Cover

1.

 

 

 

»Ich sag dir gleich, du kannst dir die Mühe sparen. Ich hab einen Freund.«

»Gut. Ich hab kein Interesse. Ich bin nur hier, um Luke einen Gefallen zu tun.«

»Du spielst den Wingman für deinen Chef?«, fragte Inge. »Ist das nicht irgendwie grenzwertig?«

»Du gehst auf ein Doppeldate, obwohl du einen Freund hast?«, erwiderte ich.

Sie grinste. »Touché.«

»Luke ist nicht mein Chef«, stellte ich nach einer Schweigesekunde klar. »Okay, er ist mein Chef. Aber in Wirklichkeit ist er mein bester Freund. Wir kennen uns seit der Kindheit. Mit Unterbrechungen.« Von zehn Jahren. Aber was gings Inge an?

»Der Chef als bester Freund …« Sie musterte mich. »Du siehst nicht aus wie ein Beta.«

»Wie seh ich denn aus?«

»Nicht wie jemand, der sich von anderen herumkommandieren lässt.«

Autsch.

»Und du siehst nicht aus wie eine selbstlose beste Freundin«, konterte ich.

Ihre Augenbrauen wanderten hoch. »Aha. Und wie seh ich deiner Meinung nach aus?«

»Wie eine Sch…« An der Bar lachte Pamela oder Manuela auf, oder wie immer die Tussi hieß, die Luke rumkriegen wollte. Wahrscheinlich würde er mir nicht verzeihen, wenn ich das Date mit einer unbedachten Äußerung abbrach. »…wedin. Wie eine Schwedin.«

Inge lachte auf, warf den Kopf zurück und zeigte gesunde Zähne. »Wie kommst du denn bitte darauf?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Du heißt Inge. Du bist blond …«

Wieder giggelte sie los. »Du bist doch auch blond – Sven.«

»Ich heiße Jonas. Joe.«

»Das war ein Witz.« Sie betrachtete meine Haare. »Straßenköterblond. Überhaupt sehen deine Haare aus wie das Fell von einem Straßenköter. So vom Styling her.«

»Ich style nicht. Ich bin ein Straßenköter.« Beziehungsweise war ich das gewesen, viel zu lange.

Inge lachte wieder auf. »Na ja, ein bisschen was von Heroin-Schick hast du tatsächlich.«

»Danke.«

»So war das nicht gemeint.« Sie legte eine Hand auf meine und ich zog sie darunter hervor, stopfte meine Fäuste in die Hosentaschen, lehnte mich zurück und sah mich im Lokal um.

»Ich mag Heroin-Schick«, meinte sie besänftigend. »Okay, nicht prinzipiell, aber an dir.«

»Was arbeitet dein Freund noch mal?«

 

Etwa drei Stunden später fläzten wir in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa und spielten Need for Speed auf meiner Konsole. In meinem Schlafzimmer tobte sich Luke mit Daniela oder Michaela aus. Immer wieder schrillte ein Lachen, Knurren oder Quietschen durch die Tür. Es nervte, daher schaltete ich den Sound des Spiels noch etwas hoch. Die Motoren dröhnten, dass man es im Bauch spüren konnte.

»Wollen wir die ganze Nacht dieses blöde Spiel spielen?«, rief Inge gegen den Lärm an.

»Hoffentlich nicht.« Ich war müde, wartete nur noch darauf, dass Luke fertig wurde und die beiden Mädels abhauten.

»Ich hab eine Idee, wie wir das Spiel interessanter gestalten könnten«, meinte Inge.

»Es ist bereits interessant.«

»Wer verliert, zieht ein Kleidungsstück aus.«

»Schießt du dir damit nicht ins eigene Knie?«, fragte ich. »Du verlierst doch ständig.«

Sie funkelte mich an, grinste. »Wer weiß.«

»Na gut, Okay.« Ich zuckte mit den Schultern und stellte eine neue Strecke ein.

Eine halbe Stunde später saß sie splitterfasernackt neben mir, während ich sogar noch meine Straßenschuhe trug.

»Hier …« Ich grapschte nach der Fließdecke zu meiner Linken und warf sie ihr in den Schoß.

»Mir ist nicht kalt«, meinte Inge.

»Draufsetzen. Ich mag nicht, wenn mein Sofa schmutzig wird.«

Mit gerunzelter Stirn sah sich Inge um. Leere Bierdosen, Limoflaschen, Pizzakartons. Volle Aschenbecher. Kerzen, die runtergebrannt waren und Wachs über den halben Couchtisch verteilt hatten. Krümel, Asche, zerknitterte Zellophanhüllen, Alupapierknäuel … Es sah nicht immer so aus, aber in letzter Zeit hing ich ein wenig durch. Lag vielleicht an meinem neuen Job in Lukes Firma. Ich war zwar nur Leiharbeiter, aber Luke hatte mir versprochen, sich dafür einzusetzen, dass ich fix übernommen wurde. Wäre dann mein erster richtiger Job, also lag mir was daran. Andererseits machte mir irgendwie zu schaffen, dann gebunden zu sein.

»Du willst nicht, dass dein Sofa schmutzig wird?«, fragte Inge ungläubig und wischte über den Bezug. Krümel fielen zu Boden.

»Korrekt.« Ich stellte ein neues Spiel ein. Einzelspielermodus. »Ich mag nicht, wenn Körperflüssigkeiten drankommen.« Weibliche, um genau zu sein. Das Teil leuchtete vermutlich wie ein Atomkraftwerk, wenn man es mit diesem Licht anstrahlte wie in den Krimis. Aber das waren meine Säfte.

