»Und für Juliane hab ich ein so schönes Halstuch gefunden. Mit Kätzchen drauf«, trällerte die Mutter ins Telefon.
»Mama«, versuchte Bruno, sie zum wiederholten Male zu unterbrechen.
»Sie liebt doch noch Kätzchen, oder?«, fragte die Mutter.
»Ja. Kätzchen schon«, räumte Bruno ein.
»Gut.« Die Mutter atmete erleichtert auf, dann hielt sie inne. »Ist alles in Ordnung, mein Junge?«
»Alles bestens. Aber … bitte flipp jetzt nicht aus, Mama, Juliane kommt dieses Jahr nicht mit.«
»Wie meinst du das, sie kommt nicht mit? Ich hab doch schon Geschenke für sie.«
»Wir …« Jetzt kam das Schwerste. »Wir sind nicht mehr zusammen.« Und waren es auch nie. Aber das wusste die gute Mama natürlich nicht. Für sie war Bruno seit zehn Jahren in einer stabilen Beziehung mit Juliane.
»Was hast du angestellt?«, platzte es durch den Hörer. Mamas Vertrauen war wie immer unerschütterlich.
»Ich?«
»Wie oft hab ich dir gesagt, dass du ihr endlich einen Antrag machen sollst. Das arme Ding.«
»Sie ist arm?«, blökte Bruno. Juliane hatte das Liebesglück gefunden, während er selbst seit Jahren frustrierter Single war. Okay, er war nicht immer frustriert über sein Singledasein gewesen, aber er war dieses Jahr dreißig geworden und noch in den Kater nach der Party hinein hatte ihn die Sehnsucht nach Liebe getroffen wie eine Keule. Seitdem war er frustriert. Und zwar so richtig. So, dass es ihm vorkam, als wäre er schon seit Jahren frustriert. Konnte man Sehnsucht rückwirkend entwickeln? Oder hatte er sich die letzten Jahre nur vorgemacht, mit gelegentlichen One-Night-Stands zufrieden zu sein?
»Kämpf um sie!«, forderte die Mutter. »Kauf einen Ring, zieh dich fein an, lad sie zum Essen ein, geh auf die Knie, mach ihr einen Antrag.«
»Mama, ich weiß, wie man einen Antrag macht.«
»Was ist dann das Problem?«
Ich steh auf Kerle. »Sie, äh, sie ist bereits verlobt.«
Kurze Pause. Dann lachte die Mutter auf. »Oh, du Spitzbub. Jetzt hab ich wirklich einen Moment geglaubt, ihr habt euch getrennt. Wann hast du sie denn gefragt?«
»Mit einem anderen«, fügte Bruno zu spät an.
»Was?«
»Sie heiratet einen anderen.«
Mamas Lachen verstummte abrupt und ihre Stimme wechselte zu purer Empörung. »Und das lässt du zu?«
»Wir haben uns in Freundschaft getrennt.«
»Papperlapapp. Wenn ihr euch in Freundschaft getrennt habt, ist da noch Liebe. Ihr wart wie lange ein Paar? Sie will dich bloß aus der Reserve locken. Außerdem hab ich für acht gekocht – Jochens Freundin kommt auch.«
»Jochen hat eine Freundin?« Was für eine Frau tat sich ihn an? Jochen war Brunos Bruder und so rechts wie ein linker Haken.
»Ich habe mich so gefreut, dass wir das erste Mal als komplette Familie Weihnachten feiern«, jammerte die Mutter. »Meine beiden Söhne unter der Haube. Mach mir das nicht kaputt, Junge.«
Noch ehe Bruno registrierte, was er da sagte, sagte er: »Ich bring jemanden mit.«
Die Mutter stockte. »Wirklich?«
»Meine neue Freundin.« Mist.
»Du hast eine neue Freundin?« Die Neugier kroch aus dem Hörer. »Warum sagst du das denn nicht gleich? Ist sie nett?«
»Nein, Mama, ich dachte mir, nach Juliane nehme ich mir eine richtig fiese Zicke.«
»Bruno!«
»Natürlich ist sie nett.« Bruno seufzte und fuhr sich durch die Haare. Wo sollte er auf die Schnelle ein Mädchen auftreiben, das sich für die Weihnachtstage von ihrer Familie loseisen konnte, um in seiner Familie die Freundin zu spielen? Er hatte nicht einmal zwölf Stunden dafür.
»Wie heißt sie?«, fragte die Mutter.
»Äh …« Verdammt, verdammt. »Natascha.«
»Ist sie Russin?«
»Spielt das eine Rolle?« Klar tat es das. »Jochen kann wenigstens zu Weihnachten sein rassistisches Maul halten.«
»Er ist kein Rassist«, empörte sich die Mutter.
»Dann eben Faschist.«
»Du tust ihm Unrecht, Junge.«
Unrecht? Jochen war der Hauptgrund, warum Bruno jedes Jahr seine Show abzog. In seinen Teenagerjahren hatte Jochen mit seinen Bergsportfreunden Schwulenklatschen gespielt.
»Du, Mama, ich muss auflegen«, sagte Bruno. »Wir sehen uns morgen. Bussi, Baba.«
»Du machst mir ja Witze«, meinte Juliane am Telefon. »Wieso nutzt du nicht die Gelegenheit und machst reinen Tisch?«
Ungefähr das hatte sie Bruno schon Ende August vorgeschlagen, als er im Supermarkt den ersten Spekulatius entdeckt und eine Panikattacke wegen Weihnachten gekriegt hatte.
