Ich war achtzehn Jahre jung, als ich das Gefühl der Liebe kennenlernte. Ich erlebte eine Liebe, die so grenzenlos schien wie das Universum.
Ich hielt inne. War das Universum überhaupt grenzenlos? Dann schrieb ich weiter:
Leider war mir diese Liebe aufs Brutalste genommen worden! Nun zog ich durch die Galaxien, in der Hoffnung, das Verlorene wiederzufinden, und sehnte den Tag herbei, an dem sich unsere Herzen ...
Ach, was für ein Quark.
Taba, ein Bewohner von Querox, mein langjähriger Freund und Mentor, zudem ein Mann mit zu klein geratener Stirn, wulstigen Lippen und büschelweiser Kopfbehaarung, wie es für die Bewohner von Querox typisch war, meinte mal: »Mädel, wenn du nicht weißt, wie du eine Geschichte beginnen sollst, dann schreibe übers Schreiben. Über die Schwierigkeit des Anfangens. Dann wird’s nur so flutschen!«
Seine Worte kamen mir in den Sinn, als ich hartnäckig versuchte, an meinem nächsten literarischen Werk zu arbeiten. Nachdem Die Memoiren einer Sternenwandererin universumsweit Erfolge verbucht hatten, nahm ich mir nun vor, ein etwas privateres Buch zu verfassen. Eine Liebesgeschichte sollte es werden. Ach, wie kitschig.
Gestern war ich hier gelandet. Ein Wüstenplanet. Was für ein Pech. Die Sonne brannte bestialisch auf mich nieder, mein zerrissener Strohhut spendete nur dürftig Schatten. Ich saß auf einem Klappstuhl mit giftgrünem Polyesterbezug, die Beine übereinandergeschlagen, mein Notizbuch auf dem Schoß, und vermisste die Erde und ihre Technik. Wo war mein Laptop?
Meine Habseligkeiten passten problemlos in einen großen Wanderrucksack, an den ich diesen Klappstuhl schnallte - und zwar seit einer geschätzten Ewigkeit. Die Zeit war schwer zu schätzen, sie verlief überall anders. Tage waren auf jedem Planeten unterschiedlich lang. Hier schien es nur Tage zu geben und keine Nächte. Der Planet war von zwei Sonnen umgeben. Ging die eine unter, ging die nächste bereits auf.
In meiner langjährigen Erfahrung als Sternenreisende hatte ich eins gelernt: Man war erschöpft, nachdem man quer durch die Galaxien gewandert war. Kam man dann noch auf einem Planeten an, dessen Untergrund so uneben war, dass man Gefahr lief, sich ein Loch in den Hintern zu bohren, sollte man der Versuchung erliegen, sich hinzusetzen, um sich auszuruhen - dann war man gut beraten, einen Stuhl zur Verfügung zu haben.
Der Boden, auf welchem ich dieses Mal mein Sitzmöbel deponiert hatte, bestand aus äußerst warmem, körnigem Sand, der vermutlich mit spielerischer Leichtigkeit unter Kleider rutschte und dort einen unangenehmen Juckreiz hervorrief.
Ich widmete mich erneut meinen Kritzeleien. Das Schreiben war zu einer überlebenswichtigen Beschäftigung geworden. Wenn man tage- oder wochenlang auf einem unbewohnten Planeten festsaß, dann musste man sich etwas einfallen lassen wie Robinson Crusoe. Ich hatte mir bislang noch nie einen Phantasiefreund erfinden müssen, damit mir mein Verstand nicht abhandenkam, aber mein Schreibstift und mein Notizblock hatten mich das eine oder andere Mal vorm Verrücktwerden gerettet.
Aber Xilia, so hieß der Planet, in dessen heißen Sonnen ich gerade meine nackten Unterschenkel bräunte – ich trug passend kurze Shorts und Sandalen –, war alles andere als unbewohnt. Hier tummelten sich Gestalten, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Und ich hatte viel gesehen. Als ich an meinem ersten Buch gearbeitet hatte, welches an vielen Orten im Kosmos als Bestseller galt, hatte ich Zeichnungen von den zahlreichen Kreaturen angefertigt, die mir im Zuge meiner Reise begegnet waren. Ich hatte die Bewohner vieler Galaxien studiert, ihr Aussehen, ihre Gewohnheiten, ihre Art sich zu ernähren und zu kleiden. Vorausgesetzt ihre körperliche Beschaffenheit machte es notwendig Kleidung zu tragen! Meine wissenschaftlichen Arbeiten – zumindest gefiel es mir, meine Aufzeichnungen als solche zu benennen -, fand man alle hübsch archiviert auf Querox, einem Planeten, der weithin als Weltenbibliothek bekannt war.
Miranda, eine Bewohnerin von Xilia, die mich vom ersten Moment an freundlich aufgenommen hatte, schlängelte gerade auf mich zu. Sie hatte einen Oberkörper und ein Gesicht, welche der Form nach an eine menschliche Frau erinnerten. Auch Erhebungen am Brustkorb, ähnlich den weiblichen Brüsten, waren zu erkennen. Ihr Unterkörper jedoch ging in einen Schlangenschwanz über. Ihre ganze Haut war schuppig, kein Haar bedeckte ihren Körper. Ihr Gesicht war schmutzig weiß, mit zwei orange funkelnden Augen gespickt. Sie sprach Kildisch. Eine Sprache, die ich vor Kurzem erst erlernt hatte. Wenn ich nicht gerade schrieb, blätterte ich nämlich in den vielen Wörterbüchern, die ich ständig mit mir herumtrug.
