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Bloody Reality - Eine Horrorsatire von Carl Isangard

Virtual Reality, Dschungelcamp, Holografie, CNN, Reality TV, Cyber Space, Google, Skype, Smartphones, Facebook, Blue Ray, Big Brother, Bullywood & Co (das Bully steht für Bullshit), Fight Club, Ultimate fighting u. a. Vergessen Sie all diesen Scheiß, diesen langweiligen und verstaubten Kram; Relikte, die aus der Kreidezeit stammen und die bald niemand mehr vermissen wird, denn ...

 

... bei BLOODY REALITY dagegen ist alles live und echt, und das Beste daran ist das Publikum, dieses muss sich am Film beteiligen, oder noch genauer: Im Kinosaal schwebt der Zuschauer in größter Gefahr und wird aller Wahrscheinlichkeit nach umgebracht werden. Zum Glück weiß er das nicht im Voraus, denn erstens würde er sonst in keine Filmvorführung mehr gehen, und zweitens wäre es auch keine Überraschung mehr. Ja, Schluss jetzt mit dem stundenlangen Sesselgeklebe, dem Popcorngefresse und dem Colagesaufe des unbeteiligten Zuschauers, der nie einer Gefahr ausgesetzt ist. Der lebendige Kinobesucher ist tot, es lebe der tote ...!

Wer mit dem Leben davonkommt – was jedoch ziemlich selten der Fall ist –, dem kauft man seine Geschichte sowieso nicht ab und der ist ziemlich sicher reif für die Klapsmühle. Dass dabei experimentierfreudige Ärzte voll auf ihre Kosten kommen und die Pharmaindustrie reichlich davon profitiert, versteht sich von selbst. Diese Tatsache ist vielleicht auch die einzige unangenehme Begleiterscheinung.

 


Cannes Filmfestival im Jahre 2022 ...

 

Im Casino de Bonaparte spielt soeben die britische Punk Band 'Dope for the Pope'. Rotten Fisherman, der übergewichtige, pfannkuchengesichtige Frontmann im exquisiten Schmuddellook, bewehrt mit schimmelpelzigem Bart humpelt und hampelt herum wie ein abgestochener Spastiker. Er kaut und sabbert an seinem mit Speichel und Rotz verklebten Mikrofon. Voller Inbrunst grölt und brüllt er sich die Seele aus dem Leib:

 

I rock an' rape for freedom,
I fight an' fuck for freedom
... my cock is a hellraisin' Pinhead.
Deepthroating an' doggy style in a big, bloody, black hole.
I am a bad, bad, bad Bukakke Boy!
Hey listen folks: I am your beloved cop killin' baby.
Am I divine? Yes:
I am divine, I am divine, I am divine ...!

 

Es bereitet ihm enorme Schwierigkeiten, mit seiner Krücke auf der Bühne zurechtzukommen. Letztes Jahr hat ihm ein fanatischer Fan des Vatikan mit einer Rifle die linke Kniescheibe weggeschossen. Der arme Kerl, nun kann er sich nicht mehr aussuchen, in welches Knie er sich ficken soll! Dabei hatte man den Punkern bereits vor langer Zeit nahegelegt, sich endlich mal einen anderen Namen zuzulegen und nicht zuletzt ihre anarchistischen, sexistischen und demagogischen Texte zu unterlassen. Aber irgendwann kommt der nächste Kniefall mit bleiernem Knall: Mit einer rollenden Hämorrhoidenschaukel unter'm Arsch kommt dann für den schwabbelnden Fettberg von Sänger auf der Bühne richtig gemütliche Stimmung auf! Und wenn das so munter weitergeht, wird sich wohl die ganze Combo in Bälde umtaufen müssen, in: The rolling wheelchairs ...


In einem Saal wird der bereits vorprämierte Kurzfilm „Wenn des Matadors letzte Stunde schlägt“ von Laura Taurus gezeigt. Die Regisseurin hat sich wirklich engagiert – mit vollem Herzblut ...

Die ersten zwanzig Minuten sind die grausamsten:

 

Sie zeigen die Matadore, wie sie die Stiere abschlachten, nachdem sich die Helden vorher feige hinter die Holzwand verschanzt hatten. Aber einige dieser gemeinen Schlächter hat es zum Glück doch noch erwischt.

Die letzten zwanzig Minuten sind dann auch eine wahre Wohltat und eine Augenweide: Man weidet sich an den von Stierhörnern ausgeweideten Matadoren und ihren herumliegenden Eingeweiden. Schön, wie sie langsam und qualvoll verrecken! Ihre Todesschreie sind eine Symphonie in den Ohren der Zuschauer. Schade, dass das Ernstl Hemingway nicht erlebt hat ... er hätte es wohl kaum überlebt! Doch leider ist das Ganze nur ein Film. Es wäre allmählich an der Zeit, der Taurus vor die Kameraaugen zu halten, was „Bloody Reality“ ist!

