Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

Mit Alice gemeinsam leben, nicht next door

Wer komponiert dein Leben?

 

Erzählung

 

Il en est du véritable amour comme de l'apparition des esprits:
tout le monde en parle, mais peu de gens en ont vu.

La Rochefoucauld

„Als verletzlich, mit einer offenen Wunde habe ich dich gesehen. Deine Seele habe noch nicht wieder eine feste Schale. Hat sie jetzt aber, nicht war? Sie ist kein rohes Ei mehr. Deine Reaktion auf die Musik hat mich mutig werden lassen. Jetzt ist der Punkt, an dem ich einen Mann zum Kämpfen brauche.“ sagte Alice und warf mich dabei auf die Couch. „Tim, wir werden das alles schaffen. Wenn du mal ganz traurig bist, dann weinst du eben, bis der schwarze Mantel der Melancholia sich wieder von deinen Schultern hebt. Dass du etwas verloren hast, werden wir beide nicht ungeschehen machen, aber mit deiner Trauer werden wir leben können.“ Ja, so würde es sein, wie Alice es sagte, genau so. Das wusste ich nicht, aber ich spürte es und es gab mir ein wohliges Hochgefühl ebenso mit Lust zu Albernheiten und auch auf Ringkämpfe. „Alice, es ist so, wenn ich auch dem Pastor in der Kirche nicht glaube, aber an dich glaube ich fest.“ erklärte ich lachend. „Ich könnte dich verprügeln und gleichzeitig auffressen. Dabei mag ich doch gar keine Männer. Sie stinken, ihre Haut ist rau und überall sind sie voller Haare. Es ist schon eine Krux, ein bisschen schöner könnten sie doch wohl sein.“ offenbarte sich Alice. „Schön, was ist schön? Was dein Auge für schön hält, aber ästhetisch ansehnliche Männerbilder gibt es doch schon, wenn du zum Beispiel an den David von Michelangelo denkst.“ wand ich ein. „Das ist Michelangelos Liebe für den Knaben, die hat er gut rüber gebracht, aber schön, ich weiß nicht. Niemand käme auf die Idee, das prächtige Pfauenweibchen zu bewundern, und die Männer können nicht akzeptieren, dass die Evolution es bei den Menschen andersherum gewollt hat. Das ist ja auch nicht so schlimm, nur ein bisschen handlicher könnten sie doch wenigstens sein. Hast du denn auch Haare auf der Brust? Bestimmt, nicht wahr?“ wollte Alice wissen. Ich lachte schon die ganze Zeit und konnte vor Lachen gar nicht antworten. „Zeig mal.“ sagte sie und begann, mir Oberhemd und T-Shirt aus der Hose zu ziehen. Sie stoppte, dachte nach und musterte mich mit ihrem Blick. „Oder sollen wir ins Bett gehen? Möchtest du?“ fragte Alice fast andächtig mit leicht unsicherem Unterton. „Ja! Ja! Ja!“ hätte ich rufen müssen, aber gleichzeitig war ich erschrocken, völlig überrascht.

 

 

Together mit Alice leben, nicht next door - Inhalt

 

 

Together mit Alice leben, nicht next door 4

I suppose you've heard about Alice 4

Täuschungen 4

Spezialbegrüßung 4

Eigenes Revier 5

War es ein schönes Bild? 8

Übersinnliche Verzückung 10

Kirchenliebe 10

Er ist so voll Musik 12

Schwere Lebenskrise 13

Chorbesuch 14

Liebe mit Betrug gibt es nicht 14

Mein glückliches Leben 16

Entscheidungsqualen 17

Daran denken, dass ich dich liebe 18

Frierende Seele 18

Wir werden das alles schaffen 20

Die Kunst der Fuge 21

Männer sind schön, ja? 23

Cavalleria Rusticana mit Butterkremtorte 24

Das Leben als Kunst der Fuge 25

 

 

Gemeinsam mit Alice leben, nicht next door

„Aber das Wort, ich hatte es noch nie gehört. Der Klang ist doch göttlich, sanft, weich und schwabbelig.Ist das denn nicht ein absolut passendes Wort?“ fragte Alice. „In der Tat, Alice, deine Brüste fühlen sich exakt an wie Depeschen.“ wobei ich wegen des Lachens die Wörter nur stakkatomäßig, einzeln hervorbringen konnte. „Du wirst bestimmt noch mehr schöne Wörter wissen.“ vermutete ich. „Was sagst du zum Beispiel dazu?“ fragte ich, während meine Hand auf ihren Venushügel lag. Alice grinste schelmisch. „Die Antischamfuge ist das, mein Süßer.“ antwortete sie lächelnd.

Täuschungen


Als angenehm empfindest du das nicht, wenn dich jemand zu täuschen ver­sucht. Vielleicht solltest du es besser nicht so genau nehmen, denn der größte Täuscher bist du selbst. Deine Primärsensoren für das, was sich außerhalb von dir ereignet, sind deine Augen und deine Ohren. Sie sind deine Mikrofone, mit denen du Geräusche und Klänge um dich herum aufnimmst und die Kamera, mit der du die dich umgebende Bilderwelt ablichtest. Wie eine Kamera oder ein Mikrofon funktionieren sie allerdings nicht. Sie zeigen dir nicht die Wirklichkeit in Klängen und Bildern, sondern nicht selten etwas ganz anderes. Bei der Poli­zei, wo die Menschen bezeugen sollen, was sie wirklich erlebt haben, kennt man die kuriosesten Geschichten. Die Menschen haben nicht nur andere Haar­farben erkannt, sondern auch mehr oder andere Leute gesehen, als wirklich anwesend waren, es ereignete sich etwas anderes und die Beteiligten haben etwas anderes gesprochen, als es sich in Wirklichkeit zugetragen hat. Keines­falls beabsichtigen die Zeugen Täuschungen, sie sind von der Exaktheit ihrer Aussagen überzeugt. Auf objektive Ablichtungen der Realität durch deine Au­gen, solltest du nicht setzen. Dein Kopf verarbeitet die visuellen Informationen, bedient sich starker Filter und kann hervorragend retuschieren. Das Produkt wird deinem Bewusstsein übermittelt, du täuscht dich selbst, und siehst letzt­endlich nur das, was du sehen wolltest. Dabei bevorzugst du, das zu sehen, was dir schon gut bekannt ist.


Spezialbegrüßung


Ich hatte gestern Abend eine junge Frau in der Oper gesehen, jetzt sah ich sie im Entree des Instituts. Bestimmt war sie mir schon öfter begegnet, aber ohne Oper hätte ich geschworen, sie noch nie gesehen zu haben. Wir hatten in der Oper nicht miteinander gesprochen, nur einen kurzen Blick gewechselt, junge Leute gibt’s ja in der Oper nicht so viele. Ich wusste und kannte nichts von ihr, und heute Morgen erlebe ich sie plötzlich hier im Institut. Mit lachender Mimik und vorgerecktem, auf mich zeigenden Finger kommt sie mir entgegen. Mit ei­nem „Hah!“ als ob sie mich bei irgendetwas erwischt hätte, spricht sie mich an, „Was machst du in „Don Giovanni“?“ Eine alberne, blöde Antwort hätte ich ge­ben können, wie: „Ach, ich habe mich nur mal so umgehört.“, denn die Frage kam ja auch nicht wie ein Elaborat intellektueller Glanzleistung daher. Trotzdem war es mir zu dumm, und ich hatte Lust, zu spielen. „Ich könnte jetzt etwas sagen, was man gewöhnlich auf so eine Frage antwortet, könnte sagen, was sie alle sagen, wenn man sie fragt, warum sie in der Oper waren, aber das sagt ja nichts darüber, was ausgerechnet ich persönlich in der Oper gemacht habe. Ich weiß es gar nicht. Eine sehr gute Frage. Ich werde darüber nachdenken müssen.“ antwortete ich ihr, wobei mein Gesicht nicht ganz ernst bleiben konn­te, und sie mich leicht erstaunt skeptisch grinsend musterte. Für eine zwar ku­riose, aber abschließende Antwort hielt sie es wohl. Anscheinend war diese nie gesehene Kommilitonin jetzt immer und überall gegenwärtig. Zwei Tage später traf ich sie schon wieder, und wieder begrüßte sie mich mit einem „Hah!“. Of­fensichtlich war das ihre individuelle Spezialbegrüßungsfloskel, statt eines bie­deren, gesitteten „Hallo“ oder „Hey“ wie es in der Alltagsroutine üblich ist, die­ses „Hah!“, das jedenfalls eine gewisse Aufmerksamkeit erregte, nicht trocken bekundete: „Ich habe dich gesehen.“, sondern den Begrüßten zu Interpretati­onsversuchen animierte. „Immer noch „Deh, vieni alla finestra“ oder alles längst verschwunden und vergessen?“ fragte sie auf eine Arie aus Don Giovan­ni anspielend. „Nein, keineswegs, eine Oper bleibt immer ein herausragendes Erlebnis, ein Faszinosum, bei dem du nur wie bei einem Eisberg die kleine Spit­ze siehst, aber die ist auch nur weiß wie alles andere. Bei der Oper entspricht die Aufführung eher dem Glanz des Lichtes einer großen Kerze. Wie auch im­mer, sie ist das kunstvolle Produkt umfänglicher und langwieriger Arbeit. Aber was ich gemacht habe, war nicht zufriedenstellend. Ich habe mich umgeschaut und umgehört, wie man einen Opernbesuch eben so erlebt. Habe mir die Frau vorzustellen versucht, die so ein Kleid für elegant hält, habe überlegt, wie lan­ge der Oboist sein Instrument schon wohl spielt und ähnliche Kinkerlitzchen mehr. Als die Oper begann war ich nicht konzentriert, meine Augen und Ohren waren überall. Ich habe wiederzuerkennen versucht, was ich schon kannte. Die Emphase des Operngeschehens hat meine emotionale Basis nicht tiefgreifend erreicht. Ich habe sie oberflächlich wahrgenommen und mir den vollen Genuss dadurch versagt. Ich habe in Don Giovanni Fehler gemacht.“ antwortete ich. Die Frau schien verdutz, machte einen erstaunten Eindruck. Mit einem Lächeln das skeptische und unsichere Züge beinhaltete musterte sie mich.