Miranda war auf demselben Weg wie alle anderen Sternenreisenden hierhergekommen und hatte sich gut eingelebt. Die Wesen auf Xilia waren tolerant – oder viel eher gleichgültig. Die eigentlichen Einwohner sahen nämlich aus wie zu groß geratene Trolle. Es waren keine Wesen, die Kultur und Kunst zu schätzen wussten. Sie kümmerten sich um ihren eigenen Kram.
»Lust auf einen Frosch?«, fragte mich Miranda. Schon als sie auf mich zugeschlängelt war, hatte ich die Ausbeulung in ihrem Rachen bemerkt. Nun würgte sie ein paarmal und ein glitschiger, zerdrückter Frosch kam aus ihrem Maul. Sie meinte es nur gut, das war ihre Art mir ein Geschenk zu machen. Aber ich kämpfte mit der Übelkeit. Auf Xilia aß man nur Frösche. Wie die Frösche in dieser Dürre überleben konnten, hatte ich noch nicht herausgefunden – vielleicht fraßen sie sich gegenseitig auf? -, aber auch ihre perfekte Tarnung nützte ihnen nichts. Ihre Hautoberfläche war so braunrot wie der Wüstensand und es schien hier auch genauso viele Frösche wie Sandkörner zu geben. Eigentlich musste man nur mal richtig in den Boden langen und schon hielt man einen Frosch in der Hand. Den es zu verspeisen galt. Sie waren vitamin- und proteinreich, hatte mir Miranda erzählt.
»Lieber nicht, Miranda, aber danke!«, meinte ich freundlich und meine neu gewonnene Freundin guckte beleidigt. Sie senkte ihr Haupt, verschlang den Frosch und zwängte ihn wieder ihre Kehle hinab. Dann ließ sie sich neben meinem Klappstuhl nieder und bettete den Kopf auf ihren eingerollten Schlangenkörper.
»Irgendeine Spur von deinem Liebsten?«, fragte sie plötzlich aus heiterem Himmel. Ich musste lächeln. Mein Liebster? Wenn Karim das hören würde! Dass er mein Liebster war ...! Karim war der Grund, warum ich schon so lange durchs Universum tingelte. Ich war nämlich auf der Suche nach ihm.
»Keine Spur von meinem ... Liebsten«, sagte ich und machte mir nicht die Mühe, Miranda über den eigentlichen Charakter meiner Beziehung zu Karim aufzuklären. Wir waren keine Liebenden, wir waren nicht einmal Freunde. Unsere Leben waren lange Zeit miteinander verwoben gewesen, wir teilten ein gemeinsames Schicksal. So etwas verband.
Ich ließ meinen Blick ins unendliche Rot des Wüstensandes schweifen. Diesen Planeten hatte ich noch gar nicht ausreichend untersucht. Bei manchen Planeten war das auch schwieriger als bei anderen. Ein Planet war so klein gewesen, dass ich ihn in dreißig Tagen zu Fuß hatte umrunden können. Der Himmelskörper, auf dem ich dieses Mal einen Zwischenstopp eingelegt hatte, war hingegen um einiges größer als die Erde. Mir schwindelte beim Gedanken, wie viele Frösche es hier wohl geben mochte. Trillionen!
»Hast du schon einen Plan?«, fragte Miranda. Ich hatte keinen Plan. Also log ich:
»Mein Plan ist immer derselbe. Ich frage die Planetenbewohner, wenn es denn welche gibt, ob sie einen Shattwa gesehen haben. Und du bist die Einzige hier, die mich versteht und die ich befragen kann.«
Eigentlich hatte Karim seine wahre Gestalt immer erfolgreich verborgen.
Ich hatte ihn auf Terbaq verloren. Ein Himmelskörper, der bekannt war für seine schillernde Flora, die Blätter der Bäume leuchteten dort in Neonfarben. Ich ging davon aus, dass er noch immer auf diesem Planeten festsaß, aber sicher war ich mir da nicht! Dorthin zurückzukehren war stets meine Absicht gewesen. Leider lag es nicht in meiner Macht, das Ziel meiner Reise selbst zu bestimmen. Ich stolperte mehr oder weniger ungeschickt durchs Universum, in der Hoffnung, ihn irgendwann doch noch zu finden.
Die Trolle von Xilia kamen aus ihren Löchern, die sie mit ihren schaufelgroßen Händen tief in den Wüstensand gegraben hatten, um vor der Sonne kurzzeitig geschützt zu sein. Sie sahen gefährlich aus, wie sie mit krummen, behaarten Rücken und hässlich entstellten Fratzen auf mich zumarschierten. Sie schienen für diese Umgebung nicht ausreichend angepasst zu sein, was verwunderlich war, denn im Kosmos gab es überall ähnliche Gesetzmäßigkeiten.
Miranda hatte mir versichert, die Trolle seien Pazifisten. Das sollte sie mal den Fröschen erzählen! Aber es stimmte, dass die Trolle für jeden Anderen – außer für die Frösche – ungefährlich schienen. Zwei hatten bislang an mir geschnüffelt und angewidert ihre Fratze abgewandt. Lag es an meinem Shampoo?
»Ich habe hier jedenfalls noch nie einen Shattwa gesehen, bis auf den, der mich hergebracht hat, und dem hat’s hier nicht gefallen. Hat mich abgeworfen und ist wieder weitergezogen.«
Miranda hatte wie alle Sternenwanderer eine Shattwa-Freifahrt hinter sich. Shattwas waren Götter. Wenn ihre körperliche Hülle starb, dann ging ihre Seele auf Reisen, quer durchs ganze Universum. Sie waren die eigentlichen Sternenwanderer.
