Carmen Sevilla
Māyā nie wieder verlieben
Welches Geschlecht?
Erzählung
Macht können wir durch Wissen erlangen,
aber zur Vollendung gelangen wir nur durch Liebe
Rabindranath Tagore
„Brenda meint, dass ich dich lieben sollte.“ sagte Māyā
und lachte. „Sie hat eine Ferndiagnose gestellt und meint,
dass mit dir alles anders werden würde. Wird das zutreffen?“
wollte Māyā schmunzelnd wissen. „Oliver, ich spürte, wie es
den verhängnisvollen Weg nahm, es mir nicht nur mit dir gut
gefiel, sondern wie ich Verlangen nach dir hatte, dich wollte,
dich begehrte, aber das durfte doch nie mehr geschehen.
Ich konnte es mir nicht verbieten, es war einfach da.
Ich empfand mich ausweglos, war ratlos und bin vor mir selbst
geflüchtet. Brenda und ich kennen und lieben uns seit meinem
damaligen USA Aufenthalt. Sie ist mein Alter Ego und meine
Schutzgöttin. Sie hat mir damals auch klar gemacht, dass ich
verkommen würde, wenn ich es so weiter laufen ließe.
Jetzt war Brenda der Ansicht, dass ich mir keinesfalls
grundsätzlich meine Liebe verbieten solle, ich müsse
nur differenzieren können, für wen ich sie empfinde
und was mich erwarte. Sie fand dich wundervoll, nachdem
ich ihr von dir erzählt hatte. Was hältst du davon?“
sagte Māyā und ließ uns beide lachen.
Māyā ist nach Bonn zum studieren gekommen. Hat alle früheren Beziehungen abgebrochen. Sie trifft den Biologiestudenten Oliver. Daraus ergeben sich ungeahnte Konstellationen.
„Auch 'ne kleine Pause?“ fragte die junge Frau, als sie sich zu mir auf die Bank setzte. Meine Lippen spannten sich schon und mein Zwerchfell aktivierte sich auch, aber „Ja, ja.“ konnte ich noch schnell nüchtern antworten, bevor ich losprustete. Die Frau machte keineswegs einen betretenen oder ratlosen Eindruck, als ob sie sich ausgelacht fühlte. Sie grinste mich an mit einer Mimik, die sagen wollte: „Was der wohl hat.“ „Entschuldigung, das hat nichts mit ihnen zu tun.“ konnte ich mir das Lachen verkneifend äußern. „Und was ist es, das sie so fröhlich stimmt?“ erkundigte sich die Frau. „Ich weiß es gar nicht. Wenn jemand Westfalen sagt,“ begann ich. „Ich komme aber nicht aus Westfalen.“ unterbrach mich die Frau. „Sondern?“ reagierte ich. „Aus Donaueschingen.“ bekam ich zur Antwort. „Und was machen sie dann hier?“ fragte ich weiter. „Das geht sie nichts an.“ erfuhr ich. „Natürlich nicht, das ist ihr Privates. Aber wenn jemand zum Beispiel Westfalen oder Donaueschingen sagt, dann sucht ihr Gehirn in Bruchteilen von Sekunden alles zusammen, was sie je über Westfalen oder Donaueschingen gehört haben und liefert ihnen ein Bild daraus. Nicht beliebig zusammengewürfelt, sondern was sie für das Bedeutsamste halten oder sie am tiefsten beeindruckt, ist in den kräftigsten Farben gemalt. Ihr persönliches Bild, und das geht so schnell, dass es ihnen vorkommt, als ob es gleichzeitig mit dem Hören des Wortes schon vorläge. Faszinierend, nicht wahr? Als sie „Auch 'ne kleine Pause?“ sagten, hat sich bei mir auch ein Bild entwickelt, nur ich kenne es selbst gar nicht, weiß nicht woraus und warum es sich gebildet hat. In meinem Unbewussten hat man ohne mich zu beteiligen unter sich ausgemacht, dass ich es lustig zu finden und zu lachen hätte. Warum? Das hat man meinem Bewusstsein nicht mitgeteilt. Wenn ich jetzt etwas vermuten würde, wäre es geraten. So, wie die Tante zum Beispiel, die fragt, ob man auch immer schön fleißig sei. Eine Floskel, auf die sie gar keine Antwort erwartet. Vielleicht fände ich so etwas lustig.“ versuchte ich mich zu erklären. Die Frau blickte leicht skeptisch aber ihre Mimik vermittelte auch wohlwollende, belustigte Züge. „Ich hatte aber eine Antwort erwartet.“ log sie schelmisch, „Sie hätten ja auch sagen können, dass sie gerade meditieren oder gedanklich ihren nächsten Urlaub vorbereiteten. Wie sie hier sitzen und schauen, hätte das gar nicht so fern gelegen.“, wozu sie allerdings grinste. Es war in der Tat ein goldiger Frühsommertag, der Himmel azur mit Wattebäuschen, warm aber nicht heiß mit einem feinen Wind, der einen am liebsten durch die lauen Lüfte tragen würde. Arbeiten und lernen müssen, passte nicht zu diesem Tag, er wollte frei sein und spielen. Das wollte ich wenigstens eine viertel Stunde zwischen zwei Seminaren träumend genießen. „Sie sind auch Studentin?“ fragte ich, denn bei uns im Institut hatte ich sie noch nie gesehen und hier konnte man auch andere Leute treffen, weil der Hof gleichzeitig Eingang zum botanischen Garten war. Sie war auch Studentin. „Aber nicht hier.“ sagte sie, „Ich studiere ganz ordinär Amerikanistik und Romanistik. Nur die Pflanzen hier musste ich doch mal gesehen haben. Die Riesenstinkeblume ist ja recht kümmerlich, wenn sie nicht gerade blüht.“ „Den Park mit den verwegensten Bäumen aus aller Welt müssten sie sich anschauen, das ist immer ein Gedicht.“ bemerkte ich. „Ist es üblich, dass sich Biologen alle mit Sie anreden?“ wollte die junge Frau schmunzelnd wissen. „Nein, nein, Quatsch. Ich heiße Oliver.“ reagierte ich. „Und ich Māyā.“ sagte die Kommilitonin knapp und fixierte mich erwartungsvoll. Wir schienen zu wissen, was wir dachten und lachten plötzlich beide. „Mit Ypsilon und eigentlich Strichen über dem A. Meinen Eltern, den alten Brahmanen, habe ich das zu verdanken. Sie leiden an Indiaphilie, aber nur privat. Ich bin die Göttin des Absoluten und der Ewigkeit. Ein Sie wäre da vielleicht doch angebracht. Da ist nichts, was nicht Māyā ist. Merk dir das, Oliver.“ spottete sie. Sie schien eine lustige Frau zu sein und mir kam sie wunderschön vor, obwohl andere das gewiss nicht so sehen würden. „Wenn ich an Westfale denke, dann zeigt sich bei mir immer das Bild von einem knarzigen, knorrigen, sturköpfigen Mann, einem Mann wie seine Eichenbäume, bist du Westfale?“ wollte Māyā wissen. „Ja, aber ich bin das alles nicht und Eichenbäume habe ich auch keine. Vielleicht dürfte ich gar kein Westfale sein. Ich würde mich lieber als Donaueschinger sehen. Da stelle ich es mir wunderschön vor.“ antwortete ich. „Wieso hier gibt’s doch auch einen Fluss und ebenso sehr schöne Musik?“ reagierte Māyā. „Viel schönere als in Donaueschingen.“ hätte ich am liebsten gesagt. Begreifen konnte ich die neuen Tonkünste schon, aber meine Ohren waren alt und wollten lieber Beethoven hören.
„Bist du bald fertig, oder hast du noch viel vor dir?“ erkundigte ich mich nach Māyās Studium. Sie lächelte und meinte: „Jetzt fragst du etwas, bei dem dich die Antwort gar nicht interessiert.“ „Das ist nicht war.“ protestierte ich, „Bei den meisten kannst du es in etwa einschätzen. Wenn sie gerade angefangen haben, wirken sie oft noch wie quirlige Schülerinnen. Später legt sich das, dann wirken sie intellektueller und reifer, aber du passt gar nicht in das Bild. Wo ich dich als Studentin ansiedeln sollte, wüsste ich nicht. Du wirkst auf mich eher wie eine abgeklärte Frau.“ Bei Māyā löste meine Erklärung einen Lachanfall aus. Immer noch lachend fragte sie: „Was ist denn eine abgeklärte Frau, und wie kann man denn so wirken?“ „Na, vielleicht ist das ein unpassendes Wort, aber ich meine eine Frau, die mehr Durchblick hat und ein wenig über den Dingen steht.“ erläuterte ich. „Ja, und eine Menge Erfahrung und viel erlebt haben muss sie auch, nicht wahr?“ spottete Māyā. „Da, hast du Recht, das bin ich alles und dazu noch viel in der Welt herumgekommen, also eine richtig gut abgeklärte und abgehangene Frau. Nur leider bin ich gar keine Frau.“ Was hatte das denn zu bedeuten? Māyā ein Mann? Das konnte nicht sein. In typischer Cross Dressing Manier war sie ja auch nicht aufgemacht. Sie war eine ganz normale Studentin, zu der alles weibliche passte. Sollte es vielleicht ein Scherz von Māyā sein. „Du bist eine indische Göttin, und da gibt es weder Mann noch Frau, ist es so?“ erkundigte ich mich. „Vielleicht wäre es schön so, aber bei uns wird jedem Menschen bei der Geburt von der Meinung aller gesagt, dass er entweder Frau oder Mann zu sein hat. Wer ich persönlich bin, bestimme ich aber selbst und nicht andere über mich. Die Frau, die ich zu sein habe, will ich nicht sein und bin es nicht.“ antwortete Māyā. Also ein Mensch, der sich im falschen Körper fühlt, dachte ich, der sich anders empfindet, als ihm sein biologisches Geschlecht vorschreibt. „Du möchtest lieber ein Mann sein?“ fragte ich Zustimmung erwartend. „Um Himmels willen, auch das noch. Das hätte mir noch gefehlt. Dann könnte ich es wahrscheinlich gar nicht erkennen.“ bekam ich als entsetzte Antwort. Ich verstand überhaupt nichts von dem, was Māyā wollte und was sie intendierte. „Ich muss jetzt ins Seminar, nein muss ich nicht, doch muss ich unbedingt.“ sagte ich mich selbst versichernd. „Du kannst mich nicht einfach so zurücklassen in diesem verwirrten Zustand. Bist du in anderthalb Stunden noch hier?“ fragte ich. Māyā schüttelte den Kopf. „Können wir uns denn nicht nochmal treffen? Du musst dir auch unbedingt das Arboretum ansehen, es ist viel interessanter als die Gewächshäuser.“ bat ich. „Deine Bäume meinst du, nicht wahr? Du willst mir die Bäume erklären und ich soll dir dabei erklären, wer ich bin. So stellst du dir das vor? Ich weiß nicht, warum, aber ja, wann kommt es dir denn aus?“ fragte Māyā. Am Donnerstag um halb vier wollten wir uns treffen.