Eigenes Revier


Kurze Pause, dann erklärte sie: „Ach, übrigens, ich heiße Alice. Wie heißt du?“ „Ja, nur Tim, sonst nichts. Nicht Tim, Tom, Toni, einfach nur Tim Frazer.“ erläu­terte ich und erhielt als Reaktion ein fragendes: „Mhm?“. „Ja, es gab mal einen Krimi, Tim Frazer, und seitdem fanden alle Tim als Vornamen für einen Jungen chic, auch die, die den Krimi gar nicht gesehen hatten, vorher kannte ihn kei­ner.“ erklärte ich. „Bei mir herrscht keine Einigkeit unter den Experten, ob „Ali­ce in wonderland“ oder eher „Living next door to Alice“ den Ausschlag für die Verwendung des Namens in Deutschland gegeben haben.“ erklärte Alice. Ich kannte das Lied nicht und bekam es vorgesungen. „Süß, nicht wahr? Meine Mutter überfiel auch immer die Wehmut, wenn sie es hörte oder selber sang. Sie singt gern und viel. Sag mal, hast du Zeit? Sollen wir nicht einen Kaffee trinken?“ fragte Alice. Hatte ich nur kurz, aber die Vorlesung, die ich eigentlich besuchen musste, war bestimmt keine Oper, auch wenn in ihr viel Vorbereitung steckte. Warum interessierte mich der Kaffee mit Alice mehr, war mir wichtiger als die Vorlesung? Rationale Anhaltspunkte dafür gab es nicht, und wenn, dann konnte ich sie nicht benennen. „Deine Mutter singt sehr viel, hast du gesagt, du selber auch?“ fragte ich an der Theke beim Kaffee holen. „Vielleicht.“ ant­wortete Alice, „Bei uns trällert immer jemand, aber meine Mutter ist ein Profi.“ „Ja, Singen ist immer sehr schön, aber allein zu Hause hört es ja niemand.“ mischte sich die mediterran wirkende Barista ein. „Bei der Arbeit, früher haben die Frauen immer bei der Arbeit gesungen.“ versuchte ich sie zu animieren. „Hier? Im Café?“ fragte die Barista ungläubig erstaunt und schüttete sich bei der Vorstellung aus vor Lachen. „Meine Mutter singt in einem tollen Chor. Früher war sie nur im Kirchenchor, aber das wurde ihr zu öde. Mit Singen sind wir, meine Schwester und ich geboren und aufgewachsen, aber noch mehr wird bei uns gelacht als gesungen. Nur die Zeit mit Mami und den beiden Gören ist vorbei. Meine Mutter hat mir mal erklärt, ich sei jetzt erwachsen und sie würde sich nicht mehr um mich kümmern. Eine Katze würde ihr Junges vertreiben, wenn sie der Ansicht sei, dass es sich selbst um ein eigenes Revier kümmern könne, auch wenn sie sich vorgestern noch mütterlich liebevoll um das kleine Kätzchen gekümmert habe. Ich brauche keine Angst zu haben, sie würde mich nicht vertreiben, aber sie würde mir nicht mehr sagen, was ich zu tun und zu lassen hätte. Ich sei jetzt ein selbständiger, erwachsener Mensch, allerdings derjenige Mensch, den sie am liebsten als ihre ganz, ganz enge Freundin haben würde. Da wurden mir die Augen feucht, und es kullerten die Tränen. Sich geborgen, wie bei Mami auf dem Schoß zu fühlen, das wollte ich doch nicht verlieren, aber ihre liebste erwachsene Freundin sein zu sollen, Was war das für ein Angebot und eine Anerkennung, es ergriff mich enorm. Schade und schön ist es, beides zugleich, wenn du erwachsen sein sollst. Kannst du auch vor Glück und Traurigkeit gleichzeitig weinen?“ wollte Alice von mir wissen. „Bestimmt, aber ich war immer nur eins von beiden, entweder glücklich oder traurig. Dabei gibt es doch sicher manches, was so schön traurig sein kann. Einige türkische Lieder sind auch ganz traurig, und die Menschen sind nach einem Abend mit Musik nur glücklich, wenn sie auch weinen konnten.“ bemerkte ich dazu. „Ich glaube die Deutschen wollen lieber nüchtern sein, zu viel Gefühl gilt als obsolet. Und Traurig sein sieht man sowieso eher als Schwäche an. Ganz schön dumm, nicht wahr?“ kommentierte Alice. „Allerdings, alles ist doch immer auch mit Gefühlen verbunden, du willst sie nur nicht wahrhaben, lässt sie nicht zu, erkennst sie oft gar nicht, lebst sie nicht aus. Ich mache das, glaube ich, auch nicht. Du erscheinst mir, viel gefühlsbetonter zu leben.“ war meine Ansicht. Alice lachte auf. „Meinst du? Wie kommst du darauf?“ wollte sie wissen. „Du wirkst auf mich impulsiver. In allem was du sagst, und vor allem wie du es sagst, vermittelst du Energie und Lebensfreude. Ja, bei dir spüre ich immer das Emotionale.“ erklärte ich. „Kann schon sein. Wir waren immer sehr glücklich und hatten viel Spaß zu Hause. Das gewohnte Leben hat natürlich Einfluss.“ meinte Alice dazu. „Lebst du denn jetzt auch noch zu Hause? Du hast doch bestimmt einen Freund?“ erkundigte ich mich. Alice war offensichtlich bemüht, möglichst neutral und nichtssagend auszuschauen, aber sie sprach nicht. „Weißt du,“ sagte sie nach geraumer Zeit, „das ist nur für die Libido, ein Leben wie zu Hause kann ein Freund nicht bieten.“ erklärte sie dann und lachte. „Nein, es war eben selbstverständlich, dass man einen Freund hatte. Mit dem machte man, was man eben mit einem Freund so macht. Ins Kino, in die Disco und schließlich auch ins Bett. Dadurch ist unsere Beziehung eigentlich erst entstanden. Diesen Verliebtheitsrausch hatte es bei uns nicht gegeben. Im Bett befriedigst du dich ja nicht nur gegenseitig sexuell, du bist dir auch sozial sehr nahe, offen und intim. Ein Verbundenheitsempfinden hat das unter uns gestiftet, wie es vorher nicht existierte. Also umgekehrt, nicht verliebt und dann ins Bett, sondern ins Bett und dadurch verliebt.“ berichtete Alice von ihrer Beziehung. Ich staunte nur, was sie wie erzählte, und hörte ihr fasziniert zu. „Und du, was macht deine Freundin?“ wollte Alice von mir wissen. „Oh!“ erschrak ich, „Das habe ich noch nie umfänglich, allgemein zusammenfassend betrachtet.“ Alice lachte, hielt die Antwort wohl für urkomisch. „Mein lieber Timmy, ich wollte doch keine detaillierte Analyse deiner Beziehung hören. Erzähl einfach etwas von deiner Freundin, ob sie schwarze oder blonde Haare hat und vielleicht ein bisschen mehr.“ Alice zu mir. „Meine Freundin studiert auch.“ sagte ich, aber Lust zu erzählen, verspürte ich überhaupt nicht, nicht einmal Lust, jetzt an sie zu denken. „Und wie heißt sie?“ fragte Alice. „Du lässt dir alles aus der Nase ziehen. Eure Beziehung ist nicht glücklich, oder?“ so Alice. „Doch schon, aber lass uns doch jetzt lieber von Alice und Tim reden, als von Marie, meiner Freundin, die gar nicht hier ist.“ meinte ich dazu. „Du musst ja nicht, wenn du nicht möchtest. Ich dachte nur, die meisten Jungs würden gern und stolz von ihrer Freundin erzählen.“ reagierte Alice und brachte mich dadurch zum Lachen. „Ich glaube, du bist klein, doof und frech.“ meinte ich und lachte immer noch. „Lucy, meine Schwester kann das hervorragend, das war ihr Part in unseren komischen Opern, die kleine ahnungslose Doofe spielen. Mir fehlt das sehr, ich vermisse es ungemein. Was meine Mutter wohl macht, wenn Lucy auch geht und mein Vater erst, für ihn schufen seine lustigen Weiber doch das Paradies. Das fehlt mir auch. Mit meinem Vater habe ich öfter abends ein Glas Wein getrunken. Eine Beziehung wie zu meiner Mutter, hatte ich zu ihm nicht, sie hatte einen völlig anderen Charakter. Zwischen zwei unterschiedlichen Elementen besteht immer, solange sie nicht verschmolzen sind, eine gewisse Distanz. Zwischen ihnen gibt es stets eine, wenn auch noch so geringe Fuge, und das ist zwischen Menschen auch nicht anders. Wie du diese Fuge überbrückst und womit du sie ausfüllst, das entscheidet über die Qualität und Enge der Beziehung. Abends beim Wein waren mein Vater und ich uns absolut nah. Er ist ein weiser Mann, liebte und suchte das Gespräch mit mir. „Hast du auch Lust auf einen Wein?“ fragte er nur, wusste, dass ich hatte und ihm in sein Zimmer folgen würde. So eng war die Fuge und so kunstvoll gefügt, dass diese beschaulichen Momente mir im Nachhinein erscheinen, als ob ich noch nie einem anderen Menschen so nahe gewesen wäre.“ erklärte Alice. „Du lebst noch sehr stark zu Hause, nicht wahr? Bist zwar erwachsen, aber hast du auch dein eigenes Revier schon gefunden? Ich habe mich auch zu Hause sehr wohl gefühlt, aber das Leben zu Hause ist nicht mehr ständig präsent, es ist meine Geschichte.“ meinte ich dazu. „Kann schon sein, aber wie findest du denn dein eigenes Revier? Ich möchte Freundinnen haben wie meine Schwester und meine Mutter und einen Freund wie meinen Vater. Sie sind mir nicht nur Freund und Freundin, sie haben das Prinzip in mir festgelegt, was Freunde und Freundinnen sind.“ erklärte Alice. „Dann bist du nicht nur erwachsen, sondern schon auch schon ziemlich alt. Wenn du weißt, wie alles zu sein hat, was brauchst du noch Neues zu lernen? Ein eigenes Revier ist ein ganz neues Terrain und nicht eine Kopie des alten. Das wird nichts, gibt es nicht und kann es nicht geben.“ lautete meine Ansicht. Wir waren die einzigen die noch in der Cafeteria saßen. Die Barista kam und sagte: „Kinder, ich muss jetzt nach Hause.“ Lustig, nicht weil die Cafeteria geschlossen wurde, sondern weil sie nach Hause musste, sollten wir doch auch gehen. „Und ab morgen wird gesungen.“ forderte ich streng. „Ja, ja,“ sagte sie, fing an zu singen: „Ô ô ô, la bella polenta cosi, Tchá tchá pum, Tchá tchá pum, Tchá tchá pum pum pum pum.“ und lachte sich schief.


War es ein schönes Bild?