Inge begann zu grinsen. »Verstehe.« Sie erhob sich, breitete die Decke sorgfältig auf dem Sofa aus, weit mehr, als ihr Hintern beanspruchte, und ließ sich draufplumpsen – mit voller Breitseite gegen mich. Mir fiel fast der Controller aus der Hand.

»Pass auf, Mann. Sonst verklick ich mich.«

Sie zischte ungläubig, dann warf sie einen Blick auf den Bildschirm. »Einzelspieler?«

»Du bist doch schon nackt. Was willst du noch ausziehen?«

»Du könntest ja auch mal verlieren«, schlug sie vor und drückte sich fester gegen mich.

»Sicher nicht!«

»Du bist ein zäher Knochen.«

»Ich weiß.« Eine Alkoholikermutter und ein paar Jahre Straße machten einen nicht gerade zum Sensibelchen.

Sie pustete mir ins Ohr. »Wie wärs mit einem anderen Spiel?«

»GTA? Grand Turinsmo?« Schießtmichtot, ich mochte Spiele, in denen man durch die Gegend fuhr. Das holte mich runter, beruhigte mich.

Aus meinem Schlafzimmer drangen Geräusche, als hätte Pamela oder Daniela Presswehen. Es war über zehn Jahre her, dass ich Lukes Schwanz zuletzt gesehen hatte, da waren wir fünfzehn. Offensichtlich hatte er seitdem zugelegt.

»Hört sich ziemlich nach Spaß an, hm?«, meinte Inge mit Blick zu meiner Schlafzimmertür. Ihr Busen drückte fester gegen meinen Oberarm.

»Klingt eher, als würde Luke ein Kind aus ihr rausholen.«

Inge schlug mir gegen den Bauch und lachte. »Du bist eklig.«

»Gebären ist nicht eklig … das hier«, ich nickte zur Schlafzimmertür, in der Luke zu Hecheln und Grunzen begann, »ist eklig.«

»Na Okay, so scharf bin ich auch nicht drauf, anderen beim Sex zuzuhören«, gestand Inge.

»Also was nun? GTA?«

»Wie wärs mit einer ganz besonderen Herausforderung?«

»Ich höre.«

»Du fährst im Einzelspielermodus und versuchst zu gewinnen.«

»Was der Sinn eines Rennens wäre«, erklärte ich.

»Mit einer Herausforderung.« Inge legte eine Hand auf meinen Schenkel, fuhr daran hoch bis in meinen Schritt und funkelte mich an.

Okay, das also mal wieder. Nicht, dass ich etwas gegen Sex hatte – allein mein Sofa beherbergte genug Beweise. Aber Sex mit Frauen war immer ein Drahtseilakt. Selbst wenn sie mir die Balzerei ersparten und direkt zur Sache kamen – was bei mir eher die Regel als die Ausnahme war (was wiederum Luke fertigmachte) –, so war es längst nicht damit getan, abzuspritzen. Ich musste geil genug sein, um es ihr machen zu können, aber nicht so geil, dass ich vor ihr fertig war. Und das Allerletzte, was ich beim Sex wollte, war, mein Gehirn zu benutzen. Daher bevorzugte ich Schlampen, die in mir einfach nur einen Schwanz sahen und keine Forderungen stellten.

Inge war keine so eine Frau, das konnte ich sehen. Andererseits … sie war da. Sie massierte mir den Schwanz. Sie hatte einen Freund, suchte also nur die schnelle Abwechslung für zwischendurch, und wie es aussah, würde Luke nicht so schnell fertig sein.

»Okay«, sagte ich also, klickte mich weiter durchs Menü des Einzelspielermodus’ und wählte die längste Strecke. Inge rutschte neben mir herum, und während der Countdown zum Rennen runterzählte, öffnete sie die Knöpfe meines Hosenstalls. Als sie mich, schlaff wie ich war, vollständig in den Mund saugte, kam ich von der Strecke ab und raste eine ganze Weile ziellos durch Seitenstraßen. Sie konnte besser blasen als spielen (was nicht unbedingt eine Leistung war) und bald knallte ich in eine Polizeistreife. Dramatisches Blaulicht, energische Befehle, Durchsagen durch Funksprecher. Ich fror das martialische Bild ein, ließ die Hand mit dem Controller zur Seite sinken und legte die andere auf ihren Hinterkopf.

 

2.

 

 

 

»Sie hat dir einen geblasen, während du Need for Speed gespielt hast?«, wiederholte Luke bestimmt zum zehnten Mal und klickte wie bescheuert auf dem Controller herum, um mich zu überholen. »Und sie war völlig nackt? Während du komplett angezogen warst?«

»Hast du doch gesehen.«

»Wie hast du sie dazu gebracht?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Sie wollte Striprennen spielen und … na ja …«

»Du weißt schon, dass du auch hättest verlieren können.«

»Hab ich aber nicht.«

Luke grinste. »Du verdammter Schwerenöter.«

»Sie wollte was von mir«, meinte ich und preschte auf die Zielgerade zu. Gewonnen.

