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Prolog

Die feinen Flügel waren vom Staub und Blut verklebt. Der Schmerz jagt ihr durch die Glieder und die Wunden rissen immer weiter auf, desto mehr sie sich dagegen zu wehren versuchte. Zu viele Unschuldige waren gestorben. Zu viele Familien wurden auseinander gerissen. Der Tod war ein beständiger Teil geworden und die Schlacht war zwar gewonnen, doch der Krieg war es noch lange nicht.
Das Blut bahnte sich den Weg ihren Arm hinunter und tropfte tief rot auf den Boden, während der Dämon sie an der Kehle in die Luft vor sich hielt. Langsam entrann ihr auch das letzte Fünkchen an Sauerstoff. Das Leben wich aus ihren Gliedern. Doch dann schlug sie hart auf dem Boden auf. Das Haar zerzaust. Die Haut verklebt, rot und verschwitzt. Die Kleidung in einzelne Fetzen zerrissen. Und ehe sie es sich versah, wurde alles schwarz.

 

Es war schwer zu sagen, wann sie aufwachte. Das Licht drang durch die Scheiben der Fenster, doch konnte sie nicht ausmachen, ob es nun vom Mond kam oder von der Sonne.
Langsam richtete sie sich auf und ein stechender Schmerz zog sich sofort und quälend langsam durch jeden Winkel ihres zierlichen Körpers. Die kleinen, aus Seide wirkenden Flügel, waren nicht mehr Fähig, sie zu tragen. Zu sehr war sie geschwächt.
Die Schuld schlich sich langsam in jedes ihrer Glieder und schien sie von Innen heraus aufzufressen. Sie konnte sie nicht retten. Konnte nichts mehr tun und war selbst an ihre Grenzen gelangt.
Ein jeder Schritt, den sie auf das Fenster zu tat, stach, wie tausend Nägel, die sich in ihre Haut jagten. Sie legte die Hand an der Scheibe an und langsam lehnte sie die Stirn gegen die kühle Härte. Heißes Nass rann ihr über die Wangen und obwohl sie es nicht wollte, konnte sie es nicht verhindern, dass ihren Lippen ein Schluchzen entwich.
Eine starke Hand legte sich auf ihrer Schulter nieder und ließ sie hochschrecken. Das Gesicht wand sie dem unbekannten und doch vertraut wirkenden Mann nicht zu. „Ich weiß, dass es weh tut. Wir haben alle viele Unseresgleichen verloren.“, sprach die tiefe Stimme sanft zu ihr.
Die Tür wurde geöffnet und ein Luftzug ließ beide Personen aufmerken. „Gabriel. Illayda. Die Sitzung beginnt. Es fehlen nur noch ihr zwei.“, sprach eine sanfte, aber dennoch raue Stimme. „Wir kommen, Charles.“, antwortete Gabriel für die jung wirkende Frau.
Dieser Krieg musste aufhören. Der Frieden musste ins Land ziehen. Der Rat der Ältesten ward geboren.

Kapitel 1

 

Als vor Jahrhunderten der Rat der Ältesten geboren war, wurde der Krieg zwischen den Wesen für beendet erklärt. Zu viele Unschuldige hatten ihr Leben für etwas gelassen, was unter allen Geschöpfen Einheit gewähren sollte. Nur die Regierung und einige speziell ausgebildete Jäger wussten von den Elfen, Engeln und Dämonen, die auf Erden wandelten und mit unter den ahnungslosen Menschen lebten. So einer bin auch ich gewesen. Ein Mensch, der nichtsahnend sein Leben lebte, doch das änderte sich bald. Meine Jugendliebe war verflossen und mein bester Freund war nicht mehr er selbst. Er wurde immer blasser. Verschlossener. Gefährlicher.