 

Am diesjährigen Festival mit äußerster Spannung erwartet: die großen Menschenfresser: nämlich die Fortsetzung des erfolgreichen und skandalösen Kult-Renners aus den 1970er Jahren: „Die großen Fresser“. Regie: Hector Cannibal.

 

Bereits im zarten Kindesalter hatte er sich die visuellen Appetithäppchen von George A. Romero, Dario Argento, Ruggero Deodato und Lucio Fulci einverleibt. Sein Traumberuf war der des Schlächters gewesen. Doch leider fehlte ihm dazu die notwendige körperliche Konstitution. So schlug er sich jahrelang mit Gelegenheitsjobs durch, bis er zufällig als Statist in einem billigen Horrorstreifen mitwirkte. Aber ausgerechnet jene kurzen Szenen, in denen er mitgewirkt hatte, fielen am Schluss der Schere zum Opfer, was ihn natürlich maßlos enttäuschte. Irgendwann erlernte er das Handwerk des Kameramannes und wurde später zu einem begnadeten Regisseur im Genre des Horrorfilms. Zu seinem Leidwesen erkannte dies keiner, und die Produzenten machten ihm das Leben schwer, indem sie ihm nur schlechten Stoff anboten. Als er dann doch eines Tages ein gutes Drehbuch in den Händen hielt, glaubte er, dass sein Wunsch nach einem Meisterwerk endlich in Erfüllung gehen würde. Bedauerlicherweise sorgten schlechte Schauspieler und vor allem die inquisitorische Zensur mit ihren frustrierten Moralaposteln und Kritikern im Schlepptau dafür, dass sich dieses Produkt als Flop erwies.

Daraufhin zog sich Cannibal aus dem Filmbusiness zurück und verlegte seinen Wohnsitz in die Karibik. Es war ruhig um ihn geworden. Doch die Ruhe täuschte, denn die Medusen seiner Misserfolge hatten ihn nicht zu Stein erstarren lassen; er hatte der ganzen Filmindustrie von Hollywood mitsamt ihren Schauspielern, Produzenten, Kritikern, Zensoren und nicht zuletzt den Zuschauern blutige Rache geschworen. Dass er sich intensiv mit Schwarzer Magie, besonders mit den Voodookulten beschäftigte, davon hatte in Hollywood niemand eine Ahnung. Sie hatten ihn alle vergessen, was jedoch nicht hieß, dass er sich nicht eines schönen Tages wieder in Erinnerung bringen sollte ...

 

... und dieser schöne Tag ist heute ...!

Das Publikum, darunter auch die Preisverleiher, sitzen nun gespannt in ihren Sesseln des Vorführraums und der absolute Höhepunkt von Cannes nimmt seinen Lauf.

Vier von den fünf Hauptdarsteller hatten sich ja im ersten Film „Die großen Fresser“ vor fast fünfzig Jahren zu Tode gefressen, aber jetzt sind sie wieder auferstanden, als Zombies, und fressen andere zu Tode. Doch sie steigen nicht wie üblich aus den Gräbern, sondern zuerst aus dem Kühlhaus und dann aus der Leinwand, die sich in ein riesiges und vor allem lebendiges Leichentuch verwandelt hat. Und die Zuschauer kriegen zum ersten und zum letzten Mal mit, was es mit dem großen Menschenfressen auf sich hat:

Wie in Zeitlupe und mit leerem Blick stapfen die vier halb verwesten Untoten in den zerfetzten Kleidern in Richtung der geschockten Zuschauer. Der Hunger nach Fleisch treibt diese grässlichen und gierigen Gestalten zwischen die jetzt in Panik geratenen Leute. Für diese gibt es wegen der verschlossenen Ausgangstüren kein Entkommen mehr. Fleisch, Blut, Knochen, Haut, Haare, Zähne. Die ehemaligen Feinschmecker aus dem ersten Teil reißen, beißen und brechen die Opfer in Stücke. Die wahren Zuschauer sind die Statisten im Film; auf der anderen Seite. Genüsslich beobachten sie, wie die vier Hauptdarsteller zuerst die Preisverleiher zerfleischen und fressen und danach die anderen.

Der fünfte Hauptdarsteller hingegen wartet immer noch, wenn auch genießerisch schmatzend, auf der Ersatzbank, welche sich in Kürze in eine Schlachtbank verwandeln wird ...

 

Die meisten Zuschauer versuchen schleunigst Reißaus zu nehmen. Vor allem gewisse anwesende Promis, zum Beispiel das ewige Shit-Girl Claris Milton, das vor Schreck ihr mit Pissecco gefülltes Sektglas fallen gelassen und verzweifelt mit wackelndem Hintern versucht hat, den sowieso verschlossenen Ausgang zu erreichen. Spielte sie doch vor einigen Jahren in einem amerikanischen Horrormovie eine kleine Rolle und war von einem Irren gemeuchelt worden. Leider nur in einem Film. Bedauerlich! Doch hier und jetzt ist nichts mehr auf Zelluloid gebannt, das ist kein Wachsfigurenkabinett und es geht so richtig schön blutig echt zur Sache: Das prominente Partygirl feiert nun definitiv seine letzte Party. That’s hot! No, dear Claris: That’s blood! ... Bloody Reality!