Und wir? Ich hatte meinen ganzen Tag durchgeplant. 'Alice treffen' kam darin nicht vor, jetzt bestand aber alles nur noch daraus. „Was machen wir denn jetzt?“ fragte sie. „Musst du nicht nach Hause? Wartet dein Freund nicht auf dich?“ fragte ich. „Wir wohnen nicht zusammen.“ antwortete Alice. Mein Blick musste wohl so fragend sein, dass sie weiter erläuterte: „Wir mögen uns zwar gut leiden, aber sein Leben ist nicht mein Leben, und unser beider Leben erge­ben kein gemeinsames Leben. Das passte nicht, und das will ich nicht. Aber deine Freundin wartet doch sicher, oder lebt ihr auch nicht zusammen.“ „Schon, aber ich habe keine festen Zeiten, zu denen ich zu Hause zu sein hät­te. So viel Freiheit habe ich noch.“ beantwortete ich Alices Frage. Düfte können so betörend sein, dass du den Raum nicht verlassen möchtest. Fengshui ver­sucht die Räume zu harmonisieren, dass du es liebst, dich in ihnen aufzuhal­ten. Aber Alice? Ihre Düfte konnten es nicht sein, so nahe war ich ihr noch nicht gekommen und in der Raumgestaltung kam ihrem Corpus nur ein irrele­vanter Stellenwert zu. Trotzdem wollte ich unbedingt den Raum mit Alice tei­len. Die Operatoren in meinem Unbewussten hatten wohl einheitlich beschlos­sen, dass ich mich in Alices Gegenwart wohl zu fühlen habe. Nach Hause kam da nicht in Frage. Meine Bedürfnislage wollte mich bei Alice sehen, nur eine Er­klärung dafür blieb sie mir schuldig. „Sollen wir in die Steinburg gehen, da gibt es auch etwas zu essen?“ schlug Alice vor. Dass wir nicht nach Hause gingen, schien ihr selbstverständlich. „Den „Barbier von Sevilla“ geben sie als nächste Oper. Wirst du auch hingehen?“ fragte ich. „Na klar, meine Mutter, meine Schwester und ich haben doch ein Abo. Meine Mutter und meine Schwester waren auch in „Don Giovanni“ hast du sie nicht gesehen? „wollte Alice wissen. Ich schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, alles nur oberflächlich wahrgenommen. Nur du bist mir aufgefallen, und hast ein Bild von dir in meinem Gedächtnis hinterlassen.“ erklärte ich und lächelte. Alice lächelte auch und fragte: „Ja? War es ein schönes Bild? Habe ich dir gefallen? Muss man als Frau ja schließ­lich wissen, wenn man einem Mann gefällt.“ ihre Mimik ließ auch erkennen, dass es ihr Spaß machte und nicht sehr ernst gemeint war. „Alice, das ist doch alles Quatsch, das weiß ich doch nicht. Mir ist nur morgens im Institut genau wie dir aufgefallen, dass wir uns am Abend vorher in der Oper gesehen hat­ten.“ erklärte ich. „Das stimmt nicht. Das gibt es nicht. Wenn du jemanden an­schaust, bewertest du immer, entweder Daumen rauf oder Daumen runter. Ein unbedingter Dualismus, neutral kannst du niemanden sehen. Also wie hast du mich erkannt, sag es.“ forderte Alice. „Wenn der Daumen runter gewesen wäre, hätte ich am anderen Morgen im Institut geantwortet: „Da müssen sie sich täuschen, Madame. Ich war den ganzen Abend zu Hause und habe Socken gestopft.“ erklärte ich. „Und ich hätte geantwortet: „Warum haben sie das nicht vorher gesagt? Da hätte ich ihnen viel lieber geholfen, als mich von die­sen italienischen Stimmband Traktieren quälen zu lassen.““ Alice darauf. „Und was hättest du geantwortet, wenn ich gesagt hätte: „Madame, warum haben sie mich nicht eingeladen? Welch größeren Genuss könnte es für mich geben als den Wohlklang dieser Oper gemeinsam mit ihnen zu genießen?““ wollte ich wissen. „Du Idiot.“ reagierte Alice knapp. „Es quält dich, mir zu sagen, wie du mich empfunden hast, nicht wahr?“ meinte Alice grinsend. „Nein, zur Oper habe ich wirklich keine Meinung, ist mir nichts bewusst, aber muss wohl positiv gewesen sein, sonst hätte ich mich ja nicht darüber gefreut, dass du mich angesprochen hast. Aber jetzt ...“ ich brauchte eine Pause, um nachzudenken, wie ich es formulieren sollte und meinte: „Jetzt ist es schon ganz eindeutig positiv. Sehr sympathisch, sagen die Leute, eine nichtssagende Phrase, wenn sie nicht wissen, was sie sagen sollen. Ich wüsste schon etwas zu sagen, aber das möchte ich nicht.“ Alice musterte mich. „Traust dich nicht? Denkst, dass du gerne mit mir ficken möchtest.“ Alice dazu. Mit einem lang gezogenen „Nein“ lachte ich auf, „Vielleicht keine schlechte Idee, nur bin ich darauf überhaupt noch nicht gekommen.“ reagierte ich. „Solltest du aber. Alle Jungs tun das als erstes. Jetzt sag schon, wie dein Bild von mir aussieht.“ forderte Alice mich auf. „Ich empfinde es, als ob ich etwas ganz Neues sähe, was ich noch nie gesehen habe. Aber das gibt es ja nicht. Ein Traum, aber der kommt ja auch aus dir selbst. Etwas, das nicht schon in dir ist, kannst du auch nicht träumen. Nur woher mein Bild von dir bei mir kommen soll, dazu habe ich keine Idee. Vielleicht eine Collage aus Elementen meines tiefsten Unbewussten, und nichts sagte mir bislang, dass ich so etwas zu sehen wünschte.“ erläuterte ich. Alice schwieg. Ihre Mimik lächelte mit einem leicht skeptischen Grinsen, während ihr Blick mich musterte. „Du magst mich, nicht wahr?“ fragte sie schließlich. Ich sagte nichts, mein Blick erklärte Zustimmung. Alice schwieg wieder, schaute in die Gegend und schien nachzudenken. „Ich muss dich ja auch wohl mögen. Warum hätte ich dich sonst angesprochen, mich jetzt so lange mit dir unterhalten und dir alles Mögliche von mir erzählt. Faszinierend ist es schon, wenn du es von außen siehst. Für uns hat es sich wie selbstverständlich ergeben. Wir kennen uns gar nicht und kleben den ganzen Nachmittag zusammen. Sprechen im Grunde auch über sehr Persönliches. Nur mit sehr guten Freunden würde man das tun, zwischen uns ist es selbstverständlich. Normal ist das alles doch nicht, oder?“ lautete Alices Ansicht. Seitdem ich Alice am frühen Nachmittag getroffen hatte, verhielt ich mich bei nichts mehr so, wie ich es für normal gehalten hätte. Augen und Ohren waren auf Alice fokussiert, daneben existierte so gut wie nichts mehr. Mir wurde bewusst, dass ich im Allgemeinen wohl ein sehr biederer, braver Mensch war, der immer tat, was rational geboten schien. Alice zeigte mir, dass ich auch anders konnte. „Was machen wir damit, wenn wir uns so gut verstehen?“ wollte ich wissen. „Was fragst du mich? Wir werden uns ja häufiger treffen, miteinander reden, gemeinsam einen Kaffee trinken und dabei wird sich jedes mal ein kleines Fitzelchen verändern. Wie und in welche Richtung das kannst du vorher doch nicht wissen. Vielleicht kommt es dazu, dass wir uns im nächsten Semester schon öde finden, oder du die große Illusion erkennst, die in deinem Bild von mir steckte, das wissen wir doch alles nicht. Wenn zwei Menschen miteinander zu tun haben, ist es immer ein Prozess, den du begleiten, aber nicht vorher festlegen kannst.“ Alice zur Perspektive. Ich hätte am liebsten gesagt: „Ich möchte dich aber ab sofort jeden Tag sehen und alle Nachmittage mit dir verbringen.“ Ich war verrückt, richtig berauscht und konnte gar nicht erklären warum. Natürlich, alles an Alice gefiel mir, aber es war etwas anderes. Als ob Alice für mich den Wunschtraum dessen verkörperte, was ich für Leben hielt. Alice schien mir anders als alles, was ich bisher kannte. Mit ihr ein neues Revier begründen, so sollte die Welt für mich aussehen.


Übersinnliche Verzückung


Heute Abend konnte ich meinem Rausch noch weiter nachhängen und von Ali­ce träumen. Marie nahm ich kaum war. Aber ab Morgen ging für mich das Le­ben weiter. Da würde wieder normaler Studienalltag herrschen. Früher hatten die Menschen Visionen, sahen die Madonna, unseren Herrn Jesus persönlich oder andere Heilige, die sich bei Erscheinungen so zeigen, und ließen sie etwas zu sich sagen, heute gehören ekstatische Verzückungen zum normalen Beiwerk eines üblichen Liebesrausches. Mit den Heiligen war es in der Regel einfacher und ungefährlicher, während heute die Zeit der Ernüchterung nicht selten schmerzliche Überraschungen und Enttäuschungen mit sich bringen kann. Bei meinem ersten Opernbesuch musste ich auch eine Art ekstatische Verzückung erlebt haben. Als die Sopranistin ihre Arie beendet hatte, wurde ich aus einem Traum in einem anderen Land wach. Das hatte ich auch noch nie erlebt, diese Stimme mit dieser Musik und die Sopranistin im Scheinwerferkegel auf einer relativ abgedunkelten Bühne. So habe ich es gar nicht erkannt, es hat mich einfach nur in einen Rausch versetzt. Ekstasen waren also nicht nur mit Heili­gen und den Geliebten möglich, auch andere Menschen konnten einen in den Zustand übersinnlicher Verzückung versetzen. So ähnlich würde es bei mir mit Alice auch gewesen sein, aber was hatte ich denn bei ihr gesehen? Licht, Son­ne, Wärme, glückliches Lachen, freudiges Leben, Lust zu scherzen waren keine mir unbekannten Assoziationen, wenn sie auch nur höchst selten gemeinsam im Zusammenhang mit einer Person angesprochen wurden, aber Alice, die Frau, der Mensch, fehlte dabei. Was sie ansprach, dafür habe ich gar keine Worte, die es beschreiben könnten. Es war nur dieses umfassende Gefühl einer beglückenden Empfindung, die in den unbewussten emotionalen Tiefen meiner Psyche ihren Ursprung haben musste. Ein wundervolles Bild, das ich bisher noch nicht gesehen hatte. Es fehlte in meiner Ausstellung, jetzt würde es ein Prachtstück meiner Sammlung sein. Ein tolles Erlebnis gestern. Böses Erwa­chen brauchte ich nicht zu befürchten. Wer Alice wirklich war, würde sich bei unseren künftigen Treffen, Gesprächen und Kaffeemeetings gewiss deutlicher erkennen lassen.


Kirchenliebe


Das „Hah“ als Begrüßung war verschwunden. Statt dessen bekam ich jetzt in gleicher Tonlage, Melodie und Lautstärke ein „Tim“ zu hören, wenn sie mich traf. Darauf folgten immer ein oder zwei Sätze, in denen sie ihre Freude dar­über zum Ausdruck brachte, mich zu sehen. Sie sagte immer etwas anderes, wiederholte sich nie. Eine wundervolle Begrüßung. Ich konnte es nur genießen und einfallslos erklären, dass mich unser Treffen ebenso erfreue. Meistens be­gegneten wir uns nur sehr kurz auf dem Wege zu einer Veranstaltung. Etwas gemeinsam belegen, machte keinen Sinn, da Alice im ersten und ich schon im fünften Semester war. Und etwas L’art pour l’art gemeinsam zu besuchen, da gingen wir lieber einen Kaffee trinken, denn dazu kam es wegen der unter­schiedlichen Zeiten kaum noch, so dass wir donnerstags sechzehn Uhr als re­gelmäßigen wöchentlichen Termin in der Cafeteria festlegten. Die Barista sang immer noch nicht, aber sie bestätigte, dass ihre Mutter erzählt habe, wie hart die Frauen früher auf den Reisfeldern gearbeitet hätten und die Freude des ge­meinsamen Singens ihnen die Arbeit erleichtert habe. Heute gebe es keine Reisfelder mehr, und die Frauen könnten nur noch in der Oper singen, erklärte sie lachend. „In der Kirche, da können sie doch auch singen.“ ergänzte ich. „Ja, stimmt.“ meinte die Barista, „Aber da geht ja heute keiner mehr hin.“ Ich er­klärte Alice, dass ich als Kind gern in die Kirche gegangen sei. „Wegen der Musik. Da mochte ich alles, die gregorianischen Gesänge des Priesters, auch die anderen Gesänge in all ihrer Unterschiedlichkeit, vom bösen „Dies irae dies illa“ bis zu den brausenden Grölgesängen, wie „Fest soll mein Taufbund immer stehen“. Vor allem aber hat mir die Orgel imponiert. Das ist bis heute so ge­blieben. Was in der Kirche erzählt und gebetet wurde, habe ich fast gar nicht wahrgenommen, auch wenn es oft quälend lange dauerte. Meine Ohren hatten dann die Jalousien runter gelassen. Meine Mutter hat mir deutlich gemacht, dass es sich bei Grimms Märchen nicht nur um lustige Geschichten handele, sondern dass darin auch immer erklärt werde, wie es auf der Welt zuginge oder zugehen solle. Man lerne zum Beispiel beim Hasen und Igel, dass lange Beine und eine große Klappe eben doch nicht entscheidend seien, sondern dass es auf das Köpfchen ankomme. Wenn ich alles genau über die Welt wissen wol­le, müsse ich die Bibel lesen. Darin sei alles von Anfang an erklärt. Dass Gott an einem Tag die Vögel und am anderen die Fische erschaffen hatte, war nichts Besonderes. So ging es in Wundern eben zu. Dass Adam und Eva sich schäm­ten, weil sie ungehorsam gewesen waren und einen Apfel stibitzt hatten, war auch verständlich, ebenso dass sie sich deshalb verstecken wollten. Kleine Kin­der halten sich zum Verstecken die Hände vor die Augen und meinen andere könnten sie dann auch nicht sehen, aber sich große Blätter vor Penis oder Scheide zu halten, darauf ist außer Adam und Eva noch nie jemand gekom­men. Nur die Menschen machen es bis heute immer noch genauso. Wenn sie ohne Rock und Hosen Einkaufen, zur Arbeit oder zur Schule gehen sollten, schämen sie sich, obwohl sie sich da unten nicht mehr unterscheiden als bei ihren Gesichtern und Händen auch. Nicht wegen der Wunder, sondern wegen der Rätsel und Widersprüchlichkeiten habe ich den Brüdern nicht getraut. Dei­nen Eltern und Omi und Opi kannst du gut glauben, aber dem Pastor lieber nicht. Nur die Musik war mir so wichtig, dass ich unbedingt hin musste.“ er­zählte ich von meiner Kirchenliebe. „Dann erlebst du sicher heute noch jede Oper ähnlich wie ein Hochamt in der Kirche. Die Rezitative entsprechen den Predigten und Gebeten.“ verglich es Alice. „Alle Komponisten haben doch auch Missae geschrieben. Viele werden fast nur noch ohne Gottesdienst als Solo­kunstwerke aufgeführt. Stell dir mal vor in Beethovens „Missa solemnis“ fing plötzlich jemand an zu predigen.“ meinte ich dazu. „Ja, toll, nicht wahr. Meine Mutter möchte gern, dass ihr Chor mal Bachs H moll Messe singt. Das sei zu schwer, sagt die Chorleiterin, aber Mutter wird sich schon durchsetzen. Gehst du denn auch öfter in Konzerte?“ wollte Alice wissen. „Ja, natürlich, ich nehme alles mit, was an klassischer Musik geboten wird. Als ganz kleines Kind muss ich wohl schon mit einem Süchtigkeitsvirus nach unseren klanglichen Harmonien infiziert worden sein. Wahrscheinlich hat meine Mutter während der Schwangerschaft immer schon fleißig Brahms Lullaby geübt. Nein, aber im Musikunterricht hat mich auch alles maßlos fasziniert. Ein Komponist wäre ich gerne geworden, aber dazu gab es gar keine Ansätze. Ein Instrument zu spielen, ist etwas ganz anderes. Das okkupiert dich und gibt deinem Leben eine andere Richtung. Es ist nicht nur ein Surplus zum Allgemeinen, wenn du hinterher der Pianomann bist.“ erklärte ich zu meiner Musikliebe.