Eines Abends, nach einem Besuch in unserer Stammkneipe, zog er mich mit sich in eine kleine Gasse. Er wollte mir etwas zeigen, gestand er. Doch im nächsten Moment war er wie ausgewechselt. Vor mir stand nicht mehr der Mann, dem ich einst mein Leben anvertraut hätte und im Nachhinein betrachtet, war das nie eine sonderlich gute Idee gewesen.
Michael, so hieß der Gute, presste mich mit Wucht gegen die Wand und ich hörte nur das Kacken meiner Wirbelsäule. Sein Mund war mittlerweile nah an meinem Ohr, so dass sein warmer Atem mich zum Erschaudern brachte. „Es wird gleich nicht mehr weh tun.“, säuselte er und klang dabei noch nicht einmal mehr wie zuvor. Seine Stimme war rauer. Anders. Tiefer. 
Ehe ich es mich versah, gruben sich Zähne in meine Schulter und das stechende Brennen des Gefühls des mir entweichenden Blutes war grausam. Michael saugte und saugte und saugte und als er glaubte, ich könnte dessen nicht mehr stand halten, ließ er mich in einer Pfütze meiner selbst übrig.
Ich wachte damals auf, da die Sonnenstrahlen mir auf der Haut bereits zu brennen begannen. Zu aller Enttäuschung war ich weder gutaussehend geworden, noch hatte ich das Glitzern begonnen. Es wartete auch keine tollpatschige, brünette Schönheit auf mich, um mich vor meinem Schicksal zu retten. Ich war auf mich allein gestellt. Meine Wenigkeit richtete sich auf. Mir war unwohl und mein Geruchssinn war auf einmal wie umgepolt. Mit wirren Blicken sah ich mich um und wurde von vorbeigehenden Passanten, die zu ihren verrottenden Wohnungen kommen wollten, schief angesehen. Und gerade, als ich versuchte, mir zum unendlichen Male das Leben zu nehmen, rettete mich eine ebenso blass wirkende Hand. James. Sein Name erklang wie Musik in meinen Ohren und ich konnte nicht anders, als mich ihm bereitwillig zu öffnen. Er rettete mein Leben in so vielerlei Hinsicht. Sein Wesen war anders. Er war zwar ebenfalls ein Geschöpf der Nacht, doch auch Dämonen waren nicht verschont von ihren Zweifeln geblieben. James wurde bereits als Dämon geboren, doch wollte er nie einer sein. Er wollte ein Kind. Genauso wie ich eines wollte. 
Jede Nacht verbrachten wir miteinander. Die Gespräche erfolgten Stunden, gefühlt auch Jahre. Die Zeit blieb jedes Mal aufs Neue stehen, wenn seine Mundwinkel sich in ein Lächeln verformten. Die Zeiger hielten und ich konnte jedes Mal nicht anders, als meine Finger an seine Wange zu legen. Er war mein Anker. Mein Halt. Derjenige, der mich dazu anhielt, weiter zu machen, so dunkel die Zeit auch zu sein schien.
Schon früh verlor mein Liebster seine Familie. Sie wurden von rachsüchtigen Jägern überfallen. Ein ganzes Dorf ausgelöscht, bis auf einer. Die Täter wurden darauf gehängt. Eine angemessene Strafe, wie ich fand. James wollte den Menschen helfen. Den Geschöpfen. So wie seine Eltern dem ganzen Dorf halfen, auch wenn ein jeder sein Leben für die Rache eines verwitweten Mannes lassen musste.
Wir kamen uns immer näher und kurz nach dem ich ihm das Ja-Wort gegeben hatte, erreichte uns eine sowohl schreckliche, als auch wundervolle Nachricht. Ein Kind. Meine verflossene Jugendliebe war schwanger gewesen, als sie mich verließ und verschwand, als hätte sie nie existiert. Sie verstarb und hinterließ eine Tochter. Alice. Sie war gerade einmal ein Jahr alt gewesen und James sah in ihr sofort mich. Und ich? Ich sah sofort ihre leibliche Mutter.