»Ehrlich, von dir kann ich noch was lernen.« Luke warf den Controller zur Seite. »Ich sollte los. Nils macht sich sonst Sorgen.«

Mein Magen zog sich zusammen. Allein der Name setzte mir zu. Das kleine Arschloch hatte mir Luke vor zehn Jahren weggenommen. Den einzigen Freund, den ich hatte. Den einzigen Menschen, der auf meiner Seite stand, und der wusste, was ich durchmachte. Wir waren Leidensgenossen gewesen, sogar Blutsbrüder – nach einer mutigen Taschenmesseraktion. Luke hatte einen Säufervater, der ihn regelmäßig verprügelte, ich eine Alkoholikermutter, die mich durch die Wohnung schleuderte, wann immer ihr eine Laus über die harte Leber gelaufen war. Wir waren zusammen durch die Vorstadt gezogen, hatten gestohlen, gesoffen, Graffiti gesprüht, Scheiben eingeschlagen und uns mit Gangs angelegt, nur um den Moment hinauszuzögern, nach Hause zu müssen. Und wir hatten zusammen im Keller gewichst, bis mich Luke eines Tages mit zu einer Hure schleppte, damit es nicht so schwul kommt. Wir hatten eine geile Zeit zusammen. (Nicht mit der Hure. Ich war rotzige vierzehn, sie doppelt so alt und halb so besoffen wie meine Mutter.)

Jedenfalls tauchte irgendwann Nils auf. Nils. Gott, wie ich den Namen zu hassen gelernt hatte. Nils war Lukes kleiner Bruder. Ein Kind von elf oder zwölf Jahren, in der Geborgenheit einer Pflegefamilie aufgewachsen. Ich wusste zwar, dass Luke einen Bruder hatte, aber er war so fern wie die Queen von England. Selbst Luke hatte ihn nur ein oder zwei Mal gesehen. Aber dann, nachdem Luke mal wieder im Krankenhaus gelandet war, weil er die Treppe runtergefallen war, tauchte der kleine Schnösel auf, zusammen mit seiner Schnösel-Pflegefamilie, und bestand darauf, seinen Bruder bei sich aufzunehmen.

Der Kleine hatte einen Blick, als hätte er bereits tausend Welten gesehen – und deren Untergang. Er war mir unheimlich. Ich fühlte mich bis in den finstersten Winkel meiner Seele durchschaut. Wahrscheinlich ging es auch den Alten so, weswegen sie ihm den Wunsch nicht abschlagen konnten, sich Luke anzutun. Nicht, dass Luke ein übler Mensch war, aber er war wie ich ein Rowdy, ein Straßenköter, auf Überlebenskampf gepolt, ein kleiner Macho, der ständig seine Männlichkeit mit Stunk unter Beweis stellen musste. Das war auch meine Hoffnung gewesen. Nach spätestens zwei Wochen, so spekulierte ich, würden sie ihn rauswerfen und ich hatte ihn wieder.

Stattdessen kannte er mich nicht mehr. Er hätte die Chance seines Lebens, zischte er mir zu, als ich ihn stalkte, und die wolle er nicht vermasseln. Tja. Zehn Jahre. Zehn Jahre hatten wir uns nicht gesehen, und Schuld daran war nur diese kleine, unheimliche Zecke.

Ich weigerte mich hartnäckig, das Arschloch nach all den Jahren wiederzusehen, das laut Luke jetzt ein intellektueller Schnösel war, der Texte für elitäre Wichser schrieb und sich auf Lesungen bewundern ließ. Okay, so hatte es Luke nicht formuliert, er hielt echt viel von seinem Bruder, obwohl er ein Schmarotzer war, der auf seine Kosten in seiner Wohnung lebte, und die durch jeden Lufthauch in ihrer Inspiration gestörte Mimose gab.

Deswegen hing Luke immer öfter bei mir rum und fickte in meinem Schlafzimmer. Ich schlief ohnehin lieber auf dem Sofa – an ein Bett konnte ich mich nicht gewöhnen, noch weniger an das Doppelbett, das vom Vormieter stammte. Außerdem gab er einen würdigen Gegner bei meinen Rennspielen ab. Aber wenn er mich verließ, um zu Nils zurückzukehren, durchlebte ich jedes Mal im Kleinen das Trauma von damals. Jedes verdammte Mal nahm er ihn mir wieder weg.

Von meiner Aversion gegen Nils wusste Luke nichts. Ich fürchtete, dass er sich wie damals für ihn und gegen mich entscheiden würde. Aus dem Grund gab es mir bereits einen Stich, wenn Luke bloß seinen Namen erwähnte. Ich fürchtete jedes Mal, dass nun der Moment gekommen war und er eine Einladung aussprach, bei der ich der unnötigen Zecke unweigerlich begegnen würde.

»Ich geh noch mal pissen, bevor ich fahr«, informierte mich Luke und verschwand im Bad.

Mittlerweile war es vier Uhr Nachmittag – spät, wenn man bedachte, dass Luke seit gestern Nacht hier war. Früh, wenn ich die Stunden zählte, bis ich schlafen gehen würde. Zunehmend setzte mir das Alleinsein zu. Jahrelang hatte ich nur eins gewollt: meine Ruhe. Meinen Raum. Niemanden, der mich brauchte, oder was von mir wollte. Vielleicht lags am Wiedersehen mit Luke, aber die Stille in meinem Leben wurde immer mehr zur Qual. Die Stunden für mich, die ich immer genossen hatte, wurden zur finsteren Schlucht, die ich überbrücken musste. Am besten mit etwas, das bunt und laut war und meine Aufmerksamkeit in einen Tunnel aus Action lenkte. Wie Rennspiele.

»Apropos, Joe«, begann Luke, als er wieder aus dem Bad kam. »Nächste Woche Samstag. Bei mir.«

Ich krachte mit meinem Wagen gegen einen Betonpfeiler. Er hatte ihn nicht gesagt, den Namen. Aber es versetzte mir dennoch einen Stromstoß.

