hätte ihnen nichts zu sagen und jeder Mensch, der ihren Weg kreuzt, sei immer noch Freiwild, solange die Großmeister des Cirkels nicht gestürzt und die Medaillons zurück bei den Elementaren sind.“

Yarim spürte, wie sich ein wütendes Knurren seine Kehle hinauf kämpfte und das Blut in seinen Ohren schneller zu pulsieren begann. Mühsam drängte er die aufsteigende Wut zurück. Wenn diese Situation glimpflich ausgehen sollte, musste er einen kühlen Kopf bewahren. Gegen sechs Erdelementare hatte er auch mit Kisus Unterstützung nur eine geringe Chance.

Gerade, als er Kisu fragen wollte, wie weit der Mann noch entfernt war, entdeckte er eine knappe halbe Meile vor sich eine Gestalt, die tief über den Rücken eins Pferdes gebeugt über die Savanne preschte. Hinter ihr beschien der Mond sechs massige Körper, die mit donnernden Schritten aufholten. Trotz der Entfernung glaubte Yarim die Erde beben zu spüren.

Mit einem Zähneknirschen erhöhte Yarim noch einmal sein Tempo. Der Abstand zwischen ihnen und dem Neuankömmling schrumpfte zusehends, doch auch die Elementare holten immer weiter auf.

„Hier her! Beeilt Euch!“, rief Yarim so laut er konnte, um gegen das Getrampel der Pferdehufe und das Stampfen der Erdelementare anzukämpfen.

Tatsächlich schien der Mann ihn zu hören. Er hob kurz irritiert den Kopf, den er während der wilden Verfolgungsjagd gesenkt hatte, bevor sich eine entschlossene Miene auf seinem von Mondlicht beschienenen Gesicht abzeichnete und er seinem Pferd die Sporen gab. Das arme Tier schnaufte jetzt schon, als sei es kurz vor dem Zusammenbruch, doch die Horde Elementare in seinem Rücken trieben es von sich aus zu Höchstleistungen an.

Dennoch erkannte Yarim nach kurzem, dass der Reiter und sein Pferd Brieuc nicht rechtzeitig erreichen würden. Nur noch wenige Fuß und sie wären in Reichweite der Erdelementare.

Kaum hatte Yarim den Gedanken zu Ende gedacht, sah er wie unter der Plattenpanzerung des größten Erdelementars Ranken hervorschossen. Yarim reagierte blitzschnell. Noch während er die erste Zuckung der Wurzeln wahrnahm, beschwor er seine elementaren Kräfte herauf.

Das Feuer unter seiner Haut brach aus seinen Handflächen hervor und schoss in einem lodernden Feuerball auf das Erdelementar zu. Das Geschoss sauste am Kopf des Mannes vorbei und traf mit einem lauten Zischen auf die Ranken des Elementars.

Ein wütendes Fauchen war die Folge, in das die übrigen fünf Erdelementare mit einstimmten. Zwei von ihnen konzentrierten sich weiterhin auf den flüchtenden Reiter, währen die anderen vier Yarim als die größere Bedrohung identifiziert hatten. Gleichzeitig rissen sie ihre breiten Mäuler auf. Spitze, steinerne Zähne blitzten im Mondlicht auf, zwischen denen gelber Geifer zu Boden tropfte.

Yarim wartete nicht erst ab, was die Elementare vorhatten, sondern überkreuzte die Finger seiner linken Hand mit denen der Rechten. Mit einer fließenden Bewegung zog er sie wieder auseinander, wobei er die Arme nach vorne drückte. Zwischen seinen Fingerspitzen erschien ein Flammennetz, das er durch die Bewegung seiner Arme von sich schleuderte.

Reflexartig duckte sich der Mann tief über den Hals seines Pferdes und entging so dem Netz, das über seinen Kopf hinweg segelte und sich über seine beiden Verfolger senkte. Die Erdelementare brüllten auf, doch viel mehr vor Wut als vor Schmerz. Die steinernen Platten, die ihren Körper umschlossen, schützten sie vor der Hitze des Feuers. Zumindest vorläufig. Doch um sie länger unter dem Netz gefangen zu halten, fehlte Yarim die Zeit.

Zwei der übrigen vier Elementare hatten giftige gelbe Sporen freigesetzt, die sie nun in Yarims Richtung bliesen. Diese beiden waren keine einfachen Erdelementarkrieger, sondern gehörten einer höheren Kriegerklassen an. In den Mäulern der anderen zwei Elementare bildeten sich große Erdbrocken. Entweder wollten diese keine Sporen einsetzen, oder sie konnten es schlichtweg nicht. Yarim hoffte auf letzteres.

Die Muskeln aufs äußerste angespannte, überlegte Yarim fieberhaft, wie er die Giftsporen abwehren sollte. Doch noch bevor Yarim reagieren konnte, spürte er einen Luftzug über sich. Mit ihren Schwingen erzeugte Kisu einen Luftstrom, den sie den Sporen entgegenschickte. Die gelbe Wand geriet in Bewegung. Erst langsam, dann immer schneller wirbelten die giftigen Partikel einem Tanz gleich umeinander, wobei sie zu den Seiten auseinanderdrifteten und eine freie Schneise hinterließen.

Sich ganz auf die Luftelementarin verlassend, wandte sich Yarim den letzten beiden Erdelementaren zu. „Hatuna kupigana”, versuchte er in einfachem, aber nur noch leicht stockenden Swahil den weiteren Kampf zu vermeiden. Die Lehrstunden mit Kisu zahlen sich langsam aus. „Tuko katika utume wa mkuue yako njiani.

„Wir kennen euren Auftrag, Nusumsingi”, brüllte eines der Erdelementare, die Yarim mit seinem Flammennetz beworfen hatte, in flüssigem Elduremisch. Mittlerweile war es den beiden gelungen, sich aus dem feinmaschigem Netz zu befreien. Das kleinere der beiden, ein einfacher Krieger, trampelte so lange auf den verhassten Flammenfäden, die feine Linien in die Erdplatten der Elementare gebrannt hatten, herum, bis diese erloschen und nur noch feine, zum Nachthimmel aufsteigende Rauchfäden an ihre Existenz erinnerten.

„Yarim!”

Instinktiv reagierte Yarim auf Kisus Warnruf und warf sich zur Seite. Gerade noch rechtzeigtig. An der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, prallte ein gewaltiger Steinbrocken auf die Erde und schuf einen zwei Fuß tiefen Krater. Ein weiterer flog über seinen Kopf hinweg.

Alamiert blickte sich Yarim nach dem fremden Mann um. Der Reiter hatte mittlereile die Grenze des Schutzbannes erreicht. Doch die Magie der Barriere war nur dafür geschaffen, um Elementare fernzuhalten, nicht Erdbrocken. Ohne seine Geschiwndigkeit zu verlangsamen, sauste das Geschoss durch die Luft und grub sich nur wenige Fuß neben dem Pferd des Mannes mit einem lauten Knall in das Erdreich.

Das Pferd gab ein erschrockenens Wiehern von sich, als kleinere Erdklumpen und lose Steine durch die Wucht des Aufpralls in die Höhe katalultiert wurden und auf Tier und Reiter niederprasselten. Trotzdem hielt es die Balance und preschte nur umso schneller über die Ackerfläche Richtung Dorfzentrum.

 „Da hast du den Lohn dafür, dass du dein Leben auf´s Spiel gesetzt hast, um einem Fremden zu helfen”, brachte das selbe Erdelementar wie zuvor mit einem tiefen Grollen hervor. „Deinesgleichen kennt so etwas wie Ehre nicht und genau deshalb wirst du jetzt sterben, Nusumsingi.”

„Das wird Mtawala aber gar nicht gefallen”, erwiderte Yarim gelassen. Langsam drehte er sich zurück zu den sechs Elementaren und musterte sie herausfordernd. „Was wird eure Fürstin wohl mit euch anstellen, wenn ihr ihre beste Chance an das Erdmedaillon zu kommen, vernichtet habt?”