Jedes Mal, wenn ich ihr beim Schlafen zusah, fühlte sich mein Herz um Tonnen schwerer an. Die Schuld lastete auf mir und ein niemand konnte sie mir nehmen. Und trotz der Umstände liebten wir beide das Mädchen, unsere Prinzessin, als gäbe es kein Morgen mehr.
Hätten wir gewusst, dass es für einen von uns einmal keinen Morgen mehr geben wird, wären wir wohl anders mit unserer Zeit umgegangen. Wären präsenter gewesen. Hätten gelebt.
Unser damaliger Wohnort wurde angegriffen. Eine Schar Engel hatte sich mit den Dämonen zusammen geschlossen. Sie wollten die Menschen ausrotten. Die Spezies im Keim ersticken. So waren sie auf der Suche nach ausgerechnet meiner Tochter. Alice schlief damals schon. Ich musste noch einiges für die Arbeit vorbereiten und James? James ahnte es. Er sagte mir nur, er wolle nach dem Rechten sehen. Als er zurück kam, klebten seine Hände voll Blut. Er war verletzt und die Tränen in seinen Augen waren mehr als nur deutlich zu erkennen. Ein Stich zog sich durch mein Herz bei dem Anblick. Er erzählte mir, was passiert war. Verschwieg mir aber, dass einige von ihnen wohl noch immer nach Alice suchten. Der Abend war unendlich lang. So, wie damals, als ich ihm erzählte, dass mir der Sinn fehlte, ein ewiges Leben zu führen. Damals nahm er mein Gesicht in seine großen Hände, strich mir eine Haarsträhne hinter mein Ohr und lächelte. Noch immer trieben mir die Erinnerungen an den Abend die Tränen in die Augen. Er war liebevoll gewesen, obwohl er mich nicht kannte. Das Leben, mein lieber Milan, besteht nicht nur aus den Höhen, sondern auch tiefen Phasen und die sind die grausamsten. Es gibt keinen Sinn für ewiges Leben. Der Sinn unserer Existenz liegt darin, etwas zu bewirken,womit wir nicht in Vergessenheit geraten. Du wirst sehen, denn wenn wieder das Gute kommt, willst du nicht, dass es aufhört.Du wirst lieben und leben. Auch wenn dir jetzt der Wille fehlt. Seine Augen wirkten so unheimlich traurig, als er das sagte. Den Ausdruck durfte ich nur zwei Mal sehen. Während er mir das erzählte und, als er mir gestand, dass unsere Tochter wohl in Lebensgefahr steckte, weil sie menschlichen Blutes war.
Doch die Situation beruhigte sich. Es wirkte alles wieder so friedlich und eines Nachts, wachte ich auf. Wie aus einem Albtraum schreckte ich hoch und neben mir, war nichts. Sein Ring lag auf seiner Seite und die Spur von Blut zog sich über den Boden. Erst wollte ich nicht glauben, was passiert war und dann sah ich ihn. Da lag er. Mit weit aufgerissenen Augen. Es tat weh. Tat einfach nur weh. Alles hatte man mir genommen. Mein menschliches Dasein, meinen Willen zu leben und nun auch die Person, die mich aus dem dunkelsten Loch gezogen hatte und mich ertragen hatte. Bis heute noch schmerzte es. Doch nie wusste ich, was passiert war. Wer hatte die Liebe meines ewigen Lebens auf dem Gewissen?
Seit jeher trug ich den Ring an einer Kette um meinen Hals. Doch nie erlaubte ich es mir zu weinen, denn meine sich noch immer in Gefahr befindliche Tochter, sollte mich nicht weinen sehen. Ich musste stark sein. Wenn nicht für James. Dann für sie.