Er ist so voll Musik


„Das ist Tim, er ist ein Kommilitone und gleichzeitig Opernfetischist.“ stellte Alice mich ihrer Mutter und der Schwester Lucy in der Oper „Der Barbier von Sevilla“ vor. Die beiden und und ich schmunzelten. „Haben sie denn auch schon anderes von Rossini gesehen?“ fragte Alices Mutter. „Ja, natürlich,“ antwortete ich, „La Cenerentola“ in Barcelona. Ihr „Non più mesta“ hätte mich beinahe zum Teresa Berganza Fetischisten werden lassen.“ erklärte ich lächelnd, „Die einzige von den ganz Großen, die ich bislang erlebt habe. In Berlin auf der Waldbühne könnte man ja immer alle möglichen Stars sehen, aber dafür bin ich zu faul.“ „Worin liegt denn ihr Fetischismus primär begründet? Ist es der Gesang, die Musik oder sind es die Frauen in ihren prächtigen Roben, die sie am Abend in der Oper erleben?“ erkundigte sich Frau Lehnsdorf, Alices Mutter lachend. „Weiß man das bei einem Fetisch so genau? Die Opernkleider sind na­türlich faszinierend, aber ich war immer der Ansicht, dass mich der Gesang ne­ben der Musik doch mehr begeistern würde.“ antwortete ich. „Hast du meine Mutter eigentlich schon mal singen gehört? Warst du mal in einer Aufführung von ihrem Chor?“ wollte Alice wissen. Ein wenig verlegen antwortete ich, dass ich ihren Chor zwar kenne, aber bislang nur Opernchöre gehört hätte, ob der Chor von Frau Lehnsdorf denn auch in Opern auftrete. „Wir sind zwar alles Lai­en, aber das könnten wir bestimmt. Nur wir machen mehr Modernes. Unsere Chorleiterin ist da sehr findig und innovativ, und es macht uns absolut Spaß.“ erklärte Frau Lehnsdorf. „Mami, du sagst mir eueren nächsten Auftrittstermin und ich werde Tim mitschleppen.“ kommentierte Alice. „Sollen wir nicht versu­chen, dass sie bei uns sitzen können? Ich werde mal mit der Nachbarin spre­chen.“ schlug Frau Lehnsdorf vor. Das tat sie, verschwand zur Kasse, sprach wieder mit der Frau auf dem Nachbarplatz, und die wechselte nicht auf mei­nen, sondern auf einen teureren Platz. „Soll Tim denn allein ganz außen sitzen?“ fragte Alice und schlug vor, „Komm, Lucy, wir nehmen ihn zwischen uns.“ „Kann er sich denn auch benehmen?“ wollte die wissen, „Oder wird er anfangen, mir gleich am Bein hoch zu krabbeln?“ Alice blieb ganz ernst, saugte die Luft hörbar durch die Nase und meinte mit Ungewissheit ausdrückender Mi­mik: „Vorhersagen kann man das nicht, aber rechnen wirst du damit schon müssen. Er ist so voll Musik, weißt du, und die geht ihm bis in die Fingerspit­zen.“ lautete Alices Einschätzung. „Ich werd' im schon auf die Finger klopfen, wenn er das macht.“ reagierte Lucy. „Ich weiß nicht, ob man das tun sollte, auf so musikdurchtränkte Finger einfach draufhauen?“ gab Alice kritisch zu beden­ken und Frau Lehnsdorf tippte nur abfällig lächeln mit einem Finger an die Schläfe. Sonderbar, ich kannte die beiden doch überhaupt nicht, hatte sie noch nie gesehen. Dadurch dass Alice mich kannte, war ich wohl direkt Familienmit­glied geworden. Lucy und ich blickten uns öfter lächelnd an, nicht mit einem freundlich distanzierten Lächeln unter Fremden, sondern eher wie Freunde, die sich gut verstehen. In der Pause unterhielt ich mich mit ihr. Ihr Herz wolle Ge­sang studieren oder Dirigentin werden, Schauspielerin gefiele ihr auch noch, aber weil alles schon zu spät sei und die Perspektiven horrible wären, würde sie wohl Chemie studieren. „Aber später für Bayer neue Gifte kreieren, das will ich auch nicht.“ meinte Lucy. Alice und ihre Mutter hatten sich von der Bar mit einem Glas in der Hand an den Rand verzogen und gestikulierten beide heftig mit ihren freien Händen. Wenn sie vielleicht auch keinen Streit hatten, aber dass sie unterschiedliche Meinungen austauschen mussten, war auf Grund ih­rer Gestik und Körpersprache nicht zu leugnen. „Hast du dich mit deiner Mutter gestritten?“ fragte ich Alice anschließend. Deutlich hörbar blies sie ihre Atem­luft genervt durch die vorgewölbten Lippen. „Die spinnt.“ sagte Alice nur. Mei­nen fragenden Blick beantwortete sie so: „Die will mir beweisen, dass du nicht nur ein Kommilitone, sondern mein Freund bist. Lässt gar nicht mit sich dar­über reden, hört mir gar nicht zu, setzt einfach fest, dass es so ist.“ „Und wo­mit beweist man so etwas?“ wollte ich Genaueres erfahren. „Mit allem. Ronny gegenüber würde ich mich mit gewisser Distanz wie seine Freundin verhalten, aber mit dir ginge ich um, als ob du meinen Bruder seist, sagt sie. Ronny ge­genüber sei ich charmant und nett aber auf dich habe ich einen ...“ erklärte Alice und stockte. „Was hast du auf mich?“ wollte ich wissen. „einen Biss.“ sag­te Alice lachend und ein wenig verschämt. Ja, das war es. So ähnlich hatte ich Alice auch fast vom ersten Moment an erfahren, vertraut, als ob sie meine Schwester sei. Offensichtlich brauchst du dazu nicht die jahrelange Erfahrung des gemeinsamen Aufwachsens, sondern es kann auch ein spontanes Empfin­den geben, das dir diese Gefühlslage der selbstverständlichen Vertrautheit ver­mittelt. Als ob du direkt spürtest, dass die andere und du zu einer imaginierten gemeinsamen Familie gehören würdet. „Lucy mag dich übrigens auch gut lei­den.“ erklärte Alice, „Das wäre doch was, ihr beiden. Sie hat zur Zeit keinen Freund. Aber mit ihr ist es gefährlich, sie verscheucht ihre Liebhaber schon nach kurzer Zeit. Alle nicht gut genug. Gesang kann sie nicht studieren, aber die Allüren einer Diva praktiziert sie schon fleißig.“


Schwere Lebenskrise


Die Begrüßung durch 'Tim' hatte im Laufe der Zeit an Lautstärke eingebüßt, war moderater geworden, und vor den Worten der Freude erfolgte jetzt eine Umarmung. „Tim, du musst mir helfen. Ich befinde mich heute in einer schwe­ren Lebenskrise.“ verkündete Alice eines Tages, als ich mich zum Kaffee setzte. „Nein, Entschuldigung, damit scherzt man nicht. Mir ist auch gar nicht zum La­chen zu Mute. Ich habe es getan, Tim. Ich habe Ronny gesagt, dass wir uns trennen müssten.“ erklärte Alice. Was war denn jetzt geschehen? Noch nie hat­te Alice davon gesprochen, dass sie so etwas beabsichtige. Meinetwegen? Nein, direkt sicher nicht, aber indirekt hatte es bestimmt damit zu tun. Sie habe sich Gedanken über ihre Perspektive gemacht. Dass Ronny sie nicht als Partner in ihrem Leben begleiten könne, sei ihr immer klar gewesen. Er sei ein netter, lieber Mensch, den sie möge und schätze, aber mit Ronny gemeinsam, das könne nicht ihr Leben werden. Es einfach immer so aus Gewohnheit und weil es im Moment keine Alternative gebe weiter schleppen, das habe sie nicht gewollt. Sie hätte es auch vor einem halben Jahr oder in einem halben Jahr beenden können, warum dann nicht jetzt. Mir stand der Mund offen. Wie konnte man so etwas tun, sich mal rational Gedanken über die Perspektive machen und beschließen, sich direkt von seinem Freund, einem geliebten Menschen, seinem Liebsten zu trennen. „Du bist brutal.“ erklärte ich nur. „Vielleicht kann ich das bei anderen Menschen sein, aber Ronny gegenüber keinesfalls. Als er weinte, kamen mir auch die Tränen. Wenn du erahnen könntest, wie sehr ich mir für ihn wünsche, dass er glücklich werden möge. Ich liebe ihn schon. Er ist ein so guter Mensch, wie man es bei Männern sonst gar nicht vermutet, aber wir beide zusammen, das hat auf Dauer keinen Zweck. Wir leben in anderen Welten. Ich habe ihn ja auch nicht als Partner fürs Leben kennen gelernt, ich fand ihn damals einfach nur ganz nett, und als Schülerin reicht das für einen Freund.“ erläuterte Alice. Mich machte es trotzdem betreten, auch wenn ich Alice nicht mehr als brutal sah. Die Trennung von sich liebenden Menschen will einfach keine freudigen Emotionen zulassen. Mir wurde deutlich, wie nahe ich Alice war und mit ihr zu empfinden trachtete. „Wen wirst du jetzt heiraten, deinen Vater?“ fragte ich provozierend. „Blödmann.“ reagierte Alice, „Aber mit einem Partner musst du doch mehr Gemeinsamkeiten auf gleicher Ebene verspüren. Für Ronny war ich die Überlegene, er hat zu mir aufgeschaut. Das kann dir manchmal schmeicheln, aber auf Dauer ist das keine Basis.“ meinte Alice. „Du suchst einen Mann, zu dem du aufschauen kannst, nicht wahr?“ spottete ich. „Du bist heute so kratzbürstig, versuchst, mich immer zu ärgern, was ist los mit dir?“ reagierte Alice. „Ich weiß es nicht, Alice, es ist nichts, was ich benennen könnte. Es scheint nur ein wenig bewölkter zu sein.“ antwortete ich ihr.


Chorbesuch


Der Chorbesuch bei Alices Mutter glich einem Fest. Alice war auch noch nie nach der Aufführung im Backstagebereich gewesen. In einem großen Gardero­benraum legte man Mäntel und Jacken ab und konnte sich vor Spiegeln ein we­nig zurecht machen. Frau Lehnsdorf stellte uns allen Freundinnen vor. Fast alle brachten auf irgendeine Art zum Ausdruck, dass sie Interesse an Musik und Gesang für eine wesentliche Bedingung eines guten Psychologen hielten. Wer Musik nicht verstehe und liebe, könne auch den Menschen nicht verstehen. Teilweise vermutete man auch, wir seien beide Kinder von Frau Lehnsdorf oder eben ein Pärchen, gab uns Tipps für die nächste Aufführung und lobte Frau Lehnsdorfs gesangliche Qualitäten. Alices Mutter brachte uns nach Hause. Zum Abschied bekam ich von ihr einen Kuss auf die Wange.