Als Antwort ging ein wütendes Knurren durch die Reihe der Elementare. Sechs kleine schwarze Augenpaare funkelten ihn zornig aus den mit Steinplatten überzogenen Gesichtern an. Ohne Vorwarnung katapultierte sich eines der beiden größeren Elementare nach vorne, wozu es seine kräftigen, langen Arme nutzte um seine Geschwindigkeit zu erhöhen. Dabei löste es mehrere Ranken von seinem Körper und ließ sie wie Peitschen durch die Luft sausen. Es entstanden kleine Schallwellen, die den trockenen Sand der Savannenebene aufwirbelten, der sich als graugelber Schleier über die Umgebung legte.

Seiner Sehkraft beraubt, ließ sich Yarim zu Boden sinken und schuf mit den Worten ‚Mipira Kiuevo’ eine Lavakugel. Das Feuer zu beherrschen, fiel ihm mittlerweile so leicht wie atmen. Doch um seine Kräfte in Form von Lava nutzen zu können, musste er noch immer auf das gesprochene Wort zurückgreifen.

Die Wände der Lavakugel brachen aus dem Boden hervor und wuchsen in die Höhe, bis sie sich über Yarims Kopf schlossen. Unterhalb des Erdreichs setzte sich die Lavakugel fort und schloss sich unter Yarims Füßen , damit er auch gegen Angriffe von unten gewappnet war.

Ihm selbst konnte die von ihm erschaffene Lava nichts anhaben. Mit den Elementaren sah es hoffentlich anders aus, auch wenn Feuer der Erde bekanntlich unterlegen war. Dass er und Kisu sich dabei einer Überzahl gegenübersahen, hob Yarims Laune nicht sonderlich. Verfluchte, dickköpfige Elementare!

Kurz darauf spürte er, wie die Wände der Kugel unter gewaltigen Schlägen erzitterten. Wellenförmig breiteten sich die Erschütterungen auf der Lavawand aus und stießen auf der anderen Seite der Kugel wieder aufeinander. Dabei spürte Yarim, wie jeder Treffer seiner Deckung Energie entzog. Die Angriffe waren viel stärker, als er vermutet hatte. Also hatten sie es tatsächlich nicht mit einfachen Erdelementaren zu tun, sondern mit erfahrenen Kriegern. Das hätte ihm schon bewusst werden müssen, als zwei von ihnen die gelben Giftsproren freisetzen.

Zähneknirschend schickte Yarim mehr seiner Elementarmagie in die Lavakugel, um die schwindende Stärke seines Schutzes wieder aufzufüllen. Die Geschwindigkeit, mit der ihm die Energie entzogen wurde, deutet darauf hin, dass das Erdelementar nicht mehr allein Angriff und auch nicht nur die Ranken zum Einsatz kamen. Wenn das so weiter ging, würde er dem Angriff nicht mehr lange standhalten können.

„Kisu, unternimm doch etwas!” Yarim lauschte auf ein Geräusch von außerhalb, das ihm zumindest einen kleinen Anhaltspunkt darüber liefern konnte, was vor sich ging. Doch das einzige, was an seine Ohren drang, waren die dumpfen Schläge, die in rasendem Tempo auf die ihn umgebende Lava eindroschen.

 

Die feiernden Menschen um sich herum beobachtend, fischte Xylife ein Fleischstück aus ihrer Holzschale und schob es sich in den Mund. Das zarte Antilopenfleisch zerfiel förmlich auf ihrer Zunge und hinterließ einen fein aromatischen Nachgeschmack.

Das Fest hatte mittlerweile seinen Höhepunkt erreicht. Nur noch wenige saßen auf den Grasmatten. Die meisten Dorfbewohner tanzten zu den Klängen der Musikanten oder standen um das Lagerfeuer herum, um die Tanzenden mit rhythmischem Fußgestampfe und Klatschen anzufeuern. Sogar die beiden Gruppen der alleinstehenden Männer und Frauen hatten zueinander gefunden. Nur die zwei jüngsten Frauen saßen noch neben Xylife und Chaira auf der Matte und sahen den tanzenden Paaren lieber zu, statt sich selbst in das Getümmel zu werfen.

Unweit von ihrem Sitzplatz standen zwei junge Männer und sahen ab und zu zu Xylife und Chaira hinüber. Da sie von den beiden Frauen jedoch strikt ignoriert wurden, hatten sie es bis jetzt noch nicht gewagt näher zu kommen.

„Würdest du mit einem der beiden tanzen?“, fraget Chaira.

Schnell warf Xylife einen kurzen Blick zu den beiden Männern. Schlecht sahen sie ja nicht aus, aber ihre schwankenden Bewegungen deuteten darauf hin, dass sie dem Festbier schon reichlich zugesagt hatten. „Wohl ehr nicht. Ich habe gerade nicht so die Lust, mir auf den Füßen herumtrampeln zu lassen“, antwortete Xylife leichthin.

In einer fließenden Bewegung erhob sich Chaira von der Grasmatte und reichte Xylife die Hand. „Und wie sieht es mit mir aus?“ Auf ihrem Gesicht hatte sich ein spitzbübisches Lächeln breitgemacht.

Unsicher drehte Xylife ihren Kopf zum Lagerfeuer. Bis auf Mütter mit ihren kleinen Töchtern sah sie kein gleichgeschlechtliches Paar um die Flammen tanzen. „Ich weiß ja nicht, wie ihr hier Latha na Brigid feiert, aber mir scheint es so, als ob der Tanz zwischen zwei Erwachsenen als Annäherungsversuch aufgenommen wird.“

„Ignoriere die anderen“, riet Chaira. „Komm, lass uns ein bisschen Spaß haben und für neuen Gesprächsstoff sorgen. In Brieuc kann es so schrecklich langweilig sein.“

„Auch wenn dann über dich geredet wird?“, frage Xylife mit hochgezogener Augenbraue. „Ich bin ja morgen wieder weg.“

„Das ist mir egal“, wehrte Chaira ab. Dann fügte sie mit einem Zwinkern hinzu: „Und vielleicht schaffe ich es so endlich, dass mich die Männer in Ruhe lassen. Es gibt hier eh keinen Interessanten.“

Lachend ergriff Xylife die dargebotene Hand. „Na wenn das deine Intension ist, unterstütze ich dich natürlich gerne dabei.“

Mit einem Grinsen wurde sie von Chaira auf die Füße gezogen. Sie wollten sich gerade dem Lagerfeuer zuwenden, als Xylife aus der Gasse hinter ihnen Hufgetrappel vernahm. Verwundert drehte sie sich in Richtung des Geräuschs und entdeckte einen Reiter, der aus der Dunkelheit auf sie zukam. Der Mann preschte auf den Dorfplatz und zog so abrupt an den Zügel, dass sein Reittier wiehernd auf die Hinterhand stieg, bevor es schnaubend zum Stehen kam.

„Xaido!“ Chaira stürmte auf den Neuankömmling zu und hielt dessen Pferd am Zügel, während er sich aus dem Sattel schwang. Seine Hände zitterten leicht und sein Gesicht war kreidebleich, als er sich den Dorfbewohner zuwandte. Um ihn herum war es mittlerweile mucksmäuschenstill geworden. Nur das Knistern des Feuers war noch zu hören.

„Elementare … vor dem Dorf“, brachte der Mann endlich stockend hervor. Es war nicht zu übersehen, dass er unter Schock stand. „Ihr ... ihr müsst ihm helfen!“

„Ihm helfen? Wem helfen?“, fragte einer der Dorfbewohner.

Ein anderer schob hinterher: „Er ist völlig fertig. Lasst ihn sich doch erstmal setzen. Die Elementare können den Bannkreis eh nicht durchbrechen.“

Sofort griff Chaira nach dem Arm des Neuankömmlings und wollte ihn zu einer Grasmatte führen, doch der riss sich los. „Nein! Nein, ihr versteht nicht“, schrie er plötzlich aufgebracht und drehte sich wild im Kreis. „Er hat mir geholfen, jetzt müsst ihr ihm helfen.“ Mit flehendem Gesichtsausdruck wandte er sich an Karuso, der sich aus der Menge gelöst hatte und auf den Mann zuschritt. „Bitte, sonst stirbt er.“

Plötzlich machte sich eine böse Vorahnung in Xylife breit. Hektisch suchte sie in der Menge nach Yarim, doch der war nirgends zu entdecken. Die alte Frau, mit der Xylife ihn vorhin noch hatte sprechen sehen, war ebenfalls verschwunden.