Ein Jahr verstrich und James kam nicht wieder. Es wurde mir immer klarer, dass es wohl auch nie wieder so sein würde. Alice fragte nicht nach ihm. Sie weinte nicht. Sie sehnte sich aber nach ihm und das sah ich in ihren Augen. Ein jedes Mal, wenn ich sie alleine abholte vom Kindergarten, war da dieser Blick. Diese Enttäuschung, die sich immer wieder aufs Neue breit machte. Und es tat mir weh. Es tat so unglaublich weh, mein nicht einmal 6 Jahre altes Kind so sehen zu müssen.
Ich selbst arbeitete im Kindergarten und wusste, dass es für alle Kinder schwer war, nicht bei ihren Eltern zu sein. Im Laufe meines Berufes habe ich mehr als einmal gesehen, wie Menschen und Wesen aus zerrissenen Familien in die Räume meiner Einrichtung ein- und ausgingen. Und jedes Mal war es schwer, die kleinen, schutzlosen Gestalten gehen zu lassen.
Tiefer einatmend verließ ich die Kindertagesstätte, nach dem nun auch das letzte meiner Kinder abgeholt worden war. Im Laufen versuchte ich die Reste von Kleber und Acrylfarbe von meinen Fingerspitzen zu kratzen, doch vergebens. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich wohl doch zu spät dran war, meine Tochter abzuholen, also konnte ich genauso gut noch einen Abstecher zum Einkaufen machen.
Langsamen Schrittes kam ich an einem Café vorbei und im Schaufenster saß er. Er gehörte zu den bekanntesten Jägern in der ganzen Stadt und er war auch der einzige, der wohl Informationen durchblicken ließ für ein jene, die ihren Liebsten verloren, genauso, wie ich einer war.
Erst war ich gewillt, vorbei zu gehen, doch die Neugier und die Trauer hielt mich auf und ließ mich letztendlich die gläserne Tür öffnen. Draußen war nicht viel los gewesen, da der aufkommende Regen bzw. wohl eher die dunklen Wolken die Meisten verschreckte. Regen war wohl wirklich zu passend für das, was ich nun erfahren würde.
Leise seufzend bahnte ich mir den Weg durch die Gänge und Leute und blieb vor dem Tisch stehen. Der Mann sah sehr konzentriert in seine Unterlagen, die er auf dem Laptop durchging. Das sah man immer öfter, da doch das Zeitalter der Technik ein jedem alles zu vereinfachen versuchte.
Er war bereits im Sitzen recht groß, was mich annehmen ließ, dass er mindestens 1,90m groß war und der Drei-Tage-Bart unterstrich die kantigen Wangen nur noch etwas mehr. Wenn ich nicht trauernd und verwitwet wäre, wäre er wohl einer dieser Männer gewesen. Sein Blick ging nun von der Tastatur hinauf zu mir und eine Augenbraue hob sich sacht hinauf. „Man sagt sich, Sie könnten Informationen darüber beschaffen, welcher Jäger jemanden auf dem Gewissen hat.“, kam ich gleich zur Sache und wunderte mich selbst, über meine noch ziemlich fest wirkende Stimme. Wobei ich mir sicher war, dass mein Gegenüber begriff, dass es mir nicht sonderlich gut ging, wie ich es wohl auszustrahlen versuchte. „Sie kommen ja gleich zur Sache. Mit wem habe ich denn das Vergnügen?“, lautete seine Antwort darauf, ehe er mit einer Hand still schweigend den Platz sich gegenüber anbot. Dankend nahm ich darauf Platz. „Milan Tyler.“, stellte ich mich vor und ließ bewusst meinen zweiten Namen weg, denn, wen interessierte dieser denn schon? Er nickte und begann wieder, seine recht schlanken Finger über die Tasten fliegen zu lassen, ehe er diese unter dem Kinn miteinander verschränkte und dieses darauf bettete. „Davies.“, stellte er sich vor und schien mich für den Moment zu mustern. Ich wünschte, James könnte neben mir sitzen und mir diesen sonst so aufmunternden Blick zu werfen. Doch das ging nicht. Es würde auch nie wieder gehen. Noch ein Seufzen entfuhr mir und ich nickte leicht auf seinen Namen hin. „Nun, Mr. Tyler, ich muss wissen, um wen es sich hierbei handelt, ehe ich Ihnen weitere Auskünfte geben kann.“ Seine Stimme war dunkel und doch irgendwo angenehm. Zu angenehm. „James Tyler. Geboren Harrison. Er wurde von einem Jäger hingerichtet, nehme ich mal an.“, gab ich ihm die Erklärung, doch das wollte er gar nicht wissen. Er hob lediglich die Hand, nach dem ich James' Namen nannte, was mich jedoch nicht hinderte, meinen Satz noch zu vollenden. Doch im Gegensatz zu dem, was ich glaubte, klappte er den Laptop zu und verstaute ihn wieder in seiner auf dem Boden liegenden Tasche. „Mr. Tyler, dieses Gespräch würde ich mit Ihnen gerne außerhalb dieses Etablissements führen.“, sprach er das ruhig aus und deutete mit dem Kopf auf die Tür. Wollte er sich in Sicherheit bringen? Auf die Straße flüchten? Fragen, auf die ich keinerlei Antwort zu wissen schien. Ich seufzte. „Nun gut, Mr. Davies. Nach Ihnen.“, antwortete ich darauf und versuchte, eine gewisse Verbitterung in meiner Stimme zu verstecken, denn doch auch wenn es ein Jahr her war, so brannte die Wunde noch immer fürchterlich.
Ich hielt dem scheinbar noch zusätzlich tätowierten Mann die Tür auf und ließ ihn aus der Tür austreten, ehe ich ihm folgte und mich kurz umsah. Wir gingen einige Schritte, ehe er sich mit ein wenig Entfernung zu mir umdrehte. „Mr. Tyler, Sie sind sich wirklich absolut sicher, dass Sie das wissen wollen? Ihnen muss klar sein, dass die Jäger jemanden nur dann exekutieren, wenn dieser auffällig und dementsprechend eingestuft worden ist?“, setzte er als Frage hinterher und wieder brannte sich sein Blick in mich ein. Als würde er mich verurteilen. Ich straffte die Schultern und nickte, um ihm zu signalisieren, dass ich die Informationen um ein jeglichen Preis haben musste. „Ja, Mr. Davies, fahren Sie fort.“, bat ich ihn ohne Umschweife und dann setzte er an. „Ihr Mann wurde von mir am zwölften Juli im Jahre 2016 umgebracht. Mein Beileid für Sie und Ihre Familie.“
Seine Worte drangen in mein Ohr und der Schmerz begann auf's Neue.