Liebe mit Betrug gibt es nicht


Ich mochte Alice schon sehr, und das Bild von ihr blieb bei unseren Treffen nicht in meiner Ausstellung, tauchte immer auf und ließ sich nicht zurückhal­ten. Für die Beziehung unter uns war jedoch klar, dass es uns glücklich sein ließ, gegenseitig so gute, verstehende Freunde zu sein, aber eine darüber hin­ausgehende Liebesbeziehung kam in unseren Gedanken nicht vor. Durch Alices Trennung machte sich jedoch ein gewisser Verwirrtheitszustand breit. Wir spra­chen nicht direkt darüber, aber unsere Treffen wurden immer vertrauter und vertraulicher. Nicht mehr wie Bruder und Schwester kam es mir vor, sondern es hatte eher die Selbstverständlichkeit im Umgang eines altvertrauten Paares an sich. Das 'Tim' war aus der Begrüßung ganz verschwunden. Wie gemeinsam Wissende eines Spionageduos lächelten wir uns an. Nicht französisch, mit hu­schenden Küsschen begrüßten wir uns, wir legten für kurze Zeit unsere Wan­gen aneinander. Natürlich dauerte es nicht lange, bis ich Alice auch zum Kaffee zu Hause besuchte. Wir saßen nebeneinander auf ihrer Couch, und in einem besinnlichen Moment kam ich mit meinen Lippen auf Alices Gesicht zu. Sie kam mir nicht mit ihren Lippen entgegen, sondern hielt mich an den Schultern zu­rück. „Dass ich dich sehr gern mag, brauche ich dir nicht zu sagen, Tim. Ich möchte schon auch gern, dass wir zärtlich zueinander sein könnten, nur wenn der Tim liebevoll zu mir sein will und weiß, dass er gleichzeitig einem geliebten Menschen damit sehr weh tun wird, es ihn aber überhaupt nicht interessiert, dann mag ich den gar nicht. Seine Küsse werden nicht schmecken und seine Zärtlichkeiten werden mir Schmerzen bereiten. So gefällt er mir nicht, der Tim.“ erklärte Alice. Langes Schweigen. Was erwarte sie denn von mir. Einen Kuss gab es nur, wenn ich mich von Marie trennte? So ein Unsinn. Sagen konn­te ich nichts, schaute wohl nur konsterniert. „Ja, Timmy, so ist das.“ reagierte Alice und strich mir dabei übers Haar, „Sag es Marie, dass du mich küssen woll­test, und dann berichte mir, wie sie reagiert hat.“ „Alice, das ist Schwachsinn, was du sagst.“ antwortete ich ihr, „Ich ganz allein, meine Gefühle, meine Emo­tionen, meine Psyche, mein Herz, was immer du willst, haben dich gesehen, gemocht und noch viel mehr. Sie haben noch nicht einmal mich selbst gefragt, ob das so sein dürfte, und jetzt soll ich Marie um Erlaubnis bitten, so empfin­den zu dürfen, Alice, ich bitte dich.“ Alices Lächeln wirkte ein wenig süß säuer­lich. „Tim, es geht um etwas anderes. Ich will nicht die Geliebte von einem Mann sein, der seine Frau mit mir betrügt. Dafür bin ich mir zu schade. Das will ich nicht, das bin ich nicht und werde es auch nie sein. So ein Mann ent­spricht nicht dem Bild, das ich von einem Mann habe, den ich möglicherweise lieben könnte.“ erklärte Alice, „Deine Gefühle und dein Herz sind nicht ganz al­lein hier. Du bist kein Schmetterling, der zufällig hier hereingeflogen ist, deine Geschichte hast du immer bei dir. Nur wegen unserer Geschichte konnten wir uns überhaupt kennenlernen, und zu deiner Geschichte gehört auch jederzeit, dass du Marie liebst. Du sagst es ihr nicht, wie gern du mich magst, weil du weißt, dass es ihr weh tun würde. Verhältst dich so, als ob es nicht existierte. Das ist nicht die Wahrheit, sondern eine Lüge. Du betrügst deine geliebte Ma­rie. Aber Liebe und Betrug und Lüge das sind Paare die nicht zusammen pas­sen wollen. Eine Liebe mit Betrug kann es nicht geben. Du wirst das für dich klären müssen, Tim, anders geht es nicht.“ Reden konnte ich nicht mehr viel. Ich ging bald. Nach Hause? Nein, dafür kam ich mir zu verwirrt vor. Ausweglos erschien mir meine Situation. Alice mochte mich, aber wir durften uns nicht lie­ben, weil ich sonst Marie betrügen würde. Nur mich von Marie trennen, das konnte es nicht geben. Unsere Beziehung hatte doch mit Alice nichts zu tun. Ich liebte Marie wie eh und je, warum sollte ich da etwas ändern. Der Spaziergang im Park konnte dazu nichts klären, vielleicht beruhigte er mich ein wenig.


Mein glückliches Leben


„Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ klagte ich Alice, „Es würde Marie umbringen und mich genauso. Ich will das auch gar nicht. Mit Marie ist es etwas völlig an­deres, man kann unsere Beziehungen nicht vergleichen.“ „Ich sehe das nicht unbedingt so.“ erklärte Alice, „Ich habe mein Leben mit Ronny gesehen und wusste: „Das will ich nicht.“ Wenn du dein Leben mit Marie und dein Leben mit Alice siehst, wirst du sagen können, dieses oder jenes ist mir wichtiger, er­scheint mir wertvoller, das möchte ich auf keinen Fall verlieren. Du wirst schon vergleichen und dich entscheiden können.“ So sah ich es nicht, aber 'dein Le­ben mit Alice', woher kamen denn solche Worte? Das hatte ich mir bislang nicht vorzustellen gewagt, mir versagt, es zu denken. Unsere Beziehung be­stand allein aus den kurzen Momentaufnahmen unserer Begegnungen. Jetzt hatte Alice es benannt. Wie ein Ohrwurm ging es mir immer wieder durch den Kopf 'dein Leben mit Alice', den ganzen Tag, in allen Situationen, immer wieder tauchte es auf 'dein Leben mit Alice'. Vorstellen konnte ich mir darunter zur Zeit gar nichts, trotzdem war es von einem unsäglichen Wohlklang erfüllt. Nur mit Marie, das war meine Liebe, mein Leben, mein Glück. Wir beide waren to­tal gegensätzlich. Während ich eher das Musische, Kulturelle, die Lust am Phi­losophieren, des humanen Empfindens und der Einfühlsamkeit verkörperte, war Marie eine absolute Bewusstseinsfetischistin. Was man nicht rational erklä­ren und kausal begründen konnte, existierte für sie nicht. Sie war fest davon überzeugt, dass Stephen Hawking, seine Apologeten und Nachfolger in nicht ferner Zukunft die Weltformel entwickeln würden, und dann sei alles zu erklä­ren. Zu allem Möglichen äußerte sich Marie in Form apodiktischer Verkündigun­gen, mit denen sie nicht nur oft völlig daneben lag, sondern die auch böse und rassistisch durchtränkt sein konnten. Ich musste meistens schrecklich lachen. Marie reagierte aber keineswegs, als ob ich sie ausgelacht hätte, war böse und versuchte sich zu verteidigen, sie lachte mit und erkundigte sich, wie ich es denn sehe und was mir an ihrer Sicht nicht gefiele. Oft änderte sie ihre Mei­nung völlig, aber es konnte auch vorkommen, dass sie dabei blieb. Die Form unserer Diskussion war das Entscheidende. Ein Streit zwischen gegensätzlichen Auffassungen, bei dem sich jeder zu behaupten versuchte, das war uns fremd. Unsere Auseinandersetzungen hatten eher den Charakter eines Liebesspiels, bei dem jeder dem anderen bedingungslose Anerkennung vermittelt und glü­hende Lust empfindet, dem anderen seine Liebe zu verdeutlichen. Nicht selten landeten wir anschließend im Bett. So hatten wir uns auch kennengelernt. Ich hatte Marie mit harschen Worten widersprochen, die mir schon peinlich waren, als ich sie ausgesprochen hatte. Marie reagierte aber völlig anders, als man es von jedem Menschen erwartet hätte. Freundlich lächelnd fragte sie nach. Das lässt dich auch anders reagieren. Sie ist nicht mehr die Frau mit der dummen oder unverschämten Ansicht, sondern jemand der dich fragt, der Interesse an dir hat, deine Meinung hören will. Du nimmst sie anders wahr und verhältst dich selber anders. Das war so ungewohnt, stand völlig im Widerspruch zu dem, wie derartige Diskussionen gewöhnlich ablaufen, es ließ mich in Marie den warmen, milden, verständnisvollen Menschen sehen. Ich war fasziniert von ihr und wir landeten gleich am ersten Abend gemeinsam im Bett. Marie erkundigte sich, ob das nicht ein wenig zu schnell sei. Der Ansicht waren wir beide, während wir leidenschaftlich das Gegenteil praktizierten. Marie hat mich Menschen anders sehen lassen. Der raubeinige, vierschrötige Dekan würde genauso ein Bedürfnis nach Liebe verspüren und sich über Zärtlichkeiten freuen. Wenn ich ihn mir so vorstellte und mit ihm sprach, schien er es zu spüren und reagierte freundlicher, netter, als ich es von ihm erwartet hätte. Maries Rationalität war sicher nichts Aufgesetztes, aber vielleicht war es ein Schutz, ein Verhalten, das sie sich schon in der Kindheit zugelegt hatte, um die Verletzlichkeit ihres mild, sanftes Empfindens zu schützen. Eine Freundin wie Marie zu haben, sie zu lieben und von ihr geliebt zu werden, ließ mich glücklich empfinden. Das war mein Leben, mein glückliches Leben, das ich hatte. Mein Leben mit Alice? Eine Windsbraut war es, bestand aus offenen Wünschen, vagen Hoffnungen und blumigen Träumen.


Entscheidungsqualen


„Ich werde das leben, was mein Leben ist.“ würde ich Alice sagen. Eine Alter­native dazu gebe es nicht. Unsere Beziehung sei wunderschön, aber nicht mein Leben, und es gebe keinen Grund, es zu zerstören. Nein, einen triftigen Grund gab es nicht. Ich versuchte es mir vorzustellen, lebe wie bisher glücklich mit Marie, und Alice wird langsam aus meinem Leben verschwinden. Vielleicht hät­te ich es damals noch so regeln können, nachdem wir uns kurz getroffen hat­ten, aber jetzt? Lächerlich war der Gedanke. Meine Beziehung zu Alice war kei­ne große Oper, die ich mit einem Finale hätte beenden können. Alice hatte in mir die Grundlage meiner Wünsche, Bedürfnisse und meines Verlangens entwi­ckelt, die mich nie wieder verlassen würde. Sie war zu einem Teil von mir, mei­ner Persönlichkeit heute geworden, den ich niemals vergessen oder wieder auslöschen könnte. Ein Leben mit Marie, wie vorher ohne Alice, würde es nicht geben können. Alice bliebe immer gegenwärtig. Sie verkörperte ein anderes Leben, ein Leben in einer anderen Welt, nach dem es mich drängte. Nichts Fassbares, Greifbares, Sicheres gab es, aber Alice berührte etwas tief in mir, das mich wie eine Sucht danach verlangen ließ. Es quälte mich, immer und im­mer wieder. Aus Träumen wachte ich schweißgebadet auf, hatte hässliche Bil­der gesehen, die mich auch im Schlaf noch weiter quälen sollten. Es machte mich verrückt. Ich konnte Marie doch nicht sagen, dass wir unsere Liebe und unser gemeinsames Leben beenden sollten. Warum denn? Was ich selbst nicht verstand, würde Marie erst recht nicht verstehen können. Sie konnte mir nicht weh tun, kein böses Wort zu mir sagen und ich ihr genauso wenig. In den Se­mesterferien blieben wir beide hier, Marie, weil sie ein Praktikum machen musste und ich, weil ich zu arbeiten hatte. Ich würde es mit Marie besprechen. Als ein Hirngespinst oder pure Einbildung würde sie meine Empfindungen für Alice nicht ansehen. Aber im Grunde waren sie das doch. Sie existierten nur in meinem Kopf. Aber was ist real, und was existiert nur in deinem Kopf? Sollte das vielleicht eine irrelevante Frage sein, oder war es entscheidend, was wie in deinem Kopf existierte. Marie war offen, konnte das, wie sie etwas sah, zur Disposition stellen. Ich auch? Meine Affinität zu Alice rührte nicht aus meinem Bewusstsein, disponibel war sie nicht.


