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Ich starre auf die Uhr an der Wand. Acht Uhr fünfundvierzig. Sie kommt zu spät, viel zu spät. Ob sie verschlafen hat?
„Einen medium low fat Hazelnut Latte“, ruft Erik mir zu.
Ich nicke, hänge das Heißluftventil in den Milchtopf und schäume. Hoffentlich ist ihr nichts passiert. Die Eingangstür öffnet sich. Eine Frau kommt herein. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen. Vielleicht wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle? Ah, nein, sie ist es nicht.

„Lena, pass doch auf, die Milch!“, ruft Erik. Ich spüre etwas Heißes an meinen Fingern und lasse den Topf los. Er prallt von der Theke ab, fällt mit einem lauten Klirren zu Boden und rollt, bis er an der Spülmaschinentür liegen bleibt. Eine weiße Schaumspur tropft von der Theke, drängt sich in die Ritzen der Schubladen, und verteilt sich wie ein Bach über den Boden. Das Land wo Milch und Honig fließt, denke ich und begutachte meine Hand. An einer Stelle ist sie rot, keine schlimme Verbrennung, vielleicht entsteht eine kleine Brandblase. Das ist Berufsrisiko. Ich schnappe mir einen Lappen und wische, unter dem missmutigen Blick von Erik, die Sauerei auf. Er schüttelt den Kopf und ich sehe ihm an, wie er in Gedanken die Strichliste weiterführt. Seine Strichliste der Fauxpas von Lena. Aktueller Stand: Dreihundertsiebenundachzig, schätze ich.

„Guten Morgen“, sagt Erik zu jemandem, den ich nicht sehen kann. Er streckt seinen Brustkorb nach vorne und grinst wie ein Clown auf Speed. Wenn Erik sich so dämlich verhält, muss sie es sein. Endlich! Ich springe auf und stelle mich neben ihn. Da steht sie, den Blick auf die Menükarte über unseren Köpfen gerichtet. Der rechte Spaghettiträger ihres Sommerkleides gleitet von ihrer gebräunten Schulter. Sie zieht ihn hoch, ohne die Augen von der Karte zu nehmen.

Erik sieht mich aus den Augenwinkeln an und sein Mund zuckt. Er ist nervös, denn er hat diesen Wettbewerb noch nie gewonnen. Er wird auch heute nicht gewinnen, denn ich habe ein Talent. Ich kann ihr ansehen, was sie bestellen wird. Das ist nicht einfach, denn sie entscheidet sich jeden Tag für etwas anderes. Bis jetzt lag ich immer richtig. Es ist wie Telepathie. Mich und sie verbindet etwas, das Erik niemals besitzen wird, auch wenn er sich noch so anstrengt. Denn ich verstehe sie. Ich kann ihre Wünsche fühlen, bevor sie sie ausspricht. Ob sie mich mag? Ob sie nach jemandem sucht, der ihre Wünsche von den Augen ablesen kann? Natürlich, wer sucht das nicht?

Ich kenne nicht einmal ihren Namen. Ich weiß nur, dass ihr Lachen warm ist, ihre Stimme wie Musik klingt, ihre Haare und ihre Augen karamellfarben sind und ihre Haut aussieht, als sei sie weich wie Seide. Nachts träume ich von ihr. Wir liegen am Strand, irgendwo in der Karibik und sonnen uns, trinken Cocktails und lesen uns Gedichte vor. Manchmal träume ich, dass wir uns schon ewig kennen, dass wir zusammenleben wie ein altes Ehepaar, das zärtlich miteinander umgeht und nicht viele Worte verliert. Oft träume ich, dass wir alleine im Coffeeshop sind. Wir sind beide nackt und lecken uns gegenseitig Karamellsirup von der Haut. Sie ist so schön, von innen und außen. Da bin ich mir sicher, auch wenn ich nie mehr als drei Worte mit ihr gewechselt habe.