Kapitel 2

 

Erst dachte ich, ich hätte mich verhört, doch dem war nicht so. Hatte er das ernsthaft gesagt? Also hatte Eric Davies, der noch am humansten wirkende Jäger meinen Mann auf dem Gewissen und die Trauer wich und machte der Wut Platz. Einen flüchtigen Moment schloss ich die Augen und versuchte, mich zu sammeln und nicht ganz so verbittert zu klingen, wenn ich weiter sprach, doch dem war nicht so. „Was hat er gemacht, damit er das verdient, hm? Sie haben einem Kind ihren Vater genommen. Eine Familie auseinander gerissen.“, fauchte ich in seine Richtung und ich erkannte die Überraschung deutlich in seinen Augen. Menschen waren so einfach zu lesen. Ich verschränkte meine Arme locker vor der Brust, um das Gestikulieren einzuschränken und ihm nicht ganz an die Gurgel zu gehen. Es machte mich wahnsinnig, ihn so ruhig zu sehen, während er einen Familienvater auf dem Gewissen hatte. Leise knurrte ich, während ich ihm weiter musternd anblickte. „Mr. Tyler, ich verstehe Ihre Trauer, keine Frage, doch Ihr Mann muss etwas getan haben, andernfalls wäre er nicht so eingestuft worden und das wissen Sie.“ Gab er mir jetzt die Schuld?
„Er hat sie beschützt, vor anderen Dämonen, die alles menschliche in unserem Dorf haben zerstören wollen und da ist es sein Fehler gewesen?“, knurrte ich und konnte nicht mehr an mich halten und musste einen Schritt auf ihn zu tun. Zu sehr schockte mich ein jene Worte, die er mir zu sagen schien. Ich hob provokant die linke Braue und hielt ihn weiter im Auge. Er wich nicht zurück. „Mr. Davies, Sie scheinen keinerlei Ahnung davon zu haben, den liebsten zu verlieren, also schrauben Sie Ihre Anmaßungen bitte auch zurück.“, setzte ich noch etwas feindseliger zurück. Als ob James wirklich etwas gravierendes hätte tun können. Er hatte unsere Tochter doch nur beschützt. Mehr war es nicht. Beschützt hatte er sie!

Der Mann mir gegenüber sah mich nur ungerührt an. „Mäßigen Sie Ihre Worte, Mr. Tyler und handeln Sie weise, denn tun Sie es nicht, denke ich, dass Ihre Tochter wohl noch ohne den zweiten Vater aufwachsen muss.“ Der Mann drohte mir unverhohlen, obwohl er mir mit das Liebste in meinem ganzen Leben nahm. Wut war noch gar kein Ausdruck für das, was ich empfand. Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln und am liebsten hätte ich ihn angeschrien. Ihn gefragt, ob er stolz darauf sei, eine Familie auseinander gerissen zu haben. Einer Tochter den Vater genommen zu haben. Einen jungen Mann aus dem Leben gerissen zu haben. Doch ich konnte nicht. Denn würde ich jetzt meinen Mund aufmachen, dann würde es wohl grausam werden. Rache. Das beschrieb ganz gut, was ich mir in diesem Moment mehr als alles andere wünschte.