»Das ist nicht so einfach, wie du denkst.«
»Jochen ist ein Schwätzer«, behauptete Juliane. »Seinetwegen brauchst du das Theater längst nicht mehr.«
»Er hat immer noch kräftige Arme.«
»Ja, vom Bierkrügeheben. Der Rest ist Fett. Du hingegen stemmst Gewichte.«
»Er hat den Hass auf seiner Seite. Das ist eine starke Motivation«, gab Bruno zu bedenken. »Außerdem schlage ich mich aus Prinzip nicht.«
»Du bist ein Feigling, Bruno. Was ist mit Selbstachtung?«
»Ich hab ein hübsches Gesicht. Das ist bei der Partnersuche viel Wert.«
»Hat dir bis jetzt auch nichts genützt.«
»Autsch.«
»Hat dich Jochen eigentlich schon mal nackt gesehen?«
»Wie kommst du auf das jetzt? Nein. Also … zuletzt, als ich noch daheim gewohnt hab. Mit achtzehn oder so. Warum?«
»Da warst du ein Zahnstocher. Er sollte dich jetzt sehen. Dann überlegt er sich achtmal, ob er zuhaut.«
»Ich will es aber nicht drauf ankommen lassen. Kennst du wirklich niemanden, der drei Tage Urlaub in den Bergen machen will?«
»Doch. Aber nicht bei deiner Familie«, konterte Juliane.
»Es ist romantisch. Mit Schnee und allem. Wo gibt es sonst noch weiße Weihnachten? Du kennst doch sicher irgendeine romantische Weihnachtsnudel, die ihre Kindheitserinnerungen an ein verkitschtes Fest auffrischen will. Bitte, Juli. Ich flehe dich an. Du hast es doch auch immer toll gefunden.«
»Denkst du, ich hab eine Agentur für Weihnachtsfetischisten, oder was?«, entfuhr es Juliane. Dann wurde sie eigenartig still. »Ich hätte da vielleicht wen.«
»Bitte. Bitte. Bitte. Ich tu alles, was du willst.«
Bruno lief vor seinem Auto auf und ab und schaute immer wieder aufs Smartphone. Es war fast neun. Seit einer halben Stunde sollte Natascha zur Stelle sein. Bei jeder Frau, die eine Haustür der Wohnsilos verließ, straffte er die Schultern und machte sich auf die Begrüßung bereit. Bisher vergeblich. Leider hatte er von seiner neuen Freundin keine Telefonnummer, und Natascha hieß sie auch nicht. Juliane hatte sich bedeckt gehalten und Bruno nicht weiter nachgefragt. Hauptsache, er hatte doch noch eine Frau bei der Hand.
Jetzt kamen ihm erste Zweifel. Die Gute tauchte nicht auf und Juliane ging nicht ans Telefon. Es sah ihr gar nicht ähnlich, ihn hängen zu lassen. Vielleicht war sie nur im Weihnachtsstress.
Bruno ging um sein Auto herum und öffnete den Kofferraum, nur um zum zwölften Mal zu kontrollieren, ob er alle Geschenke eingepackt hatte. Eine reine Verlegenheitsgeste, weil er befürchtete, jemand könnte es verdächtig finden, dass er hier herumlungerte.
»Bruno?«, sagte plötzlich eine männliche Stimme hinter, oder eher neben ihm.
Bruno fuhr herum und blickte in das Gesicht eines Kerls, dessen glatte Wangen von der Kälte rote Flecken hatten, und aus dessen Mund weiße Wölkchen stießen. Er trug eine Mütze, eine dicke Daunenjacke, hatte ein strahlendes Lächeln und irritierend klare Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte Bruno, ob das einer seiner One-Night-Stands war. Sein Typ war der Kerl jedenfalls.
»Ja?«, sagte Bruno. Er müsste ihn ohne Mütze sehen, um sagen zu können, ob er ihn kannte. Idealerweise auch ohne Kleidung.
»Ich bin Christoph«, sagte der Typ und streckte Bruno die Hand hin.
Doch kein One-Night-Stand?
»Bruno«, sagte Bruno und registrierte erfreut den festen Griff. Schade, dass er gleich aufbrechen musste, der Kerl wäre ein leckerer Weihnachtssnack. Sex unterm Christbaum gehörte zu Brunos verkitschtester Fantasie, seit er ein Teenager war.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin, aber mich hat die Nachbarin aufgehalten … sie ist ein bisschen betagt und …«
»Zu spät?«
»Juliane meinte, halb neun …«, erklärte Christoph.
»Juli…« Bruno vereiste und verbrannte für einen Moment zur selben Zeit. »Du bist Natascha? Ich meine … du bist mein … meine … du …? Ich bring sie um!« Brunos Puls ging hoch. Mit einem beherzten »Fuck« wandte er sich ab und wählte erneut Julianes Nummer. Sie ging noch immer nicht ran.
»Alles in Ordnung?«, fragte Christoph.
Vielleicht war es nur ein Missverständnis. »Kann es sein, dass eigentlich deine Schwester kommen sollte?«, fragte Bruno.
Christoph runzelte die Stirn. »Ich habe keine Schwester.«
»Sorry, aber …« Bruno tippte eine bitterböse Nachricht an Juliane und murmelte. »Eigentlich hab ich eine Frau bestellt.«
»Du hast eine Frau bestellt?«, fragte Christoph verstört.
»Ja. Nein. Das … kam jetzt ein bisschen falsch rüber. Ich hab … Also ich brauch eine Frau.«
»Aha«, machte Christoph. »Ich dachte, du bist … Juliane hat gesagt …«
»Was hat sie gesagt?«, fuhr Bruno ihn an.
»Dass du schwul und Single bist und jemanden suchst, mit den du Weihnachten verbringen kannst. In den Bergen, mit Schnee und allem. Sehr romantisch. Ich liebe weiße Weihnachten und Romantik … und da ich allein …« Christoph verstummte.
Bruno brauchte eine Weile, ehe er seinen Unterkiefer wieder einsammeln konnte. »Das hat Juli gesagt?«
»Stimmt es nicht?«
Bruno rollte mit den Augen und schnaubte. »Wo soll ich anfangen?«
»Du bist nicht schwul?«, fragte Christoph und musterte ihn von Kopf bis Fuß.
»Doch. Das ist so ziemlich das Einzige, was an der Geschichte stimmt«, gestand Bruno.
»Kein Single?«
»Doch, das auch«, gab Bruno zähneknirschend zu.
»Dann ist doch alles bestens«, meinte Christoph und lächelte.