Miranda war auf ihrem Heimatplaneten nichtsahnend unter einem Stein hervorgekrochen, um sich in der Mittagshitze zu sonnen und schwups! war sie in ein Seelenloch, eine große Lichtkugel, die jeden mit sich riss, der sich in unmittelbarer Nähe befand, gefallen. Sie war hierhergesogen, einfach mitgeschwemmt worden. Ich wusste, wovon ich sprach. Schließlich war ich auf dieselbe Weise auf der Erde gelandet.
»Ach, die Liebe! Sie ist so romantisch!«, seufzte Miranda, während wir beide den Sonnenuntergang betrachteten, im Wissen, dass gleich hinter uns die nächste Sonne aufging. Von der Liebe verstand ich eigentlich gar nichts.
»Oh jahhh …«, schwärmte ich dennoch theatralisch. »Die Liebe ist etwas Wunderbares!« Wahrscheinlich. Was Karim wohl dazu sagen würde? Aber Karim sage ja nie etwas. Zu nichts. Trotzdem lag ich mit meiner Vermutung wohl richtig, dass er kein Romantiker war, sondern ein Zyniker. Und dazu noch ein feiger. Er hatte sich aus dem Staub gemacht. Aber das würde er büßen. Ich würde ihn irgendwann aufspüren, noch bevor mein Körper zu Würmerfutter wurde. Ich würde sogar die Zeit zurückdrehen – ich würde es versuchen! –, sollte mein sterbliches Leben nicht ausreichen, um ihn zu finden. Und wenn ich ihn fand, würde ich ihn ohrfeigen. Und dann in die Eier treten. Genau in dieser Reihenfolge.
In mein Notizbuch kritzelte ich jedoch:
Karim war der Name meines Liebsten. Es war ein starker und schöner Name.
... Warum nicht? Vielleicht konnte ich ihn mit diesem Buch aus der Reserve locken? Mir wurde etwas mulmig zumute, wenn ich daran dachte, was für ein Gesicht Karim wohl ziehen würde, sollte er je diese Zeilen lesen! Ich schrieb weiter:
Ich erblickte sein wunderbares Antlitz und verliebte mich sofort in die Stärke, die sich hinter seinen feurigen Augen verbarg.
Dann strich ich alles durch. Das war zu dick aufgetragen. Davon abgesehen waren seine Augen nicht feurig gewesen, sondern ozeanblau.
Ich hatte bislang immer nur über die Wahrheit geschrieben, auch wenn die Bewohner mancher Planeten glaubten, ich hätte eine großartige Phantasie. Bei Karim fiel es mir jedoch schwer, die Dinge so zu erzählen, wie sie sich tatsächlich zugetragen hatten.
Ich nahm mir Tabas Ratschlag zu Herzen und schrieb nun:
Wie beginnt man eine Geschichte? Wo beginnt man zu erzählen? Am Anfang. Vermutlich am Anfang.
Ich legte mein Notizbuch kurz zur Seite und holte die Taschenuhr aus meinem Rucksack, welche ich wie meinen Klappstuhl immer bei mir trug. Sie passte genau in meine Handinnenfläche. Die Bullaugenfassung war aus einem Material gefertigt, das es nur auf Guan Eden gab. Auf dem Ziffernblatt waren acht Nummern eingraviert.
Die Uhr hatte meinem Großvater gehört und er erzählte mir einmal, sie würde die kosmische Zeit messen. Kosmische Zeit ...! Ich hatte nie verstanden, was er damit meinte. Entsprechend der kosmischen Zeit hatte ich vier Jahre auf Guan Eden, meinem Heimatplaneten, verbracht, und acht Jahre auf der Erde. In Erdenjahren umgerechnet war ich also achtzehn Lenze alt gewesen, als ich meine Reise durchs Universum angetreten hatte. Seit nun beinahe vier Erdenjahren war ich unterwegs.
Guan Eden galt als das Zentrum des Kosmos‘. Das hatte ich von Kindesbeinen an gelernt. Vielleicht waren die Bewohner von Guan Eden auch nur größenwahnsinnig und das Zeitmessgerät meines Großvaters nichts Anderes als eine normale Uhr, die eben die Zeit auf meinem Heimatplaneten maß?
Erschöpft widmete ich mich wieder meinem Notizbuch und schrieb:
Ich war ein Kind der Erde, auch wenn ich auf Guan Eden geboren wurde, dem einzigen Ort im Universum, wo weiße Magier lebten. Meine Eltern und mein Großvater hatten zu ihnen gehört.
...
Das Schreiben ging mir schwer von der Hand. Sollte das eine Autobiographie werden, eine Familiengeschichte, oder doch nur ein simpler Liebesroman? Ich war ein wenig unschlüssig und wieder erinnerte ich mich an Tabas Worte: Schreibe über das Schreiben! Nur leider war das leichter gesagt als getan ...!
Miranda bewegte sich plötzlich. Sie war kurz eingenickt, nun riss sie aber ihr Maul weit auf. Sie gähnte.
»Wie geht's mit deinem Roman voran?«, fragte sie.
»Geht so«, war meine wortkarge Antwort.
»Ist schwer über die Liebe zu schreiben«, meinte sie altklug.
»Ach ja? Woher weißt du das?«, wollte ich schmunzelnd wissen. Miranda besaß keine Hände, die ihr das Schreiben ermöglicht hätten.
»Auch ich war mal jung«, entgegnete sie geheimnisvoll. Ich hob überrascht die Augenbrauen. Mal abgesehen davon, dass ihr Alter auch nichts an der Tatsache änderte, dass ihr zwei Hände fehlten, um Schreibwerkzeug zu halten, fragte ich neugierig: »Wie alt bist du denn?«
»Auf Xilia habe ich schon über tausend Sonnenuntergänge gesehen.«
Die Kinnlatte klappte mir bis zum Boden. Über tausend Sonnenuntergänge? Ich starrte auf die Uhr meines Großvaters. Seit die eine Sonne endlich untergetaucht war, waren gerade mal zehn Minuten in kosmischer Zeit vergangen, die sich mindestens wie dreißig anfühlten. Überhaupt war ich schon seit gefühlten Stunden auf diesem Planten, aber die Konstellation der Sonnen hatte sich nur minimal verändert.