Ich hätte das Seminar auch schwänzen können, denn zuhören, mich konzentrieren, das Gehörte verstehen und speichern funktionierte sowieso nicht. Ständig dachte ich nur an Māyā. Gewiss hatte ich sie nicht verstanden, aber dazu würde sie mir ja Näheres erklären. Mich faszinierte ihr Gesicht. Dass sie gut aussähe, würden wohl die meisten so sehen, aber eine Schönheit war sie nur für mich. Meine Mutter und meine Schwester waren auch sehr kluge Frauen, ihre Gesichtszüge schärfer und prägnanter, ihnen fehlte auch das Weiblich-wohlig-rundliche. Vielleicht reizte mich das, eine Frau, die klüger und schärfer wirkt, etwas Amazonenhaftes träg. Aber das Schlimmste war, es kam mir vor, als ob ich dies Gesicht, diese Frau schon mal gesehen hätte. Es konnte nicht sein, dann wäre sie mir aufgefallen, und ich würde mich erinnern. Vielleicht flüchtig in der Fußgängerzone oder Dergleichen? Nein, so konnte es nicht sein. Vielleicht entsprach sie meinem inneren Wunschbild, wie ich mir eine ideale Frau vorstellen würde. Jetzt sah ich sie und meinte, sie schon einmal gesehen zu haben. Ein Déjà-vu Erlebnis, nicht gut. Wenn das öfter vorkäme, müsste ich zum Arzt, aber bislang hatte ich leider nur schon mal umgekehrte Erlebnisse. Was ich eigentlich kennen müsste, erschien mir unbekannt. Nicht Visuelles, sondern Kognitives. Das heißt, ich hatte schlicht etwas vergessen. Es gab keinen Ort und keine Begebenheit, bei der ich Māyā gesehen hatte und trotzdem war ich mir sicher. Vielleicht waren es die lauen Sommerwinde, die auch zu Halluzinationen verleiten konnten, aber es ließ mich nicht in Ruh'.
Auch zu Hause nicht, obwohl ich es mir verbat, suchte mein Gedächtnis immer wieder nach Māyā. Ich erzählte es meiner Freundin. „Du hast dich verliebt.“ interpretierte sie es knapp. Gitta und ich waren ein Herz und eine Seele. Sie war so rund, nein äußerlich war sie schlank, aber alles was sie sagte und tat wirkte rund und ausgeglichen. Bestimmt verkörperte sie Ying und Yang persönlich. Ich war begeistert von diesem Menschen, der Gitta hieß. Wenn ich an Gott glaubte, würde ich ihn dafür bewundern, dass er so herrliche Menschen schaffen könnte. Aber ich liebte Gitta nicht. Das heißt, ich liebte sie schon, hatte nichts an ihr auszusetzen, aber ich liebte sie wie meine Schwester. Natürlich schliefen wir miteinander, aber ich meinte immer zur Liebe zwischen Mann und Frau müsse auch etwas anderes gehören, wie Sehnsucht, Begierde und Verlangen. Das schien aber nicht nur bei mir, sondern auch bei Gitta zu fehlen. „Ich weiß gar nicht, wie Verlangen geht, wie man das macht.“ hatte sie mal gesagt. Lachend hatten wir uns umschlungen, aber wir wussten es beide nicht. Wir gefielen uns einfach gut, mehr nicht, aber vielleicht ist das ja doch ungeheuer viel.
„Zu den Bäumen weiß ich wahrscheinlich ein bisschen mehr als auf den Täfelchen steht, aber viel Ahnung habe ich da auch nicht. Mein Schwerpunkt liegt nicht in der Forstwirtschaft.“ erklärte ich zu Beginn als ich Māyā wiedertraf und wir uns beim Rundgang durch das Arboretum unterhalten wollten. „Und wo liegt er?“ erkundigte sie sich. „Ich beschäftige mich hauptsächlich mit den Ursprüngen des Lebens und Biochemie. Das findet aber nicht hier statt. Nur Biochemie ist und wird das Zentrale sein. Hier machen sie bewundernswerte Versuche, aber wenn du es heute nicht biochemisch erklären kannst, bedeutet es nicht viel.“ erklärte ich. „Wundervoll hört sich das an. Mit den Ursprüngen des Lebens würde ich mich auch viel lieber beschäftigen. Ich hätte gern Sinologie studiert. Die völlig andere Art zu denken als in unserer abendländischen Kultur faszinierte mich. Nur wie würde das Studium praktisch aussehen: Lesen, schreiben, sprechen lernen und das immer und immer wieder bis zum Erbrechen, von deinen Bedürfnissen würde niemand etwas wissen wollen. Du wirst fit gemacht, damit du in der Wirtschaft gebraucht werden kannst. Das ist unser Bezug zum Chinesischen heute. Ich war als Schülerin ein Jahr in den USA und ein halbes Jahr in Frankreich, was studierst du also? Amerikanistik und Romanistik, was sonst. Du brichst nicht aus und tust etwas ganz anderes. Dafür bist du viel zu angepasst, das macht dir Angst und erscheint dir als unsicher und beschwerlich.“ Māyā dazu. „Ich bin aber kein Tier und Pflanzenliebhaber, der deshalb konsequenterweise Biologie studiert hätte. Weder Hund noch Katze noch Meerschweinchen habe ich gehabt und auch kein Gärtlein, in dem ich etwas gezüchtet hätte.“ erklärte ich. „So müssen die Bezüge ja auch nicht sein, Oliver, aber irgendetwas, das dich motiviert hat, muss es doch schon gegeben haben.“ sah es Māyā. „Ja, natürlich, du kannst als Philosoph oder als Naturwissenschaftler das Leben zu ergründen versuchen, und da haben mich die biologischen und biochemischen Erkenntnisse in der Oberstufe ungemein fasziniert.“ erläuterte ich. „Das Bild von einem tollen Forscher, der später vielleicht mal den Nobelpreis bekommt, schwebte dir vor Augen.“ interpretiere Māyā. „Ach, Quatsch, das Interesse an der Sache war es.“ erwiderte ich. „Das sagen sie alle, aber etwas anstreben, wobei es keine Helden gibt, das können Männer doch gar nicht.“ wusste Māyā und ließ uns beide lachen. „Frauen brauchen das nicht. Ihnen reicht es, wenn das mütterlich, fürsorgliche Potential hoch genug ist.“ konstatierte ich scherzend. „Ja du lachst, aber sie machen schon sehr unterschiedliche Typen aus uns.“ Māyā darauf. „Wer, sie?“ fragte ich nach. „Na, alle deine Volksgenossinnen und Volksgenossen, da sind sie unterschiedslos alle einig. Du bist entweder ein Mädchen oder ein Junge, wenn du geboren wirst. Das wird so widerspruchslos beschlossen.“ antwortete Māyā. „Ne, ne, das bestimmen nicht die Mitmenschen bei deiner Geburt, das haben schon die Zellen im frühen Stadium deiner Embryonalentwicklung entschieden. Dir wird nur ihre Entscheidung präsentiert.“ widersprach ich. „Bei Puma Kindern ist das vielleicht so. Merken wird die Mutter bei ihrer Brutpflege wahrscheinlich schon, ob es sich um ein männliches oder weibliches Junges handelt, aber das spielt überhaupt keine Rolle. Es geht nur darum, sie zu befähigen, ein eigenes Revier zu verteidigen und sich am Leben zu halten. Das gilt für beide gleich. Wenn sie das können vertreibt die Mutter sie, und beide leben auf die gleiche weise, ob sie Männchen oder Weibchen sind. Nur einmal lässt das Weibchen wegen der Brunft ein Männchen in sein Revier, ansonsten leben beide für sich völlig gleich. Bei den Pumas ist die biologische Geschlechtsunterscheidung sicher richtig und angebracht. Bei den Menschen ist das Geschlecht aber ausschließlich eine soziale Kategorie, die Sozialcharaktere historisch relativ und gesellschaftlich produziert. Wenn du dein Geschlecht erfolgreich darstellst, wird das Vorhandensein entsprechender Genitalien unterstellt.“ belehrte mich Māyā. „Aber du kannst den biologischen Unterschied bei der Geburt doch erkennen.“ widersprach ich. „Aber es gibt kein biologisches Mädchen oder einen biologischen Jungen. Zigtausend Untersuchungen gibt es, die seit den Anfängen der Forschung den Unterschied zwischen Mann und Frau und meistens noch die Überlegenheit des Mannes eruiert und festgestellt haben. Trotzdem gibt es keine weibliche Rasse. Die Mutter und alle anderen auch haben bei dem Wort Mädchen ein Bild und das ist aus sozialen Kenntnissen und Impressionen zusammengesetzt, immer und ausschließlich, das liegt in ihrem Blick, wenn sie die kleine Māyā zum ersten mal anschaut und so wird es immer bleiben. Die kleine Māyā wird später ihre Identität als Mädchen entwickeln. Eine biologisch weibliche Māyā gibt es nicht, ihr Geschlecht ist nur als soziale, kulturelle Konstruktion denkbar.“ klärte mich Māyā auf. „Ich verspüre Widerspenstigkeit in mir, möchte dir widersprechen, kann das, was du gesagt hast, als Biologe nicht einfach schlucken, aber das bildet sicher die Basis dafür, weshalb du gesagt hast, du seist keine Frau. Ist das richtig?“ fragte ich Māyā.