»Gar nichts ist bestens. Wir fahren zu meinen Eltern«, platzte es aus Bruno heraus. »Sie erwarten, dass meine Freundin mitkommt. Juliane kann da nicht mehr mitspielen, wo sie hochschwanger ist. Wenn meine Mutter den Bauch sieht, glaubt sie gleich, sie wird Oma.«
»Ach. So ist das«, nuschelte Christoph, biss sich enttäuscht auf die Lippen und wankte rückwärts. »Dann … war das wohl nix.«
»Yeah!«, knurrte Bruno.
»Trotzdem schöne Bescherung«, murmelte Christoph, zeigte die Zähne und wandte sich zum Gehen.
Er hatte einen verdammt knackigen Arsch.
»Warte!«, rief Bruno.
Sofort blieb Christoph stehen, drehte sich um.
»Wenn … also … vielleicht … falls du …«
Christoph begann zu strahlen. »Du nimmst mich mit?«
»Eigentlich …« … hatte Bruno vorschlagen wollen, sich nach den Feiertagen zu verabreden.
Christoph kam auf das Auto – und Bruno – zu und schob dabei den Rucksack von den Schultern. Wie ferngesteuert öffnete Bruno den Kofferraum und sah zu, wie Christoph sein Gepäck verstaute.
Was soll der Wahnsinn?, schalt sich Bruno, als er auf die Autobahn bog. Er hatte sich darauf eingestellt, auf der Fahrt seine neuen Fakefreundin zu briefen. Wo sie sich kennengelernt hatten, und wie lange sie zusammen waren. Alles hatte er sich fein säuberlich zurechtgelegt, um dem Kreuzverhör seiner Mutter standzuhalten. Und nun hockte auf dem Beifahrersitz ein verteufelt hübscher Kerl, der innerhalb eines Telefonats bereit gewesen war, Weihnachten mit einem Wildfremden in den Bergen zu verbringen.
»Hast du nichts Besseres vor? Ich meine … heut ist immerhin Weihnachten«, fragte Bruno.
»Nope«, gab Christoph kurz zur Antwort.
»Keine Familie? Keinen Freund?«
Christoph fuhr zu ihm herum. »Wenn ich einen Freund hätte, wär ich nicht hier.«
»Okay«, murmelte Bruno. Klang, als hätte er einen wunden Punkt getroffen.
»Meine Eltern sind auf den Malediven. Ich hasse Sonne, Strand und Meer. Weihnachten muss im Winter stattfinden. Am liebsten mit viel Schnee.«
»Seh ich genauso«, gestand Bruno.
»Ja?«
»Ich hab auch nie verstanden, warum Leute Weihnachten im Süden verbringen wollen. Wenn ich zu den Feiertagen schon wegfahren müsste, dann in den Norden.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu – und sagte es gleichzeitig mit Christoph: »Noch mehr Schnee.«
Sie sahen sich an und grinsten.
»Deine Eltern wissen nicht, dass du schwul bist?«, fragte Christoph.
»Wissen es deine?«
»Seit ich neun bin.«
»Wow. Das ist … früh.« Bruno wechselte Spur.
»Andere Jungs wollten Dana Skully heiraten, ich Fox Moulder«, meinte Christoph und schmunzelte.
Bruno musste lachen. »Der ist aber auch ein Schnuckelchen.«
»Wie kommts, dass du nicht out bist?«, fragte Christoph. »Du wirkst nicht gerade wie eine Klemmschwester.«
»Nicht?«
Christoph lächelte verschmitzt.
»Mein Bruder«, begann Bruno und unterbrach sich. »Ich besuche meine Eltern nur ein Mal im Jahr, und da hab ich keinen Bock auf Stress. Ich meine, was geht es sie an, mit wem ich schlafe?«
»Na offensichtlich einiges, wenn du Fakefreundinnen anschleppst.«
Bruno schnappte nach Luft. »Ich will ihnen einfach nicht das Weihnachtsfest verderben.«
»Das Jahr hat dreihundertsechsundfünfzig Tage«, meinte Christoph.
Bruno holte tief Luft, stieß sie wieder aus. »Ich weiß.«
»Sagt ja keiner, dass du ausgerechnet zu Weih…«
»Ich habs verstanden«, unterbrach Bruno ihn.
Eine Weile schwiegen sie vor sich hin.
»Und was wirst du ihnen jetzt erzählen?«
Gute Frage. »Ich weiß es noch nicht.«
»Ich könnte ein Mitbewohner sein«, schlug Christoph vor. »Oder ein ehemaliger Studienkollege. Das hätte Tradition.«
»Wenn du mein Freund wärst, vielleicht.«
»Was nicht ist …«, begann Christoph.
Ein nervöses Kribbeln ging durch Brunos Körper. »Meine Mutter erwartet eine Natascha«, gestand er.
»Wer ist Natascha?«
»Du. Also … du wärst Natascha gewesen, wenn du …«
»Wenn ich keinen Schwanz hätte.«
Ich bin sehr froh, dass du einen Schwanz hast, dachte Bruno, stattdessen sagte er: »Stört es dich, wenn ich das Radio anmache?«
»Nope.«
Eine Sekunde später dröhnte »Last Christmas« aus den Boxen.
»Das ist vielleicht voll kitschig«, begann Christoph, »aber als ich ein Teenager war, hab ich mir genau solche Weihnachten gewünscht, wie in dem Video. Berge, Schnee, Freunde … Verknalltsein.«
»Ich war in George Michael verknallt«, gestand Bruno.
Christoph seufzte. »Irgendwie finde ich die Vorstellung immer noch schön – verliebt vor dem Christbaum.«
»Mhm«, seufzte auch Bruno, »das wärs.«
Sie sahen sich an und lächelten. Was nicht ist …
»Wird allerdings schwierig, wenn du vorm Christbaum lieber mit Fakefreundinnen rummachst«, meinte Christoph.