Die Schöne steht noch immer vor uns, ihre Pupillen laufen die Menükarte hinauf und hinunter. Hinter ihr bildet sich eine Schlange. Jemand sagt: „Heute noch?“
Erik räuspert sich. „Wie wäre es mit einem Hot Chocolate Macchiato?“
Sie rümpft die Nase und schüttelt den Kopf.
„Nein, ich denke ich nehme….“
„..einen Caramel Cappuccino“, unterbreche ich sie. Ich frage nicht, ich stelle fest. Ich bin mir sicher.
„Wie machst du das nur? Du kannst Gedanken lesen!“, lacht sie und legt ihre Hand auf meine. Sie fühlt sich an, wie ich es erwartet habe: zart wie Seide. Die Härchen auf meinem Arm schießen in eine senkrechte Position und ein Stoß - fast elektrisch, aber schöner - rast durch meinen Körper – von den Fingerspitzen bis in mein Herz, hinunter in meinen Bauch. Mein Gesicht muss in diesem Moment aussehen wie eine Tomate. Wie die glücklichste Tomate der Welt!

„Das nenn ich Service!“, sagt sie und nimmt ihre Hand wieder weg. Ich kichere und lasse meine Hand noch eine Weile auf der Theke liegen, in der Hoffnung auf eine weitere Berührung. Erik lässt den Kopf sinken und murmelt: „Das macht drei Euro zwanzig.“
Dann bellt er mir zu: „Machst du ihn?“
Ich ignoriere ihn und sage:
„Zum Mitnehmen.“ Wieder keine Frage, wieder eine Feststellung. Sie nickt und lächelt. Ihre Lippen sind perlmuttfarben geschminkt. Wie gerne würde ich sie jetzt küssen. Aber das wäre unprofessionell. Und vielleicht sollte ich sie zuerst nach ihrem Namen fragen.
„Wie …?“
Sie legt den Kopf zur Seite und sieht mich fragend an. Ich schnappe nach Luft.
„Wie …? Mit Schokoraspeln?“ Ich schlage mir in Gedanken mit der flachen Hand gegen die Stirn.
„Ja, bitte.“ Sie zwinkert. „Aber das wusstest du sicher schon.“
Ich nehme einen frischen Topf und schäume Milch, während Erik ihr Wechselgeld gibt und die nächste Bestellung annimmt.

Ich löffle Milchschaum in den Becher und gieße den Espresso dazu. Dann gebe ich einen Schuss Karamellsirup hinein und träufle Schokoflocken in Herzform auf den Schaum. Ich zeige ihr meinen Liebesbeweis, bevor ich ihn mit einem Plastikdeckel verschließe.
„Sehr schön, vielen Dank!“, sagt sie und sieht mir dabei in die Augen.

Plötzlich drängelt sich eine Frau durch die Warteschlage und stellt sich neben sie. „Samantha!“
Das ist also ihr Name. Samantha. Die Frau legt ihr die Hand auf die Schulter und flüstert ihr etwas ins Ohr. Samantha kichert und reicht der Frau ihren Caramel Cappuccino, meinen Cappuccino, den ich ihr von den Augen abgelesen und mit aller Sorgfalt zubereitet habe. Sie gibt ihn dieser Frau, die mit ihren dünnen Lippen daran saugt. Mein Magen zieht sich zusammen. Die Frau, bestimmt fünfzehn Jahre älter als Samantha, gibt ihr den Becher zurück und küsst sie. Küsst sie! Auf den Mund. Vor allen Leuten. Erik steht da wie ein Idiot, den Mund halb geöffnet, gaffend. Ich sehe wahrscheinlich nicht besser aus. Mein Herz krampft sich zusammen. Die beiden scheinen für einen Moment zu vergessen, wo sie sind, und schmiegen sich aneinander. Nach einer Ewigkeit, so scheint es mir, lösen sie sich voneinander und verlassen Hand in Hand den Coffeeshop. Samantha dreht sich nicht zu mir um. Ich spüre, dass ich blass werde. Mir ist kalt.
„Das hätte ich nicht gedacht“, sagt Erik und schüttelt den Kopf, „dass sie auf Frauen steht.“

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Text: Cover Foto: Sai Chan
Publication Date: 02-26-2009

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