Sie antwortete nicht. Schaute mich nur liebevoll lächelnd aber intensiv an. „Du warst mal in Paris, nicht wahr?“ fragte Māyā. „Ja, schon öfter.“ antwortete ich kurz. „Mit dem Flugzeug?“ fügte Māyā hinzu. Erschrocken, als ob ich plötzlich eine Erscheinung hätte, blieb ich angewurzelt stehen. „Ja, natürlich, Māyā,“ entfuhr es mir, „Ich vermutete schon Halluzinationen, weil ich sicher meinte, dein Gesicht schon mal gesehen zu haben. Was macht dein Freund, ärgerst du ihn immer noch?“ fragte ich. Zuerst lachte Māyā stumm, wohl in Erinnerung an die damalige Situation im Flieger, aber dann wurde sie ernst. „Mein Freund? Ich habe keinen Freund. Ich will so etwas nicht. Doch ja, du hast schon Recht, er war mein Freund.“ sagte sie. Von ihrem Outfit her hätte ich Māyā nicht wiedererkannt, sie wirkte damals wegen ihrer Ringe, Armreifen und Ketten aus Silber recht indisch auf mich, aber ihr Gesicht erschien mir damals schon sehr prägnant. Vor etwa drei Jahren bin ich nach Bilbao geflogen und da war die Strecke nach Paris im Flug enthalten. Ich habe mich für meine Dummheit geärgert, wurde aber durch das Pärchen vor mir, das heißt Māyā, für alles entschädigt. Ihr Freund saß direkt vor mir. Was er machte, konnte ich nicht sehen, aber wahrscheinlich wollte er in Ruhe lesen und Māyā hatte Lust, ihn dabei zu stören. Schon mal küssten sie sich ganz brav aber meistens wollte Māyā ihn durch Kitzeln oder sonst etwas ärgern und stören. Sie schaute dabei vorher immer zu mir und grinste, als ob wir für den Streich gemeinsam im Bunde wären. Auch wenn sie sich geküsst hatten, blickte sie anschließend schelmisch zwischen den Sitzen durch, als ob sie von mir Bestätigung erwarte. Sie kam mir damals jung und äußerst lebenslustig vor. Wenn ihr das nicht verloren ginge, könnte sie sicher später nicht nur ihren Freund sondern alles in der Gewalt haben. Sie würde bestimmt eine hervorragende Schauspielerin, hatte ich damals gedacht. Wie konnte ich mich daran nicht erinnern, als ich Māyā sah? Vielleicht weil das indisch wirkende Gepräge fehlte. „Als wunderschöne junge Frau habe dich damals gesehen, Māyā. Aber du willst gar keine Frau sein, wie schade.“ sagte ich. Māyā lachte stumm. „Welches Geschlecht ich auch immer habe, aber dass man jemand anderem gefällt, ist doch wundervoll. Nur der Betrachter ist ja nicht ungeschlechtlich. Ob ich einem Mann oder einer Frau gefalle, das macht doch schon einen Unterschied, oder?“ fragte sie. „Das mag ja sein, aber meine Erinnerung an den Flug und dich jetzt zu betrachten, löst einfach ein Wohlgefühl bei mir aus. Es ist das Soziale, ich freue mich, dich zu kennen und dich zu sehen. Mit sexuellen Implikationen hat das überhaupt nichts zu tun. Es gefällt mir einfach.“ erklärte ich. „Das glaubst du? Du kannst dich nicht davon frei machen, ein Mann zu sein. Etwas anderes hat Oliver nicht gelernt für seine Identität. Du kannst nicht beschließen, dich jetzt mal als Neutrum zu empfinden.“ Māyā darauf. „Du kannst es aber, wenn du sagst, dass du keine Frau bist?“ wollte ich wissen. „Natürlich bin ich eine Frau, leider viel zu sehr. Auch wenn ich schon in der Trotzphase erklärt haben soll, kein Mädchen zu sein. Ich bin auch darüber hinaus immer sehr widerspenstig geblieben und so etwas als Mädchen, das doch eigentlich viel artiger zu sein hätte als Jungen. Ich habe jedes Wort der Beschimpfung erlebt, das es für Reaktanz gibt. Alle reagieren ja böse darauf, wenn du dich selbstbehauptend ihrer Botschaft widersetzt, nur meine Mutter hat mich immer akzeptiert und versuchte, mich nicht zu beeinflussen. Anderen gegenüber erklärte sie immer nur: „Das ist unsere Māyā.“, und meine ältere Schwester bewunderte es immer, wie ich mich verweigerte. Meine Tante riet meiner Mutter mit mir zum Therapeuten zu gehen, aber ich war ja nicht ein prinzipiell renitenter Mensch. Ich musste wohl ein ungewöhnliches Ego, meine Mutter sagte, eine starke Persönlichkeit, entwickelt haben, weshalb ich von klein an darauf achtete, dass mit mir nur das geschah, was ich auch selber wollte. Vieles von der üblichen Sozialisation eines Mädchen fehlt mir sicher, aber insgesamt kannst du dich der soziokulturellen Bestimmung und Festlegung nicht voll entziehen. Überall wirst du als Mädchen oder Frau gesehen und mit den entsprechenden Verhaltensweisen konfrontiert. Auch wenn es keine Untersuchungen gibt, die einen geschlechtsspezifischen Unterschied zweifelsfrei belegen, in unserer soziokulturellen Wahrnehmung und unserem gesellschaftlichen Verhalten existieren sie aber stark. Da gibt es kein drittes Geschlecht, unsere Kultur lässt ein Māyā-Geschlecht nicht zu.“ erklärte Māyā. „Aber du versuchst, alles zu unterlassen, was dir als typisch weiblich erscheint?“ wollte ich wissen. „Vielleicht, das Feminine missfällt mir in all seinen Ausprägungen und Schattierungen. Es versinnbildlicht mir immer eine Überangepasstheit an die vorgegebene Rolle. In der betont weiblich wirkenden Frau sehe ich immer das Kind, das so idiotisch war, stolz darauf zu sein, ein Mädchen sein zu dürfen, stolz darauf, das zu tun, was man ihm vorgab. Ich sehe in ihr den affirmativen Menschen.“ antwortete Māyā. „Du wirst mich jetzt ausschimpfen und mir erklären, warum das so ist, aber leider sehe ich es so, dass es wundervolle Frauen gibt, dich eingeschlossen.“ erklärte ich, lachte, und Māyā lachte auch. „Auch wenn ich erklärt habe, dass ich sehr widerspenstig sein kann, affirmatives Denken verabscheue, meine Eigenständigkeit mir sehr viel bedeutet, bin ich doch ein sozial sehr kompatibler Mensch. Warum soll das ein Mann nicht ebenso sein können. Ich mag auch andere Menschen, ich glaube, viel zu schnell sehr gern. Es kommt mir oft vor, als ob ich fremde Menschen viel schneller und besser verstehen könnte als andere. Leider handelt es sich dabei viel zu oft um Männer. Ich verstehe mich selber nicht, aber ich will das gar nicht.“ verdeutlichte Māyā. „Ja, du machtest auf mich damals im Flugzeug einen sehr verliebten Eindruck, und so etwas willst du nicht?“ fragte ich. Wir waren mittlerweile einmal rum gekommen im Arboretum. „Ich weiß nicht, ob du das wissen musst, Oliver? Ich habe dir schon so viel von mir erzählt, aber jemandem, der sich mit den Ursprüngen des Lebens befasst, sollten die Ursprünge seines Geschlechts auch nicht ganz verborgen bleiben.“ meinte Māyā und lachte. „Sollen wir noch einmal rumgehen, oder sollen wir uns anderswo treffen? Es ist noch so vieles offen, und ich möchte dich unbedingt gerne wiedersehen.“ erklärte ich. Māyā blickte rätselnd, war aber einverstanden. Wir vereinbarten ein Café für die nächste Woche zum gleichen Zeitpunkt.
„Da ist nichts, was nicht Māyā ist.“ hatte sie gesagt. Das brauchte ich mir nicht zu merken, danach verfuhren meine Gedanken automatisch. Wie gern hätte ich in mein tiefstes Unbewusstes geschaut, um zu erkennen, was Māyā in mir ansprach, aber auch was ich sah und erklären konnte, beglückte mein Empfinden. Das sollte ich nicht selbst sein, sondern die mir anerzogene Rolle als Junge und Mann ließ mich so empfinden? Dann freute ich mich zum ersten mal darüber, ein Mann zu sein. Viele Gedanken hatte ich mir darüber bislang noch nicht gemacht. Das übertrieben Männliche und die zum zum Teil unübertreffliche, typisch männliche Dummheit waren mir allerdings schon zuwider. Auch das neue männliche Lifestyle Feeling und Metrosexuelle mochte ich überhaupt nicht. Dass Männer in Gesprächen oft dazu neigen, mit ihren Heldentaten zu prahlen, gefiel mir ebenfalls nicht. Sie wollten reden, aber ihre Beiträge waren kommunikativ tödlich. Man konnte es nicht generalisieren, natürlich gab es auch Frauen, die Gewäsch plapperten, aber auf Partys oder Feiern suchte ich lieber das Gespräch mit ihnen. Ich hatte mich nie als Außenseiter empfunden, war mit Sicherheit kein Nonkonformist, aber genauso wie die meisten kam ich mir doch nicht vor. Dass ich gern klassische Musik hörte, nicht zum Fußballplatz ging oder Sonntags grölend vor der Glotze hing, fiel schon aus dem Rahmen, störte aber nicht. Schon in der Schule hatte ich den Eindruck, mich mit Mädchen, den normalen, nicht den Teenyboppern, besser und angenehmer verständigen zu können als mit den Jungen. Es durfte nicht nur klassische Musik sein, die ich gern hörte, auch in Jazz, Folk und World Music oder Ähnlichem empfand ich vieles, als ob es die Volksmusik unserer Zeit heute sei. Den wütend kreischenden Punkrockern gegenüber erschien mir Beethoven allerdings von weitaus höherer orgiastischer Kompetenz. Auch im Kunstunterricht gab es nur zwei Mädchen und einen weiteren Jungen, die ähnliches Interesse am Verstehen des Wahrzunehmenden und seines Erkennens hatten. Gewiss war ich nicht jemand, der durch besondere Sensibilität im Alltag auffiel, aber es kam mir manchmal schon so vor, dass ich dort, wo andere dicke Drähte hatten, die nur auf Starkstrom reagierten, über feine, empfindliche Rezeptoren verfügte. Gerade in sozialen Zusammenhängen wurde mir das öfter bewusst. Als erwachsener Mann außerhalb der Schule kamen mir die Unterschiede zu vielen anderen Männern noch deutlicher vor. Da hatte Māyā sicher Recht, welcher Mann hätte mir das, was sie wusste und wie sie es sah erzählen können. Ich fieberte unserem Treffen entgegen.