Eric Davies ließ mich stehen, mit der Drohung in der Luft hängend. Ich konnte ihm nur hinterher sehen. Zu mehr war ich nicht fähig. Gefühlte Ewigkeiten starrte ich in die Leere, bis jemand in mich hinein lief und zu fluchen begann. Ich murmelte eine Entschuldigung und sah auf die Uhr. „Fuck.“, hörte man meine Stimme nur ausrufen, doch diese klang nicht mehr wie ich. Sie war belegt und klang, als sei ich nicht mehr Herr meiner selbst. Für den Moment atmete ich tiefer ein und bemerkte noch nicht einmal, wie sich meine Beine in Bewegung setzten, meine Tochter abzuholen.

Alice war oft bei ihrer Großmutter, wenn ich sie nicht rechtzeitig holen konnte. Meine Mutter hatten einen sechsten Sinn dafür.

Gerade dort fand ich meine Tochter dann auch wieder. Sie kam nicht auf mich zu, wie manche Kinder wohl auf ihre Eltern zu rannten. Alice packte ihre Sachen ein, verabschiedete sich von ihrer Oma und ging trotzig dreinblickend an mir vorbei. Ich seufzte. Na toll, das hat mir gerade noch gefehlt. „Alice, stehen bleiben.“, forderte ich sie lediglich auf. Sie drehte sich zu mir um und wartete auf mich mit immer noch nicht sonderlich begeistertem Gesichtsausdruck. Innerlich verkniff ich mir jegliche Reaktion, die das Kind wohl falsch auffassen könnte.

Meine Hand nahm sie auch nur widerwillig, doch sie wusste ganz genau, wenn ich zu Fuß kam, dass es keinerlei Chance darauf bestand, dass sie alleine ging, auch wenn sie schon das fünfte lebensjahr erreicht hatte.

Schweigend gingen wir nebeneinander her durch die Straßen. Neben uns den Lärm anderer Passanten, die sich unterhielten oder die Autos, die teilnahmslos an uns vorbei fuhren. Man hätte fast glauben können, dass wir normal waren. Von außen sah es wohl so aus, als würden wir jetzt nach Hause zu Mummy gehen. Alice würde in wenigen Stunden bereits ins Bett gehen und ich würde noch das Leben mit meiner Frau genießen, doch ständig daran erinnert zu werden, das dem nicht so war, schmetterte mich um gefühlte Jahre in allem Zurück.

„Ich vermisse Dad.“, brachte meine Tochter dann hervor, als wir schon fast zu Hause waren. Schmerzlich hob ich die Mundwinkel. „Ich auch, Prinzessin. Glaub mir, ich auch.“, war alles, was ich darauf zu antworten wusste.

Zuhause aßen wir noch zusammen, ehe Alice dann selbst sagte, sie wolle ins Bett. Die Geschichte blieb heute aus, da es wohl weitaus zu spät für ein solches Unterfangen war, doch auch, weil wir beide in unserer Trauer nicht gestört werden wollten.

 

Nachts schlief ich nicht sonderlich viel und auch meine Tochter schien keinerlei Ruhe bekommen zu haben. Wir frühstückten schweigend, auch wenn einer von uns immer mal wieder versuchte, das Eis mit Witzen zu brechen, so gelang es keinem von uns, dem anderen auch nur Ansatzweise mehr als nur ein halbherziges Schmunzeln zu entlocken.

Der Tag verstrich und nicht einmal die Arbeit konnte mich von dem ablenken, was sich in meinem Leben zu zutragen schien. Abends traf sich das ganze Team zu einer Besprechung, wobei mich meine Chefin vorher schon abfing. „Milan? Du weißt, warum wir reden müssen, nicht wahr?“, fragte sie und setzte das typische, scheinheilige Lächeln auf, das sie ausmachte. Ein niemand mochte sie, doch ebenso konnte niemand auf den Job verzichten. Linda erntete von mir nicht mehr, als ein Nicken und ich folgte ihr, wenn auch widerwillig, in ihr Büro und ließ mich in den quietsch-grünen Sessel nieder, den sie wohl in einem Anflug an Geschmacksverirrung als Mobiliar gekauft hatte, und blickte sie unverwandt an. „Was glaubst du, weswegen ich das Gespräch mit dir suche?“, fing sie wieder an und ich hob nur die eine Braue und verkniff es mir, über meinen Bart zu streichen. Ich verkniff es mir, den Kommentar loszulassen, der mir auf der Zunge lag, sondern suchte eine ihr passendere Antwort. „Lass mich raten, du machst dir Sorgen um mich, da doch schon ein Jahr zu vergangen sein schien und ich dennoch dabei bin, zu trauern und das ganze sich negativ auf das Team und die Kinder ausübt?“, nahm ich ihr jegliche Spekulationen vorweg und zuckte die Achseln. „Linda, wenn du willst, das ich gehe, sag es und ich kündige.“ Ihr Blick sprach Bände. Mit einer solchen Antwort hatte sie wohl nicht gerechnet. Ihre Augen waren geweitet und die Brauen verwundert in die Höhe gezogen, doch um nicht allzu überrumpelt zu wirken, nickte sie hastig. „Ich sage es nur ungern, doch das wäre wohl das beste. Sowohl für das Klima hier, als auch für dich selbst.“, schaffte sie es, herauszuwürgen und ich hörte ihr schon gar nicht mehr zu, sondern nickte lediglich, verließ den Raum und kurz darauf auch den Kindergarten.