»Hier altert man kaum. Wenn du ewig leben willst, dann bleib hier.« Ich sah mich um. Ewig leben? Auf einem Wüstenplaneten voller Frösche?
»Ewiges Leben gibt es nicht«, sagte ich entschieden.
»Woher willst du das wissen?«
»Mein Großvater hat es mir gesagt. Die Zeit verläuft überall anders, aber sie geht immer voran. Nirgends steht sie still.«
»Wenn du meinst«, erwiderte Miranda und schien sich auf ihr nächstes Nickerchen vorzubereiten. Die Trolle spazierten in ihre Löcher, um vermutlich später wieder daraus hervorzukriechen. War es die Hitze, die sie so träge machte, oder doch die Zeit, die im Schneckentempo voranzukriechen schien?
Wieder setzte ich den Stift an, um endlich etwas Vernünftiges zu Papier zu bringen, als Miranda sich erneut zu Wort meldete: »Erzähl mir von deinem Shattwa.«
»Von Karim?«, fragte ich unnötigerweise.
»Ja. Ich habe viele Geschichten über Shattwas gehört, bevor mich einer hierhergezerrt hat. Aber noch nie hat mir jemand erzählt, dass ein Shattwa mit einem anderen Wesen des Universums in Kontakt getreten ist.«
Shattwas kommunizierten in der Regel nur untereinander, wenn überhaupt. Shattwas galten universumsweit als heilige Wesen. Unerreichbar. Unbesiegbar. Die weißen Magier hatten den großen Fehler begangen, sie bezwingen wollen. Hatten sie sich mit den Göttern anlegen wollen, um so selbst zu Göttern zu werden?
Mein Großvater war einer der bedeutendsten Magier gewesen, die je auf Guan Eden gelebt hatten. Um seine Existenz rankten sich Legenden. Und ich war seine Enkeltochter. Das allein machte mich zu einer kleinen Berühmtheit. Dass ich selbstständig durchs Universum reiste, war für Viele der Beweis, dass ich eine noch größere Magierin war als er. Dabei hatte ich noch nie in meinem Leben Magie angewandt.
»Karim war stumm«, sagte ich.
»Hm? Wie langweilig.« Miranda war enttäuscht.
»Wir drei, mein Großvater, ich und Karim lebten zwölf Jahre lang auf der Erde. Karim hat in all den Jahren nicht ein Wort gesprochen.«
»Wie langweilig ...«, sagte Miranda erneut und ich verzog mein Gesicht.
»Man kann auch auf andere Weise kommunizieren ... «
»Auf welche? Sag bloß, er hat dich angefasst?« Mirandas Augen weiteten sich vor Unglauben.
Wenn ein Shattwa einen Himmelskörper berührte, hauchte er ihm Leben ein. Auch ich hatte viele Geschichten über Shattwas gehört. Eine davon erzählte vom Ursprung allen Lebens. Es hieß darin, Leben könne auf einem Planeten erst entstehen, wenn ein Shattwa diesen berührte - was auch immer das bedeutete! Aber eine Berührung eines Shattwas war etwas Mächtiges, etwas sehr Mächtiges.
»Was meinst du mit angefasst?«, fragte ich vorsichtig.
Miranda rollte sich wieder auf ihrem Schlangenkörper ein und grummelte: »Diese Geschichte ist fad.« Dann schloss sie gelangweilt die Augen und genoss die heiße Wüstensonne, die ihr gar nichts auszumachen schien.
»Was ich mit angefasst meine?«, fragte sie plötzlich, als ich schon dachte, sie wäre wieder eingeschlafen. »Was werde ich schon damit meinen!?«
Karim hatte mich angefasst. Meine Wangen färbten sich im Moment sicher kirschrot. Miranda hatte mein Erröten bemerkt und guckte mich neugierig an.
»Dann stimmt es also wirklich? Du ... und ein Shattwa?«
»Äh ...«
»Erzähl schon!« Sie schien plötzlich hellwach, dabei dachte ich, die ständige Hitze würde jeden auf diesem Planeten, auch die Frösche, ganz schrecklich träge machen.
»Da ... gibt’s nichts zu erzählen …«, stammelte ich. Miranda guckte beleidigt.
»Gut! Wenn du nichts erzählen willst, dann eben nicht!«, schimpfte sie und erhob sich. Sie schlängelte von mir davon und ich wandte mich kopfschüttelnd wieder meinen Notizen zu.
Die Liebe war eine universelle Erscheinung. Die fand man überall. Die verstand jeder. Die suchte jeder. Und für die interessierte sich auch jeder.
Karim und ich - das war kompliziert. Das war immer kompliziert gewesen. Aus vielen Gründen.
Die Buchstaben meines Romans verschwammen vor meinen Augen. Eine bekannte Müdigkeit überfiel mich. Dem Sternenreisen musste ich Tribut zollen. Es war nun mal sehr anstrengend, wenn man permanent quer durchs Universum tingelte. Nicht umsonst trug ich die Uhr meines Großvaters ständig mit mir herum. Manchmal vergaß ich nämlich, wie lange ich schon auf der Suche nach Karim war. Ich vergaß, wie viele Tage, Wochen und Monate schon vergangen waren. Mein Hirn wurde immer öfter zu Brei. Aber die Erinnerungen an Karim hatten sich mir tief genug eingebrannt, sodass ich sie immer klar vor Augen hatte. Sich sein Gesicht ins Gedächtnis zu rufen - nichts war einfacher als das. Ich zog meinen Strohhut etwas tiefer und begann zu schreiben:
Hatte man auf Guan Eden das zehnte Lebensjahr vollendet, so galt man als erwachsen und wurde in die Kunst der Magieanwendung eingeführt. Vorausgesetzt, man bestand die Prüfung. Die Blutsprüfung, wie sie genannt wurde.