Wie selbstverständlich umarmten wir uns zur Begrüßung, ist ja nichts Ungewöhnliches, aber unter guten Bekannten. Waren wir das? Meinetwegen schon, wenn Māyā es auch so sähe, würde es mich freuen. „Wir haben nur geredet, und du hast die Bäume gar nicht gesehen.“ erklärte ich zu unserem Parkrundgang. „Doch, wahrgenommen habe ich sie schon irgendwie. Als normaler Waldweg kam es mir nicht vor. Vielleicht eher wie in einem Märchenwald. Bestimmt kannst du nur dort ungewöhnliche Gedanken und Empfindungen haben.“ meinte Māyā. „Ich habe dich damals schlicht als schöne, lebenslustige, junge Frau gesehen, jetzt denke ich, dass deine Psyche auch eher einem Märchenwald gleichen muss mit vielen Überraschungen, Wundern und Ungereimtheiten.“ bemerkte ich. Māyā lachte. „Willst du sagen, dass man mich nicht verstehen kann?“ fragte sie, „Das ist ja nicht ungewöhnlich. Wann kannst du einen anderen schon wirklich verstehen? Völlig nie, er bleibt immer der andere, der nicht du bist, und der etwas in sich trägt, das du nicht verstehst. Aber was willst du jetzt überhaupt von mir verstehen? Wir kennen uns doch kaum.“ „Du hast ja Recht, ich weiß nicht warum, aber es drängt mich, dich besser verstehen zu können. Ich glaube auch, ich möchte von dir lernen. Zu sagen, ich bin kein Mann, weil ich es nicht selbst bestimmt habe, so ein Bewusstsein habe ich nicht. Dir gegenüber komme ich mir eher wie ein affirmativer Trottel vor.“ antwortete ich. Māyā lachte und streichelte mir über die Wange. „Mein Lieber, das bist du bestimmt nicht.“ versicherte sie mir tröstend, „Erinnere dich doch an den Flug. Haben wir uns nicht vom ersten Blick an verstanden? Bestimmt trägst du ein großes rollenkritisches Potential in dir, was ich direkt erkannt habe. Du solltest es nutzen und praktisch wirksam werden lassen.“ erklärte Māyā, und ließ uns beide lachen. „In der sozialphilosophischen, pädagogischen und nicht zuletzt in der politischen Diskussion wird es gewiss von Bedeutung sein, aber ich persönlich weiß nicht, warum ich mit der männlichen Rolle in meiner Ausprägung so schrecklich unzufrieden sein sollte. Ich fühle mich ziemlich wohl und denke, dass Zweifel daran mir überflüssige psychische Belastungen bringen würden.“ lautete meine Ansicht. „Was willst du denn lernen, wenn du der Mann bist, der selbstgenügsam mit sich selbst im Reinen ist und nichts hinterfragen will? Das bist du auch nicht. So viel kenne ich schon von dir.“ entgegnete Māyā. „Aber deine Einstellung verursacht doch Widersprüchlichkeiten und bringt dich selbst in Schwierigkeiten.“ antwortete ich. „Aha, und wo kannst du die erkennen?“ wollte Māyā wissen. „Na, immer wenn du emotional etwas möchtest, das dir dein Rollenwunschbild aber verbietet, wenn du erleben musst, dass du nicht die bist, die du sein möchtest, dass es zwei Māyās gibt, die nicht immer miteinander harmonieren.“ erläuterte ich. Māyā fixierte mich. „Das ist doch nicht typisch dafür, ob du deine dir zugewiesene Geschlechterrolle kritisch siehst. Das kommt doch in allen Zusammenhängen vor. Du hast das Bild, das dich lachen ließ, als wir uns trafen nicht gesehen, die Bilder von Donaueschingen und Westfalen entstehen auch ohne Beteiligung deines Bewusstseins. Was meinst du, was du noch alles tust, ohne dass der freie Wille deines Bewusstseins beteiligt ist, vermutlich das meiste. Dass es da zu Konflikten zwischen deinen rationalen Intentionen und deinem praktischen Handeln und Empfinden kommen kann, ist doch nichts Außergewöhnliches und kommt gewiss nicht nur bei der Auseinandersetzung mit deiner geschlechtlichen Bestimmung vor. Nicht wenige ernste psychische Konflikte beruhen darauf, dass dein Ego und deine Libido sich nicht vertragen.“ belehrte mich Māyā. Ich hatte das Bild ihrer Verliebtheit im Flieger vor Augen, stellte mir vor, dass sie beschloss: „Ich will keine Beziehung zu einem Mann.“ und brach das Verhältnis ab. So etwas war für mich menschlich unverständlich und psychisch nicht nachzuvollziehen. Ich wusste ja nicht, ob es bei Māyā wirklich so gelaufen war, aber denkbar war es schon. „Ihre Geschlechterrolle übernehmen die Menschen doch in der Regel völlig unbewusst, identifizieren sich damit und finden ihre Identität darin. Die Frau oder der Mann das sind sie selbst und so fühlen sie sich. Du identifizierst dich aber nicht mit der Rolle als Frau. Wie fühlst du dich denn?“ fragte ich und brachte Māyā dadurch zum Lachen. „Ich fühle mich als Chimäre, als feuerspeiendes Ungeheuer mit drei Köpfen. Quatsch ich bin als Mädchen und Frau aufgewachsen. Die Welt will in mir die Frau von heute erkennen. Ich kann mich nicht einfach davon lossagen, nur das affirmative Weibchen will ich nicht sein, und versuche mich so viel wie möglich dagegen zu wehren. Im Übrigen fühle ich mich als Māyā.“ antwortete sie. „Ich kenne noch einen Wald mit großen alten Bäumen. Hänsel und Gretel und der böse Wolf ließen sich da sicher gut unterbringen. Jetzt gibt’s da auch ein Café, früher haben die Fürsten dort ihre Wildschweine gejagt. Hast du Lust auf so etwas?“ fragte ich. Wir verabredeten uns für die nächste Woche im Forst.
Ob Māyā für mich das Absolute und die Ewigkeit verkörperte, weiß ich nicht, aber das Bild einer anderen Welt, einer neuen Welt, in der ich gern zu Hause sein möchte, schon. Ihre jugendliche Lebenslustigkeit vom Flug dominierte nicht ihre Erscheinung heute. Ich glaubte, recht selbstsicher zu sein, ganz Bedeutsames zu wissen und zu können, vor allem aber meinte ich, dass es mir an Durchblick nicht mangele und ich gut mit anderen Menschen umgehen könne. Wenn ich an Māyā dachte, schrumpfte das aber alles zusammen. Mein Selbstbewusstsein und Selbstbild kamen mir bieder und hausbacken vor. Māyā schien den Schlüssel zum Tor für eine andere Welt zu haben, die heller und leuchtender strahlte und einen klareren und deutlicheren Blick versprach, nicht nur die Zusammenhänge besser erkennen ließ, sondern allem ein Lächeln auflegte. Sie hatte schon Recht, die Entstehung des Lebens war ungeheuer faszinierend, aber was bedeutete es, wenn du deine eigenen Ursprünge nicht kanntest, nicht wusstest, wer du selber warst und warum und wodurch. Ich musste ja nicht alles von mir in Zweifel ziehen, aber mehr verstehen zu können, darauf brannte ich fast. Māyā umschlang mich an der Hüfte und ihr Gang hatte einen tänzerischen Beiklang. „Wundervoll, diese großen alten Bäume, die schon älter sind als unsere Urgroßeltern. Was sie uns wohl sagen würden, wenn sie sprechen könnten? Kannst du sie verstehen?“ fragte Māyā scherzend. „Natürlich, sie erzählen die alten Geschichten,“ erklärte ich, „als noch der Räuberhauptmann hier wohnte.“ „Und Dornröschen hier schlief.“ ergänzte mich Māyā. „Nein, die war doch in einem Schloss, aber Schneewittchen hat hier gelebt. Ihre sieben Berge hast du bestimmt schon gesehen. Die Sieben Zwerge werden jetzt denken, dass Schneewittchen wieder zurückgekehrt sei.“ wusste ich. „Ja, und du bist der achte Zwerg. Nein, nicht Zwerg, mein Seneschall bist du. Willst du das sein?“ fragte Māyā und lachte. Ich ebenfalls, unsere lachenden Gesichter blickten sich an. Wir hatten über Unsinn gelacht, aber in unseren Blicken war er plötzlich verschwunden. Ich sah Māyā, und erkannte in ihrem Blick, dass sie mich sah. In unseren Augen waren wir uns ganz nah. Māyā zog meinen Kopf zu sich. Offensichtlich wollten sich unsere Lippen ebenfalls ganz nah sein, wir küssten uns. Noch völlig konsterniert sah ich, wie Māyā sich mehrfach über den Mund wischte, alles ausputzen wollte. „Das durfte nicht geschehen, oder?“ fragte ich. „Natürlich nicht, hat deine Mutti dir denn nicht vermittelt, dass man nicht einfach fremde Mädchen küsst? Oliver, ich find dich nett, ich mag dich, du gefällst mir, aber warum nur? Vielleicht gibt es da ja doch etwas biologisches wie beim Pumaweibchen. Nur Männchen lässt sie in ihr Revier, und mir kommt es auch so vor, dass ich Männer besser riechen kann. Ich weiß nicht wo und wie ich es gelernt haben soll. Immer habe ich mich derartigen Übungen zu entziehen versucht. Viel lieber möchte ich eine Frau toll finden können und mich in sie verlieben, aber das geschieht nicht. Doch mein Liebstes ist Brenda, aber sie ist nicht hier.“ erklärte Māyā deutlich aber belustigt. „Warum kannst du es denn nicht zulassen? Es sind doch deine Gefühle, deine Bedürfnisse, die du verspürst, warum musst du dich ihnen widersetzen?“ wollte ich wissen. „Weil das zwangsläufig in die Katastrophe führt. Langsam wirst du die Māyā verlieren und immer mehr nur noch Frau sein. Für jeden Mann bist du primär die Frau, die Geschlechterrolle ist unüberwindbar, sie dominiert immer. Wie in einem Mädchenpensionat in vorgeschrittenen Alter hast du dich zu entwickeln, so kommt es dir vor. Du hast ganz Frau zu sein und das zu spielen. Dem gegenüber Renitenza zeigen, den du doch liebst, das bringst du nicht zustande, und er versteht es auch nicht. Da hat deine gut abgehangene Frau schon üble Erfahrung. Das möchte ich nicht nochmal erleben. Deshalb bin ich auch hier.“ erklärte Māyā. „Du suchst also hier ein neues Leben ohne Liebe?“ fragte ich. Māyā grinste. „Oliver, mich zerreißt es. Einerseits kann ich es nicht ertragen, aus Liebe etwas geschehen zu lassen, was ich eigentlich gar nicht will, aber andererseits empfinde ich Liebe so stark, ich lass mich von ihr überwältigen, sie hat mich voll im Griff. Ist das nicht entsetzlich?“ wollte Māyā von mir wissen. „So etwas selbst zu erleben, danach sehne ich mich, das kannst du nicht verstehen, nicht wahr?“ antwortete ich. Wir lachten beide. „Du hast keine Freundin?“ fragte Māyā. „Doch, wir mögen uns äußerst gern, aber wir lieben uns nicht.“ erklärte ich dazu. Māyā stutzte und überlegte. „Das ist doch wunderbar. So etwas würde ich mir wünschen. Wie habt ihr das denn gemacht. Ich könnte das gar nicht.“ meinte Māyā. Ich musste von Gitta und mir erzählen. „Herrlich,“ kommentierte Māyā, „aber Liebe ist doch auch schön, oder?“ „Auf jeden Fall, Liebe ist es ja schon, aber wir sind nicht Romeo und Julia.“ meinte ich dazu. „Aber ist es nicht so, dass die Menschen lernen, wie die große Liebe für einen Mann und für eine Frau auszusehen hat, sie haben es internalisiert und empfinden dann auch so. Die großen Unterschiede in ihrer geschlechtsbezogenen Sozialisation treten dabei aber besonders deutlich zu Tage. Die sozial kompetentere Frau, hat aus Liebe großzügiger zu sein. Aus Liebe übersieht sie den ersten Stein, den der Mann ihr vor die Füße geworfen hat. Dass sie selbst nicht mehr existiert, stellt sie erst fest, wenn sie gesteinigt ist. Den erste Stein hätte sie ihm gleich an den Kopf werfen sollen, aber das kann sie nicht, und er wäre auch entsetzt gewesen. So soll Liebe für mich nicht aussehen. Das will ich für mich nicht zulassen. Ich weiß nicht, wie sich Liebe für mich gestalten sollte, aber auf keinen Fall so, wie ich es erlebt habe. Dabei verliere ich mich selbst, und dafür bin ich mir zu kostbar.“ erklärte Māyā. Wir tranken noch einen Kaffee und schauten den Kindern auf dem Spielplatz zu. Als ich Māyā im Flugzeug erlebt hatte, legte es mir ein Lächeln auf, eine nette Episode, die zu Ende war, als sich unsere Wege im Flughafen trennten. Sollte es jetzt auch so sein? Eine nette Episode, Māyā getroffen zu haben? Ich wusste es nicht. Wahrscheinlich würde es sich so ereignen, ertragen konnte ich es aber nicht. Als ich sie fragte, ob ihr der Forst gut gefallen habe und sie noch mehr davon zu sehen wünsche, grinste sie, willigte aber sofort ein. Zum Abschied gab es wieder einen Kuss, diesmal aber ohne Auswischen.