Autsch. »Träume sind dazu da, um vor der Realität zu flüchten, nicht, um sie Realität werden zu lassen.«
Christoph hob die Brauen. »Ist nicht dein Ernst.«
»Reiner Selbsterhaltungstrieb«, gestand Bruno. »Mir reicht, wenn mir Männer das Herz brechen. Da muss ich mir nicht auch noch von meinem Bruder die Nase brechen lassen.« Hitze schoss ihm in die Ohren. Hatte er das gerade wirklich gesagt?
Christoph starrte ihn an.
»Mein Bruder ist ein Nazi«, erklärte Bruno. »Deswegen das Theater mit der Freundin.«
»Oh.« Christoph blickte zum Seitenfenster hinaus. »So kommen sie an die Macht«, sagte er nach einer Weile.
»Was?«
»Du überlässt ihm das Feld. Gibst klein bei. Damit denkt er, er hat recht.«
»Er denkt gar nicht«, platzte Bruno heraus. »Außerdem ist das mein Problem und nicht deines.«
»Falsch. Es ist unser Problem.«
»Wir sind nicht zusammen«, konterte Bruno.
»Ich meine mit uns uns denkende Menschen.«
»Ach so.«
Christoph begann zu grinsen. »Obwohl …«
»Obwohl was?«
»Wäre es nicht eine verrückte Fügung des Schicksals, wenn wir … wir beide … Ich meine, wir sind beide schwul, Single …«
»Es ist vor allem verrückt«, meinte Bruno schroff und verfluchte sich.
»War auch nur ein Witz«, meinte Christoph kleinlaut. Und dann: »Ich kann Judo.«
»Was?«
»Wenn du es heute hinter dich bringen willst … ich könnte dich vor deinem bösen Nazibruder beschützen.«
Bruno lachte auf. »Du spinnst doch.«
»Vielleicht ist das kein Zufall, dass ich statt Natascha hier sitze. Vielleicht will das Universum, dass du es heute durchziehst.«
»Das Universum will gar nichts. Juliane ist ein hinterhältiges Miststück. Dafür komm ich nicht zu ihrer Hochzeit«, knurrte Bruno. Und dann: »Okay, zur Hochzeit komm ich. Aber ich zahl es ihr auf jeden Fall heim.«
»Du bist auch auf ihrer Hochzeit?«, fragte Christoph erfreut. »Dann sehen wir uns dort.«
»Sieht so aus.« Brunos Bauch kitzelte ein bisschen.
»Ich liebe Hochzeiten.«
»Ich auch«, gab Bruno zu.
Christoph funkelte ihn an. »Ich hab noch keine Begleitung. Du?«
Bruno grinste. »Möglicherweise?«
Bruno klopfte mit den Fingerkuppen nervös auf den Tisch des Cafés. Wo blieb Christoph bloß? Ehe er sich seiner Familie stellte – noch immer wusste Bruno nicht, wie er ihr Christoph vorstellen sollte – hatte er eine Pause gebraucht. Noch einmal durchatmen. Mut sammeln. Also waren sie kurzerhand beim letzten Einkaufszentrum vor der Einöde stehen geblieben. Auch, weil Bruno noch eine Kleinigkeit für Jochens Freundin besorgen wollte. Christoph war ebenfalls mit der Bemerkung, er müsse noch was erledigen, davongerauscht. Sie hatten sich ausgemacht, sich hier zu treffen.
Bruno trank bereits den zweiten Kaffee und liebäugelte mit einem Punsch. Müsste er nicht nachher ein paar vereiste Serpentinen bei dichtem Schneegestöber hochfahren, hätte er zugelangt. Wirklich kontrollieren tat hier am Weihnachtstag sowieso keiner. Und wenn, waren die örtlichen Polizisten blauer als die Leute, die sie aufhielten.
Das Telefon klingelte. Die Mutter.
»Wo seid ihr jetzt?«, fragte sie. »Kommt ihr bei dem Schneegestöber gut voran?«
»Wir sind in Hinzberg. Im Einkaufszentrum … besorgen noch eine Kleinigkeit.«
»Dann seid ihr ja gleich da«, frohlockte sie. »Ich bin ja schon so gespannt auf deine neue Freundin.«
»Ja«, sagte Christoph. »Was das betrifft …«
»Trinkt sie lieber Kaffee oder Tee? Oder lieber Kakao? Ach was, ich mache alles drei«, trällerte die Mutter.
»Mama, ich muss dir …«
»Dein Vater hat extra den guten Wein aus dem Keller geholt. Er ist ja auch schon so gespannt.«
»Mama, hör zu …«
»Ah … die Küchenuhr, ich muss nach dem Braten sehen. Bis gleich, mein Junge.« Sie legte auf.
Na prima.
Im nächsten Moment wurde Bruno von einem Luftzug gestreift und ein blumiger Duft prickelte in seiner Nase. Dann saß eine ziemlich … aufgetakelte Frau vor ihm. Knallroter, hautenger Rollkragenpulli, riesige Möpse, um die eine goldene Kette schlenkerte, ein Ledermini mit einem breiten Gürtel, und Stiefeletten mit hohen Absätzen. Sie klimperte mit dichten Wimpern, strich über ihre schwarzen, glatten Haare und leckte sich über die kirschroten Lippen. Ihre rot lackierten, aufgeklebten Fingernägel bohrten sich in ein kleines, goldenes Handtäschchen.
»Hast du gesehen?«, hauchte sie aufgeregt und schob eine riesige Einkaufstüte voller Kleidung neben ihren Stuhl. »Es schneit!«
Bruno blinzelte. Im ersten Moment hätte er sie nicht erkannt. Oder besser ihn. »Christoph?«
»Natascha«, korrigierte Christoph mit versucht femininer Stimme.