Die Trolle krochen wieder aus ihren Löchern. Vermutlich, um ein paar weitere Frösche zu fressen. Sie waren träge, aber dennoch bewegten sie sich in einem hartnäckigen Rhythmus. Immer weiter, immer weiter.
Auch ich durfte nicht stehen bleiben. Ich musste mich weiterbewegen. Ich musste wissen, ob Karim noch derselbe war wie damals.
Ich schrieb:
Manchmal muss man Türen öffnen. Solche, die man lieber für immer geschlossen wissen möchte. Hinter diesen Türen verbergen sich Worte. Worte und Gedanken und Bilder. Meine Türen sind weiß. So weiß wie der Schnee auf Guan Eden; so weiß wie der Steinpalast, in dem ich aufgewachsen bin; so weiß wie die Seidengewänder der Magier; so weiß wie mein Haar. Und jedes Mal, wenn ich die Tür öffnen will, verfärbt sie sich. Es ist die Farbe von rotem Blut, welches im weißen Schnee versinkt.
War es das, was Taba meinte, als er sagte: Schreibe übers Schreiben? Ich schrieb über die Unmöglichkeit des Schreibens. Ich musste sie aufstoßen, diese Türen, mit aller Kraft. Ich musste nach vorne preschen, selbst wenn das bedeutete, in einem See aus Blut zu ertrinken.
Ein See aus Blut - das war die letzte Erinnerung, die ich an Guan Eden hatte. Meine Eltern starben an diesem Tag wie viele andere Magier auch. Shattwas hatten uns angegriffen. Viele, zu viele. Wie sie aussahen? Die Abbildungen von weißen Wölfen, wie sie in Geschichtsbüchern zuhauf zu finden waren, hatte ich nie für echt gehalten. Bis zu jenem Tag, an dem ich einen Shattwa das erste Mal sah ...
Sie hatten weißes Fell. Ich fuhr mir durch mein schulterlanges Haar. Das Fell der Shattwas war genauso weiß wie mein Schopf. Man erzählte sich, Shattwas könnten jede Gestalt annehmen, aber sie hätten sich für diese entschieden. Sie sahen tatsächlich aus wie weiße Wölfe. Nur waren sie größer, viel, viel größer. Ein ausgewachsener Shattwa war fast sechs Meter hoch. Sie waren furchteinflößend, sie waren Bestien. Mordende Bestien.
Die vielen Jahre auf der Erde hatten mich geprägt. Ich verglich jedes Wesen im Universum mit der Menschen- und Tierwelt auf dem blauen Planeten, der eine Vielfalt an Leben zuließ. Die Beschreibung eines »weißen Wolfes« wurde den Shattwas aber nicht gerecht.
Ich hielt kurz inne und überlegte, welche Worte besser dazu geeignet wären, um diese gottähnlichen Wesen zu beschreiben. Aber dann kamen die Erinnerungen wieder ...
Shattwas hatten meine Familie getötet. Nur mein Großvater und ich konnten fliehen.
Auch wenn die Shattwas den Magiern haushoch überlegen gewesen waren, so starben auch sie bei dem Angriff.
Ich erinnerte mich noch deutlich an den riesigen Shattwa, der kraftlos vor mir niedergesunken war. Und an seine ozeanblauen Augen, die mich durchbohrt hatten. Man verlor sich in diesen Augen. Sie schienen ein Portal zu sein, welches an ferne Orte führte. An jeden Ort, jeden Ort im Universum. Ein Moment der unbegreiflichen Trauer überkam mich, als sich diese Augen schlossen. Der Körper des Shattwas glitzerte wie ein See, auf dessen Oberfläche Sonnenstrahlen tanzten.
Das war das erste Mal, dass ich ein Seelenloch sah. Ich erblickte viele Seelenlöcher an jenem Tag. Und mein Großvater war es, der mich und Karim, der damals nicht größer als ein Schäferhund war, in eines dieser Löcher gestoßen hatte.
So war ich auf die Erde gekommen.
»Isa, kommst du?« Die gutmütige Stimme meines Großvaters hallte in meinen Ohren wider.
Ich träumte. Nein, schlimmer: Ich halluzinierte. Irritiert öffnete ich meine Augen und stellte alsbald überrascht fest, dass ich mich im Garten unseres alten Bauernhauses befand, welches ich gemeinsam mit Karim und meinem Opa auf der Erde bewohnt hatte. In einem kleinen Alpendorf, umringt von hohen Bergen, hatten wir jahrelang gelebt.
Ich saß auf meinem Klappstuhl. Das alleine war der Beweis dafür, dass ich halluzinierte, denn diesen Klappstuhl hatte ich damals noch nicht besessen. Den hatte mir nämlich mein Bekannter Igwar, der auf Gurgot lebte, geschenkt. Dort zelebrierte man die Sitzkultur wie nirgends sonst im Universum. Es gab auf diesem Planeten eine kaum überschaubare Zahl an Stühlen, Hockern, Sesseln – alles erledigte man dort im Sitzen, wenn möglich. Natürlich auch sein Geschäft. Unzählige Toilettenstühle, in jeder Farbe, Form und Größe, gab es zu bestaunen. Toilettendesigner war dort ein anerkannter Beruf, der Abtransport der Fäkalien eine Wissenschaft. In der Weltenbibliothek hatte ich mal ein Buch gefunden, welches sich mit der Geschichte der Klosetts und den universumsweit recht unterschiedlichen Gebräuchen beim Toilettengang auseinandersetzte. Das war tatsächlich nützlich, wenn man seine Blase entleeren musste und dabei nicht durch Unwissenheit auffallen wollte.