Wir trafen uns jetzt jede Woche, mal in einem Park, mal in einem Café und einen Kuss gab es nicht nur zum Abschied und zur Begrüßung. All zu leidenschaftliche Formen schienen sie aber nicht annehmen zu dürfen, sie blieben eher zart und freundlich. Ob es sonst zu viele Gefahren in sich barg? Worüber wir redeten, war relativ beliebig, mal über etwas Aktuelles, mal über etwas, das jemand gerade interessant fand, viel über Musik, aber am interessantesten war es immer, wenn wir über die Rollenerwartungen an Frau oder Mann sprachen. „Wenn wir uns nicht als Mann und Frau biologisch, sondern ausschließlich sozial kulturell definieren, welchem Geschlecht möchtest du denn am liebsten angehören?“ Wollte ich zum Beispiel wissen. „Wenn es eine kulturspezifische Festlegung ist, warum kann es da nicht drei, sieben, viele Geschlechter geben? Vielleicht gäbe es für dich dann ja auch noch eine eigene Rubrik. Wer und was du bist, ist deine besondere Eigenart und nicht, was man unter der Rolle Mann oder Frau versteht. Warum will man dich da hineinpressen. Mann oder Frau das sagt etwas, was die Gesellschaft darunter verstehen will, aber nichts über Oliver.“ meinte Māyā. Worüber wir sprachen war relativ beliebig und nicht so bedeutsam, dass wir uns einmal in der Woche dazu hätten treffen müssen, aber unsere Sprache veränderte sich. Hatten wir zu Beginn noch Lust daran gehabt, uns gegenseitig zu provozieren, sprachen wir im Laufe der Zeit ausschließlich milde und lieblich miteinander. Selbst wenn Māyā über ihren Besuch auf dem Schrottplatz berichtete, klang es wie ein Liebeslied. Die Worte, die wir austauschten, konnten mit ihrem Inhalt nicht das vermitteln, was wir uns zu sagen hatten. Es waren die Klänge, die Melodie und der Rhythmus, die wir verstanden und zu interpretieren wussten. Mehr als unsere Küsse faszinierten mich vor allem Māyās Blicke. Sie berührten nicht nur meine Lippen, sondern sprachen mich tief innerlich an, erreichten mein Herz, wenn man so will. Dass Māyā intensiv und leidenschaftlich lieben würde, konnte ich gut empfinden. Vielleicht hatte sie wie Penthesilea ihren Freund zu stark geliebt. Umgebracht haben würde sie ihn nicht, aber wahrscheinlich alles aus ihrem Leben verbannt, was sie daran erinnern konnte. „Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte.“ ob es Māyā ähnlich ergangen war? Vorstellen konnte ich es mir schon. Das sagte nicht nur das Bild der jugendlichen, lebenshungrigen Frau im Flieger, sondern ihr Blick heute nicht weniger. Māyā hatte gesagt, dass sie mich nett fände und mich möchte. Kein weiteres Wort hatten wir seitdem über unsere Beziehung geredet. Unsere Blicke und natürlich auch die Form unserer Mimik und Sprache hatten das allein unter sich ausmachen müssen. Bestimmt hatten sie viel mehr gesagt, als banale Worte hätten vermitteln können. Dass Māyā und ich uns jede Woche trafen, lag eindeutig nicht nur an den Inhalten oder an meiner Sehnsucht, mich mit Māyā zu treffen. Wo wir uns auch getroffen hatten, im Park, im Café oder im Bistro für mich und für Māyā war es immer ein Besuch im Garten des Paradieses. Das galt für Māyā genauso, denn ihre Blicke hatten es nicht verbergen können und wohl auch nicht verbergen wollen.
Zu Beginn der Semesterferien erklärte Māyā, dass sie sich in der nächsten Woche nicht mit mir treffen könne. Erst zu Hause fiel mir auf, dass wir für die übernächste Woche nichts ausgemacht hatten. Wie sollte ich Māyā denn erreichen? Wir hatten keinerlei Adressen oder Telefonnummern ausgetauscht, uns auch nie bei jemandem zu Hause getroffen. Diese Idiotie untergrub meine Selbstwertschätzung stärker als alle Einsichten in mein typisch männliches und sonstiges Fehlverhalten. Wie konnte ich so dumm und dämlich sein? Was konnte ich tun? Auf Māyā warten, dass sie sich mal bei uns im Institut sehen ließ? Es war nicht zu ertragen. Ich hatte nichts anderes mehr vor Augen als Māyā. Alle Telefonbücher und Internetverzeichnisse durchstöberte ich. Māyā Klingenberg musste doch geführt werden und schließlich irgendwo zu finden sein und auffallen. Vielleicht würden sie mir im Institut ihre Adresse verraten, aber bei den Romanisten kam man sich schon großzügig vor, weil man mir verriet, dass sie eingeschriebene Studentin sei. Mehrfach wartete ich halbe Tage im Foyer. Vergeblich, aber es waren ja auch Semesterferien. Dass Māyā einfach in Urlaub gefahren war, verschwunden, ohne mir etwas zu sagen, das war nicht denkbar. Dass sie mich liebte und es mir gesagt haben würde, dessen war ich mir absolut sicher. Alles hatte keinen Zweck. Vielleicht war ihr etwas zugestoßen. Sollte ich mal bei der Polizei fragen? Da wusste man auch nichts, aber eine Suchanzeige aufgeben, das machte ich doch nicht. Dass wir uns geliebt hatten, ließ sich doch nicht bezweifeln, auch wenn wir kein Wort darüber verloren hatten. Māyā hatte es genauso gut nicht verborgen bleiben können wie mir. War sie wieder vor der Liebe geflüchtet, aber sie war doch noch hier, als Studentin eingeschrieben. Oft weinte und grübelte ich. Alles sollte vorbei sein? Māyā dürfe in meinem Leben nicht länger existieren, weil sie keine Frau war und sich nicht in einen Mann verlieben durfte? Mir war nur der Blick ins Paradies erlaubt worden, aber dann hatte man die Tore wieder geschlossen. Was ich gesehen hatte, lebte aber in mir und war nicht wieder auszulöschen. Māyā, die gar keine Frau sein wollte, für mich aber das wundervollste unter allen weiblichen Geschöpfen dieser Welt war. Ich hatte sie verloren und konnte nur von ihr träumen? Tristesse überfiel mich schon öfter, aber nicht selten war Māyā einfach da, in meinen Gedanken. Dann ließ ich sie an allem teilhaben, versuchte ihr etwas zu erklären und musste besonders ihre Meinung zu allem hören. So war Māyā nicht verschwunden, sie war in mir, da war sie ja auch fast immer schon in irgendeiner Form gewesen. Gitta meinte, man könne das ja verstehen, aber die Trauer und der Schmerz über den Verlust müssten doch langsam abnehmen. „Sonst wird man sagen, du spinnst und fantasierst. Das ist nicht gut für dich, da wirst du Hilfe brauchen.“ sagte sie. Es war so widersprüchlich, manchmal dachte ich, alles lief prima für mich, es gab keine Probleme, warum musste ich Māyā treffen, aber Māyā nicht erlebt zu haben, das konnte ich mir doch nicht wünschen, auf keinen Fall. Unsere Treffen wie ein nettes Intermezzo abhaken, das wollte ich nicht und es ging auch nicht, dafür hatten sie mich zu tief berührt. Ich hatte Māyā ja nicht nur erlebt und war begeistert von ihr, es hatte sich ja, ohne das Wort zu erwähnen, eine tiefe Liebe zwischen uns entwickelt. Eine fremde Frau, die ich mal erlebt hatte, konnte Māyā und die Erinnerung an sie nie mehr werden. Sie war in mir und von dort nicht mehr zu vertreiben. Geschichte, die vorbei ist, konnte Māyā nie mehr werden. Immer würde sie zu meiner Gegenwart gehören, die präsent ist, selbst wenn ich Māyā nie mehr wiedersehen sollte.