Eine halbe Stunde später holte ich meine Tochter aus der ihren Einrichtung ab und ging mit ihr nach Hause. Heute wirkte sie fröhlicher und ausgelassener, als den Tag zuvor. Vielleicht lag es auch nur daran, dass ich es geschafft hatte, sie abzuholen. Ihre Gruppenleitung sah mich immer so lüstern an, weswegen ich es vermied, meine Tochter zu bestimmten Zeiten zu mir zu holen.

Zu Hause angekommen, sprach ich mit ihr über einen Umzug und darüber, das wir wohl woanders bessere Chancen hatten, als hier. Sie verstand es nicht und war sauer, dass ich sie von ihren Freunden wegriss, doch wer konnte es ihr verdenken. „Papa ist doch noch hier! Warum sollten wir dann gehen?“, warf sie mir während der Diskussion an den Kopf und ich rieb mir lediglich über die Stirn. „Keine Widerworte. Wir werden gehen, Alice, es sei denn, du willst hier, bei deiner Grandma bleiben und mich nur am Wochenende sehen.“, stellte ich ihr die Frage und normalerweise würde sie das nicht wollen, doch wenn sie sich erst einmal in Rage geredet hatte, so konnte ein Niemand sie noch von ihrem Willen abbringen und sie würde alles sagen, um diesen auch zu bekommen. Also bejahte sie meine Aussage trotzig und ging ins Bett auf meine Aufforderung hin. Nicht gerne griff ich zu derartigen Erziehungsmethoden, doch blieb mir etwas anderes übrig? Wohl kaum.

Die Kündigung war noch am gleichen Abend getippt und an Linda per E-Mail und per Post versandt. Drei Monate würden mir noch übrig bleiben, um etwas neues zu finden und mit meiner Mutter das mit meiner Tochter zu klären.

Diese war nicht sonderlich begeistert davon, dass ich gehen und Alice da lassen wollte, doch sie entschied für mich, dass es wohl das beste sei, wenn sie bei ihr aufwüchse, statt bei ihrem Nichtsnutz von Vater. Es traf mich sehr, das so zu hören, doch ließ ich mir davon nichts angehen. Meinen Bruder hatte sie damals auch immer so behandelt, bis dieser endlich von ihr weg war und sein eigenes Ding gemacht hatte. Seit dem mein Neffe und meine Nichte auf der Welt waren, war der Krieg vorbei für ihn. Für mich fing er erst damit an, dass Alice unehelich geboren und ich obendrein wohl auch noch schwul war. Das schlimmste, was einer überreligiösen Christin wohl hätte passieren können. Doch wie es mir dabei ging, das war ihr egal. War es schon immer.

Ob ich den Schmerz verspürte, wenn ich an James dachte, war nicht von Beudeutung. Es trieb mir jedes Mal wieder aufs Neue die Tränen in die Augen, doch nicht heute, heute war ich lediglich sauer auf sie und ihre unüberlegten Worte. Innerlich hoffte ich, dass die drei Monate wohl schnell vergingen, doch gleichzeitig wollte ich jeden Moment mit meiner Tochter auskosten, die mir noch blieb.

Imprint

Text: Das Copyright obliegt allein dem Autor dieser Geschichte und jenen, die in dieser mitgewirkt haben.
Images: Das Copyright verwendeter Bilder obliegt dem jeweiligen Besitzer und nicht mir, dem Autor
Publication Date: 08-27-2017

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Dedication:
Ich widme diese Geschichte ein jenen, die Schöpfer dieser tragischen Geschichte geworden sind.

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