Ohne weiter auf das Geschehen um sie herum zu achten, wirbelte Xylife auf dem Absatz herum und rannte so schnell sie konnte in die Richtung, aus der der Mann gekommen war. Bitte lass es noch nicht zu spät sein, flehte sie im Stillen, während das Adrenalin durch ihre Adern rauschte und sie zu Höchstleistungen antrieb.

Als sie die letzte Hausreihe passiert hatte, musste sie nicht lange suchen, um zu wissen, in welche Richtung sie sich wenden musste. Yarims Lavakugel war weithin sichtbar, auch wenn Xylife ihn selbst nirgends sehen konnte. Dafür entdeckte sie im Schein der hell glühenden Masse sechs Erdelementare. Drei von ihnen befanden sich in einem wilden Kampf mit Kisu.

Der Luftelementarin gelang es nur mit Mühe, sich gegen die geballten Angriffe zur Wehr zu setzen. Immer wieder musste sie ihre stoffliche Gestalt aufgeben, um aus dem Klammergriff einer der Ranken zu entkommen, nur um sich im nächsten Moment vor heranfliegenden Erdbrocken und wagenradgroßen Steingeschossen in Sicherheit bringen zu müssen. Dennoch versuchte sie immer wieder an die anderen drei Erdelementare heranzukommen, die unbeirrt die Lavakugel bombardierten.

Yarim muss da drinnen stecken, schoss es Xylife bei dem Anblick durch den Kopf. Alle Vorsicht fallen lassend, stürmte sie auf das stockdunkle Feld hinaus. Zweimal wäre sie in der Finsternis beinahe gestürzt, als einer ihrer Füße zuerst an einem großen Stein hängen blieb und das andere Mal in ein Erdloch absackte. Kurz bevor sie den Bannkreis erreicht hatte, entdeckte sie eine auf dem Boden kauernde Gestalt. Es war die alte Frau, mit der sich Yarim vorhin unterhalten hatte.

Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden, die Hände auf den Knien in den Stoff ihres Kleides gekrallt. Ihre Lippen bewegten sich unablässig in stummem Gemurmel und auf ihrer Stirn konnte Xylife im fahlen Licht des Mondes eine dünne Schweißschicht glitzern sehen. Zu gerne hätte Xylife gewusst, was die Alte hier draußen machte, doch dafür blieb ihr keine Zeit. Ohne die Frau weiter zu beachten, rannte sie an ihr vorbei und passiert den Schutzbann.

Kaum, dass sie außerhalb der Bannzone war, spüre sie wie ihr Körper von einer gewaltigen Energiewelle erfasst wurde. All ihre Sinne funktionierten auf einmal mit einer Schärfe, die Xylife nie für möglich gehalten hätte. Sie fühlte sich stark, ja nahezu unbesiegbar. Eine nie gekannte Kraft jagte durch ihre Adern und gab ihr das Gefühl alles schaffen zu können.

Berauscht von dem plötzlichen Energieschub, rannte Xylife weiter. Die unebene Weite der Savanne erschien ihr plötzlich so glatt wie ein vereister See und das Mondlicht erhellte ihre Umgebung, als stünde die Sonne mitten im Zenit. Mit der neu gewonnenen Kraft legte Xylife die hundert Fuß, bis sie sich in Angriffsreichweite befand, in wenigen Sekunden zurück. Dann weckte sie die ihr innewohnende Elementarmagie und rief „Dhoruba Theluji!

Die Luft um Xylife herum sank urplötzlich rapide ab, bis sie nicht einmal mehr null Grad besaß. Der plötzliche Temperaturabfall schuf winzige Wassertropfen, die in der Luft erstarrten und sich zu dicken Schneeflocken zusammenschlossen. Die kleinen Eiskristalle begannen schneller und schneller umeinander zu wirbeln, bis sich im Umkreis von hundert Fuß um Xylife herum ein Schneesturm gebildet hatte. Einzig mit der Kraft ihrer Gedanken, setzt Xylife die Glocke aus unzähligen rotierenden Schneeflocken in Bewegung und schickte sie den Elementaren entgegen.

Doch Xylifes Ankunft war nicht unbemerkt geblieben. Eines der Erdelementare hatte von Yarims Lavakugel abgelassen und sich stattdessen der jungen Frau zugewandt, die plötzlich auf der Bildfläche erschienen war. Sein breites Maul weit aufgerissen, spuckte es in dem Moment einen gewaltigen Schwall stinkender Lehmbrühe in Xylifes Richtung, als diese den Schneesturm heraufbeschwor.

Der Zusammenprall der beiden Angriffe erfüllte die Luft mit lautem Knacken, als hätte man einen Eiswürfel in heißes Wasser geworfen. Doch es war nicht Xylifes Schneesturm, von dem die Geräusche ausgingen, sondern der Schlammstrahl des Erdelementars. Mitten in der Luft gefror die zähe Flüssigkeit zu einer grotesken Eisskulptur und fiel mit einem dumpfen Aufschlag zu Boden, wo sie in unzählige Stücke zerbrach. Der Schneesturm jedoch bahnte sich weiter seinen Weg.

Auch die übrigen Elementare waren nun auf Xylife aufmerksam geworden. Einer von Kisus Angreifern überließ die Luftelementarin seinen beiden Artgenossen und schloss sich Xylifes Gegner an. Synchron erhoben die beiden Erdelementare ihre gewaltigen Vorderpranken und ließen sie mit einem ohrenbetäubenden Knall zu Boden fahren. Sofort brach die Erde an der Stelle auf, wo die vier Fäuste zugeschlagen hatten, und wurde von einem heftigen Beben erfasst.

Mit ausgebreiteten Armen gelang es Xylife ihr Gleichgewicht zu halten, doch sie spürte, wie ihre schwindende Konzentration ihren Angriff schwächte. Das war das Problem mit Flächenangriffen. Es reichte nicht aus, die Magie zum Zeitpunkt der Rezitation heraufzubeschwören. Sie musste konstant in den Angriff fließen, um diesen aufrecht zu erhalten.

Als der Schneesturm auf die Erdelementare traf, überzog er ihre Körper lediglich mit einer Schicht Raureif und verlangsamte ihre Bewegungen für den kurzen Moment, bevor sie die lästigen Flocken mit kreisenden Bewegungen ihrer Ranken auseinander getrieben hatten.

Auf Yarims Lavakugel schmolz der Schnee mit einem lauten Zischen und stieg als kleine Dampffäden in den Himmel empor. Dann löste sich der Schneesturm vollends auf.

In die kleinen schwarzen Augen von Xylifes Gegners stahl sich ein bösartiges Blitzen. „Was nun, Nusumsinge?“, rief das rechte Elementar Xylife entgegen. „Dein Freund in seinem Lavaball wird es nicht mehr lange machen. Wir können förmlich spüren, wie seine Gegenwehr schwächer wird.“ Mit einem kurzen Blick auf Kisu fügte es hinzu: „Bei der Verräterin Kisulusuli scheint es nicht anders zu sein.“

Tatsächlich waren Kisus Bewegungen langsamer geworden. Noch gelang es der Luftelementarin zwar den Angriffen auszuweichen, doch immer wieder traf die ein oder andere Ranken ihre stoffliche Gestalt und schleuderte sie mehrere Fuß durch die Luft, bevor es der Elementarin gelang sich wieder zu fangen. An einen Gegenangriff war gar nicht mehr zu denken.

„Warum bekämpft ihr uns?“, fragte Xylife, ohne auf die Provokation des Erdelementars einzugehen. „Wenn ihr Kisu erkannt habt, müsst ihr doch wissen wer wir sind.“

„Und was soll das ändern?“, kam die prompte Gegenfrage. „Ihr seid stinkende Nusumsingi, mehr nicht. Wir brauchen euch nicht, um den Cirkel zu besiegen. Zu dem Entschluss wird auch Mtawala gelangen. Und dann wird sie froh sein, dass wir Elduram von euch Abschaum befreit haben.“

Zähneknirschend ballte Xylife die Hände an ihren Seiten zu Fäusten und ging in eine lockere Kampfhaltung über, aus der sie sowohl angreifen als auch sich verteidigen konnte. Wenn die Elementare wirklich bis auf´s Blut kämpfen wollten, war sie bereit. Zumal sie immer noch diese berauschende Energie spürte, die ihre Kraftreserven auffüllten, bis diese schier überquollen.