Daran denken, dass ich dich liebe


„Tim, du musst mir ein Wort sagen. Ich weiß nichts, ich verstehe nichts. Wenn du dich vierzehn Tage nicht meldest, mache ich mir Sorgen.“ sagte Alice am Telefon. „Entschuldigung, Alice, ich bin nicht ganz bei mir selbst. Ich sollte lie­ber beim Therapeuten sein. Total verrückt bin ich. Das Dümmste, was ich in meinem Leben gemacht habe. Ich hätte es schon zehn mal rückgängig ge­macht, wenn es ginge. Aber die Worte sind gesagt, zurückholen kann ich sie nicht. Soll ich etwa sagen: „Stimmt alles nicht. Hab ich mir nur mal so über­legt.“? Es trifft ja alles genauso zu. Was ich auch tue, es ist falsch. Wie zwi­schen Skylla und Charybdis komme ich mir vor.“ erklärte ich verwirrt. „Aha, und welches Ungeheuer davon bin ich?“ wollte Alice wissen. „Nicht du, Alice, mein Handeln ist das Ungeheuerliche, Verhängnisvolle, so oder so. Drei Tage haben wir nur geredet und geweint und geweint und geredet. Es ist ja nichts anders geworden. Ich liebe Marie, nur darf ich nicht mehr mit ihr zusammen sein.“ erläuterte ich. „Meinetwegen?“ fragte Alice sehr bestimmt. „Alice, ich muss es schon für mich selbst wollen, was ich tue, das weißt du doch.“ rea­gierte ich. „Ich würde dir gerne helfen, wenn ich könnte, aber ich denke, meine Worte werden im Moment keine große Hilfe für dich sein. Wenn du mir etwas sagen oder etwas von mir hören möchtest, meldest du dich. Aber, bitte, Tim, versuche auch trotz all deiner Qualen, daran zu denken, dass ich dich liebe.“ erklärte Alice. 'Dass ich dich liebe'? Noch mehr Verwirrung. Natürlich würde Ali­ce mich lieben, dessen war ich mir schon sicher, aber gesagt und gehört hatte es noch niemand von uns beiden. Warum nicht und warum dann jetzt? Zufällig rausgerutscht war es Alice sicher nicht, auch wenn sie es fast beiläufig erwähnt hatte. Es war ja nichts Neues, nichts hatte sich verändert, aber Alice diese Worte sagen zu hören, ließ alles erleuchten, machte es zu einem Licht. Eine sehr große Hilfe waren mir Alices Worte gewesen. Ihr Ziel sei nicht ihr Studium und ihre berufliche Perspektive gewesen, sondern unsere Liebe, hatte Marie gesagt. Jetzt würde sie ihr Ziel verlieren. Ich wusste nicht, was für ein Ziel ich hatte. Jetzt begann sich eins abzuzeichnen. Trotzdem dauerte es noch, bis ich mir sicher war, dass mich nicht jeden Moment ein Traueranfall überwältigen konnte. Ich hatte mittlerweile eine neue Behausung, Wohnung konnte man es nicht nennen. Dass Maries Eltern ihre Wohnung jetzt ganz allein finanzieren mussten, würde sie nicht stören, Hauptsache sie war diesen nichtsnutzigen Psychologen los. Marie mochte ihre Eltern nicht. Von ihrer Mutter habe sie die Haare und von ihrem Vater die Statur, aber ihren Charakter, den habe sie von ihrem Kindermädchen geerbt, hatte sie gescherzt.


Frierende Seele


Wie zwei Kinder, die sich zum ersten mal trafen, sich aber gleichzeitig schon seit ewigen Zeiten kannten, standen wir uns gegenüber, starrten uns lächelnd an und musterten einander, als ob unsere Augen prüfen wollten, dass es auch stimmte, was sie uns beim ersten Blick gemeldet hatten. Wir würden uns wie­dersehen, das wussten wir ja, aber wir taten so, als ob es geschehen sei, ob­wohl wir es nicht für möglich gehalten hätten. Wir hatten uns wieder und spür­ten wohl, dass sich dafür etwas verändert hatte. Nach der nicht enden wollen­den Umarmung saß ich auf der Couch und Alice bemutterte mich. Fragte, ob ich dies gern möchte oder jenes, ob es mir so lieber wäre oder anders. Ob ich es gern ein wenig wärmer haben würde oder ob es so passend sei. Ich musste lachen und hielt sie am Arm fest. Sie kniete sich neben mich auf die Couch, lachte auch und hatte verstanden. „Ja,“ verkündete sie mit langem A, „eine ge­schundene Seele muss man doch umhegen, oder?“ „Aber mit der Raumtempe­ratur?“ gab ich zu bedenken. „Na klar, wenn du auskühlst, friert auch deine Seele.“ lautete Alices lächelnde Reaktion. „Als wir telefoniert haben, hast du gesagt, ich solle daran denken, dass du mich liebst. Das hat meine Seele ganz warm werden lassen. Seid wann weißt du das denn eigentlich?“ fragte ich. „Ich kann es gar nicht sagen, Tim. Nichts in mir hat verkündet: „Jetzt ist es soweit, Alice, jetzt liebst du Tim.“ Ich denke eher es war fast von Anfang an so ähn­lich. Der Kaffe war es nicht und ebenso wenig die Atmosphäre in der Cafeteria, die in mir das Verlangen auslösten, bei dir sein zu wollen. Nicht viel anders ist das bis heute so geblieben. Ein bisschen stärker ist es wohl geworden. Ich spinne beim Einschlafen von uns und habe die süßesten Träume. Ich liebe mei­ne Mutter, ich liebe Lucy, ich liebe meinen Vater, … nein, zu sagen, meine Liebe zu dir sei noch stärker, ist ein dummer, ein falscher Vergleich. Sie ist anders, lässt mich etwas anderes spüren. Ja, ich will dich, Tim, nicht nur freundliche Empfindungen spüre ich, so etwas wie ein Verlangen ist es, ist das bei dir auch so?“ fragte Alice. „Ich habe mich mal gefragt, welche reale Basis es für unsere Liebe gibt. So gut wie keine. Wir reden gern miteinander und lieben beide Musik, aber sonst ist da im Grunde nichts. Trotzdem empfinde ich es wie eine Sucht. Nicht an dich zu denken, nicht dein Bild vor Augen zu haben, das geht nicht. Ich sehne mich nach unseren Treffen. Ich glaube, es wird Sehnsucht sein, Alice, mit der du mein Verlangen quälst.“ antwortete ich und lachte. „Ich habe schon nachgedacht, Tim, mich gefragt, ob es nicht ein Rausch wäre, und ob du denn überhaupt der Richtige für mich seist. Viele deiner Verhaltenswei­sen und Ansichten könnte man ja auch anders interpretieren, so dass du mir gar nicht mehr als richtiger Mann vorkämst.“ erläuterte Alice ihre Gedanken­gänge. Ich lachte schallend. „Welche genetischen Unterschiede, außer dass ihm am Kinn Haare wachsen, machen denn für dich den richtigen Mann aus?“ woll­te ich von ihr wissen. „Na ja, süßlich säuselnd schmusen ist vielleicht ganz schön, aber ein Mann muss auch schon etwas Härteres kennen. Dass er auch Lust hat, mal mit dir zu kämpfen, so zu balgen, weißt du?“ antwortete Alice. Jetzt bekam ich mich nicht wieder ein. „Meinst du nicht, dass es auch anderen Frauen vergönnt sein könnte, ebenso wie du mal Lust zum Toben zu haben? Oder ist das außer dir nur Männern vorbehalten?“ wollte ich von Alice wissen. Sie lachte auch stumm und überlegte. „Tim, du hast schon Recht. Ich quatsche sehr dummes Zeug. Bei meinem Bild von dem, was ein Mann ist, handelt es sich um ein primitives, populistisches Klischee. Ich habe mich aber auch noch nicht intensiver mit Männern befasst, mich haben die Frauen mehr interessiert. Aber als Freund, sagen mir die naiven Regungen meines Unbewussten, sollte es doch schon möglichst ein Mann sein.“ erklärte Alice. „Manche halten ja die Frauen für eine Extraspezies des Homo sapiens. Sie haben keine lesbischen Ambitionen, meinen aber, dass nur Frauen untereinander sich wirklich verstehen könnten. Männer sind allein zu Fortpflanzungszwecken von Nutzen. Das siehst du aber nicht so, oder?“ erkundigte ich mich. Alice lachte. „Am Vater liegt das bestimmt, wie sie ihren Vater erlebt haben, und da gibt es ja nicht selten das Übelste. Ja, jetzt fällt es mir auf. Wenn ich meinen Vater und dich abstrahiert von den großen äußerlichen Verschiedenheiten bezogen auf das Menschliche, Sozialkommunikative hin betrachte, habt ihr sehr viel Ähnlichkeit miteinander. Und mit Lucy hast du auch Ähnlichkeiten.“ erläuterte Alice. „Mit deiner Mutter verbindet mich nichts?“ wollte ich wissen. Alice lachte. „Ich mag es, es gefällt mir, aber sie kommt mir immer noch ein wenig wie die Chefin vor. Wo soll ich so etwas bei dir denn sehen? Aber wenn du lachst, dann höre ich immer Lucy lachen, und wenn Lucy lachte, musste ich auch lachen, ohne zu wissen, worüber. Du hast übrigens Lucy infiziert. Ich glaube, sie ist verknallt in dich. Sie erkundigt sich immer nach dir, aber ich weiß doch auch nichts.“ erklärte Alice.