»Was ist da?«, fragte ich und klickte mich heftig durchs Menü, bemüht darum, mir nicht anmerken zu lassen, wie jede meiner Zellen zu kochen begann.

»Kleine Überraschungsparty für Nils. Er wird zweiundzwanzig.«

Luke hätte mir auch einfach eine Kugel in die Brust jagen können. »Er hat Geburtstag?«, krächzte ich und räusperte mich. »Wieso sollte ausgerechnet ich auf seine Geburtstagsparty kommen?«

»Wieso nicht? Du kennst ihn. Er kennt dich. Außerdem gibt es nicht so viele Leute, die ich für ihn einladen kann, und die sind … na ja … ich brauch jemanden, mit dem auch ich mich unterhalten kann.«

»Kennen …«, murmelte ich düster. »Ich hab ihn ein oder zweimal gesehen, und das vor zehn Jahren.«

»Er würde sich freuen«, meinte Luke.

»Woher willst du das wissen?« Und wieso sollte das relevant sein?

»Ich hab ihm viel von dir erzählt.«

Ich fuhr zu Luke herum. »Und was, bitteschön? Dass wir von der Tankstelle geklauten Wodka gesoffen und in fremde Keller gewichst haben?«

Sein Blick entgleiste. »Na das nicht.«

»Oder unseren Besuch bei der Nutte? Ist dir eigentlich klar, dass ich deswegen jahrelang keine Frau angefasst habe?«

Er begann zu grinsen. »Scheiße, deine war echt hässlich.«

»Ja«, knurrte ich. »Offensichtlich brauchst du sogar bei Huren einen Wingman.«

»Bist du echt noch immer angepisst deswegen?«

Nein. Angepisst war ich, weil er sich gestern so lange Zeit gelassen hatte, bis Inge auf blöde Ideen gekommen war. Angepisst war ich wegen Nils, zu dessen Geburtstagsparty er mich schleppen wollte. Als hätte ich auch nur die allergeringste Lust, den Wichser hoch leben zu lassen. Verdammt.

»Ich glaub, ich hab was vor. Am Samstag«, sagte ich.

»Jetzt sei kein Arschloch, Mann. Du bist so was wie mein Joker, Okay?«

»Dein was?«

»Joker. Ass im Ärmel. Letzte Option.«

»Wow. Letzte Option. Danke. Wie viele hast du denn vor mir gefragt, die abgesprungen sind?«

»So hab ich das nicht gemeint.« Luke setzte sich auf die Sofalehne. »Ich hab vielleicht ein bisschen dick aufgetragen, damals, als ich von unseren Abenteuern erzählt habe. Na ja, ich wollte Nils imponieren und er hat mich angebetet. Ist so ein Großer-und-kleiner-Bruder-Ding, weißt du?«

Ein Großer-und-kleiner-Bruder-Ding. War sicher viel wichtiger als ein Bester-Kumpel-Ding. Als ein Freunde-für-Immer-Ding. Als ein Wir-beide-gegen-den-Rest-der-Welt-Ding.

»Pfts. Keine Ahnung. Einzelkind.« Ich zuckte mit den Schultern und startete ein neues Spiel.

»Was ich sagen will … Mann, kannst du das mal für ein paar Minuten unterbrechen?«

Genervt drückte ich die Pause-Taste.

»Danke. Was ich sagen will, ist: Als er erfahren hat, dass wir wieder Kontakt haben, ist er ganz hibbelig geworden. Er würde es nie zugeben, aber er brennt darauf, dich wiederzusehen.«

»Ach«, sagte ich trocken. »Tut er das.« Woher auch immer das kam: Irgendwie schmeichelte mir das.

»Ich hab ja schon mehrmals versucht, dich einzuladen, damit ihr euch mal trefft, aber du hast immer was vorgehabt. Nur diesmal – Joe – bitte tu mir den Gefallen.« Er machte eine kurze, dramatische Pause. »Bedenke, ich versuche, dich zu einem Festangestellten zu machen.«

Arschloch. »Meinetwegen.«

»Danke, Mann.« Luke klapste mir auf die Schulter, sprang hoch und eilte Richtung Flur. »Du wirst es nicht bereuen.«

»Dein Wort in Satans Ohr.«

»Ach ja …« Luke kam wieder herein, zog sich seine Jacke über. »Kauf dir einen anständigen Slip. Irgendwas Knappes. Calvin Klein oder so. Was ein bisschen deine Juwelen betont. Und rasier dich. Muss nicht überall sein, aber schau, dass da kein Busch aus dem Slip wächst, ja?«

Ich fuhr herum. »Wie bitte?«

Luke lachte schallend. Hielt sich den Bauch. »Scheiße, dein Blick! Den hättest du jetzt sehen müssen. Echt göttlich, Mann.«

»Du Arschloch!« Ich griff nach einem Sofakissen und warf es nach ihm.

Gekonnt fing er es auf. »Aber im Ernst. Ein bisschen raffiniertere Unterwäsche könntest du dir wirklich zulegen. Deine Boxershorts sind echte Liebestöter, Mann. Ich hab Lara mühsam davon überzeugen müssen, dass das nicht meine sind.«

»Lara?«

»Die Braut letzte Woche. Ich hab ihr gesagt, das hier ist meine Bude … komplizierte Geschichte. Jedenfalls war sie eine Schnüfflerin, du weißt schon, reißt alle Schränke auf, um mich kennenzulernen. Als sie deine Unterhosen entdeckt hat … Mann ey. Wirklich. Ich frag mich, wie du mit den Dingern eine Tussi nach der anderen abschleppst.«

»Indem ich sie nicht trage«, erklärte ich lapidar.