Panisch schaute sich Bruno um, starrte dann wieder diese … »Du siehst aus wie eine Nutte!«
»Ich bin eine Nutte, Darling«, hauchte Christoph und legte sich eine Hand aufs Dekolleté. »Schon vergessen? Für ein bisschen Weihnachtsplingpling spiel ich deine Freundin.«
»Das ist eine schwachsinnige Idee«, zischte Bruno. Es war eine exzellente Idee. Sah man von der Tatsache ab, dass Christoph sehr offensichtlich wie eine Transe aussah. So übertrieben, wie er sich gestylt hatte, passte er auf eine Bühne oder auf einen Karnevalsumzug, die Eltern und Jochen würden ihm niemals abnehmen, dass er eine Frau war.
»Schätzchen, wenn sie bisher nicht gerafft haben, dass du schwul bist, raffen die auch nicht, dass Natascha einen Pimmel hat.«
Bruno musste gegen seinen Willen lachen. »Du bist verrückt.«
»Nach dir, Baby«, hauchte Christoph glamourös und ergriff über den Tisch hinweg Brunos Hand. »Und jetzt hätte ich gerne einen Baileys.«
»Wo hast du den Fummel her?«, fragte Bruno und registrierte die Blicke an den anderen Tischen.
»Wir sind in einem Shoppingcenter, Liebster, und ich liiiebe Shopping, wie du weißt.«
»Hör auf, so zu reden«, zischte Bruno.
»Befiehl eine Frau nicht, wie sie sich zu benehmen hat, du rückständiger Trottel. Wir schreiben bald zweitausendzwanzig.«
»He!«, entfuhr es Bruno gespielt empört.
»Also. Krieg ich nun meinen Baileys?« Christoph reckte den Hals und sah sich nach der Bedienung um. Er fuchtelte mit einer Hand hoch und rief wie eine Diva: »Einen Baileys, aber husch, ach was, machen Sie zwei draus.«
»Das geht niemals gut«, wiederholte Bruno zum gewiss siebzigsten Mal, seit ihm Christoph als Natascha gegenübergetreten war, und lenkte den Wagen so nah an den Schneehaufen vor dem Haus seiner Eltern, dass er gerade noch aussteigen konnte. Es war zwar furchtbar nett, was Christoph versuchte, und er mochte ihn dafür, aber niemals nie ging er als Frau durch. Noch weniger als Brunos Freundin. Einen so schlimmen Geschmack in Sachen Frauen nahmen ihm seine Eltern niemals ab.
»Die glauben uns das nie«, jammerte Bruno.
»Wenn sie so unbedingt wollen, dass ihr Sohn eine Freundin hat, wie du, dass sie dich für hetero halten, glauben sie es«, meinte Christoph.
Bruno warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Menschen sehen nur, was sie sehen wollen«, sagte Christoph. »Was nicht ins Bild passt, biegen sie sich zurecht.«
»Das geht trotzdem nie durch«, meinte Bruno und musterte Christoph. Über seiner Perücke hatte er eine Mütze gezogen, und über dem Nuttenoutfit einen zwar femininen, aber angenehm unschrillen Daunenmantel. Er sah fast überzeugend aus, abgesehen von …
Bruno öffnete das Handschuhfach und kramte eine Packung Papiertaschentücher heraus. »Halt still«, sagte er, hielt zärtlich Christophs Kinn fest und begann behutsam, das zu grelle Rot von den weichen Lippen zu tupfen. »Weniger ist mehr«, erklärte er leise. Christoph schien es zu genießen und schloss die Augen. Sanft wischte Bruno den zu schrillen Lidschatten weg. »Sieh mich an«, bat er. Christoph blinzelte und … dieser Augenaufschlag, dieser Blick – er traf direkt Brunos Herz.
»Besser«, krächzte Bruno und strich über eine Strähne der Perücke, die Christophs Gesicht rahmte. Dabei berührte er Christophs Schläfe und streichelte die Wange bis zum Kinn hinab. »Ich mags natürlich.«
»Fragt sich nur, ob deine Leute das auch so sehen«, flüsterte Christoph.
Bruno schluckte. Christophs Lippen lockten ihn so sehr. »Ist mir egal«, raunte er und neigte sich vor.
Christoph wich zurück. »Sind sie das?«
»Was?«, fragte Bruno verpeilt.
»Deine Eltern.«
Jetzt begriff Bruno und fuhr herum.
Seine Mutter und sein Vater kamen aus dem Haus und bewegten sich auf dem vereisten Boden vorsichtig auf das Auto zu.
»Verdammt«, sagte Bruno. Und wieder: »Das klappt nie.«
»Wenn es da draußen so glatt ist, wie es aussieht, musst du mich stützen, sonst brech ich mir in den Hacken die Beine«, meinte Christoph. Dann strich er die Haare glatt und atmete tief durch. Erst jetzt wurde deutlich, wie nervös er war. »Okay. Die Show geht los.«
Kaum war Bruno aus dem Wagen gestiegen, wurde er schon von seiner Mutter gedrückt. »Mein Junge!«, rief sie glücklich. Dann: »Ist sie das?« Sie löste die Umarmung und linste durch die Windschutzscheibe.
»Nein«, sagte Bruno. »Er-SIE sitzt nur wegen der Statik da.«
Die Mutter gab ihm einen scherzhaften Klaps. »Sei nicht frech, sonst bringt dir das Christkind nichts.«
»Willst du sie uns nicht vorstellen?«, fragte der Vater.
Im wadenhohen Schnee stapfte Bruno um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür. Elegant reichte ihm Christoph eine Hand und stellte ein Bein mit der Stiefelette heraus. Zu übertrieben. Bruno zog ihn aus dem Auto und Christoph schmiegte sich feminin lachend an ihn.
»Schalt einen Gang zurück«, zischte Bruno leise.
»Nimm den Stock aus dem Arsch«, konterte Christoph. »Wir sind frisch verliebt, schon vergessen?«
Ein Stich fuhr durch Brunos Körper. »Was?«
Da löste sich Christoph schon von ihm und streckte der Mutter divenhaft eine Hand entgegen. »Du musst sein Mama von Bruno.«
Woher hatte er auf einmal den russischen Akzent?
Die Mutter musterte Christoph von Kopf bis Fuß, dann schloss sie ihn in die Arme. »Lass dich drücken, Kind.«
»Das ist Chri…Natascha«, murmelte Bruno unschlüssig.