Das ist es! Ohne auch nur einen Moment zu zögern, hob Xylife ihren rechten Arm. „Boríti Barafu!“ Aus ihrer Handfläche schoss ein Eisstrahl hervor, der jedoch die Elementare verfehlte und stattdessen mit einem lauten Zischen auf Yarims Schutz traf. In Sekundenbruchteil erstarrte die Lava zu schwarzem Gestein, bevor die Kugel durch den plötzlichen Temperatursturz von 800 Grad in den zweistelligen Minusbereich mit einer gewaltigen Explosion auseinanderbrach. Im Epizentrum, von spitzen Steinbrocken umgeben, kauerte Yarim.

Ein Grollen, das etwas von einem höhnischen Lachen an sich hatte, ging durch die Reihe der Erdelementare. „Das ist aber nett von dir, dass du uns die ganze Arbeit abnimmst.“

„So würde ich das nicht sehen.“ Gelassen ließ Xylife ihren Arm sinken und blickte zu Yarim hinüber.

Langsam, doch ohne das kleinste Anzeichen von Erschöpfung, richtete sich Yarim auf. Als er den Blick hob, erkannte Xylife in seinen Augen die gleiche Energie, die durch ihren eigenen Körper strömte. Auf sein Gesicht hatte sich ein entschlossener Ausdruck gelegt, als er aus dem Trümmerkreis heraus und an Xylifes Seite trat.

„Was hast du getan?“, raunte er ihr ins Ohr.

„Nichts, aber deine alte Freundin, glaube ich. Wir sollten sie danach fragen, wenn wir das hier überstanden haben.“

Fragend zog Yarim eine Augenbraue in die Höhe, doch er kam nicht mehr dazu den Mund zu öffnen. Um Kisu in Schach zu halten, war mittlerweile nur noch ein Erdelementar von Nöten. Die übrigen fünf starteten einen gemeinsamen Sturmangriff.

Die krallenbesetzten Pranken zum Schlag erhoben, wechselten sie in den Nahkampf und stürmten auf Yarim und Xylife zu. Die massigen, von Moos und Flechten überwucherten Erdplatten schabten bei jedem Schritt aneinander und erzeugten einen Ton, der in den Ohren schmerzte. Gigantischen Walzen gleich bewegten sie sich über die Savanne und zerquetschten die gelben Grashalme auf ihrem Weg.

„Gib mir Wasser!“, forderte Yarim Xylife auf. Ohne auf ihre Bestätigung zu warten, schuf er mit den Worten ‚Ukuta Kieuve‘ eine Lavawand, die er vor sich und Xylife in die Höhe wachsen ließ. Nur einen Sekundenbruchteil später brach eine Wasserfontäne aus den Tiefen des Erdreichs an die Oberfläche und ergoss sich über die Lava, die zischend zu Stein erstarrte.

Keine Sekunde zu früh. Auf der anderen Seite hörten sie die Erdelementare, die ihren Schwung nicht mehr rechtzeitig bremsen konnten, gegen die Wand donnern. Im Gestein bildeten sich feine Risse, die wuchsen und sich nach allen Seiten ausbreiteten, bis das Konstrukt in sich zusammenbrach.

Feine Staubpartikel schwirrten durch die Luft und trieben Xylife die Tränen in die Augen. Dennoch wagte sie es nicht zu blinzeln. Der Sturmangriff der Elementare war zwar vorerst gestoppt, dafür standen sich die beiden Parteien nun unmittelbar gegenüber.

„Gebt auf und sterbt“, forderte ein Erdelementar, wobei es das R wie beim Knurren rollte. „Ihr könnt nichts gegen uns ausrichten und seid uns zahlenmäßig unterlegen.“

„Nicht unbedingt“, vernahm Xylife eine Stimme hinter sich.

Überrascht wandte sie den Kopf und erblickte Chaira. Neben ihr stand Karuso und ein Mann, den sie früher am Abend auf Karusos Familienmatte hatte sitzen sehen. Hinter dem Bannkreis konnte sie noch zwei weitere Silhouetten erkennen, die sich gerade neben der alten Frau auf den Boden setzten. Kaum das sie saßen, nahm die etwas schwächer gewordene Energie in der Luft wieder an Stärke zu und übertraf ihr Anfangsmaß nun bei weitem. Die Spannung musste selbst für die Elementare zu spüren sein, auch wenn sie die Energie scheinbar nicht nutzen konnten

„Brieuc mag ein kleines Dorf sein, aber wir sind euch keinesfalls schutzlos ausgeliefert.“ Mit diesen Worten hoben Chaira und die beiden Männer die Arme. Ihre Lippen bewegten sich in stummem Gemurmel und die Luft um sie herum begann vor elektrischer Ladung zu knistern.

Dann manifestierten sich aus dem Nichts drei grelle Blitze. Sie schossen auf die Erdelementare zu, trafen drei von ihnen mitten in die Brust und schleuderten sie zu Boden. Eines der Elementare schaffte es sich wieder mühsam auf die Beine zu rappeln, die anderen beiden blieben jedoch mit qualmenden Körpern reglos liegen.

Ein wütendes Knurren stieg aus den Kehlen der übrigen Erdelementare auf, doch sie machten keine Anstalten anzugreifen. Ganz im Gegenteil zogen sie sich langsam zurück, die qualmenden Körper ihrer Artgenossen einen letzten Blick zu werfend.

„Das ist noch nicht vorbei. Wir werden uns wiedersehen und dann werden ihr es sein, die nicht mehr aufstehen.“

Die vier Erdelementare warfen den Menschen ein letztes Mal hasserfüllte Blicke zu, bevor sie sich erstaunlich behände umdrehten und in die Nacht entschwanden.

Weggefährten

Brieuc und Umgebung

Im Zeichen der Erde, Lenzing

Zyklus 999 nach der Ankunft der Menschen in Elduram

 

Nach der Ankunft des Reiters, hatte das Fest ein abruptes Ende gefunden. Keiner war mehr in Feierlaune gewesen, zumal es sich bei dem Fremden nicht um irgendeinen Mann handelte, sondern um den Bruder von Karuso und Chaira. Er lag nun in Karusos Hütte und wurde von dessen Frau versorgt. Bis auf ein paar Kratzer und blaue Flecke hatte er zwar keine Wunden davongetragen, doch der Schock und der halsbrecherische Ritt hatten ihren Tribut gefordert.

Nachdem die Erdelementare den Rückzug angetreten hatten, hatte Karuso Yarim und Xylife in die Versammlungshütte des Dorfs geführt. Chaira hatte sich ihnen angeschlossen, begleitet von dem Mann und den zwei Frauen, die ebenfalls am Kampf teilgenommen hatten. Selbst die alte Druidin saß nun im Schneidersitz auf den Grasmatten, die im Kreis auf dem Boden lagen, zwischen ihnen ein Tablett mit zwei halb heruntergebrannten Kerzen und für jeden eine Schale mit einer scharf riechenden Flüssigkeit darin.

„Kann mir bitte einmal jemand erklären, was dort draußen geschehen ist?“, brach Karuso das Schweigen, das sich im Raum ausgebreitet hatte. „Eben noch bin ich mit Mira in den Armen um das Lagerfeuer getanzt und im nächsten Moment wurde ich von Chaira aus dem Dorf gezerrt und sah mich sechs Erdelementaren gegenüber.“

Und einem Luftelementar, dachte Yarim im Stillen. Doch er würde sich hüten, dies laut auszusprechen. Die Stimmung war auch so schon angespannt genug, ohne dass er Kisu zur Sprache brachte. Doch das war auch gar nicht nötig. Das übernahm die Druidin bereits für ihn.