Luke brauchte eine Sekunde, ehe er begriff. Dann begann er breit zu grinsen. »Das ist dein Geheimnis.«

»Persönlichkeit ist das Geheimnis«, korrigierte ich. »Das ist nur Bequemlichkeit.«

»Persönlichkeit? Du lebst in einem Saustall, zockst den ganzen Tag Need for Speed und hast nicht mal Schulabschluss.«

Autsch. »Ach ja? Und was sagt das über dich aus, dass du mit dem Saustall des Schulabbrechers Mädels beeindrucken musst? Kannst! Es ist offensichtlich meine Bude, die dir die Ficks beschert, also pass auf, was du sagst.«

Luke hob die Hände. »Natürlich. Natürlich. Es ist deine Bude … die du, wovon noch mal, bezahlst?«

Die Muskelfasern meiner Arme sehnten sich nach einem heftigen Schlag in seine Fresse. »Etwas, das offensichtlich nur für einen Saustall reicht.«

»Sag mal, Joe, kann das sein, dass du irgendwelche Aggressionen gegen mich hegst?«

No shit, Sherlock. »Ich? Wie kommst du darauf?«

»Ist nur so ein Gefühl.« Luke zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. »Ich hau jetzt ab. Nicht vergessen: nächsten Samstag.« Er stapfte zur Wohnungstür »Und denk dran: saubere Unterwäsche.«

Ich schoss ein weiteres Kissen nach ihm, aber es traf nur noch die Tür. Dahinter konnte ich Luke lachen hören.

 

3.

 

 

 

Etwa eine Stunde, nachdem Luke gegangen war – ich hatte mir gerade Pizza kommen lassen und machte es mir bei einem Film gemütlich – läutete es an der Tür. Das war ungewöhnlich, also reagierte ich erst mal nicht. Eine halbe Minute später läutete es noch mal. Vielleicht ein Nachbar? Hatte ich den Fernseher zu laut aufgedreht? Auf Zoff hatte ich gerade so viel Lust wie auf Herpes, also drehte ich etwas leiser und stopfte einen weiteren Bissen in den Mund. Es klingelte ein drittes Mal.

»Ich komm ja schon«, rief ich genervt, unterbrach den Film, schlurfte durch den Flur und öffnete die Tür.

»Er hat mich rausgeschmissen«, heulte Alice Cooper in blond und mit einer riesigen pinkfarbenen Strandtasche zu seinen – ihren – Füßen. »Er hat das mit uns rausgefunden.« Schluchzend fiel mir Inge um den Hals.

»Uns?« Ihr Haar blieb an meinen pizzafettigen Lippen kleben.

»Er wollte hierherkommen. Wollte sich mit dir schlagen. Oh Johohoe …« Ihr Körper bebte, so heftig heulte sie.

Leicht überrumpelt legte ich die Arme um sie. »Soll er ruhig kommen.« Die Chancen standen gut, dass ich ein paar Prügeleien mehr ausgefochten hatte als er. Zumindest stand mir in Sachen Rücksichtslosigkeit keiner nach. Eine Schlägerei war für mich kein Männlichkeitsritual mehr. Ich kämpfte nicht, um zu klären, sondern um zu vernichten.

Inge löste sich von mir und zupfte schniefend ein benutztes Papiertaschentuch aus ihrer Manteltasche. »Ich hab ihn davon abhalten können«, piepste sie und schnäuzte sich geräuschvoll.

»Na, das ist doch schon was«, unternahm ich den Versuch, sie aufzumuntern.

Doch sie heulte wieder drauflos. »Da hat er einfach Schluss gemacht.«

»So ein … äh … Arsch?«, riet ich, klaubte eine Packung Papiertaschentücher von der Vorzimmerkommode und reichte sie ihr.

»Dnanke«, nuschelte sie und schüttelte, sich noch mal schnäuzend, den Kopf. »Ich kann ihm das nicht mal übel nehmen. Ich würd genauso reagieren, wenn er eine andere hätte.«

»Ach, du hast einen anderen«, sagte ich erleichtert.

»Ja. Dich!«, rief Inge verzweifelt.

Für einen Moment löste sich die Welt um mich in Nichts auf und ich schwebte in luftleerem Raum. Anderer. Das klang nach Affäre. Es klang nach Beziehung. Es klang jedenfalls nicht nach einem bedeutungslosen Blowjob während eines Computerspiels.

»Aber das war doch nichts …«

Inge fuhr hoch, blickte mich mit riesigen, schwimmenden Augen an. »Nichts?«

»Na ja, nur ein … also …«

»Aber …« Sie senkte den Blick und begann wieder loszuheulen.

Irgendwo im Treppenhaus wurde eine Tür geöffnet.

»Vielleicht kommst du rein«, meinte ich, zog Inge in meinen Flur, schnappte ihre pinkfarbene Strandtasche und schloss ab. »Willst du dich vielleicht setzen?«

»Ja«, schniefte sie und nickte wie ein kleines Kind, schlurfte Richtung Wohnzimmer und ließ sich wie ein Häufchen Elend aufs Sofa sinken.

Ich stellte ihre Tasche im Flur ab, holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich ihr gegenüber auf den Couchtisch. Auf den Stress brauchte ich erst mal einen kräftigen Schluck.

Mit tiefen Furchen auf der Stirn sah mir Inge zu, wie ich trank.