Die Tage kamen mir beschwerlicher vor und der Lustfaktor beim Studium schien sich verringert zu haben. Der Verlust von Māyā hatte meinem Alltag einen leicht depressiven Nebel auferlegt, als ob es ein befreites glückliches Allgemeinbefinden nur mit Māyā geben könne. Alle Argumente waren kraftlos, ich konnte es mir nicht ausreden, mein Stimmung ließ nichts anderes zu. Ich brauchte Māyā, meine Psyche konnte ohne sie keine Glücksgefühle entwickeln. In der zweiten Woche des Wintersemesters eilte ich zu einer Veranstaltung. Übliche Alltagslaune. Ich lief über den Hof und wollte meinen Augen nicht trauen, konnte nicht glauben was ich sah. Höchste Erregung verspürte ich überall. Im Moment war ich ein anderer Mensch. Vielleicht kann der Körper sich bei einem Schock auch so blitzartig umstellen, wenn man plötzlich einem Tiger mit aufgerissenem Maul gegenüber steht. Aber kein Tiger sondern Māyā war von einer Bank aufgestanden und kam mir entgegen. „Das ist Brenda.“ sagte sie zart lächelnd auf die Frau verweisend, die noch auf der Bank saß, „Kannst du ihr nicht auch mal die Bäume zeigen?“ fragte Māyā noch betont lapidar, bevor wir uns in die Arme fielen. Uns lösen und aufhören uns zu küssen und zu streicheln? In unserem momentanen Zustand würde das wahrscheinlich nie mehr möglich sein. Māyā für immer festhalten, damit sie nie mehr einen Zentimeter von mir entfernt sein könnte. Sie hatte feuchte Augen und ich schluckte auch. Worte konnten wir nicht sprechen. Wir gingen zu Brenda, die auch aufgestanden war. „Das ist er.“ erklärte Māyā und hielt mich an der Hand vor sie hin. „Brenda meint, dass ich dich lieben sollte.“ sagte Māyā und lachte. „Entschuldigung, Oliver, das will ich kurz sagen, aber ich konnte nicht anders. Ich werde es dir genauer erklären. Ist alles gut, oder bist du böse mit mir?“ fragte Māyā. „Dich wieder zu haben, macht alles gut und lässt alles andere in Sekundenbruchteilen verschwinden. Aber zuerst werden wir unsere Telefonnummern und Adressen austauschen, oder?“ fragte ich. „Jetzt schon, aber damals habe ich es bewusst nicht gewollt.“ Māyā darauf. „Sollen wir nicht lieber in ein gemütliches Café gehen, statt jetzt durch den Wald zu laufen. Ich muss dich so viel anschauen, solange habe ich dein Gesicht nicht gesehen, Entzugserscheinungen, verstehst du? Und so vieles muss ich von dir hören. Meine Ohren sind fast taub geworden, seit sie deine Klänge nicht mehr vernehmen, taub für die moderne Musik der Liebe.“ suchte ich Zustimmung. Wir gingen ins Café. „Brenda hat eine Ferndiagnose gestellt und meint, dass mit dir alles anders werden würde. Wird das zutreffen?“ wollte Māyā wissen und lachte. „Das kann ich nicht sagen. Ich weiß ja nicht, was mit mir anders werden soll als was. Dass ich dich trotzdem für eine wunderschöne Frau halte, auch wenn du es selbst gar nicht sein willst, habe ich dir ja schon gesagt.“ erklärte ich und Brenda, die uns offensichtlich verstand, schmunzelte. „Oliver, ich spürte, wie es den verhängnisvollen Weg nahm, es mir nicht nur mit dir gut gefiel, sondern wie ich Verlangen nach dir hatte, dich wollte, dich begehrte, aber das durfte doch nie mehr geschehen. Ich konnte es mir nicht verbieten, es war einfach da. Ich empfand mich ausweglos, war ratlos und bin vor mir selbst geflüchtet. Brenda und ich kennen und lieben uns seit meinem damaligen USA Aufenthalt. Sie ist mein Alter Ego und meine Schutzgöttin. Sie hat mir damals auch klar gemacht, dass ich verkommen würde, wenn ich es so weiter laufen ließe. Jetzt war Brenda der Ansicht, dass ich mir keinesfalls grundsätzlich meine Liebe verbieten solle, ich müsse nur differenzieren können, für wen ich sie empfinde und was mich erwarte. Sie fand dich wundervoll, nachdem ich ihr von dir erzählt hatte. Sie meinte, wenn mir einer keine Vorschriften machen und mich verstehen würde, dann ein Mann wie du. Wenn du so wärst, wie ich dich beschrieben hätte, würde sie mich um dich beneiden. Wie empfindest du das?“ wollte Māyā wissen. Ich lachte und schaute zu Brenda. Das Māyā und Brenda das stärkste Frauenteam überhaupt waren, konnte ich mir gut vorstellen. Das traf für mich genauso wie für Māyā zu, Frauen, die besonders feminin wirkten, gefielen mir eher nicht. Das war gewiss auch untypisch für einen Mann. Die weise wirkende Frau, deren Blick einen tieferen Hintergrund zum Ausdruck brachte, wie Māyā, Brenda, meine Mutter oder meine Schwester sagten mir mehr zu. „Brenda wird auch eine äußerst kluge, abgeklärte Frau sein, wenn sie das allein schon aus der Beschreibung in mir erkennen kann.“ scherzte ich. „Jeder Mann will von der Frau nur hören, dass er geliebt und bewundert wird. Das scheint das erste zu sein, was kleinen Jungen in der Sozialisation auf irgendeine Art vermittelt wird und ist nie wieder auszurotten. Wenn ich vielleicht für mein Leben in der Trotzphase stecken geblieben bin, ist es bei dir das Fragealter. Ich spüre deine Lust, mich kennenzulernen und verstehen zu wollen. Das sei eine wundervolle Basis, meinte Brenda. Du bist ein neugieriger Mensch geblieben, das gilt nicht nur für das, was du studierst, sondern auch für dein soziales und kommunikatives Verhalten, und das ist wundervoll. Was aber meine Liebe begründet, ist, glaube ich, etwas ganz anderes, nur kann ich das nicht erklären, nichts dazu sagen, spüre nur die außerordentlich starke emotionale Regung. Mein Unbewusstes, du verstehst, sagt es mir nicht. Wir kannten uns ja überhaupt nicht, aber dass ich dich damals im Flieger schon gemocht habe, ist nicht vergessen worden.“ erklärte Māyā. Liebe auf den ersten Blick? Ich weiß nicht, aber sich anschauen und wissen, dass man gemeinsam im Bunde ist, ungewöhnlich ist das doch schon, oder?
Māyā wiedergefunden zu haben versetzte mein emotionales Empfinden in einen Dauerrauschzustand, der sich auch nicht abschwächte, als ich wieder zu Hause war. „Dann ist es mit uns beiden wohl vorbei.“ konstatierte Gitta, traurig zwar, aber nüchtern. Gitta weinte nie, nur lachen konnte sie immer. „Nichts ist vorbei.“ reagierte ich. „Eine Beziehung zu einem anderen Menschen kann nicht einfach vorbei gehen. Auch wenn es nicht das war, was wir uns unter der großen Liebe vorgestellt haben, trotzdem ist es unser kostbares Gut, das in mir ist und immer dort bleiben wird. Du wirst immer da sein, Gitta, auch wenn wir nicht mehr zusammen wohnen und gemeinsam ins Bett gehen. Ich kann meiner Schwester oder meiner Mutter nicht einfach sagen: „Ich liebe dich nicht mehr.“, bei dir ist es nicht anders. Auch wenn wir nicht mehr zusammen sein sollten, bleiben meine Empfindungen für dich doch in mir. Du bist und bleibst eine ganz zauberhafte Frau, ein bewundernswerter Mensch, den ich liebe, und mit dem ich gemeinsam viele schöne Stunden verbracht habe.“ Die Situation war pervers. Mir kamen die Tränen und Gitta tröstete mich. Vielleicht hätte heute unsere Liebe beginnen können. So tief und leidenschaftlich wie an diesem Abend hatten wir uns, glaube ich, nie zuvor geliebt. Meine Welt war Māyā, aber eine tiefe Beziehung zu einem anderen Menschen war das Größte und Wundervollste und durch nichts zu übertreffen. Wie konnte ich so etwas nur nicht erkennen und registrieren als ob es alltägliche Selbstverständlichkeiten wären. Das durfte nicht mehr geschehen. Ob es typisch männlich war? Ich denke nicht, Frauen waren ja genauso schlampig. Jedenfalls würde ich es nicht mehr nur bei einer freundlichen Begrüßung belassen, wenn ich meine Mutter besuchte oder meine Schwester träfe. Ich brannte auch darauf, ihnen von Māyā zu erzählen, wie sehr wir uns liebten und dass sie ihnen nicht völlig unähnlich sei. Psychologisch durfte mich Māyās Aussehen eigentlich nicht reizen, wenn sie Ähnlichkeit mit meiner Mutter oder Schwester aufwies, das untersagte ja das Inzestverbot, aber vielleicht war Freud da etwas verborgen geblieben, denn dass man von Leuten sagte, sie hätten dem Aussehen nach ihren Bruder oder ihre Schwester geheiratet, kam doch recht häufig vor. Nur meine Liebe zu Māyā lag sicherlich nicht darin begründet, dass sie in ihrem Aussehen vielleicht gewisse Affinitäten zu meiner Schwester aufwies Dass ich meine Schwester für sehr klug gehalten, sie bewundert hatte und sie immer vorbehaltlos nach allem fragen konnte, war für mich als Kind und Jugendlicher äußerst bedeutsam gewesen und hatte bestimmt eher sozialisatorisch etwas begründet, das mich und Māyā verband.