„Und einem Luftelementar“, ergänzte sie Karusos Aufzählung, als hätte sie Yarims Gedanken gelesen. „Wie kommt es, dass ihr Seite an Seite mit einem Elementar kämpft?“ Vorwurfsvoll sah sie Yarim an. „Mir scheint, du hast bei deiner Erzählung einen wesentlichen Punkt ausgelassen.“

Mit beiden Händen rieb sich Yarim über das Gesicht, bevor er kurz entschlossen nach der für ihn bestimmten Schale auf dem Tablett griff und den Inhalt in einem Zug hinunterkippte. Die Flüssigkeit brannte wie Feuer, als sie sich ihren Weg seinen Rachen hinab bahnte. Im Magen angekommen, verbreitet sie jedoch eine angenehme Wärme und ließ seine wirbelnden Gedanken etwas zur Ruhe kommen.

Yarim stellte die Schale zurück auf das Tablett und sah in die Runde. „Ich habe ...“ Fragend warf er einen Blick zu der alten Druidin. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er immer noch nicht ihren Namen kannte.

„Raakah“, ergänzte die Greisin.

„... Raakah bereits erzählt, dass Alayna und ich ...“

„Du kannst ruhig eure wahren Namen verwenden, Yarim“, wurde er von Chaira spöttisch unterbrochen.

Charmante Art und Weise, mir zu zeigen, was du alles weißt. Böse funkelte er die junge Frau an, ließ sich aber nicht weiter beirren. „… dass Xylife und ich mit vier Druiden zur Grenze der Elementare gereist sind, um einen möglichen Frieden auszuhandeln. Was ihr vermutlich auch schon wisst“, fügte er den letzten Teil mit Blick auf Chaira und in Erinnerung an das Gespräch mit der Greisin früher am Abend hinzu. Dennoch fuhr er fort: „Der Krieg, der Elduram zerreißt, ist ganz alleine schuld des Cirkels. Unsere Absicht war es die Elementare davon zu überzeugen, dass sie ihre Überfälle auf einfache Menschen einstellen. Wir hatten gedacht, wenn wir den Elementaren erklären, dass auch viele Menschen den Cirkel als Feind ansehen, liegt ein Frieden durchaus im Bereich des Möglichen.“

„Aber?“, hakte der Mann nach, der zusammen mit Chaira und Karuso die Blitze heraufbeschworen hatte, ohne sich über das wahnwitzige Unterfangen zu wundern. Also haben sie wirklich schon darüber Bescheid gewusst.

„Die Sache ging nach hinten los“, nahm Xylife den Faden auf, nachdem Yarim den Mann nur mit zusammengezogenen Augenbrauen anstarrte. „Einer der Druiden, Elhan, wurde getötet und die übrigen im Kampf gefangen genommen. Mich und Yarim schickte man los, um als Beweis, dass wir die Wahrheit gesagt hatten, die Großmeister des Cirkels zu stürzen und ihre Medaillons den Elementaren zu überreichen.“

„Das dürft ihr nicht!“, fuhr die jüngere der beiden Frauen, die während des Kampfes die alte Druidin unterstützt hatten, plötzlich auf. Ihre braunen Locken wippten auf und ab, als sie sich aufgebracht erst Xylife und dann Yarim zuwandte. „Wisst ihr denn nicht, wozu die Medaillons da sind?“

„Um ehrlich zu sein, nein“, antwortete Xylife.

Unsicher wandte sich die Frau der Greisin zu. Seufzend griff Raakah nach ihrer Schale und nahm einen kleinen Schluck der hochprozentigen Flüssigkeit. „Die Medaillons haben die Fähigkeit, die Magie ihres jeweiligen Elements zu verstärken. Je stärker ihr Träger ist, desto mehr Kraft erzeugen sie. Vorausgesetzt er nutzt dieselbe Elementarmagie, die dem Medaillon innewohnt.“ Sie stellte die Schale zurück und sah die beiden Halbelementare auffordernd an. „Aber das erklärt noch nicht, warum euch ein Luftelementar begleitet.“ Es schien sie wahrlich zu stören, dass sie über dieses Puzzleteil nicht Bescheid wusste.

„Wir haben Kisu auf dem Weg zur Grenze getroffen“, erklärte Yarim. „Wir konnten sie von unserer Sache überzeugen, woraufhin sie sich uns anschloss. Allerdings war ihr Fürst darüber nicht sonderlich erfreut. Er hat Kisu zur Verräterin erklärt und aus den Luftlanden verbannt, bis wir es geschafft haben die Großmeister zu stürzen und die Medaillons zu beschaffen. Deswegen begleitet sie uns.“

„Faszinierend“, murmelte Chaira. Ihre Augen sprühten förmlich vor Begeisterung, als sie fragte: „Kann ich Kisu kennenlernen?“

„Das wirst du nicht“, fuhr Karuso scharf dazwischen. „Keiner von uns wird sich diesem Elementar nähern.“

„Ach nein?“, erwiderte Chaira patzig. „Und wer will mir das verbieten? Du in etwa? Du bist nicht mein Ehemann.“

„Nein, das bin ich nicht. Aber genau aus diesem Grund wird es Zeit, dass du endlich unter die Haube kommst. Du brauchst einen Mann an deiner Seite, der dir die Flausen aus dem Kopf treibt!“

„Kinder, genug!“, ging Raakah dazwischen und hob beschwichtigend die Hände. Chaira machte den Mund auf, doch ein strenger Blick der alten Druidin genügte und sie schloss ihn wieder. „Es wird Zeit, dass Chaira Brieuc verlässt. Sie wird mit Xaido nach Carrick gehen.“

„WAS? Das wird sie ganz sicher nicht!“, brauste Karuso auf. Seine zuvor schon zusammengezogenen Augenbrauen sanken noch ein Stück tiefer.

„Doch, dass wird sie“, bestimmte Raakah. Ihre Stimme war hart wie Stahl. „Du magst der Dorfvorsteher sein, Karuso, und du führst unserer Leute gut, doch was uns Druiden angeht, habe ich das Sagen. Was glaubst du, warum Xaido hier aufgetaucht ist? Ich habe nach ihm geschickt, damit er Chaira mit nach Carrick nimmt.“

Karusos Miene war eine wutverzerrte Fratze, als er zu Chaira herumfuhr. Doch die Augen seiner Schwester waren vor Überraschung weit aufgerissen und erstickten seine Anschuldigungen im Keim. Stattdessen wandte er sich an den anderen Mann in der Hütte, doch auch er hob abwehrend die Hände. In den Augen der beiden Frauen blitzte hingegen das schlechte Gewissen auf.

„Ihr wusstet davon! Ihr Habt genau gewusst, was Raakah plant und mir nichts erzählt!?“, warf Karuso ihnen vor.

„Meine Mutter hat recht!“, erwiderte die ältere der beiden mit fester Stimme. „Du bist unser Anführer, Karuso, aber nicht, wenn es um Angelegenheiten der Druiden geht. Wir alle haben dafür gestimmt, dass das Wohl unseres Dorfes und das der Druiden nicht von ein und derselben Person gelenkt werden soll. Chaira langweilt sich hier doch nur“, warf sie mit einem Seitenblick auf ihre Nichte ein. „In Carrick kann sie nicht nur zum Wohl Brieucs beitragen, sondern zu dem ganz Eldurams. Als Mutter uns von der Sache ihrer Druidenfreunde erzählt hat, haben wir alle geschworen sie zu unterstützen, also sollten wir das auch tun!“

Die heftig hervorgebrachten Worte nahmen Karuso den Wind aus den Segeln. „Das gefällt mir nicht!“, brachte er noch einmal zornig hervor, lehnte sich dann aber mit verschränkten Armen schweigend zurück.