 

Pieter Rohlen, der bekannte TV-Rohling, der vorhin noch bei seiner Live-Fernsehübertragung so markige und großkotzige Töne gespuckt hat, versucht sich ebenfalls zu verdrücken. Seine eh schon widerliche Visage ist jetzt ganz verschmiert von verlaufenem Make-up und Angstschweiß. Zusammen mit dem solariumgebräunten Teint und den dicken, aufgeblähten Backen erinnert er an einen alten, wurmstichigen Nussknacker.

Doch ist es nicht Tschaikowski, der das Ballett komponiert hat, sondern kein anderer als Hector. Dieser sitzt oben in der Loge und spendet begeistert Beifall.

„Hallo Pieterchen! Spielst wohl den sterbenden Schwan, was? Na, wie gefällt dir denn MEINE Talent-Castingshow? Ist das nicht ein sagenhaftes Tollhaus hier? Ich allein bin die Jury und ich habe definitiv beschlossen: Dir gebe ich die besten Noten. Du hast das größte Talent. Du kriegst den ersten Preis. Du wirst noch so richtig doll geknuddelt werden. Und dazu erhältst du einen schönen Schmatzer. Aber keine Angst, es wird noch besser. Du wirst gleich mal auf deine schon längst überfälligen Kosten kommen. ...!“

Rohlen sieht noch weitaus scheußlicher - einfach mehr scary - aus als die wahrlich fürchterlichen Zombies. Möglicherweise ist das der Grund, warum er von den immer noch wütenden Wiedergängern bis jetzt verschont geblieben ist: Sie halten ihn wohl für einen der ihresgleichen. Pieter besitzt die perfekte Tarnung ... vorerst noch ...

 

Nur wenige Zuschauer im Saal leben noch. Hector Cannibal, der Erfinder der Bloody Reality, ist stolz; sein Beitrag ist zweifellos das Meisterwerk von Cannes. Dieses Meisterwerk war jedoch nur die Premiere, oder besser gesagt: die Generalprobe. Filmfestival Cannes ... du kannst mich mal! Mein Cannibal's Cannes war lediglich ein Auftakt! Denn bald kommt die (Alb-)Traumfabrik Hollywood an die Reihe, spätestens bei der nächsten Oscar-Verleihung. Er wird sie alle gnadenlos zur Schlachtbank führen: die machtgeilen Produzenten, das habgierige, eitle Gesocks der Megastars und die absolut verblödeten Konsumenten ...

Sein Motto, wie könnte es auch anders heißen, lautet: „Blutig, blutiger und am blutigsten ...!“

 

... Rohlen, jetzt ein vollgekotztes und blutbesudeltes Häufchen Elend, kraucht unter einem Tisch hervor, dann rappelt er sich auf. Vor ihm steht plötzlich eine beleibte Frau mit dem Gesicht eines Engels. Sie reicht Pieter ihre linke Hand, um ihm aufzuhelfen. Er kann es nicht fassen: „Du bist doch ... du bist doch die Lena, die genießerische Lehrerin, die aus dem Film ‚Die großen Fresser‘ ...!?“, stammelt er erstaunt.

Sie nickt und ihre Zunge gleitet ganz genüsslich über die Lippen. Ihre rechte Hand schnellt hervor, in der sie ein großes Fleischermesser hält, eines aus der Küchenmesser-Sammlung von Hugo, dem Koch. Damit schneidet sie Rohlen kurzerhand die Rübe ab und danach die unteren Extremitäten, welche sie sogleich mit größtem Genuss schmatzend zu verspeisen beginnt. Lena – der fünfte und weibliche Hauptdarsteller -, vorhin eben noch auf der Ersatz- und jetzt auf der Schlachtbank – lächelt Hugo glücklich an, während dieser den nun abgetrennten Kopf von Claris Milton nach oben hält. „To be or not to be!“, ruft er.

Hugo sieht Lena erfreut bei ihrem kannibalischen Mahl zu und überreicht ihr jetzt eine volle Tasse.

„Ja, Lena, mein geliebter Gourmand-Engel. Blutwurst und dazu eine Tasse Schokolade zum zweiten Frühstück, das öffnet so richtig den Magen.“

Lena trinkt aus, schwankt zu ihm, küsst ihn intensiv und packt ihn demonstrativ am Schritt. Dann löst Hugo sich von ihr und meint: „Hmm, Mädel, du schmeckst nach Wurscht!“

 

Hector ist ein großer, genialer Schlächter ... aber das ist noch harmlos gegen das, was sich die Zensoren leisten und vor allem die Sittenwächter; (allen voran die FSK); denn diese sind die wahren Schlächter! Hectors Zombies haben alles zerrissen, was ihnen in die Hände gekommen ist, aber das tun die meisten Filmkritiker auch ...

 

 

 

Imprint

Publication Date: 11-17-2018

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Copyright © 2018 by Carl Isangard. Cover by Carl Isangard

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