Die ganze Zeit über starrte ich schon wie betäubt auf die Hausfassade, den bröckelnden Putz und die darunter zum Vorschein kommenden dunkelorangen Ziegelsteine. Das Haus war alt, sogar sehr alt, und es war nicht im besten Zustand.
Auch wenn ich wusste, dass die heiße Wüstensonne von Xilia mein Hirn vernebelte, stand ich auf und ging auf die Glastür zu, die direkt in die Küche führte. Wie in Trance folgte ich der mir so vertrauten und geliebten Stimme. Ich glaubte zu fühlen, wie sich das hohe Gras um meine nackten Unterschenkel schmiegte - das Gras war aber niemals hoch gewesen, mein Großvater hatte nämlich Wert darauf gelegt, dass der Rasen ordentlich aussah. Das wöchentliche Rasenmähen gehörte im Sommer zu den vielen Pflichten, die ich in der Regel nur mit viel Gejammer und Missmut erfüllte.
Das Haus, in dem wir lebten, war derart baufällig, dass zu Recht der Eindruck entstand, es wäre unbewohnt. Um dem entgegenzuwirken, hatte mein Opa es immer reichlich mit Blumen geschmückt. Die Geranien blühten allsommerlich in voller Pracht und verdeckten erfolgreich die morschen Balkonbretter und Teile der beschädigten Hausfassade, da mein Großvater auf jedes Fensterbrett eine Blumenkiste stellte.
»Das Mittagessen ist fertig!« Wieder hörte ich seine Stimme. Mein Großvater war mit der Erde vertraut gewesen. Er hatte die Sprache gekannt und die Gewohnheiten. Mit dem Verkauf von Antiquitäten hielten wir uns über Wasser. Er hatte den Stall für das Vieh in eine Werkstatt verwandelt, wo er mit viel Einsatz antike Möbel wieder auf Vordermann brachte.
Nun stand er am alten Holzherd und rührte in einem Topf. Er trug seine moosgrüne Strickjacke mit Knöpfen aus Hirschgeweih. An seinem schlohweißen Haar und der Knollennase erkannte ich ihn sofort.
Der Tisch war gedeckt. Und Karim war natürlich auch da. Frisch und munter und stockstumm saß er da.
Als ich auf der Erde angekommen war, hatte ich kaum über die Tischplatte blicken können. Wir waren noch Kinder gewesen. Karim und ich. Während ich nachts bei meinem Großvater im Bett schlief, - in meinem Zimmer hörte ich immer kleine Mäusefüße hinter der Täfelung scharren und das ängstigte mich zu Tode -, war Karim im Keller. Mein Opa hatte ihn erst herauslassen wollen, wenn er sich in einen Menschen verwandelte. Ein weißer Wolf mit solchen Augen, wie Karim sie hatte, wäre auf der Erde sicherlich unangenehm aufgefallen.
Manchmal war ich in den muffeligen Keller geschlichen, um Karim zu beobachten. Ich hatte mich an der feuchten Wand entlanggedrückt, um möglichst viel Abstand zwischen ihm und mir zu halten. Schließlich war Karim gefährlich! Nur … so gefährlich sah er gar nicht aus. Eigentlich sah er ganz schrecklich verloren aus. Mein Großvater hatte ihm eine dicke Eisenkette um den Hals gelegt. Er schien vor mir mehr Angst zu haben als ich vor ihm.
Irgendwann war Karim der Gefangenschaft entkommen. In der Gestalt eines Jungen, mit kurzem, braunem Haar und haselnussfarbenen Augen, war er eines Abends am Küchentisch gesessen. Sein Mund war viel zu groß gewesen, die Nase auch. Es hatte grotesk ausgesehen. Aber mit jedem weiteren Tag hatte er sein Aussehen verbessert – bis es perfekt gewesen war.
Im Moment saß ein sechzehnjähriger Karim am Küchentisch, der regelmäßig Frauenknie weich werden ließ. Er war mit Abstand der bestaussehende Junge der Schule gewesen. Und natürlich hatte mich das geärgert! Weil ihn alle bewundert und mich ignoriert hatten.
»Worauf wartest du, Isa?«, fragte mein Großvater.
Ich setzte mich endlich hin, zu Karim. Die braunen Augen, die mir seltsam leer erschienen, fixierten mich geduldig, während mir mein Opa einen Teller mit Gemüsesuppe vor die Nase stellte. Ob die Suppe überhaupt nach etwas schmeckte? Schließlich war nichts hier echt. Weder die Küche noch Karims Augen, die ganz anders waren als jene des Shattwas, den ich auf Guan Eden hatte sterben sehen. Man verlor sich nicht darin. Karim hatte nichts mit den Shattwas gemein, die damals meine Eltern, meine Freunde und Verwandten getötet hatten. Er schien wie ein Mensch. Kühl, aber ungefährlich. Aber das bedeutete nicht, dass ich keinen Groll gegen ihn hegte. In meinen Augen war er immer eine Bestie gewesen, eine schlafende Bestie, die nur darauf wartete, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Und wenn es so weit war, dann wollte ich vorbereitet sein. Ich war stets auf der Hut.