»Sehr erfreut«, sagte der Vater und schüttelte Natascha die Hand. Er packte fest zu und Christoph fiel für einen Moment aus der Rolle. Die beiden Männer schüttelten sich maskulin die Hände, schienen beide erst nichts davon zu merken. Doch dann blickte der Vater irritiert auf Nataschas Hand und Natascha zog sie rasch zurück, um sich mit gebrochenem Handgelenk durch die Haare zu fahren. »Du hast nicht erzählt, dass du hast so stattlichen Papa«, hauchte er und strich über Brunos Arm, von der Schulter bis zur Hand, dann klapste er ihm auf den Hintern.
Schlagartig sammelten sich in Brunos Schritt die Säfte.
»Komm mit rein«, sagte die Mutter, zog Christoph von Bruno fort, hakte sich bei ihm unter und führte ihn ins Haus. »Trinkst du lieber Tee oder Kaffee oder Kakao?«
Etwas verloren marschierte Bruno hinterher.
»Hübsch«, flüsterte ihm der Vater verschwörerisch zu.
»Ja, das ist er … sie. Ich meine sie.«
»Wladimir, meine zweite Bruder, ist Soldat«, erzählte Christoph. »Ist in Ukraine stationiert.« Er rollte mit den Augen und griff sich theatralisch ans Dekolleté. »Große Drama. Mama weint ganzen Tag. Er ist so, wie heißt, große Künstler. Pianist. Auf Konservatorium alle nennen Tschaikowski.«
Bruno war hin- und hergerissen zwischen Fremdscham und Begeisterung. Was sich Christoph da aus dem Stegreif aus den Fingern sog, war atemberaubend. Die Lippen, über die die Worte flossen, waren so sinnlich, und diese klaren Augen, er konnte sich nicht sattsehen. Christoph gab sich viel zu divenhaft, viel zu dramatisch, dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, hingen alle an seinen Lippen. Christoph war Mittelpunkt als Natascha mit ihren vier Brüdern, die alle unfassbar tragische Schicksale litten.
Doch bislang hatte er nur die Eltern und die Großeltern überzeugen müssen. Jochen, so erfuhr Bruno, war noch bei der Familie seiner Freundin. Bis er kam, würde Natascha eine dostojewsksche Familiengeschichte ausgebreitet haben. Dass der russische Akzent gelegentlich ins Italienische kippte, schien keinem aufzufallen. So peinlich Bruno das nuttige Outfit nach wie vor fand, er konnte kaum den Blick von Christophs bestrumpften Beinen lassen, und versuchte, ihm unter den Rock zu schauen. An den Füßen trug Christoph Gästepantoffel aus weinrotem Filz Größe vierundvierzig.
»Ich muss mal kurz machen Pipi«, trällerte Christoph und sah Bruno auffordernd an.
»Ich zeig dir, wo die Toilette ist«, sagt die Mutter rasch, klopfte Natascha auf den Oberschenkel und sprang hoch, um ihn nach draußen zu geleiten.
Christoph warf Bruno einen Hilfe suchenden Blick zu, aber Bruno fühlte sich selbst im Moment ziemlich hilflos.
»Sie ist … bemerkenswert«, meinte die Oma, als Christoph mit der Mutter das Wohnzimmer verlassen hatte.
»Hat viel durchgemacht, die Kleine«, murmelte der Opa.
»Du hast einen interessanten Geschmack«, sagte der Vater.
»Sie erinnert mich ein bisschen an Tante Grete. Die war auch so divenhaft«, meinte die Oma und tätschelte Opas Knie. »Findest du nicht auch?«
»Iwo«, winkte der Opa ab. »Die Grete war ein Mannweib.«
Bruno verschluckte sich und hustete.
»Aber eine gewisse Ähnlichkeit musst du zugeben«, murmelte die Oma.
»Papperlapapp.« Der Opa legte eine Hand auf Brunos Unterarm. »Dem Bruno muss sie gefallen, nicht wahr?«
Bruno grinste. Seine Ohren glühten.
»Sie wirkt auf jeden Fall ziemlich … sportlich«, stellte der Vater fest.
»Sie macht Judo«, platzte Bruno heraus. »Frauen…Judo.«
»Frauenjudo?«, fragte der Opa. »Was ist denn das?«
Bruno erhob sich. »Ich schau mal, ob die beiden ins Klo gefallen sind.«
Als Bruno den Flur betrat, hörte er im oberen Stockwerk das Lachen seiner Mutter. In böser Vorahnung stieg er die Treppe hoch.
Christoph und seine Mutter hockten nebeneinander auf dem Gästebett und blätterten durch ein Fotoalbum.
»Und das hier war nach der OP«, erklärte die Mutter. »Er hatte eine Vorhautverengung.«
Christoph zog scharf Luft durch die Zähne. »Autsch, das hatte ich auch.« Dann rasch: »Ich meine … Sergej. Meine kleine Bruder. Ich habe Hand gehalten, als Doktor mit rostige Messer …«
»Lässt du uns allein, Mama?«, unterbrach Bruno ihn.
Sofort stand die Mutter auf und strich ihren Rock glatt. »Ich muss sowieso nach dem Braten sehen.« Irgendwie verwandelte sie sich neben Christoph auch ein wenig zur Diva. Als sie bei Bruno vorbeiging, sagte sie: »Aber macht kurz. Jochen und Samira müssten jeden Moment kommen.«
Bruno schloss die Tür hinter ihr und drehte sich zu Christoph um. »Wladimir, der Tschaikowsky spielende Soldat? Boris, der Taxifahrende Schriftsteller? Sergej, dem man mit dem rostigen Messer die Vorhaut entfernt?«
»Und Ivan, vergiss Ivan nicht, der trotz Klumpfuß in staatliche Ballett tanzt«, meinte Christoph im russischen Akzent. »Papa sehr ärgerlich, hauen Ivan ganze Nacht. Junge soll nicht tanzen, soll arbeiten hart. Mit Hände.«
»Bist du irre?«
»Ich fühle mich nur in meine Rolle ein.«
»Du machst dich über meine Familie lustig.«
»Ach, ist das süß«, rief Christoph aus und hob das Fotoalbum an. »Wie alt warst du da? Vierzehn? Fünfzehn?«
»Leg das weg«, bat Bruno und warf einen Blick auf das Foto von ihm in Badehose am Gebirgssee. »Sechzehn.«
»Echt?«, sagte Christoph überrascht. »Du warst zierlich. Und hübsch.«
»Leg das Album weg«, bat Bruno erneut, dann setzte er sich zu Christoph. »Findest du?«
»Du wärst genau mein Typ gewesen«, meinte Christoph. »Hätte ich dich damals gekannt, hätte ich mich in dich verknallt.«
»Wirklich?« Und heute?