„Moment mal“, nutzte Xylife den Moment der Stille. „Ihr wusstet von Elhans Plan und dem seiner Freunde? Wie das?“

„Ich war mit Elhan befreundet“, antwortete die alte Druidin schlicht. „Ich habe ihre Sache schon eine ganze Weile unterstützt und ihnen Informationen von der Grenze zukommen lassen, die wir gesammelt haben. Xaido sollte in Carrick weitere Verbündetet suchen, doch da er selbst kein Druide ist, hat sich das äußerst schwierig gestaltet. Ich hoffe, Chaira wird es da leichter haben.“

„Gut möglich“, murmelte Xylife, bevor ihr eine andere Frage in den Sinn kam, welche sie seit der Auseinandersetzung mit den Erdelementare beschäftigte. „Darf ich fragen, was ihr eigentlich vorhin beim Kampf getan habt?“, wandte sie sich an die Greisin. „Die Luft war voller Energie, die einfach so in uns hereingeströmt ist.“

Mit einem Lächeln in Xylifes Richtung hob die Alte ihre Trinkschale vom Tablett. „Wir haben den Lebewesen in unserer Umgebung so viel Energie wie möglich entzogen, ohne sie zu töten, und die Energie dahingehend geformt, dass sie in die Menschen in ihrer Umgebung fließt. Ich war mir nicht ganz sicher, ob das bei Halbelementaren klappt, da ihr nicht mehr hundertprozentig Menschen seid, aber wie wir gesehen haben, hat es wunderbar funktioniert.“

Raakah nahm erneut einen Schluck aus ihrer Schale und drehte sie anschließend nachdenklich in den Händen. Leise, als spräche sie mehr zu sich selbst als zu den Anwesenden, fuhr sie fort. „Das funktioniert so ähnlich, wie Elhans und Balfors Methode den Schutzbann an tragbare Objekte zu binden. Dabei muss ich jedoch einen Fehler gemacht haben, wie Xaidos Ankunft gezeigt hat. Der Schutz hat zu früh versagt, aber wenn ...“

Mit gerunzelter Stirn blickte die alte Druidin zu Chaira, die gerade ihre eigene Trinkschale erhoben hatte und unter dem Blick mitten in der Bewegung innehielt. Dann drehte sie langsam den Kopf und sah mit ernster Miene erst Xylife und dann Yarim an. „Wo wollt ihr von hieraus hin?“

„Wir sind uns noch nicht ganz sicher“, gab Yarim zu. „Wir brauchen zunächst mehr Informationen darüber, wo sich die Großmeister des Cirkels aufhalten. Danach werden wir entscheiden, wen wir zuerst aufsuchen.“

„Für diese Informationen müsst ihr in eine größere Stadt“, schlussfolgerte Raakah. „Louargat liegt zu weit südlich. Bleiben also noch Dun Laoghaire und Carrick. Was würdest ihr dazu sagen, Chaira und Xaido nach Carrick zu begleiten? Ich würde mich deutlich wohler fühlen, wenn ich wüsste, meine beiden Enkel wären während der Reise nicht auf sich alleine gestellt. Und Chaira kann euch in Carrick helfen, die gewünschten Informationen zu sammeln. Als Druidin wird ihr die eine oder andere Tür offenstehen, die euch vielleicht verschlossen bleibt. Was haltet ihr davon?“ Gespannt sah sie zwischen den beiden Halbelementaren hin und her.

„Warum nicht“, antwortete Yarim, nachdem Xylife zustimmend mit den Schultern gezuckt und genickt hatte. „Carrick ist so gut wie jede andere Stadt.“

Am Morgen des übernächsten Tages versammelten sich Yarim und Xylife bei Sonnenaufgang zusammen mit der Druidengruppe am Dorfrand. Sie hatten ihren Aufenthalt in Brieuc um einen Tag verlängert, damit sich Xaido und sein Pferd von den Strapazen ihrer Hinreise erholen konnten. Nun stand er neben Chaira vor seiner Großmutter und ließ sich von der alten Frau in die Arme schließen.

Xylife verstaute ihr Reisegepäck auf Caroks Rücken, den sie am Vortag aus der Savanne ins Dorf geführt hatten. Mittlerweile wussten alle Bewohner Brieucs über ihre wahre Identität Bescheid, was zu der einen oder anderen ablehnenden Haltung geführt hatte. Egal was sie für Xaido getan hatten, sie blieben Halbelementare und mit denen hatte man hier keine sonderlich guten Erfahrungen gemacht.

Aus der Gruppe der Druiden löste sich Karuso und gesellte sich zu Yarim. Er war immer noch alles andere als erfreut darüber, dass seine Schwester das Dorf verlassen würde, doch wie es schien hatte er sich damit abgefunden. Sein zorniges Gesicht war einer besorgten Miene gewichen.

„Versprich mir, Yarim, dass ihr auf meine Geschwister aufpasst, okay? Xaido ist schon öfter zwischen Brieuc und Carrick hin und her gereist, aber für Chaira ist es das erste Mal. Bis auf kurze Erkundungstrips und Jagdausflüge in die Umgebung hat sie Brieuc noch nie verlassen.“

„Das werden wir“, versicherte Yarim erst.

Die beiden Männer sahen sich fest in die Augen, bevor Karuso dem Jüngeren auf die Schulter klopfte und stumm nickte. Dann drehte er sich herum, um sich von seinen Geschwistern zu verabschieden.

Als sie endlich aufbrachen, wurde die Morgendämmerung bereits von den ersten Sonnenstrahlen durchbrochen, die sich über den Horizont schoben. Auf den Gräsern der Savanne lagen noch die letzten Tropfen Morgentau und ließen die Halme golden im ersten Licht des Tages funkeln. Sie verließen Brieuc in nördliche Richtung, der noch kaum sichtbaren Sichel des untergehenden Mondes entgegen.

Noch war es relativ kühl, doch der klare Himmel versprach einen warmen Tag.

Sie ritten eine Weile schweigend nebeneinander her, passierten den Bannkreis und entfernten sich immer weiter von Brieuc. Chaira saß hinter ihrem Bruder auf dessen Pferd. In Brieuc hat es nur vier Pferde gegeben und die wurden von den Dorfbewohnern selbst benötigt. Doch das kräftige Tier hatte sich in den zwei Tagen gut erholt und trug seine beiden Reiter sicher über die Savanne.

Immer wieder drehte sich Chaira um und inspizierte die Umgebung. Als sie nicht fündig wurde, wandte sie sich an Xylife, die neben ihnen ritt.

„Wo ist denn Kisu?“

Xylife sah sich ebenfalls um, bis sie sich mit einem Schulterzucken wieder zu Chaira herumdrehte. „Keine Ahnung. Aber wenn sie nicht gesehen werden will, müssen wir warten, bis sie ihre Meinung ändert.“

„Was heißt das denn?“, fragte Xaido irritiert. „Hier gibt es weit und breit nur flaches Grasland und vereinzelte Bäume. Viele Gelegenheiten um sich zu verstecken findet man hier nicht.“

„Die braucht Kisu auch nicht“, erklärte Xylife. „Sie ist eine Luftelementarin, wenn sie will, kann sie so durchscheinend wie Luft werden. Das ist zwar nicht gerade die einfachste Übung, aber Kisu ist auch keine einfache Elementarin. Sie ist eine Verwandte des Luftelementarfürsten und was ich so gesehen habe, auch eine begabte Kriegerin.“

„Tatsächlich?“ fasziniert funkelte Chaira Xylife aus ihren braunen Augen an. „Jetzt bin ich noch gespannter, sie endlich kennenzulernen.“ Ihr schwarzer Pferdeschwanz schwang auf ihrem Rücken hin und her, während sie weiter die Umgebung absuchte. Doch Kisu war nirgends zu entdecken.

Auch am Abend und den folgenden zwei Abenden ließ sich die Luftelementarin nicht blicken. Seit der Auseinandersetzung mit den Erdelementaren, hatte Yarim sie nicht zu Gesicht bekommen. Langsam begann er sich Sorgen zu machen. Was war, wenn Kisu sich nicht zeigte, weil sie gar nicht in der Nähe war? Vielleicht war sie nach dem Kampf zu schwer verletzt gewesen, um ihnen weiterhin folgen zu können.

Mit der Ausrede, weiteres Brennholz für das kleine Lagerfeuer zu suchen, über dem Xaido gerade ein Erdferkel zubereitete – sie hatten lange darüber debattiert, ob es zu auffällig sei ein Feuer zu entfachen, waren aber letztendlich zu dem Entschluss gekommen, dass ihr Proviant nicht die ganze Reise über reichen würde und sie schließlich essen mussten - stand Yarim vom Boden auf und entfernte sich von der Gruppe. Er ging auf eine etwas abseitsgelegene Akazie zu, deren flaches Blätterdach sich mehrere dutzend Fuß zu beiden Seiten des Stammes ausdehnte. Wenn Kisu in ihrer Nähe war, vermutete er die Elementarin auf einem der niedrig hängenden Äste.