»Oh … willst du auch?« Ich reichte ihr meine Bierdose und sie griff zu, stellte sie aber nur mit beiden Händen umklammert auf ihre Knie und trank nicht.

»Also dein Freund hat dich vor die Tür gesetzt«, fasste ich zusammen und wischte mit den Händen über meine Jeans.

Sie nickte und stumme Tränen ploppten über ihre tuscheverschmierten Wimpern.

»Woher hat er überhaupt gewusst, dass … äh … von uns?«

»Ich habs ihm gesagt«, sagte sie fast empört, als wäre es das Logischste auf der ganzen Welt.

»Du …« Ich kippte zurück, raufte mir die Haare und seufzte. »Und … warum … wenn ich fragen darf?«

»Weil ich ihn nicht belügen will.«

»O-kay. Und was konkret hast du erwartet, dass er tut, wenn du es ihm sagst?«

Sie senkte den Blick, zog mit der Zeigefingerkuppe den oberen Rand der Bierdose nach.

»Komm schon. Irgendwas musst du dir dabei doch gedacht haben«, bohrte ich nach.

»Na ja …« Von unten herauf blickt sie mich an. »Vielleicht …«

»Ja?«

»Ach … ich bin so blöd«, begann sie wieder loszuheulen.

Ja. Definitiv. »Aber nein … du bist nur ein wenig … verwirrt.« So wie ich im Moment.

»Es ist nur …« Sie schniefte, reichte mir die Bierdose und zupfte ein neues Taschentuch aus der Packung. »Das zwischen uns …«

Mein Magen krampfte sich zusammen. Am liebsten wollte ich sie packen und schütteln. Zwischen uns? Zwischen uns? Zwischen uns ist nichts! Du hast mir einen Blowjob verpasst, das wars.

»Mhmmm?«, krächzte ich im Versuch, ruhig zu bleiben.

»… das bedeutet mir echt was«, vollendete sie den Satz.

»Wie bitte was?«

»Was zwischen uns ist«, wiederholte sie. »Das ist mir wichtig. Du bist mir wichtig, Joe.« Sie neigte sich vor und legte eine Hand auf mein Knie.

Ich sprang hoch und brachte den Couchtisch zwischen uns. »Wir kennen uns doch kaum. Du kennst mich doch gar nicht.«

»Doch«, Inge legte eine Hand auf ihre Brust. »Hier drin kenne ich dich, kennen wir einander

Heilige Scheiße. »Nein«, betonte ich. »Ich glaube nicht, dass du mich kennst.«

»Es hat doch gefunkt.« Inge erhob sich. »Zwischen uns. Gestern. Hast du das nicht gespürt?«

Nein. »Wir haben uns nur unterhalten …«

»Mehr als das«, fiel mir Inge ins Wort und umrundete den Couchtisch. »Denkst du, sonst hätte ich dir einen geblasen? Ich bin keine, die das einfach so macht.«

»Okay.«

»Es hat dir gefallen.«

»Na ja …« Es war nicht gerade eine Meisterleistung, einen Blowjob gut zu finden.

»Ich hab für dich meinen Freund verlassen.«

»Kann das sein, dass du mit Luke unter einer Decke steckst?«, fragte ich.

Sie runzelte die Stirn. »Was?«

»Das klingt ein wenig nach ihm … das hier. Ihr macht euch über mich lustig, oder?«

»Wovon redest du?«

»Er hat dich nicht angestiftet?«

»Nein«, sagte sie verletzt. »Ich bin deinetwegen hier. Bitte sag jetzt nicht, dass du mich nicht willst.« Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.

»Nicht weinen«, bat ich.

»Ich weiß doch gar nicht, wo ich hinsoll. Thorsten war alles, was ich hatte. Wenn du mich wegschickst, steh ich auf der Straße.«

Auf der Straße? Fuck. Sechzehn Monate unter Brücken, in Hauseingängen und auf Parkbänken, Freiwild für gelangweilte Yuppie-Kids. Hatte ich durch. Wünschte ich keinem.

Ich hasste mich für die folgenden Worte, noch ehe ich sie ausgesprochen hatte »Du kannst bei mir bleiben, bis du was gefunden hast.«

 

4.

 

 

 

»Du hast jetzt eine Freundin.« Luke warf sich lachend in seinem Bürostuhl zurück und schob seine Krawatte zurecht. An diesen Abteilungsleiter-Anblick konnte ich mich einfach nicht gewöhnen.

»Ich hab keine Freundin«, betonte ich. »Sie wohnt nur bei mir, bis sie was gefunden hat.«

»Und bis dahin, bläst sie dir täglich einen. Als Aufwandsentschädigung, quasi.«

»Nicht als Aufwandsentschädigung. Sie tuts, weils ihr Spaß macht.«

»Ja genau«, meinte Luke. »Frauen blasen Männern einen, weil es ihnen Spaß macht. Sag mal, wo hast du die letzten zehn Jahre verbracht? Hinterm Mond?«

»Warum sollte es ihr keinen Spaß machen? Ist ja nicht so, als ob ich nichts zu bieten hätte.«

»Ja ja«, wehrte Luke ab. »Keine Details.«

»Außerdem macht sies zwei Mal. Manchmal auch drei Mal.«

Luke glotzte mich an. »Am Tag? Scherz, oder?«

»Kein Scherz.«

»Und sie verlangt keine Gegenleistung? Ich meine, abgesehen davon, dass sie bei dir wohnen darf?«

Ich zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Sie richtet sich nicht ein, dekoriert um, verteilt überall ihr Zeug?«