Wir werden das alles schaffen


Jeden Nachmittag besuchte ich jetzt Alice. Einmal sah sie sich mein Apparte­ment an, woraufhin wir aber doch zur weiteren Unterhaltung zu ihr fuhren. Wir redeten nur miteinander. Liebevoll und zärtlich waren unsere Gespräche schon, wie unter Liebenden im Bett, aber wir saßen dabei nebeneinander auf der Couch oder am Küchentisch. Zärtliches Streicheln mit den Fingerspitzen gab es allerdings. Alice liebte es, mir beim Reden kitzelnd mit ihrem Mittelfinger auf der Innenseite des Handgelenks zu malen, alles auszuwischen und einen Kuss darauf zu geben. Zu weitergehender körperlicher Nähe kam es aber nicht. Wir kamen nicht darauf, uns zu küssen. Warum nicht? Ich kann es nicht sagen, aber es kam mir vor, als ob wir eine stillschweigende Vereinbarung darüber ge­troffen hätten. Vielleicht trauten wir uns auch einfach nicht, aber was sollten wir befürchten? Nach gut einer Woche, Alice war gerade von draußen gekom­men und hatte noch rote Bäckchen von der winterlichen Kälte, setzte sie sich breitbeinig bei mir auf den Schoß. „Du,“ sagte sie und boxte mir dabei in die Magengegend, „wie sieht es in deinem Kopf aus? Ist da schon wieder Platz für Musik und schöne Klänge?“ „Aber ja, ich denke schon. Das bin ich, das ist im­mer in mir.“ antwortete ich. „Meine Mutter hat wieder einen Auftritt. Lucy kommt auch mit. Sie kann dir ja dann ihre Liebe gestehen.“ scherzte Alice. „Dann muss ich ja schon kommen, oder?“ antwortete ich. Alice saß direkt vor mir, schaute sich mein Gesicht genau an und betastete jede Stelle vorsichtig mit den Fingerkuppen ihrer rechten Hand. Sie kam näher, bis sich unsere Lip­pen gegenseitig berührten. Alice schaute noch einmal auf, dann schloss sie ihre Augen und hielt mit ihren Händen meinen Kopf, während wir uns küssten. Wie Lausbuben schauten wir uns an, grinsten schelmisch, als ob uns ein toller Streich gelungen sei. Alice holte tief Luft, und wir umschlangen uns wieder, um das Testergebnis zu verifizieren. „Es fühlt sich an, als ob du mich ständig kit­zelst. Ich bin übermütig, möchte etwas Blödsinniges tun, möchte albern sein. Als ob eine Eisdecke zerbrochen wäre und du jetzt wieder voll lebst. Ich habe Angst gehabt, habe gedacht jedes Wort könnte falsch sein. Als verletzlich, mit einer offenen Wunde habe ich dich gesehen. Deine Seele habe noch nicht wieder eine feste Schale. Hat sie jetzt aber, nicht war? Sie ist kein rohes Ei mehr. Deine Reaktion auf die Musik hat mich mutig werden lassen. Jetzt ist der Punkt, an dem ich einen Mann zum Kämpfen brauche.“ sagte Alice und warf mich dabei auf die Couch. „Tim, wir werden das alles schaffen. Wenn du mal ganz traurig bist, dann weinst du eben, bis der schwarze Mantel sich wieder von deinen Schultern hebt. Dass du etwas verloren hast, werden wir beide nicht ungeschehen machen, aber mit deiner Trauer werden wir leben können.“ Ja, so würde es sein, wie Alice es sagte, genau so. Das wusste ich nicht, aber ich spürte es und es gab mir ein leichtes Hochgefühl ebenso mit Lust zu Albernheiten und auch auf Ringkämpfe. „Alice, es ist so, wenn ich auch dem Pastor in der Kirche nicht glaube, aber an dich glaube ich fest.“ erklärte ich lachend. „Ich könnte dich verprügeln und gleichzeitig auffressen. Dabei mag ich doch gar keine Männer. Sie stinken, ihre Haut ist rau und überall sind sie voller Haare. Es ist schon eine Krux, ein bisschen schöner könnten sie doch wohl sein.“ offenbarte sich Alice. „Schön, was ist schön? Was dein Auge für schön hält, aber ästhetisch ansehnliche Männerbilder gibt es doch schon, wenn du zum Beispiel an den David von Michelangelo denkst.“ wand ich ein. „Das ist Michelangelos Liebe für den Knaben, die hat er gut rüber gebracht, aber schön, ich weiß nicht. Niemand käme auf die Idee, das prächtige Pfauenweibchen zu bewundern, und die Männer können nicht akzeptieren, dass die Evolution es bei den Menschen andersherum gewollt hat. Das ist ja auch nicht so schlimm, nur ein bisschen handlicher könnten sie doch wenigstens sein. Hast du denn auch Haare auf der Brust? Bestimmt, nicht wahr?“ wollte Alice wissen. Ich lachte schon die ganze Zeit und konnte vor Lachen gar nicht antworten. „Zeig mal.“ sagte sie und begann, mir Oberhemd und T-Shirt aus der Hose zu ziehen. Sie stoppte, dachte nach und musterte mich mit ihrem Blick. „Oder sollen wir ins Bett gehen? Möchtest du?“ fragte Alice fast andächtig mit leicht unsicherem Unterton. „Ja, ja, ja.“ hätte ich rufen müssen, aber gleichzeitig war ich erschrocken, völlig überrascht.


Die Kunst der Fuge


Welcher kühne Wagemut war heute in Alice gefahren. Gerade noch vorsichtig zum ersten mal geküsst, die Lippen noch nicht trocken, will sie schon ins Bett. Ich nickte nur, was ich mit meinem Grinsen oder Lächeln dabei ausdrücken wollte, wusste ich selber nicht. „Na und?“ fragte Alice, als wir uns ausgezogen hatten. „Was, na und?“ ich darauf. „Na, wie findest du mich?“ antwortete Alice, während wir uns umschlangen. Bei meiner Antwort: „Ich finde, dass du außer­gewöhnlich viel Ähnlichkeiten mit einer Frau hast.“ ließen wir uns aufs Bett fal­len. „Komm, wir kriechen unter die Decke, sonst wird’s gleich kühl.“ schlug Ali­ce vor. „Weißt du, dass man über Liebe keine Witze macht, das sehe ich ja auch so. Mit der Liebe zu scherzen, das passt nicht, aber beim Sex? Sex soll doch Spaß machen, oder?“ meinte Alice. „Na ja, voll darauf einlassen musst du dich aber schon, sonst erlebst du nix.“ lautete meine Ansicht. Alice meinte be­denklich: „Aber mit Liebe oder Ähnlichem hat Sex doch nichts zu tun. Ist doch nur ein rein physiologischer Prozess. Schau doch mal, fast alle Männer und Frauen masturbieren, sind die etwa in ihre Finger oder Dildos verliebt?“ fragte Alice rhetorisch. „Wenn es sich um Pianisten handelt, kann das schon sein.“ wand ich ein. „Sag mal was ist eigentlich mit dir?“ wobei Alice die Lage mit verdächtig, besonders ernster Mimik zu sondieren suchte, „Bist du schüchtern, oder bei Frauen ein bisschen verklemmt?“ Lachend antwortete ich: „Nein, nicht dass ich wüsste.“ „Und warum liegst du dann so steif neben mir, berührst mich gar nicht, fasst mich gar nicht an? Mein Körper interessiert dich nicht, wie? Hier, fühl doch mal meine Depeschen, das fühlt sich doch gut an, oder?“ erklärte Alice, wobei sie meine Hand nahm und sich auf die Brust legte. Mein Zwerchfell befand sich in einem Zustand, dass ich jederzeit losplatzen konnte. Dass sie dazu etwas sagen musste, war Alice wohl ohne meine Frage klar. „Als ich das Wort zum ersten mal gelesen habe, war aus dem Zusammenhang schon ersichtlich, dass es sich um so etwas wie schnelle Post handeln musste, aber das Wort, ich hatte es noch nie gehört. Der Klang ist doch göttlich, sanft, weich und schwabbelig. Ist das denn nicht ein absolut passendes Wort?“ fragte Alice. „In der Tat, Alice, deine Brüste fühlen sich exakt an wie Depeschen.“ wobei ich wegen des Lachens die Wörter fast nur stakkatomäßig, einzeln hervorbringen konnte. Wir lachten und streichelten uns dabei die Wangen. „Du wirst bestimmt noch mehr schöne Wörter wissen.“ vermutete ich. „Was sagst du zum Beispiel dazu?“ fragte ich, während ich meine Hand auf ihren Venushügel gelegt hatte. Alice grinste schelmisch. „Die Antischamfuge ist das, mein Süßer.“ antwortete sie lächelnd. „Erkläre es mir.“ bat ich. „Anti-Scham, hört sich doch gut an und ist frauenfreundlich. Die Scham ist vorbei für uns Frauen, das weißt du doch.“ erläuterte Alice. „Ja, ja, und Fuge? Das ist ja klar, solange deine Labien noch nicht verschmolzen sind.“ kommentierte ich, aber Alices Mimik nahm eher säuerliche Züge an, die verdeutlichten, dass ihr das von mir Gesagte, wohl überhaupt nicht zu behagen schien. „Natürlich existiert da ein Zwischenraum. Da hast du schon Recht, aber niemals geht es um die Elemente oder die Distanz, die sie trennt, sondern um den Prozess, wie du damit umgehst, um dein Handeln und Verhalten. Eine Frau glücklich zu machen und sexuell zu befriedigen, das ist die Kunst der Fuge. Ein Kunstwerk, das Bach nur für ein Thema beendet hat. Es ist offen, wir können immer neue Themen aussuchen, und immer neue Präludien und Fugen können dazu komponiert werden.“ „Als Komposition eines musikalisch Kunstwerkes empfindest du es also, sich zu lieben, sehr schön. Und die Kunst der Fuge endet im Crescendo?“ wollte ich wissen. „Nein, um Himmels Willen, das ist doch vorher, da darf sie doch nicht enden.“ Alice entrüstet. „Im Furioso vielleicht oder im Fortissimo mit vier F?“ bot ich an. „Ja schon eher, oder con Fuoco, feurig, aber so kann ja auch schon eher gespielt werden, nicht wahr.“ meinte Alice. Wir machten uns noch weitere Gedanken, wann welche der uns bekannten musikalischen Vortragsarten bei der Kunst der Fuge zum Einsatz kämen. „Und mein Schwanz das ist dann der Kontrapunkt, nicht wahr?“ erkundigte ich mich nach der Funktion in Alices erotisch-musikalischer Diktion. Nochmal dieses angewiderte Gesicht. „Oh Gott, Tim.“ entfuhr es Alice, während sie mich mitleidig streichelte. „Du bist ganz stark dem Slang verhaftet, nicht wahr? Benutzt einfach diese dummen, ekeligen Wörter, weil sie sie alle gebrauchen. Und dabei soll Sex Spaß machen? Das unverzichtbare Fugenmorphem ist es, worüber du verfügst.“ gab mir Alice zu verstehen. Ich verstand aber nichts, musste allerdings trotzdem schrecklich lachen. „Schau, wenn du aus zwei Wörtern, aus Liebe und Lied, ein Wort machen willst, muss in die Fuge zwischen den beiden Wörtern ein Buchstabe geschoben werden, ein s. Erst dadurch entsteht das gemeinsame, das eine Wort 'Liebeslied'. Das s ist das Fugenmorphem, erst damit kann es zu einem werden.“ erläuterte Alice. „Ja, sehr verständlich und sehr durchdacht, aber deine Kunst der Fuge kommt ganz ohne Kontrapunkt aus?“ erkundigte ich mich. Ich weiß nicht, ob Alice sich das alles vorher ausgedacht oder ad hoc entwickelt hatte, aber dass sie Sex anders, musischer, beschwingter, freudiger sehen und erleben wollte, das war bestimmt so. Beim Kontrapunkt musste sie auch kurz überlegen, aber dann fiel es ihr ein. Lächelnd nahm sie meinen Mittelfinger und legte ihn auf ihre Klitoris. „Spürst du ihn?“ fragte sie, „Ich auch. Zur Kunst der Fuge gehört, dass ich den Kontrapunkt während der gesamten Inszenierung spüre. Er muss immer beachtet werden.“ Alice und ich wollten gemeinsam ins Bett, aber ich war mit ihr in einer komischen Oper über sexuellen Sprachgebrauch gelandet. Nein, es waren nicht nur andere Namen für das Gleiche, die Wörter veränderten das, worüber sie sprachen. Die Bilder in meinem Kopf konnten nicht mehr die alten sein, wenn ich jetzt an Sex dachte.


Männer sind schön, ja?