Brenda war nur für wenige Tage mit rübergekommen. Sollte und wollte sehen, wie Māyā jetzt lebte. Alles musste ihr gezeigt werden. Für uns gestalteten sich die Tage zu einem Ausbund an übermütigem Glück. Māyā lachte sich ständig tot. Warum? „Mein Unbewusstes“ erklärte sie immer nur und lachte sich wieder schief. Das Unbewusste wurde ständig traktiert, zum Übeltäter erklärt und lächerlich gemacht. Brenda konnte sich der Stimmung nicht entziehen und meinte nur: „That's Māyā.“. „Hier ist es auch immer hektisch, ernst und geschäftig und alles voller Autobahnen noch mehr als in Boston, aber hier ist trotzdem auch immer Musik.“ erklärte Māyā. „Das wird Beethoven inspiriert haben.“ vermutete Brenda. „Er hat ja mehr in Österreich gelebt und komponiert als hier.“ wusste ich. „Ich denke, Beethoven hat keine rheinische oder österreichische Musik komponiert. Er hat in der Musik gelebt. Seine Musik ist universal. Sie berührt und erfasst jeden Menschen, der hören kann.“ war Brendas Ansicht, „Vielleicht gibt es ja auch Menschen, die stärker universal sind. Unabhängig von der Sozialisation als Mann oder Frau sind doch alle auch Menschen, und vielleicht überwiegt da bei einigen trotz aller sozialisatorischen Einfüsse das rein Menschliche stärker als bei anderen.“ „Universalmenschen.“ merkte Māyā scherzend an. Wenn es so etwas geben könnte, auf wen würde das mehr zutreffen als auf Māyā, dachte ich. So übermütig, ausgelassen lustig, wie jetzt, in den ersten Tagen noch ihrer Rückkehr, war Māyā sonst nicht. Gut gelaunt und zu Scherzen aufgelegt, besonders schelmischen, war sie schon, aber sie liebte eher ernsthafte Diskussionen und Gespräche. Sie hörte gut zu und analysierte dich dabei. Bestimmt rührte daher auch ihre Erfahrung, andere Menschen gut und besser verstehen zu können als die meisten. Alle Schleier und grauen Wolken, die mein Leben gesehen hatte, waren durch Māyās Umarmung im Hof unseres Instituts weggewischt worden. Wie vor Māyās Flucht sah unsere Beziehung aber nicht aus. Damals erweckte es den Anschein, dass wir vor uns selbst verheimlichen mussten, was unsere Augen uns gegenseitig verrieten. Jetzt konnten wir es laut ausposaunen. War es vorher kitzliger und spannender? Unsinn. Im Nachhinein erschien es uns eher ein wenig kindisch, dass wir das, was wir beide empfanden und wussten, nicht verbalisieren durften, aber berechtigte Gründe gab es schon. Das hatte Māyās Flucht ja gezeigt. Auf meine Blicke reagierte Māyā genauso wie sonst, und das war für mich das Göttlichste. Wahrscheinlich war ich der einzige, der sie verstand. Andere würden es für irgendein Gesicht halten. Liebten wir uns auch, weil ich Māyās Blicke verstehen konnte, oder konnte ich sie verstehen, weil wir uns liebten? Nichts Überhebliches lag in Māyās Blick, aber schon ein wenig, als ob sie es aus einer höheren Warte betrachten würde und mir dabei gleichzeitig Liebe in reinster und wärmster Form schenkte, die auch den Wunsch andeutete, sie ebenso von mir zu gekommen. Alles, was Sehnsucht, Verlangen und Liebe sein konnte, spürte ich in Māyās Blick. Sie schien nicht nur zu außergewöhnlich starken Empfindungen und Gefühlen in der Lage zu sein, sondern insgesamt über mehr von dem zu verfügen, was Leben ist, und das hatte sich von klein an nicht vorschreiben lassen wollen, wie es zu sein hätte. Ein volles, intensives Leben, auf das die gesellschaftliche Kategorisierung Junge oder Mädchen nicht passen wollte. Ein Universalmensch eben, wie Brenda es beschrieben hatte. Unsere Rollen versuchten wir im Prinzip offen zu halten. Wir befragten uns öfter, worauf unsere jeweilige Verhaltensbevorzugung beruhte, typisch männliche Sichtweise und Bewertung, oder kam darin das Klische weiblichen Verhaltens zum Ausdruck? Dass ich Māyā als wunderschöne Frau empfand, ließ ich mir durch keine, wie auch immer geartete Kritik nehmen, und traurig war Māyā darüber auch nicht. Wir machten jetzt viel zusammen, trafen uns meistens abends bei Māyā, aber zusammen wohnen wollten wir beide nicht. Drei mal blieben wir abends schmusend und küssend bei Māyā. In der Liebe verständigten wir uns fast immer noch ausschließlich durch unsere Blicke. Sie waren viel umfassender, sagten in tausend feinsten Variationen viel mehr und waren poetischer als klappernde Worte, machten schlicht ein warmes Gefühl, das Worte niemals erzeugen können. Was ich genau sagen wollte, als ich Māyā anschaute, war mir im Grunde gar nicht konkret bewusst, aber Māyā hatte es wohl verstanden, nickte, stand auf und sagte: „Komm!“ Die weibliche Sozialisation im Hinblick auf körperliche Liebe war bei Māyā sicherlich nicht besonders wirksam gewesen, auch wenn ich nicht genau weiß, was Frauen da in ihrer Jugend vermittelt wird. Ich wusste nicht was ich erlebte. Offensichtlich schien für Māyā Liebe auch zu bedeuten, dass sie mich besiegte. Dass sie über mehr an Leben verfügte, hatte ich direkt wohl noch nie so deutlich erlebt wie jetzt. Mein furiosestes Liebeserlebnis, an das ich bei Māyās anschließender sanften, butterweich schmelzenden Zartheit schon nicht mehr glauben konnte. Ob das auch mehr biologisch bedingt war? Ich glaube schon. Welche Sozialisation würde einem Mädchen so etwas vermitteln wollen. Vielleicht sah die Liebe bei Pumas ja ähnlich aus, nur an der anschließenden Zärtlichkeit dürfte es dort wohl mangeln. Über Sex redeten wir nie. Warum auch? Māyā hatte nur mal gemeint, dass man sich in der Liebe gegenseitig voll erfahren müsse und nicht nur die Genitalien, dann könnte man ja auch masturbieren. Alle anderen Formen und Arten der geschlechtlichen Liebe als unsere respektierte Māyā ausnahmslos, titulierte aber alles andere als pervers. Abartig oder widernatürlich konnte bei Māyā selbst auch gar nichts sein. Sie verkörperte das Leben selbst in seiner ursprünglichen, reinsten Form.
Ich war jetzt fast jeden Abend bei Māyā. Wir bereiteten uns gemeinsam etwas zu essen und unternahmen anschließend etwas. Ich schlief auch meistens bei Māyā. Oft unterhielten wir uns nur, lasen uns etwas vor, tauschten Zärtlichkeiten aus und schmusten. Der gemeinsame Morgen war nicht weniger erhebend als der Abend. Auf jedem Morgen lag ein Zauber. Mit Māyā gemeinsam am Frühstückstisch zu sitzen gab immer ein Glücksgefühl, das den Hintergrund für die Stimmung des gesamten Tages bildete. Māyā erklärte, dass sie unbedingt wenigstens für ein Semester in die USA müsse. Wir überlegten, wie wir das ertragen könnten und kamen zu dem Schluss: „Überhaupt nicht“. Ich wollte mich ebenfalls um ein Semester in Boston bemühen. Für mich war es auch von unschätzbarem Wert. Untersuchungsergebnisse konnte man nur in Englisch veröffentlichen, sonst waren sie wertlos, und meine Arbeit musste ich auch auf Englisch schreiben. Deutsch existierte nur noch im Populärwissenschaftlichen. Brenda würde schon auf uns achten, damit uns nichts zustieße. Das Problem waren die getrennten Wohnungen, es war nicht nur sehr teuer, sondern auch sehr umständlich, weil wir dort keine Autos hatten und den anderen schnell mal besuchen konnten. Sollten wir es wagen für ein Semester gemeinsam in einer Wohnung zu leben? Würde unser Glück dabei keinen Schaden nehmen? Wir uns nicht selbst verlieren? Wir wollten sehr achtsam sein und es versuchen. Alle Hilfen durch Brenda und die verschiedenen Dienste konnten nicht verhindern, dass es für uns zu Anfang äußerst hart und stressig war. Manchmal waren wir abends einfach völlig fertig, saßen umschlungen wie Philemon und Baucis beieinander auf der Couch und wischten uns gegenseitig die Tränchen der Erschöpfung ab. Unser Glück? Dafür hatten wir gar keine Zeit, aber in der Hölle waren wir nicht gelandet. Ich musste schlicht viel mehr pauken als zu Hause. Nicht selten saß ich bis in die Nacht und lernte. Dann kam Māyā und erklärte: „Ich kann nicht schlafen, wenn du nicht da bist. Du verstehst sowieso nichts mehr von dem, was du jetzt noch liest, nur Māyā kannst du noch verstehen. Komm!“ Māyās Gedanken und Ansichten folgte ich meistens widerspruchslos wie Gesetzen. Was aus mir wohl für ein Mann geworden wäre, wenn ich Māyā zur Mutti gehabt hätte? Überangepasst wäre ich bestimmt, weil ich der Mutti Māyā nie widersprochen hätte. Es war schlicht dadurch richtig und schön, dass sie es war, die es gesagt hatte. Die Belastungen wurden erträglicher und wir hatten auch Zeit, uns alle Juwelen Bostons, die Māyā natürlich schon kannte, anzuschauen. Nur bei den Philharmonikern war sie auch noch nicht gewesen. Ich war leicht enttäuscht, und meinte von einem Konzert in Bonn mehr zu haben, weil mir hier das Sakrosankte zu stark dominierte. Bei einem Konzert sollte es mir nur um die Musik gehen, das ganze Ambiente und Gepräge hier wirkte auf mich eher ablenkend. Ich wollte ja nicht zu einem Hochamt im Dom. Brenda gab zu unserem Abschied ein Fest. Māyā kannte auch fast alle Gäste. Sie blühte auf zur intensivsten Form ihres Lebens. So freut man sich, wenn man liebe Bekannte und Freunde trifft, dachte ich mir, und lässt es nicht bei einem freundlichen 'Hallo' bewenden. Die Oberflächlichkeit und das floskelhafte Gerede, das mich nicht selten unangenehm berührt hatte, heute Abend schien es aus der Welt verbannt. Die Reaktionen auf Māyās Begrüßung waren ausnahmslos ehrlich, tief und kamen von Herzen. Bestimmt sprach Māyā die Menschen anders an, vermittelte ihnen auch ein Gefühl von Offenheit, Ehrlichkeit und Herzlichkeit, und bewegte sie, es ebenso zu tun. Ich denke die Menschen freuen sich, wenn sie sich offen, ehrlich und tief empfindend zeigen können. Man hat es ihnen ausgeredet, das öfter zu tun, aber bei Māyā durften sie es. „Oliver ist das Licht, das mich zum Leuchten gebracht hat.“ stellte sie mich ihren Freunden vor. Am Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass manche es wohl eher bezweifelten, und ich selbst war der, der am stärksten davon überzeugte war, dass es sich genau umgekehrt verhielt. Aber einfach so dahin geplappert haben, würde Māyā es keinesfalls. Was ich wohl durch bei ihr zum Leuchten gebracht haben sollte? Ich war doch kein besonders toller Typ. Ich dummer Mann, meinte ein Held sein zu müssen, damit Māyā einen Grund hätte, mich toll zu finden und lieben zu können. Durch mich hatte sie die Vorstellung, dass es keine Liebe mehr zwischen ihr und einem Mann geben könne überwunden, gespürt, dass mit mir alles anders werden würde, neue Liebe entwickelt. Sie liebte und das ließ sie leuchten. Mit mir hatte sie neues Glück, an das sie nicht mehr denken konnte gefunden, ich war das Licht. So waren Māyās Worte keine hohle Phrase. Eine Frau, die Buddhistin geworden war, erkundigte sich nach Māyās Outfit. „Ich bin wiedergeboren worden.“ erklärte es Māyā, „Ein ganz neues Wesen. Wovon du sprichst waren Accessoires meines früheren Lebens, sie sind mit ihm untergegangen.“ und beide lachten. Es handelte sich bestimmt um ihren Schmuck. So etwas Verspieltes, Übermütiges wollte sie von sich nicht mehr zeigen, war also doch abgeklärter geworden. Immer wenn wir jetzt nach Boston kämen, sollte ein Fest im Garten von Brendas Eltern veranstaltet werden.