»Na ja … sie räumt auf«, gestand ich. »Und sie hat nicht so unrecht damit, dass meine Wohnung ein wenig mehr … na ja … Flair vertragen könnte.«

Lukas lachte wieder schallend auf. »Du hast eine Freundin, Joe, ob du es glaubst oder nicht.«

»Unsinn …«

»Okay«, meinte er, lehnte sich vor, setzte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und begann an den Fingern abzuzählen. »Ihr lebt zusammen. Check. Ihr habt Sex. Check. Sie richtet euch ein Nest ein. Check. Was noch? Will sie, dass du sie ausführst?«

»Bis jetzt nicht.«

»Ha! Bis jetzt. Du rechnest also damit, dass das noch kommt.«

»Ich hatte eigentlich überlegt, sie morgen auf die Party mitzubringen.«

Lukas grinste. »Du weißt, was das bedeutet?«

»Ich nehme an, du wirst es mir gleich sagen.«

»Du willst die Beziehung genauso wie sie.«

»Fucking, scheiß Schwachsinn, Mann!« Ich wollte nur jede Gelegenheit nutzen, Nils’ Anwesenheit zu verwässern. Wenn Luke mit den Gästen zu tun hatte, konnte ich mich auf Inge konzentrieren. Sie sollte eine Art Puffer sein. Mehr nicht. Aber wie sollte ich das Luke erklären, der seinen Bruder für den Nabel der Welt hielt?

»Wie sieht es mit dem Bett aus?«, fragte Luke und lehnte sich mit einem selbstzufriedenen Grinsen zurück. »Ich nehme an, du schläfst noch auf dem Sofa?«

Scheiße.

Ich brauchte nichts zu sagen. Luke hob die Hand. »Gemeinsam im Ehebett schlafen. Check.«

»Steck dir deine Checkliste in den Arsch«, fuhr ich ihn an. »Wir sind nicht zusammen. Sobald sie eine eigene Wohnung gefunden hat, schmeiß ich sie raus.«

»Und ich nehme an, sie sucht ganz verbissen danach. Sie tut nichts anderes, richtig?«

»Leck mich!«, fauchte ich, stand auf und stapfte zur Tür.

»Apropos!«, rief mir Luke nach.

Ich blieb stehen. »Was.«

»Zieh dir einen Slip an, morgen.« Er lachte. »Einen sauberen Slip.«

»Arschloch«, knurrte ich und schlug die Tür hinter mir zu.

 

5.

 

 

 

»Da muss es sein«, sagte Inge, lehnte sich vor, drückte praktisch die Stirn an die schmutzige Windschutzscheibe und las die Hausnummern. »Da. Sieben. Wir sind da.«

Mein Magen zog sich noch ein bisschen fester zusammen. Den ganzen Tag schon rumorte er und mein Körper fühlte sich an, als würde permanent Strom hindurchlaufen. Ständig musste ich an diesen blassen Zwölfjährigen mit dem finsteren Blick denken, der mir meinen besten Kumpel weggeschnappt hatte. Hätte mir irgendwann in den vergangenen zehn Jahren jemand gesagt, dass ich mal auf seine Geburtstagsfeier gehen würde, ich hätte ihm die Fresse poliert.

Und nun suchte ich einen Parkplatz vor Lukes Wohnhaus – und fand leider auf Anhieb einen. Ein paar Minuten Aufschub hätten es gerne noch sein können.

»Übrigens«, schnurrte Inge, als ich den Schlüssel abzog, und legte eine Hand auf meinen Schenkel. »Heute Nacht können wir es richtig treiben.«

»Was treiben?«, fragte ich missmutig.

»Na was. Es. Sex.«

Verstört fuhr ich zu ihr herum. »Wieso?«

»Wieso?« Inge lachte auf und zeigte dabei ihre Zähne. »Na, weil wir wollen? Deshalb.«

»Aha.« Mit einer Hälfte, ach was, sieben Achtel meines Hirns war ich bei der verhassten Party. Was Inge wollte oder nicht interessierte mich gerade so brennend wie die durchschnittliche Lebensdauer eines guatemaltekischen Suppenhuhns.

»Weißt du«, säuselte sie. »Meine Tage sind vorbei … und daher …«

»Tage, Tage, Tage … welche Tage?« Dann brach die Erkenntnis in mein Hirn. »Ach sooo … die Tage.«

Inge lacht vergnügt. »Na welche Tage sonst? Warum denkst du, haben wir noch nicht miteinander geschlafen?« Sie fuhr mir durchs Haar. »Du bist echt verpeilt, manchmal.«

»Ja ja.« Ich wich aus, strich meine Strähnen wieder glatt und prüfte meinen Anblick im Rückspiegel. »Lass es uns hinter uns bringen.«

 

Die genaue Türnummer hatte ich mir nicht gemerkt. Ich war davon ausgegangen, dass uns die Partygeräusche schon leiten würden. Aber es war still im Treppenhaus, vom normalen Geklapper diverser Alltagsgeräusche und Fernseher abgesehen.

»Hier«, sagte Inge und blieb abrupt vor einer Tür stehen.

»Wie kommst du darauf, dass es hier ist?«

»Domasek. So heißt Luke doch, oder?« Sie tippte auf einen kleinen hangeschriebenen Aufkleber unter dem Klingelknopf.

»Ja aber …« Woher kannte Inge Lukes Nachname? Steckte sie vielleicht doch mit ihm unter einer Decke?