Während wir schmusend und küssend über die Einwirkung von Zentrifugal- und Zentripetal Kräften bei der Kunst der Fuge scherzten, fiel mir der Anlass für unseren gemeinsamen Bettaufenthalt ein. „Meine Liebste, du wolltest meine Behaarung überprüfen. Ist dir das so unwichtig, das du es schon wieder ver­gessen hast?“ erinnerte ich. „Ja, stimmt, lass mal fühlen.“ reagierte Alice, wäh­rend sie mit einer Hand kreuz und quer über meine Brust strich. „Du hast ja gar keine Haare und ganz weich ist deine Haut auch.“ verkündete Alice er­schrocken, als ob sie mit einem Wunder konfrontiert worden wäre. „Weißt du, Alice, mein Vater hat keine Haare auf der Brust, mein Cousin ebenfalls nicht, bei anderen nehme ich es gar nicht wahr, weil es selbstverständlich ist. Viel­leicht gibt es mehr Männer, die keine Haare auf der Brust haben als welche mit Haaren.“ erklärte ich. „Und weiche Haut? Gibt es auch mehr Männer mit wei­cher Haut?“ wollte Alice wissen. Lachend erklärte ich: „Alice, das kann ich überhaupt nicht sagen, weil es wirklich absolut selten vorkommt, dass ich an­dere Männer auf die Beschaffenheit ihrer Haut befühle.“ Alice hatte sich neben mich gekniet und streichelte abwechselnd mit ihren Wangen über meine Brust. Zwischendurch roch sie an meinen Achseln, erklärte dabei: „Und stinken tust du auch nicht. Ich mag das, wie du riechst. Alles nur Vorurteile, alles nur Kli­schees, nicht war? Männer haben keine Haare, stinken nicht und haben eine zarte Haut. Männer sind schön, ja?“ sagte es und lachte. Ich gab ihr einen Klaps auf den Po. Rangeleien waren die Folge, und Alice bat, ich möge ihr den Rücken streicheln. „Nein, so ein bisschen mehr massieren, verstehst du?“ wies sie noch hin. Vom Nacken bis zu den Fersen massierte ich Alice. Bestimmt empfand sie darin das Präludium, das Teil der Kunst der Fuge war. Ob man beim Sex bei der Sache sein sollte oder konnte, ich musste jedenfalls immer Lachen. „Alice, ich kann nicht. Ich muss immer an den Kontrapunkt und die Depeschen denken.“ unterbrach ich. Alice grinste. „Das ist doch nicht schlimm, dann spielen wir diese Fuge eben dalle risate, mit Lachen.” schlug sie vor. „Nein, das geht nicht. Das wird nix.“ lehnte ich ab. „Was willst du denn? Willst deine Slang-Wörter benutzen, nur dann gefällt dir Sex?“ erkundigte sich Alice ein wenig mürrisch. „Nein, bitte, Alice, keinesfalls, deine Sprache ist wunderschön, nur welche Frau nennt denn ihre Brüste Depeschen?“ fragte ich lachend. „Keine, das macht es ja eben. Es ist unser persönlicher Code. Stell dir vor, wir wären bei einer Veranstaltung oder auf einer Fète und man würde sagen: „Komm, lass uns nach Hause gehen, ficken.“ Alice gab Würgelaute von sich. „Wie schrecklich so zu sprechen, wie ekelig so etwas hören zu müssen, und dabei ist es auch noch so falsch. Wenn du aber sagtest: „Alice, wollen wir nicht nach Hause gehen und noch ein wenig die Kunst der Fuge üben?“ Ein Wohlklang wäre es für meine Ohren und mein Gesicht würde dir ein freundlich verstehendes Lächeln schenken. Verstehen kann es sonst niemand. Die denken, würden meinen, wir wollten noch Klavier spielen.“ begründete es Alice. „Es sind nicht nur deine speziellen Worte, es kommt mir vor wie eine eigene Welt, deine Welt der körperlichen Liebe.“ verstand ich es. „Natürlich, das ist meine Sexualität und nicht die der Leute, die von Titten, Ficken, Schwanz und Fotze reden. Wie ich damit umgehe, ist ganz allein meine Entscheidung. Niemand wird mich zwingen die Worte zu benutzen, die nicht zu mir und nicht zu dem was sie bezeichnen passen. Es gibt kein Argument, das wertloser ist, als zu sagen, dass alle es so tun. Ob du deshalb besonders kritisch bist? Ich weiß es nicht. Ich denke, dass es eher eine Charaktereigenschaft ist, die dir ganz früh vermittelt wird, ob du es bevorzugst allem nachzulaufen, oder deinen eigenen Weg finden willst. Du hast ja auch schon als Kind gesagt, dass man den Brüdern von der Kirche nicht trauen kann, obwohl doch alle Leute an die Bibel glauben. Entscheidend ist, das du an dich selbst glaubst. Als kleines Kind tust du das auch, da bist du ganz du selbst, bis dir später klar gemacht wird, dass andere es besser wissen, was du zu tun und zu glauben hast.“ erklärte Alice. Diese Fuge begann nicht nur mit einem Präludium sondern war auch gekennzeichnet durch ein ausführliches Interludium. Die Umarmung und das Küssen zur Bestätigung unseres gegenseitigen Verstehens brachte uns auch körperlich wieder zusammen. „Du hast Recht, Tim.“ erklärte Alice lachend, mich erschöpft umarmend, „Nur Liebe ist es, Sex ist nur Liebe. Natürlich mögen physiologische Prozesse ablaufen, aber das ist so irrelevant. Die Kunst der Fuge kannst du nur mit Liebe komponieren, ohne Liebe geht es nicht.“


Cavalleria Rusticana mit Butterkremtorte


Alice musste wohl den ganzen Tag über noch weiterhin die Klänge der Fuge vom Vorabend vernehmen, nicht nur ihre Fröhlichkeit und ihr häufiges Lachen ließen das vermuten, vor allem ihre Bewegungen, die öfter in einzelnen Schrittfolgen zum Ausdruck brachten, dass sie dabei sei, die Fuge zu tanzen. Ich dachte nicht nur in glücklicher Freude an den gestrigen Abend, es hatte mich tief beeindruckt und stimmte mich nachdenklich. Auch wenn es sehr kalt war, mussten wir am Nachmittag spazieren gehen. „Der Mensch ist eigentlich dazu bestimmt, draußen, in der Natur zu leben. Schau mal in deinem Paradies gab's für Adam und Eva auch kein Haus. Gott kennt keine Häuser, er ist allge­genwärtig. Auf die Idee, die Menschen in Kästen einzusperren, sind erst die Ar­chitekten gekommen. Dass sie dabei nicht Gottes weisen Ratschlüssen gefolgt sein können, siehst du überall um dich herum. Meine erste Oper habe ich schon als ganz kleines Kind gesehen. Meine Mutter hatte mir etwas erklärt, aber das spielte gar keine Rolle. Die geschäftigen Landleute waren auch fast immer draußen. Verstanden habe ich nichts, aber ich war begeistert. Cavalleria Rusticana, ich sah nur die warme Atmosphäre, die singenden Menschen und die wundervolle Musik. Es gibt ja heftige Auseinandersetzungen, aber mir schi­en es wundervoll harmonisch. Mein Bild stimmte mich glücklich. Wenn jemand gesagt hätte, da ist aber etwas falsch, das musst du so und so sehen, ich wäre böse geworden. Das war meine Cavalleria Rusticana, sie gehörte mir, so liebte ich sie, da hatte niemand etwas dran zu sagen. So bunt, so warm und so voll Gesang und Musik hätte ich mir das Leben bei uns gewünscht, aber es war voll von disharmonischen Klängen, Gegensätzen und allem was nicht zueinander passte und sich gegenseitig weh tat. Als ich in die Schule kam, musste das Le­ben dort meine Cavalleria Rusticana sein, das wusste ich und habe mir alles so vorgestellt. Die Schülerinnen und Schüler waren die geschäftigen Landleute und die Lehrerin war Turiddus Mutter, deren Wohlklang ich gerne hörte. „Du träumst manchmal, Alice.“ sagte sie. „Das ist doch schön. Träumen sie nicht gern?“ antwortete ich. Sie lächelte und strich mir übers Haar. „Das, was du in ihr siehst, ist deine Welt. Wenn du nur das Gewöhnliche, Übliche und was schon immer deine Gewohnheit war siehst, muss es doch sehr öde sein. Aber es ist auch nicht leicht, etwas anderes zu sehen. Das Bekannte und Gewohnte drängt sich dir immer auf, und du brauchst auch Mut, deine eigene Welt, so wie sie zu dir passt, erkennen zu können und zu sehen.“ erzählte Alice. Als wir am Café vorbei kamen, wollte sie einen Kaffee trinken. „Und ein Stück Buttercrem­torte brauche ich jetzt.“ sagte Alice. Im Café hatten sie aber im Moment nur andere aber keine Buttercremtorte. Wir sollten in die Stadt fahren, sie brauche jetzt unbedingt ein Stück Buttercremtorte. „Magst du die so gerne?“ erkundigte ich mich. „Ich weiß es nicht, ich habe sie noch nie gegessen. Meine Mutter schwärmte davon, dass sie die als Kind so gern gegessen habe. Voll fett, cre­mig-matschig und opulent habe ich sie mir immer vorgestellt, und genau das entepricht meiner Gefühlslage jetzt. Deshalb brauche ich unbedingt ein Stück Buttercremtorte.“ erläuterte Alice. „Du machst auf mich eher einen leichten und beschwingten Eindruck, wie passt das zusammen?“ wollte ich wissen. „Na ja, bei der Oper ist es ja nicht anders. Die Musik spricht deine feinsten und zar­testen Empfindungen an, aber die Opernhäuser sind wie Buttercremtorten, voll fett und opulent.“ antwortete Alice. Ich bestellte mir auch ein Stück Buttercr­emtorte. Schelmisch grinsten wir uns an, verharrten einen Moment und platz­ten los vor Lachen, denn weder den Geschmacksempfindungen von Alice noch mir schien diese opulente, fettig-matschige Creme zu schmeicheln. Aber da­mit würde man zu rechnen haben in Alices Revier. Ihr neues, eigenes hatte sie längst gefunden. Sie wünschte sich, dass es auch zu meinem werden möge. Dann sah und würde mein Leben mit Alice so aussehen und sich so gestalten mit viel ungewohnt Neuem und vielen Überraschungen, nicht nur Buttercrem­torten.


Das Leben als Kunst der Fuge

 

Auch wenn du jenes nicht mitmachst oder diese besonderen Vorlieben hast, im Allgemeinen läuft dein Leben doch so ab, wie bei den meisten, wie es gewöhn­lich so läuft. Du bist es gewohnt, dich vom Leben leben zu lassen, ob beim Sex oder in der Schule oder auch sonst wo. Du kritisierst vielleicht das eine oder andere, lebst aber gewöhnlich so, wie sie alle eben so leben. Im Grunde hast du dein Leben an die Allgemeinheit abgegeben. Du lässt für dich leben. „Das ist mein Leben und was darin geschieht und wie es sich gestaltet, muss zu mir passen und ich ent­scheide darüber. Es gehört nur mir und keinem von den an­deren.“ so sah es Alice. Nicht nur ihre Sexualität, ihr gesamtes Leben gestalte­te sie wie die Kunst der Fuge, und ihr Thema lautete in allen Variationen immer und immer wieder Alice.

 

FIN

 

 

Il en est du véritable amour
comme de l'apparition des esprits: tout le monde en parle, mais peu de gens en ont vu.

La Rochefoucauld

„Als verletzlich, mit einer offenen Wunde habe ich dich gesehen. Deine Seele habe noch nicht wieder eine feste Schale. Hat sie jetzt aber, nicht war? Sie ist kein rohes Ei mehr. Deine Reaktion auf die Musik hat mich mutig werden lassen. Jetzt ist der Punkt, an dem ich einen Mann zum Kämpfen brauche.“ sagte Alice und warf mich dabei auf die Couch. „Tim, wir werden das alles schaffen. Wenn du mal ganz traurig bist, dann weinst du eben, bis der schwarze Mantel der Melancholia sich wieder von deinen Schultern hebt. Dass du etwas verloren hast, werden wir beide nicht ungeschehen machen, aber mit deiner Trauer werden wir leben können.“ Ja, so würde es sein, wie Alice es sagte, genau so. Das wusste ich nicht, aber ich spürte es und es gab mir ein leichtes Hochgefühl ebenso mit Lust zu Albernheiten und auch auf Ringkämpfe. „Alice, es ist so, wenn ich auch dem Pastor in der Kirche nicht glaube, aber an dich glaube ich fest.“ erklärte ich lachend. „Ich könnte dich verprügeln und gleichzeitig auffressen. Dabei mag ich doch gar keine Männer. Sie stinken, ihre Haut ist rau und überall sind sie voller Haare. Es ist schon eine Krux, ein bisschen schöner könnten sie doch wohl sein.“ offenbarte sich Alice. „Schön, was ist schön? Was dein Auge für schön hält, aber ästhetisch ansehnliche Männerbilder gibt es doch schon, wenn du zum Beispiel an den David von Michelangelo denkst.“ wand ich ein. „Das ist Michelangelos Liebe für den Knaben, die hat er gut rüber gebracht, aber schön, ich weiß nicht. Niemand käme auf die Idee, das prächtige Pfauenweibchen zu bewundern, und die Männer können nicht akzeptieren, dass die Evolution es bei den Menschen andersherum gewollt hat. Das ist ja auch nicht so schlimm, nur ein bisschen handlicher könnten sie doch wenigstens sein. Hast du denn auch Haare auf der Brust? Bestimmt, nicht wahr?“ wollte Alice wissen. Ich lachte schon die ganze Zeit und konnte vor Lachen gar nicht antworten. „Zeig mal.“ sagte sie und begann, mir Oberhemd und T-Shirt aus der Hose zu ziehen. Sie stoppte, dachte nach und musterte mich mit ihrem Blick. „Oder sollen wir ins Bett gehen? Möchtest du?“ fragte Alice fast andächtig mit leicht unsicherem Unterton. „Ja! Ja! Ja!“ hätte ich rufen müssen, aber gleichzeitig war ich erschrocken, völlig überrascht.

 

 

 

Together mit Alice leben, nicht next door – Seite 24 von 24

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Publication Date: 06-14-2013

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