Es dauere einen kleinen Moment, bis sich Yarims Augen nach der Helligkeit des Lagerfeuers an die ihn umgebende Dunkelheit gewöhnt hatten. Aber auch dann konnte er die Luftelementarin nirgends entdecken. Dennoch schritt Yarim weiter auf den Baum zu, bis er in den Schatte der Blätterkrone eintauchte.

„Kisu? Bist du hier?“ Lauschend legte er den Kopf schief. Um ihn herum raschelte das hohe Savannengras im Nachtwind und von irgendwoher erscholl der Ruf eines Käuzchens.

Kurz entschlossen griff Yarim nach dem untersten Ast und zog sich daran in die Höhe. Er war sich sicher, dass Kisu hier war.

Die Äste der Akazie lagen so dicht beieinander, dass es Yarim ohne Mühe gelang von einem Ast zum Nächsten zu klettern. Notfalls würde er den ganzen Baum absuchen, bis er mit Kisu zusammengeprallt oder sich sicher war, dass er sich geirrt und die Luftelementaren zu Unrecht hier vermutet hatte.

Plötzlich spürte er einen sachten Luftzug seine Wange streifen. Suchend ließ Yarim seinen Blick über die Äste in seiner unmittelbaren Nähe gleiten, doch das Ergebnis blieb dasselbe. Nichts als Blätter und Holz.

„Was soll das Versteckspiel, Kisu?“, rief er mit gedämpfter Stimme in die Dunkelheit. „Ich bin alleine und selbst wenn ich es nicht wäre, Chaira kann es kaum erwarten dich kennenzulernen und Xaido ist dir mehr als dankbar für deine Hilfe gegen die Erdelementare.“

„Und was nützt mir das?“, erklang es sacht wie ein Windhauch zu seiner rechten. „Ich gelte als Verräterin am eigenen Volk und nichts wird das jemals wieder ändern.“ Die Elementarin hatte leise gesprochen, dennoch war die Niedergeschlagenheit in ihrer Stimme unverkennbar.

Das ist also ihr Problem, sinnierte Yarim.

Laut sagte er: „Du solltest nicht so viel auf das geben, was die sechs gesagt haben. Sie haben sich gegen einen indirekten Befehl ihrer Fürstin gestellt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mtawala damit einverstanden ist, dass ihre Leute unsere Mission sabotieren. Also könnte man es ehr so auslegen, dass sie die Verräter sind.

Du selbst hast zum Wohl deines Volkes und nicht etwa gegen einen Befehl Cerucoacs gehandelt, als du uns zur Grenze begleitet und bei den Verhandlungen unterstützt hast. Wer sind also hier die Verräter, hmm?“, versuchte er Kisu aufzumuntern.

Kurz schien die Luft auf dem Ast rechts neben Yarim ins Schlingern zu geraten und endlich entdeckte er das weiße Augenpaar der Elementarin. Geschickt drehte sich Yarim auf dem Ast um neunzig Grad und ließ die Beine in die Tiefe baumeln.

„Was hält dich davon ab, wieder zu uns zu stoßen?“, hakte er sacht nach.

Erst machte es den Anschein, als wolle Kisu nichts darauf antworten. Die Luftströme in ihrem Inneren hatten sich wieder gelegt, sodass von ihr nicht mehr in der Dunkelheit zu erkennen war, als zwei weißglühende Punkte. Doch dann erwiderte sie mit fistelnder Stimme: „Wie könnt ihr mit jemandem reisen wollen, der ein Verräter ist.“

„Du bist keine Verräterin!“, erwiderte Yarim energischen. „Und selbst wenn du jemand anderes verraten hättest, bin ich mir sicher, dass du deine Gründe gehabt hattest. Du hast uns nie im Stich gelassen, Kisu, warum sollte ich dich also als Verräterin ansehen?“

„Bei Xylife tust du es doch auch.“

Wie vor den Kopf gestoßen, erstarrte Yarim auf seinem Ast. „Das … ist was anderes“, brachte er gepresst hervor.

„Ist es das?“

Yarim spürte förmlich, wie sich der intensive Blick der Elementarin in ihn bohrte. Wie sollte er ihr nur das Gefühlschaos erklären, dass Xylife in ihm verursachte. Seufzend strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihm ins Auge gefallen war.

„Xylife ist daran schuld, dass Elhan sterben musste“, brachte er zum ersten Mal die Anschuldigung hervor, die seit den Geschehnissen an der Grenze in ihm schwelten. In seiner Stimme schwang all die unterdrücke Wut und Trauer mit, die er tief in seinem Inneren vergraben geglaubt hatte.

Irgendwo in der Ferne erklang das Brüllen einer Raubkatze, die auf ihrer nächtlichen Jagd die Savanne durchstreifte. Der animalische Klang berührte etwas in Yarims. Er sprach den Teil seiner selbst an, der die primitiven Überlebensinstinkte seiner elementaren Seite enthielt. Wie einfach wäre alles, würde er nur nach diesen Instinkten leben. Tiere kannten keine Intrigen, keinen Verrat. All ihre Handlungen waren auf das Überleben ausgerichtet und vorhersehbar. Bei Menschen sah das Ganze anders aus.

„Sie hätte dieses verfluchte Medaillon niemals einstecken dürfen“, verdeutlichte Yarim seinen Standpunkt. „Ich kann einfach nicht verstehen, wie man ein Artefakt des Cirkels zu einem Treffen mit lauter Elementaren mitnehmen kann.“ Mühsam löste er seine Rechte vom Ast, deren Finger sich tief in die Baumrinde gegraben hatten, und betrachtete die rotglühende Hand. Die Feuerausbrüche hatte er schon seit langem unter Kontrolle, doch das Glimmen unter seiner Haut, wann immer ihn starke Emotionen erfassten, wurde er einfach nicht los.

„Ich habe gehört, wie sie versucht hat es dir zu erklären“, gab Kisu zu. „Meinst du nicht, es könnte wirklich nur der einfache Wunsch nach Vergeltung gewesen sein?“

Zähneknirschend richtete Yarim den Blick wieder auf die Stelle, an der sich die Luftelementarin befand. „Selbst wenn, sie hätte es besser wissen müssen … Sie ist beim Cirkel aufgewachsen, verdammt nochmal!“, fuhr er auf … und stockte.

‚Sie ist beim Cirkel aufgewachsen…‘

Erschrocken stellte Yarim fest, dass das sein eigentliches Problem war. Nicht das Xylife das Medaillon mitgenommen hatte. Nicht das sie versäumt hatte, ihnen davon zu berichtet. Nach all ihren Erklärungen konnte er das mittlerweile halbwegs nachvollziehen. Sein Problem war, dass sie fast ihr ganzes bisheriges Leben beim Cirkel verbracht hatte. All sein neuerwachtes Misstrauen nach dem Desaster mit den Elementaren basierte darauf, das Xylife bei den Menschen aufgewachsen war, die er zu tiefst verabscheute. Sie war in ihrem Glauben erzogen und nach ihren Vorstellungen geformt worden. Die Tatsache alleine reichet aus, all ihre Handlungen in Frage zu stellen.

Und dabei verurteilte er Xylife für etwas, für das sie noch nicht einmal selbst die Schuld trug. Gewiss hat sie es sich als Neugeborenes nicht ausgesucht, vom Cirkel entführt und in ein Halbelementar verwandelt zu werden. Und wenn Yarim ehrlich zu sich selbst war, waren Xylifes und Kisus Hintergründe gar nicht so verschieden. Dennoch fiel es ihm um einiges leichter, der Luftelementarin zu vertrauen. Würde er auch sie dermaßen von sich stoßen, wenn sie einen Fehler beging? Wahrscheinlich nicht.

Dieses Eingeständnis schnürte Yarim die Kehle. Er selbst war auch ein Halbelementar und er konnte sich noch gut daran erinnern, wie wütend und traurig es ihn als Kind gemacht hatte, deswegen von allen mit Misstrauen gestraft zu werden. Seine eigenen Freunde und Nachbarn hatten sich gegen ihn gestellt, als seine elementare Seite an die Oberfläche getreten war. Die Anführer Nyrax hatten ihn aus seinem Heimatdorf hinausschicken wollen, einen Jungen von gerade mal zehn Zyklen. Elhan war der einzige gewesen, der ihm eine Chance gegeben hatte.