»Ach Gott, hier, wie schnuckelig«, jubelte Christoph und besah sich ein weiteres Foto. Es zeigte Bruno in Wanderkluft. Lederhosen, rot kariertes Shirt mit aufgekrempelten Ärmeln, Wanderschuhe und Stutzen.
»Lass das, das ist peinlich«, meinte Bruno und wollte Christoph das Album wegnehmen.
Christoph drehte sich damit weg.
»Und hör auf mit dem Getue«, schalt Bruno.
»Welchem Getue?«, murmelte Christoph, ganz auf die Fotos konzentriert.
»Na das. Dieses Weibische. Ich finde das abstoßend.«
»Tja, Pech mein Lieber. Den Kerl hab ich nur für Schwule drauf.«
»Was?«
Christoph klappte das Fotoalbum zu und blickte Bruno an. »Wenn du einen Kerl willst, dann musst du das nur sagen.« Christoph fuchtelte Richtung Tür. »Da unten. Die wirken doch alle ganz nett – und sie lieben dich. Wovor hast du Angst?«
»Du hast Jochen noch nicht kennengelernt.«
»Ach ja, den Nazi, der eine Freundin namens Samira hat. Klingt nicht sehr arisch.«
Das war Bruno auch schon aufgefallen. »Er wird auf deine Show nicht reinfallen.«
»Wenn das so ist«, Christoph legte das Album beiseite und zog mit einem erleichterten Seufzen die Perücke vom Kopf, »kann ich endlich raus aus dem Fummel.« Mit beiden Händen wuschelte er sich durch die Haare. »Das Ding beißt wie Hölle.«
Bruno berührte sein Kinn, zwang ihn sanft, ihm das Gesicht zuzuwenden und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Sein Herz machte einen Satz und ein heißer Blitz zischte bis in die Lenden. Im nächsten Moment packten sie sich gegenseitig im Nacken und begannen sich stürmisch zu küssen. Sie kippten rückwärts aufs Bett, Bruno halb auf Christoph. Sie schnauften, stöhnten, bissen einander fast vor Gier, packten sich an den Haaren.
Bruno schob ein Knie zwischen Christophs Schenkel, zerrte den Rollkragenpulli aus dem Minirock, fuhr mit den Fingern unter den Stoff und streichelte Christophs heiße Haut.
»Ho-ho-ho der Weihnachtsmann ist da«, tönte auf einmal Joches Stimme von unten herauf, dann herrschte reger Begrüßungstumult.
»Fuck«, keuchte Bruno in den Kuss. Er war gerade so schön in Fahrt. Mit einem Stöhnen presste er das Gesicht neben Christoph in die Bettdecke.
»Bruno?! Natascha?! Kommt ihr?! Jochen ist gerade gekommen«, rief die Mutter schon die Treppe hoch.
»Kommen gleich«, rief Bruno in die Decke, wohl wissend, dass das nicht mal vor der Tür zu hören war. Dann rollte er sich von Christoph herunter auf den Rücken und richtete die Erektion in seiner Jeans. »Tu mir einen Gefallen. Versuch, einen Gang runterzuschalten, ja?«, bat er.
Die Kerzen am schwer behangenen Christbaum flackerten. Darunter türmte sich ein Berg aus Geschenken. Vom CD-Player her tönte der Weihnachtschor der Sängerknaben. Die Eltern und Großeltern sangen feierlich mit. Wie in der Kirche standen alle fromm vor dem Baum, die Hände im Schoß verschränkt, der Blick möglichst andächtig.
Bruno starrte Jochens Freundin an.
Jochen starrte Brunos Freundin an.
Samira bändigte ihren pechschwarzen Afro mit einem schicken Stirnband.
Nataschas Bizepse kamen durch den engen Rollkragenpulli gut zur Geltung.
Samira hatte dunkle Augen und eine Milchkaffeehaut.
Nataschas Brüste saßen einen Tick zu hoch – der linke Busen ein wenig höher als der rechte.
Samira trug einen gemusterten Wickelrock über ihren Jeans.
Nataschas Ledermini wies im Schritt eine verdächtige Wölbung auf.
Wie kam ausgerechnet Jochen zu einer so exotischen Freundin? Jochen! Der Typ, der einst sein Kinderzimmer zu Kleinholz verarbeitet hatte, weil ihm der Kerl im Tattoostudio kein Hakenkreuz tätowieren hatte wollen, auch keinen Reichsadler oder andere Nazisymbole. Der Typ, der seine Mutter zum Heulen gebracht hatte, als er sich mit vierzehn die dichten Locken für einen Glatzkopf abrasiert hatte. Derselbe, der mit seinen Freunden in Springerstiefel jene Jungs durchs Dorf gejagt hatte, die Bruno am Bergsee heimlich geknutscht hatte. Dieser Kerl trug jetzt einen leicht chaotischen Haarschnitt und einen Bart. In Kombination mit seinem molligen Körperbau wirkte er mehr wie ein Teddy, denn wie ein brutaler Schläger. Und er stand stolz neben seiner Milchkaffeefreundin.