Noch ehe ich sie fragen konnte, läutete sie an, und fast im selben Augenblick riss Luke die Tür auf. »Na endlich! Kommt rein. Einfach geradeaus durch den Flur bis ins Wohnzimmer. Schuhe anlassen. Jacken da vorn im Zimmer links einfach aufs Bett schmeißen. Sekt und Wein stehen auf der Anrichte, bedient euch.« Dann hielt er mich am Ärmel fest. »Dich brauch ich in der Küche, Joe.«

Ein wenig überrumpelt folgte ich ihm in eine ziemlich mittelständische Küche. Eine dieser Luxusdinger aus Wohnkatalogen, mit Milchglasfronten, breiten, sanft schließenden Schubladen, jede Menge indirektes Licht, das auf Chromelementen und dem Elektroherd glänzte. Alles picobello. Mir begann zu dämmern, warum Luke meine Wohnung einen Saustall genannt hatte.

»Und?«, fragte er und nickte Richtung Flur.

»Was und?«

»Wie läufts? Mit Inge?«

»Da läuft nichts.«

»Du kannst vor der Erkenntnis davonlaufen, aber nicht vor deiner Freundin«, meinte Luke grinsend.

»Ich geh gleich wieder«, drohte ich.

»Nein, nein, nein … ich brauch dich hier«, sagte Luke rasch und öffnete den üppigen, amerikanischen Kühlschrank. Er war brechend voll und alles so sauber wie in der Vitrine eines Supermarktes. Da drin befanden sich mehr verschiedene Nahrungsmittel, als ich kannte. Alles edel verpackt, eckige Gläser, Gold- und Silberetiketten auf schwarz und dunkelrotem Grund. »Bier?« Luke grapschte eine Discounter-Bierdose heraus. »Ich nehme ja an, Sekt und Wein sind nicht so deins.«

Er konnte es nicht lassen, oder? Ständig zu betonen, dass er es geschafft hatte und ich nach wie vor Unterschicht war. Wobei mir bis eben nicht klar gewesen war, wie groß der Unterschied zwischen uns beiden tatsächlich war. Ich hatte mir eine etwas gepflegtere Wohnung vorgestellt, nicht so was.

»Und …« Luke kroch halb in den Kühlschrank und fischte eine billige Flasche mit klarer Flüssigkeit heraus, die ich nur zu gut kannte. Aus vielen sehr schlechten, und einigen guten Gründen. »Wodka. Extra nur für dich«, sagte er in einer Mischung aus Stolz und Gönnerhaftigkeit.

»Aha.« Hielt er mich für einen Säufer? Okay, ich hatte meine Exzesse hinter mir. Aber so, wie er mich ansah, schien er geradezu zu erwarten, dass ich vor Dankbarkeit über eine Flasche Hochprozentiges auf die Knie ging. »Ich bleib mal bei Bier«, meinte ich.

»Ach komm schon. Einen zusammen? Auf alte Zeiten?« Er schlug die Kühlschranktür zu und schraubte den Verschluss auf. »So wie früher, ha? Direkt aus der Flasche.«

»Warum nicht«, meinte ich. War ja nicht so, als konnte ich nicht einen Schluck vertragen. Mir lag sogar die Frage auf der Zunge, wo ich Nils finden würde. Zwar war mir jede Minute recht, die mir noch blieb, ehe ich ihn sehen musste. Auf der anderen Seite wollte ich die leidige Sache hinter mich bringen.

Ich setzte die Flasche an die Lippen und trank einen kräftigen Schluck. Luke sah mir begeistert, vielleicht verdächtig begeistert zu. Hatte er tatsächlich nostalgische Anwandlungen? Bisher war ihm jeder Hinweis auf unsere gemeinsamen Teenagerjahre unangenehm, ja peinlich gewesen. Und jetzt kam er mit alten Zeiten und direkt aus der Wodkaflasche trinken?

Mir sollte es recht sein. Ein wenig mehr vom alten Luke war doch genau das, was ich mir wünschte. Der Gedanke, mich mit ihm wie früher zu besaufen, war sogar ziemlich geil. Vielleicht würde uns der Abend mehr zusammenbringen als er uns durch die Tatsache, dass es Nils’ Geburtstag war, trennte.

»Nastrawje«, sagte Luke und setzte ebenfalls die Flasche an die Lippen, dann reichte er sie mir wieder. »Noch einen?«

»Klar«, sagte ich und registrierte am Rande, dass sein Schluck nicht besonders groß gewesen sein konnte. Überlebensbedingt hatte ich einen ziemlich guten Blick für den Flüssigkeitsstand in einer Wodkaflasche.

Jahrelanges Kampftrinken gewöhnt, kippte ich gleich eine anständige Menge. Geschuldet auch der Tatsache, dass mich die Sache mit Inge völlig überforderte. Seit Tagen suchte ich einen Moment, um runterzukommen und zu begreifen, was eigentlich passierte, und das hier war eine willkommene Gelegenheit. Zumindest, um ein wenig inneren Abstand zu gewinnen.

»Brav«, sagte Luke, als ich ihm die Flasche reichte, und stellte sie ab.

»Du nicht?«

»Gleich«, meinte er und prostete mit seinem bauchigen Weinglas meiner Bierdose zu. »Auf Nichtfreundinnen.«

Das nervte allmählich. »Auf Nichtfreundinnen.«

Wieder sah er mich so eigenartig glänzend an, während ich trank.

»Ist was?«, fragte ich.

»Nein. Ich stell nur fest, wie gut es dir tut, eine Freundin zu haben.«

Ungehalten knallte ich die Dose auf die Arbeitsfläche.

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Kooky Rooster
Publication Date: 11-29-2017
ISBN: 978-3-7438-4567-1

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