„Du hast recht“, gestand Yarim zerknirscht ein, nachdem er sich wieder gesammelt hatte. „Wenn ich mich mit Xylife versöhne, kommst du dann zu uns ans Lagerfeuer?“

Plötzlich kam eine kühle Brise auf, die durch die Äste fuhr und das Blätterdach zum Tanzen brachte. Ein Blick zum Himmel zeiget Yarim, dass von Norden eine dunkle Wolkenfront nähert. Es sah ganz so aus, als müssten sie morgen mit Regen rechnen.

Kisus Antwort ging im Rauschen der Blätter fast unter. „Ja, aber nicht mehr heute.“

Wie Yarim am Vortag vermutet hatte, war der Himmel am nächsten Morgen mit dicken Wolken verhangen. Noch regnete es nicht, doch die Luft hatte sich im Vergleich zu den vorherigen Tagen deutlich abgekühlt. Für die Bewohner Brieucs würde das ein erfreuliches Ereignis werden. Kam der Regen doch pünktlich kurz nach der Aussaat.

Der Himmel öffnete am frühen Nachmittag seine Schleusen. Dicke Tropfen fielen aus den grauen Wolken und hinterließen zunächst dunkle Flecken auf dem trockenen Savannenboden, bevor sie ihn in eine schlammige Brühe verwandelte. Immer heftiger prasselte der Regen auf die Reisegruppe nieder, doch stören tat das keinen wirklich.

Xylife nutze einfach ihre Elementarmagie, um die Tropfen um ihren Körper herum zu lenken und Yarim erhöhte seine Körpertemperatur soweit, dass seine Kleidung sofort wieder trocknete, sobald ein Tropfen auf ihr landete. Auch für Chaira und Xaido stellte der Regen kein Ärgernis dar. Als Kinetikdruidin erzeugte Chaira einen Schutzschild um sich und ihren Bruder, an dem die Tropfen abperlten und wie an einer Fensterscheibe hinabliefen. Lediglich die Pferde mussten das Nass ertragen.

Trotz des Regens legten sie an diesem Tag ein gutes Stück Wegstrecke zurück. Als es langsam zu dämmern begann, war die Vegetation um sie herum deutlich üppiger geworden. Das gelbe Savannengras wurde von keimendem Gestrüpp und einzelnen Grasbüscheln abgelöst und zwischen die Akazien mischte sich wilder Oleander und der eine oder andere Olivenbaum.

Xaido führte die Gruppe unter eine besonders ausladende Akazie, deren dichtes Blätterdach den Großteil des Regens fernhielt. Nachdem er sich nach dem langen Ritt ausgiebig gestreckt hatte, half er Chaira vom Rücken des Pferdes. Die junge Frau war das Reiten nicht gewöhnt und nach den letzten Tagen zu Pferd steif wie ein Waschbrett.

Voller Mitgefühl dachte Yarim an seine ersten Reiterfahrungen und verzog ob der schmerzvollen Erinnerungen das Gesicht. „Ich werde etwas Brennholz für das Lagerfeuer sammeln“, bot er sich an, damit die anderen sich ausruhen konnten.

„Ich begleite dich.“ Xylife hatte Carok gerade am Stamm der Akazie festgebunden und drehte sich nun zu Yarim um. Mit entschlossenen Schritten kam sie auf ihn zu, doch in ihrem Gesicht konnte Yarim einen bangenden Ausdruck erkennen.

Nickend signalisierte er, dass Xylife ihn ruhig begleiten konnte. Sofort entspannten sich ihre Gesichtszüge. Seit ihrer Auseinandersetzung in der Hütte in Brieuc hatten sie nicht mehr alleine miteinander gesprochen.

Mit Xylife im Schlepptau steuerte Yarim auf einen Olivenbaum zu, an dessen Stamm ein vertrockneter Busch wuchs, der die Trockenzeit scheinbar nicht überstanden hatte. Das Holz war etwas feucht, doch das würde für Yarims Elementarfeuer keine Schwierigkeit darstellen.

„Hast du Kisu gestern gefunden“, brach Xylife das Schweigen zwischen ihnen. Sie bückte sich zu dem Strauch hinab und trennte einen der dünnen Äste ab.

„Ja. Ihr geht es gut“, antwortete Yarim einsilbig.

„Gut.“

Erneut legte sich Stille über die beiden Halbelementare, die nur vom Knacken der abbrechenden Äste durchbrochen wurde.

Die Erwähnung der Luftelementarin rief Yarim sein Gespräch mit Kisu in Erinnerung. Bis jetzt hatte er es erfolgreich verdrängt, doch nun brachen die Selbstvorwürfe ob seiner Vorurteile wieder an die Oberfläche. Eine bessere Gelegenheit um in Ruhe mit Xylife zu reden, würde sich in den nächsten Tagen vielleicht nicht mehr bieten.

„Xylife … ich muss mit dir reden“, brachte Yarim stockend hervor.

Sofort hob Xylife den Kopf und sah ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Befürchtungen an. „Ja?“

„Es tut mir leid, wie ich mich dir gegenüber in letzter Zeit verhalten habe. Und auch, was ich in Brieuc zu dir gesagt habe.“ Yarim legte den Ast, den er gerade vom Busch abgebrochen hatte, auf seinen Stapel und fuhr sich durch die schwarzen Haare. „Seitdem du dich Elhan und mir angeschlossen hast, konnten wir uns immer auf dich verlassen. Du hättest dich bestimmt weiterhin erfolgreich vor dem Cirkel verstecken können und trotzdem hast du beschlossen, dich uns anzuschließen. Wir haben so viel miteinander durchgemacht und trotzdem hat ein Fehler genügt, und ich hätte fast alles kaputt gemacht.

Aber der Fehler hat einfach meinen besten Freund das Leben gekostet und ich …“ Abrupt beendete Yarim seinen Redeschwall und biss sich auf die Unterlippe. Das hatte er nicht sagen wollen. Das Gespräch sollte dazu dienen zwischen ihnen wieder allen ins Lot zu bringen und nicht, um Xylife erneut Vorwürfe zu machen.

Doch die junge Frau überraschte ihn. „Schon gut. Es war nicht nur ein einfacher Fehler. Es war sogar ein ganz fataler Fehler, euch nicht von dem Metallion zu erzählen. Da ist es dein gutes Recht, dass du sauer auf mich bist.“

„Ja, aber ich hätte deshalb nicht mein Vertrauen in dich verlieren müssen. Es ist nur so, dass es mir nicht leichtfällt, anderen zu vertrauen, nach dem, was ich alles erlebt habe.“

„Wem sagst du das“, erwiderte Xylife schwer seufzend.

Richtig, musste Yarim selbstironisch zugeben. Xylife hatte mindestens genauso viel durch den Cirkel erleiden müssen wie er, wenn nicht sogar mehr. Er hatte immerhin liebende Eltern gehabt. Entschuldigend blickte er ihr in die Augen. „Kannst du mir verzeihen?“

Trotz der heraufziehenden Dunkelheit konnte Yarim das Strahlen auf Xylifes Gesicht erkennen, das ihre Augen zum Leuchten brachte. „Natürlich, Yarim! Sprechen wir einfach nicht mehr darüber, okay?“

Nun musste auch Yarim Lächeln. „Okay.“ Er hätte nicht erwartet, dass die Aussprache mit Xylife sich so einfach gestalten und ihn dermaßen erleichtern würde. Das unbhagliche Gefühl in der Magengegend, das zurückgeblieben war, schob er rigoros zur Seite und erwiderte Xylifes Lächeln.

Noch während sie sich gegenseitig angrinsten, erklang ein Schrei aus der Richtung ihres Lagers. Doch es war kein Laut der Angst, sondern ehr einer der Freude.

„Scheint so, als hätte Kisu endlich beschlossen wieder zu uns zu stoßen“, mutmaßte Yarim. Blieb nur zu hoffen, dass die quirlige Chaira sie nicht wieder verjagte.

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Text: Der folgende Roman beinhaltet mein persönliches geistiges Eigentum! Alle Rechte bezüglich der Inhalte dieses Romans liegen bei mir.
Images: www.pixabay.de
Publication Date: 03-21-2019

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