»Isa, wo ist dein Zeugnis?«, fragte mein Großvater plötzlich streng. Noch immer hatte ich nicht von der Suppe gekostet, dabei sah sie wirklich lecker aus. Ich blickte verständnislos auf - und dann fiel es mir ein! Es war in meiner Hosentasche. Ich holte es hervor, entfaltete es und hielt es meinem Großvater hin. Es war in einem äußerst schlechten Zustand, sehr zerknittert. Und plötzlich verstand ich: Es war der letzte Schultag. Die Erde war zu unserer neuen Heimat geworden. Ich führte ein Leben wie alle Anderen auch. Ich ging zur Schule und traf mich mit Freunden. Wir jammerten über die vielen Hausaufgaben und freuten uns auf die Ferien.
Karim war immer beliebt gewesen, besonders bei den Mädchen. Auch die Jungs bewunderten ihn. Aber diese Bewunderung war oft in Hass umgeschlagen. Er war nämlich in allem konkurrenzlos der Beste gewesen. Egal, ob es um das Lösen von Differentialgleichungen ging oder um einen Langstreckenlauf.
»Isabel ...«, flüsterte mein Großvater. Er hatte Sorgenfalten auf der Stirn. Mein schlechtes Zeugnis war der Grund dafür. Ich war nun mal nicht so ein Superhirn wie Karim. Seine schulischen Leistungen waren herausragend, weswegen niemand je auf die Idee gekommen war, ihn aufgrund seiner Stummheit auf eine Sonderschule zu schicken. Oft hatte ich das Gefühl gehabt, er sprach nur aus einem einzigen Grund nicht: Weil er uns nichts mitteilen wollte. Denn auch ohne zu sprechen, kam er wunderbar zurecht.
»Warum kannst du nicht ein wenig so sein wie Karim?«, meinte mein Großvater seufzend und sprach somit aus, was ich selbst immer gedacht hatte: Dass ich nicht so großartig war wie mein angeblicher Bruder – und es auch nie sein würde.
Auf der Erde hatten wir uns eine Geschichte ausdenken müssen, um nicht unnötig aufzufallen. Unsere war ziemlich gut! Karim und ich waren darin Geschwister, deren Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen. Bei Karim saß der Schock dieses Erlebnisses so tief, dass er stumm geworden war. Somit war seine hartnäckige Weigerung, mit Anderen auf herkömmliche Weise zu kommunizieren, erklärt.
Oh, ich erinnerte mich wieder. An diesen Moment. Als wir alle drei am Tisch saßen …
Warum rief die heiße Wüstensonne von Xilia gerade diese Halluzination hervor? Ich hatte mit meinem Großvater schrecklich gestritten wegen dieser Äußerung. Ich hatte ihm vorgeworfen, er hätte vergessen, was Shattwas unserer Familie angetan hatten. Ich hatte ihm auch unterstellt, er stünde auf der falschen Seite. Als wären wir im Krieg. Eigentlich waren wir das auch gewesen. Auf Guan Eden. Etliche Jahre lang. Nur hatte ich nie etwas davon mitgekriegt. Ich war wohlbehütet, von aller Wahrheit abgeschirmt, in einem weißen Palast aufgewachsen. Mir hatte es an nichts gefehlt.
Ich sah zu Karim, der vor einem leeren Suppenteller saß. Dann blickte ich in meinen eigenen Teller und erschrak. Plötzlich war Blut darin, in dem kleine Lichtpunkte blinkten, als würden sie auf- und untertauchen. Die rote, dickflüssige Pampe schien sich zu bewegen, sie verformte sich und wurde immer mehr. Sie schwappte über den Rand des Tellers, lief auf den Tisch und tropfte bis auf den Boden. Mein Schoß war durchnässt davon. Aber ich stand nicht auf. Ich fuhr mit meinem Finger mechanisch über die blutverschmierte Tischkante. Wie betäubt betrachtete ich mir meine Fingerkuppe. Die rote Flüssigkeit klebte daran. Ich kostete davon – und schmeckte rein gar nichts. Dann sah ich auf. Zu Karim.
Daraufhin verschwamm die Küche vor meinen Augen. Plötzlich war es dunkel, stockdunkel. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wo ich jetzt war und wohin die heißen Sonnen von Xilia mein Bewusstsein diesmal geschickt hatten.
Ich war in meinem Zimmer, welches ich mir mit Karim teilte. Während mein Großvater im Winter neben dem alten Holzherd in der Küche sein Nachtlager aufschlug, schliefen Karim und ich in der einzigen gutbeheizten Kammer, die es in dem alten Haus gab. Auf Karims Seite des Zimmers sah es trostlos aus. Er war nämlich nie auf die Idee gekommen, ein Poster an die Wand zu hängen oder seine Lieblingsbücher im Regal aufzubewahren. Karim schien an nichts Gefallen zu finden. Er hing nicht an den Dingen. Er hing auch nicht an den Menschen. Dennoch wollten viele mit ihm befreundet sein, auch wenn ich noch nie erlebt hatte, dass er Zuneigung erwiderte. Sein höfliches und stets freundliches Wesen täuschte erfolgreich darüber hinweg, dass er zu keinerlei echten Emotionen fähig schien.
Ich lauschte Karims Atem. Ihn atmen zu hören, ließ ihn so menschlich erscheinen. Was passierte hier nur? Zumindest wusste ich noch ganz genau, was damals in dieser Nacht geschehen war. Fühlte ich mich schuldig? Halluzinierte ich deswegen davon? War dieser verdammte Planet verflucht? Konnte er in meiner Seele lesen und die düstersten Erinnerungen daraus hervorholen, um mich zu quälen?
Auf leisen Sohlen schlich ich auf Karims Bett zu, genau wie damals. Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich spürte, dass ich ein Messer in der Hand hielt. Meine Finger klammerten sich fest um den Griff.