Die Sängerknaben beendeten »Oh du Fröhliche« und stimmten »Stille Nacht« an. Duldeten die Eltern, dass Bruno und Jochen bei den anderen Weihnachtsliedern nicht mitsangen, das »Stille Nacht« war so sehr Pflicht wie das Vaterunser in der Kirche, egal, wie falsch sie es brummten. Erfuhr dieses Lied sonst eine derbe akustische Schändung, hob sich auf einmal eine klangvolle Männerstimme aus dem erbärmlichen Gejaule.
Eine Gänsehaut kribbelte über Brunos Körper, als er begriff, dass es Christophs Stimme war. Es war eine wunderschöne Stimme, kraftvoll und doch sanft. Er sang mit ganzer Leidenschaft, traf jeden Ton, spielte sogar ein bisschen mit den Höhen und bot so einen wunderbaren Kontrast zu den Sängerknaben. Bruno wurde der Mund trocken. Sein Bauch kribbelte, sein Herz klopfte. Die Augen in seiner sinnlichen Darbietung geschlossen, bemerkte Christoph nicht, dass ihn alle anstarrten. Dass keiner mehr mitsang.
Die Sängerknaben verstummten. Die CD war zu Ende. Christoph atmete tief durch, als wollte er den letzten Ton noch einmal auf sich wirken lassen, dann blinzelte er und schaute sich zufrieden um. Als er die verstörten Blicke bemerkte, schloss er genervt über sich selbst die Augen und entließ ein beherztes, sehr unweibliches: »Fuuuck.«
Stille.
Plötzlich durchbrach ein »Aaaaaahahaha« das Schweigen. Jochen bog sich lachend zurück und klatschte in die Hände. »Klasse! Einfach Klasse! Du hast es echt drauf, Brüderchen. Du bist der Knaller!«
»Was ist denn los?«, fragte der Opa.
»Pscht«, machte die Oma und harrte gespannt dem, was da kommen würde.
Bruno schluckte. Seine Hände zitterten. »Mama, Papa …« Sein Herz hämmerte so heftig, dass er kaum seine eigene Stimme hören konnte. »Ich, ähm, muss euch was …« Eine Hand legte sich ermutigend zwischen seine Schulterblätter. »Ich bin …« Er wandte sich halb zu Christoph herum, umschloss seine Finger und schenkte ihm ein schwer nervöses Lächeln. Dann sah er in die Runde. Im Schein der Kerzen des Weihnachtsbaums und für das Christkind in Schale geworfen, wirkten sie alle ungemein feierlich – und starrten ihn atemlos an. »Das ist Christoph und … ähm … ich bin schwul.«
Stille.
»Was hat er gesagt?«, fragte der Opa.
»Bruno ist eine Schwuchtel«, übersetzte Jochen laut. »Ein Warmer.«
»Jochen«, mahnte die Mutter.
»Das ist ja eine schöne Bescherung«, entfuhr es Oma.
»Und was ist mit Natascha?«, fragte der Opa.
»Die ist ein Kerl«, erklärte Jochen. »Hast du sie – ihn – nicht singen gehört?«
»Ich kenn mich nimmer aus. Ich will jetzt einen Schnaps.«
»Super Idee, Opa«, meinte Jochen und setzte sich in Bewegung. »Vogelbeere?«
»Bring mir auch einen mit«, rief der Vater.
»Seid mal still«, bat die Mutter, kam auf Bruno zu und blickte zwischen ihm und Christoph hin und her. Dann legte sie eine Hand auf Brunos Wange und sah ihn mit triefendem Mitleid an. »Ist es, weil Juliane einen anderen heiratet?«
Christoph prustete unterdrückt.
»Nein, Mama, ich bins schon immer.«
»Die Juliane war aber eine echte Frau, oder?«, fragte der Vater.
»War doch alles halb so schlimm«, meinte Christoph, als alle zu Bett gegangen waren. Sie saßen zusammen vor dem Christbaum auf dem Sofa. Einzig die Lichterkette erhellte den Raum, tauchte ihn in gemütlich goldenes Licht. Während des üppigen Festmahls hatte Bruno ein wahres Kreuzverhör über sich ergehen lassen müssen. Christoph hatte sich vor dem Essen seines Nuttenfummels entledigt und war in Jeans und Hemd erschienen. Das war der Moment, in dem sich Bruno so richtig in ihn verknallt hatte. Wie hübsch er war. Den ganzen Abend hatten sie nebeneinandergesessen und die Knie aneinander gedrückt.
In Erwartung dessen, was später am Abend mit Sicherheit passieren würde, hatte Bruno trotz der durchwegs peinlichen Fragen seiner Familie unter einer Dauererektion gelitten. Streng genommen tat er das immer noch.
»Danke«, sagte Bruno.
»Wofür denn?«, fragte Christoph.
»Dass du versucht hast, meine Freundin zu spielen.«
»Das war nicht gerade meine beste Darbietung.«
»Du hast eine unglaublich schöne Stimme. Wo hast du so singen gelernt?«
»Das glaubst du mir nicht.«
»Sag schon.«
»Ich war ein Sängerknabe.«
Bruno sah Christoph überrascht an. »Echt?«
»Ich hab dir ja gesagt, du glaubst mir nicht.«
»Doch … ich …« Bruno strich mit einem Finger über Christophs Schläfe und Wange, bis zum Kinn – wie er es schon im Auto getan hatte, und blickte auf diese sinnlichen Lippen. »Würdest du auf Julianes Hochzeit meine Begleitung sein?«
»Nur, wenn du mich jetzt küsst«, raunte Christoph.
Das ließ sich Bruno nicht zweimal sagen. Sanft drückte er einen Kuss auf Christophs Mund. »Frohe Weihnachten«, flüsterte er.
»Frohe Weihnachten«, hauchte Christoph, dann schlangen sie in einem wilden Kuss die Arme umeinander, und während im oberen Stockwerk die Familie ihren Rausch ausschlief, erfüllten sie sich vor dem Christbaum ihre kitschigste Sexfantasie.
Frohe Weihnachten euch!
Publication Date: 12-14-2019
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