„Hast du das Empfinden, dass wir uns gegenseitig in irgendeiner Form behindert, einer den anderen dominiert, wir uns selbst verloren hätten?“ wollte Māyā kurz vor unserem Abschied, als wir ein Resümee unseres Zusammenlebens zogen, wissen. „Erkennen kann ich auch nichts Abträgliches. Mir hat es absolut gut gefallen.“ lautete meine Ansicht. „Wir haben uns nicht behindert, sondern uns gegenseitig gebraucht, nicht war?“ meinte Māyā. „Ja, schon, aber wenn man sich gegenseitig zum Einschlafen braucht, bedeutet das denn keinen Verlust an Eigenständigkeit?“ erkundigte ich mich lächelnd. Māyā machte auch ein breites Grinsegesicht. „Ich fühle mich ja nicht einsam, oder allein gelassen, ich bin nicht traurig, nur von deinen Gefühlen sind doch die sozial beglückenden die schönsten und intensivsten und dabei steht über allem die Liebe. Danach sehne ich mich, nicht nur von ihr zu wissen, sondern sie praktisch körperlich zu erleben, dich berühren zu können, von dir berührt zu werden, gegenseitig die Wärme des anderen zu spüren. Sehnsucht ist das. Wenn ich weiß, dass du da bist, sucht meine Sehnsucht nach Erfüllung. Sehnsucht hat nur der Eigenständige nicht der Abhängige, der seine eigene Identität suchen muss.“ erklärte Māyā. „Sollten wir zu Hause demnächst der Sehnsucht auch öfter die Chance einräumen, Erfüllung zu finden. Was hältst du davon?“ wollte ich von Māyā wissen. „Das selbstverständliche, fast zwangsweise Zusammenwohnen, weil man sich liebt, löst bei mir immer noch Horrorvorstellungen aus, nach wie vor. Aber unser Zusammenleben jetzt in dem halben Jahr hat mir wundervoll gefallen. Vielleicht lag es gar nicht unwesentlich daran, dass wir von vornherein wussten, es ist für eine begrenzte Zeit. Perspektivisch möchte ich gern so oft und lange wie möglich mit dir zusammen sein, ja, deine Nähe praktisch spüren, aber ich möchte kein festgeschriebenes, unwiderrufliches Zusammenleben.“ erklärte sich Māyā. „Du möchtest es also offen halten, wir sollten so oft wie möglich zusammenkommen, aber jeder unsere eigene Wohnung beibehalten. Genauso sehe ich es auch. Du schaust mir vorher immer in die Seele, nicht war?“ erklärte ich scherzend. „Das weiß doch jede Frau, was sich tief in der Seele des Mannes abspielt.“ meinte Māyā lachend. „Ah ja, und wieso?“ wollte ich aufgeklärt werden. „Weil die Männerseele ein so simpel strukturiertes Pflänzchen ist, das jede Frau durchschauen kann.“ erklärte es Māyā. „Meine auch? Ich dachte immer, sie wäre so verwinkelt, hätte so viele Ecken und Kannten, dass mir selbst meist der Durchblick fehlte.“ wusste ich scherzend zu erwidern. „Nein, nein,“ sagte Māyā, „du bist ja auch kein schlichter Mann, dann könnte ich dich bestimmt nicht lieben. Deine Seele ist verzweigt und verästelt mit ausdifferenzierten Gabelungen. Dass sie dir manchmal wie ein Irrgarten vorkommt, kann ich gut verstehen, ich verlaufe mich ja öfter selbst darin, finde etwas, von dem ich gar nicht weiß, was es bedeutet, habe einen Platz gefunden, den ich nie wieder verlassen möchte, aber selbst weiß ich nicht warum.“
Neugierig sei ich geblieben, würde alles wissen wollen und erklären können und das nicht zuletzt auch in Bezug auf das Soziale. Bestimmt hatte Māyā nicht Unrecht, und ihre Beschreibung streichelte mein Ego. Das sozial Bedeutsamste für mich, blieb mir aber verborgen. Natürlich hätte ich auch gerne gewusst, was mich an Māyā tiefer faszinierte, als was ich äußerlich sah und erlebte, wo meine Liebe begründet lag, aber das konnte mir Māyā von sich auch nicht erklären. Unsere Augen schienen es zu wissen. Mit ihnen konnten wir uns verstehen. Sie kommunizierten aber nur mit unseren Gefühlen und nicht mit unserem Bewusstsein. Ob ich es tatsächlich wissen wollte, da bin ich mir nicht einmal sicher. Das Geheimnis fasziniert und nicht das gelöste Rätsel. Es musste in mir etwas geben, das leuchten und blühen wollte, ich kannte es nicht. Māyā musste es entdeckt haben, und ich war überzeugt von dem, was sie mir versprach. Vielleicht war es der Wunsch nach intensivem, enthusiastischem Leben, wofür sie die Flamme hatte, um es entzünden zu können. So war mir Māyā immer vorgekommen. Wie unterschiedlich, und kulturspezifisch unsere Sozialisation als Frau oder Mann auch sein mag, beiden gemeinsam ist aber die dämpfende Wirkung. Die Pflanze wird nicht nur gegossen und gedüngt, damit sie alle ihr möglichen Zweige und Blüten entwickeln kann. Nicht das lustbetonte Individuum ist als erwachsenes Mitglied der Gesellschaft erstrebenswert, sondern der angepasste, sich an den vorgegebenen Rollenmustern im technologiesierten Alltag orientierende Gebrauchsmensch, der viele seiner Blüten nicht entwickeln durfte. Die Liebe zu Māyā versinnbildlichte mir eine Befreiung und das Versprechen, dass wir es beide so wollten, eine Frau sein, ein Mann sein? Das waren irrelevante Festlegungen. Lustbetont lebende, enthusiastische Menschen wollten wir sein, darum ging es.
Alle wollen sie wissen, warum ein Mann eine Frau liebt. Worauf Mann und Frau beim ersten Blick achten, was Männer und Frauen am anderen Geschlecht bevorzugen, was sich in ihren Gehirnen dabei abspielt, dazu gibt es tausende empirische Untersuchungen. Sie wollen vorgeblich erklären, warum ein Mann welche Frau liebt und umgekehrt. Aber das tun sie nicht und können es nicht. Keine Untersuchung erklärt, warum ich Māyā wunderschön finde und was sie in mir bewegt. Evolutionstheoretisch begründete Erklärungen sind für meine individuelle Situation lächerlich. Dass mich eine Frau bewegt ist gewiss genetisch durch meine Libido festgelegt, aber Māyā, das ist meine individuelle Psyche und keine empirisch festgestellte Verallgemeinerung. Dass mich die Befreiung aus der Pflicht zur Konkretisierung meiner mir zugewiesen Rolle begeistert, kann kein Neurowissenschaftler oder Soziologe nachweisen. Primär will ich nicht Mann sein, sondern Māyās Allerliebstes und der Mensch, der Māyā über alles liebt. Das ist bedeutsam und nicht, ob man mich als Frau oder Mann bezeichnet. Daran können wir endlos weiter arbeiten, aber unsere Liebe lebt und wächst jeden Tag neu und schenkt uns immer wieder neu Blüten.
FIN
Macht können wir durch Wissen erlangen, aber zur Vollendung gelangen wir nur durch Liebe
Rabindranath Tagore
„Brenda meint, dass ich dich lieben sollte.“ sagte Māyā und lachte. „Sie hat eine Ferndiagnose gestellt und meint, dass mit dir alles anders werden würde. Wird das zutreffen?“ wollte Māyā schmunzelnd wissen. „Oliver, ich spürte, wie es den verhängnisvollen Weg nahm, es mir nicht nur mit dir gut gefiel, sondern wie ich Verlangen nach dir hatte, dich wollte, dich begehrte, aber das durfte doch nie mehr geschehen. Ich konnte es mir nicht verbieten, es war einfach da. Ich empfand mich ausweglos, war ratlos und bin vor mir selbst geflüchtet. Brenda und ich kennen und lieben uns seit meinem damaligen USA Aufenthalt. Sie ist mein Alter Ego und meine Schutzgöttin. Sie hat mir damals auch klar gemacht, dass ich verkommen würde, wenn ich es so weiter laufen ließe. Jetzt war Brenda der Ansicht, dass ich mir keinesfalls grundsätzlich meine Liebe verbieten solle, ich müsse nur differenzieren können, für wen ich sie empfinde und was mich erwarte. Sie fand dich wundervoll, nachdem ich ihr von dir erzählt hatte. Was hältst du davon?“ sagte Māyā und ließ uns beide lachen.
Māyā – Seite 21 von 21
Publication Date: 04-25-2013
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