Ich hatte Karim töten wollen. Nur war ich mir nicht sicher gewesen, ob ein Stich durchs Herz wirklich ausreichte, um sein Leben zu beenden. Aber ich hatte es gehofft. Vielleicht hatte ich mir sogar gewünscht, dass sich durch seinen Tod ein Portal öffnete, das mich und meinen Großvater zurückbrachte, nach Guan Eden. Auch wenn ich nicht wusste, was mich dort erwarten würde.
Ich blickte mit klopfendem Herzen auf Karim hinab, der sich nicht bewegte. Er schlief ganz ruhig. Im Halbdunkel des Zimmers konnte ich sein Gesicht kaum erkennen. Seine Augen waren geschlossen.
Jeder mochte Karim lieber als mich. Karim war der Musterschüler. Klug, sportlich, höflich und zurückhaltend. Und nun zog sogar mein eigener Großvater ihn mir vor! Mein Griff um das Messer verstärkte sich. Die Erinnerungen waren so lebendig! Beinahe schien ich die Ereignisse noch einmal zu erleben. Ich spürte den Zorn, die Enttäuschung, die Verzweiflung.
Ich wollte ihn töten. Und gleichzeitig wusste ich, dass ich es nicht konnte. Ich war nämlich nicht anders als alle Anderen. Auch ich mochte ihn. Ich hatte mich lange dagegen gewehrt. Aber Karim hatte irgendetwas an sich, das es einem unmöglich machte, ihn zu verabscheuen. Es war nicht seine Perfektion, die er in allem an den Tag legte, nein, es war ...
Es war die Sanftmütigkeit seines Wesens, der man sich nicht entziehen konnte.
Die Geschichte wiederholte sich. Wollte ich, tief in mir, das Erlebte noch einmal erleben?
Ich hielt das Messer nun hoch. Mit aller Gewalt wollte ich zustoßen. Ich stand genau über ihm.
Und dann stach ich zu. Tränen verließen zeitgleich meine Augen. Hatte ich damals auch geweint?
Die Klinge durchbohrte kein Fleisch. Am Ende hatte mir der Mut gefehlt. Ich stand wie versteinert da, das Messer noch immer in der Hand, und versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen, als Karim seine Augen öffnete. Sie schimmerten. Irgendetwas war anders. Es war, als würde sich der Nebel, der sich über sie gelegt hatte, lichten. Und dahinter sah ich … es.
Er starrte hoch zu mir und ich erschauderte. Seine Augen waren plötzlich genau wie jene des sterbenden Shattwas. Ganze Welten schienen sich darin zu spiegeln.
Dann griff er nach meinem Handgelenk und ich japste erschrocken auf. Das war das erste Mal gewesen, dass er mich angefasst hatte. Mit Karim hatte ich jahrelang zusammengelebt, aber niemals zuvor hatte er mich berührt. Auch ich hatte es nie gewagt, ihm zu nahe zu kommen. Wie es sich angefühlt hatte? Wie ein elektrischer Schlag.
Ich öffnete die Faust und ließ das Messer fallen. Es lag nun vermutlich irgendwo in den Laken. Karim setzte sich auf und verstärkte den Griff um mein Handgelenk.
Wir starrten uns sekundenlang an, während ich das Gefühl hatte, mein Körper würde sich auflösen und hineingesogen werden in die Unendlichkeit, die sich in seinem Blick verbarg.
Irgendwann ließ er mich los.
Als wäre ich dem Ertrinkungstod nur knapp entronnen, schnappte ich panisch nach Luft. Erschrocken sah ich mich um.
Ich befand mich wieder auf Xilia. Aber ich war von meinem Klappstuhl aufgestanden und lag nun auf dem heißen Wüstensand, während ich verzweifelt versuchte zu atmen. Das Messer war nicht weit von mir entfernt. Es war dasselbe Messer, mit welchem ich in jener Nacht Karims Herz hatte durchbohren wollen. Ich hatte es wohl vorhin aus meinem Rucksack gezogen. Es gehörte meinem Großvater. Der Griff war aus Shattwaknochen gefertigt worden.
Miranda schlängelte auf mich zu. Sie sah ein wenig besorgt aus.
»Alles in Ordnung?«, meinte sie. Mein Körper fühlte sich komisch an. Irgendetwas bewegte sich unter mir. Ich richtete mich sofort auf, das Atmen fiel mir wieder leicht. Ich saß auf einem Frosch, wie ich sofort feststellte. Rasch rutschte ich ein Stück zur Seite, aber da war schon der nächste. Unbeholfen - und auch ein wenig angeekelt - rappelte ich mich hoch und trabte zurück zu meinem klappbaren Sitzmöbel.
»Alles gut«, meinte ich rasch und ließ mich erschöpft auf meinem Stuhl nieder.
»Keine Sorge. Ist mir anfangs auch passiert. Ist die Sonne. Passiert mir heute noch«, klärte Miranda mich auf.
Xilia war ein seltsamer Ort, das wurde mir endlich klar. Ein gefährlicher Ort. Es war an der Zeit, diesen Planeten zu verlassen. Ich griff nach dem Anhänger, der seit 954 Tagen um meinen Hals hing und mir das Sternenreisen ermöglichte. Er war mein wertvollster Schatz. Ich versuchte die Energie zu fühlen, die für gewöhnlich von ihm ausging. Aber ich spürte sie kaum. Das hieß: Es war noch nicht so weit.
»Was hast du
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Maren C. Jones
Images: www.fotolia.com #28227019 #53709273 #52774249
Publication Date: 07-25-2016
ISBN: 978-3-7396-6582-5
All Rights Reserved