Es ist Anfang Dezember und ich komme aus mehr oder weniger beruflichen Gründen in das Viertel, in dem ich aufgewachsen bin. Die Ahlener nennen es die Kolonie, ich hingegen, das byzantinische Viertel oder einfach nur, klein Byzanz. Einst wurde dieses Viertel, als Neustadt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Arbeiter der damals neu errichteten Zeche Westfalen gebaut. Doch in den 60ern und frühen 70iger Jahren zogen immer mehr, meist türkischstämmige Familien in kleinen Häuschen mit Garten. So entstand ein Schmelztiegel vieler Nationen, denn auch Korianer, Spanier, Italiener, Polen und andere Volksgruppen fanden hier ein Zuhause oder eine neue Heimat. Für mich als frühmittelalterlicher, oder besser gesagt überhaupt historisch interessierter Mensch entstand so der von mir gewählte Spitzname. Wie einst in Byzanz des 10. und 11. Jahrhundert entstand hier eine multikulturelle Gemeinschaft, welche trotz einiger Rangeleien immer irgendwie funktionierte. Hier am Rande des Herzen von Byzanz suche ich jetzt für mein Auto einen Parkplatz und fahre die Straße hinab. Feldstraße, wenig hat sich hier verändert. Den Frisiersalon gibt es noch. Allerdings kenne ich ihn noch unter anderem Namen. Das ist aber auch schon ca. 45 oder mehr Jahre her. Die kleine Kneipe ist noch da, ob sie irgendwann öffnet oder überhaupt noch geöffnet hat, kann ich nicht sagen. Nebenan ist gerade eine Baustelle. Ich halte vor dem Haus mit der Nummer 52. Hier bin ich aufgewachsen. Hier wohnte ich bis März 1979. Damals war ich 9 und ich erinnere mich, dass ich bereits mit 4 und 5 alleine Freunde auf der Feldstraße und Piusstraße besuchte. Oder zum ST.Josef Kindergarten auf dem Damm alleine ging. Kaum zu glauben, aber nur zwei Anordnungen meiner Mutter begleiteten mich auf meinen Abenteuern zwischen Stockpiper und Kirmesplatz, von denen ich hier kurz berichten möchte. Doch zuvor die zwei Anordnungen meiner Mutter. Die Erste, niemals mit Fremden mitgehen, egal was sie einem Versprechen. Ich habe nie dagegen verstoßen, auch wenn ich es ein einziges Mal hätte tun können und das heute bereue. Aber später an anderer Stelle mehr dazu. Die zweite Anweisung lautete, spätestens um 18.00 Uhr zu Hause zu sein, oder in anderen Fällen, wenn die Straßenlaternen angingen. Ich bin hier schon oft vorbeigefahren und musste immer schmunzeln, wenn ich das schwarz gestrichene Kellerfenster sah. Dieses hatte mein Vater in den 70ern schwarz gestrichen und erst vor einiger Zeit, nach vielleicht 40 Jahren, wurde es wie alle anderen grau übermalt. Mein kleiner Rundgang beginnt an dem Durchgang von der Feld- zur Rottmannstr., heute ist der Weg gepflastert, damals war er ein Gemisch aus feinem Sand und Split. Der kleine Spielplatz ist noch da. Auch er wurde inzwischen renoviert. Das kleine Klettergerüst aus Stahl, in Form eines Hauses, ist mehreren Konstruktionen aus dicken Holzbalken gewichen. Allerdings sehen die Geräte aus, als würden sie nicht oder nur sehr selten bespielt. Gegenüber des Spielplatzes liegt der Garagenhof. Er war mal mit einem Jägerzaun vom Weg getrennt, von diesem Zaun sind heute nur noch kleine Reste übrig. Wer den Weg von der Feldstraße in Richtung Rottmannstraße läuft, wird den kleinen Weg direkt hinter den Garagen nicht bemerken. Der Schwarze Patt oder auch Weg beginnt oder endet hier. Der Weg hat seinen Namen, weil er einst mit einem schwarzen Split geschrottet war. Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Ich bleibe am Eingang stehen. Dieser Weg hinter dem Garagenhof, so wie der Hof selbst, war unser Abenteuerspielplatz. Über den heute nicht mehr wirklich existierenden Jägerzaun, kletterten wir auf das Garagendach. Ich erinnere mich gut, dass wir dort oft spielen. Mal war der Hof eine Ritterburg, ein Fort, das von Indianern angegriffen wurde oder Fussballstadion, denn die Garagentore dienten als Fussballtore. Der Hof verfügte auch über, ich glaube, es waren zwei Wasserhähne, aus denen wir im Sommer tranken. Heute ist kaum vorstellbar, wie wir das Überleben konnten, wo doch nicht mal ein Schild, kein Trinkwasser, angebracht war. Ich gehe einige Meter hinter den Garagen in den Weg hinein und stelle fest, dass ich heute fast mühelos auf das Garagendach schauen kann. Dem Weg folge ich, bis er das zweite Mal einen Knick macht. An dieser Stelle steht der Zaun noch, mehr schlecht als recht. Diese Stelle war ebenfalls eine beliebte Auf- und Absteige Stelle um auf das Garagendach zu gelangen. Von hier aus läuft der Weg schnurgerade bis zum Durchgang Feld- und Ludgeristrasse. Ich laufe weiter und Stelle fest das die übrige Bepflanzung, zur Feldstraße hin fast völlig verschwunden ist und die Gärten zur Ludgeristraße, heute meistens über Mannshöhe, Sichtschutze verfügten. Hinter dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, bleibe ich stehen. Keine Spur mehr von meinem Sandkasten unter dem Küchenfenster. Dafür gibt es ordentlich angelegte Gärten, die mich staunen lassen, was in solchen Häusern möglich ist. Irgendwo hinter mir, in den Häusern, die zur Ludgeristraße gehören, gab es damals jemanden, der selber Eis machte und dieses aus dem Keller heraus verkaufte. Oft stiegen wir über den Jägerzaun und holten uns dort im Sommer ein Eis. Ein Stück weiter verlasse ich den schwarzen Patt, denn hier gibt es keinen Zaun mehr, der mich hindert, direkt zur Feldstraße zu gelangen. Ich betrete die Feldstraße neben dem Haus, in dem damals auch ein Freund wohnte. Bereits vor vielen Jahren erfuhr ich das dieser sehr jung verstarb. Ich verweile einen Augenblick und verliere mich kurz in der Vergangenheit. Mir fällt auf, dass ich zwar den Namen des Freundes noch kenne, sein Gesicht und Aussehen aber im Dunkeln bleibt. So gehe ich weiter und bleibe vor dem Haus Nr 52 stehen. Zwischen Nr. 52 und 50 stand früher ein Zigarettenautomat. Jedes Mal, wenn wir als Kinder daran vorbei kamen, steckten wir in die Finger in die Klappe für das Wechselgeld, in der Hoffnung, jemand hätte seins dort vergessen. Fündig wurden wir aber nie. Meine Gedanken wandern wieder in die späten 70er Jahre. Wenn ich damals nach Hause kam und klingeln musste, stellte ich mich auf die untere Zierleiste und zog mich am Haustürgriff hoch. So könnte ich die Klingel erreichen. Später reichte es, sich auf die Zehenspitzen zu stellen. Wie gerne würde ich die Wohnung unten links noch einmal sehen. Oder einen Blick in den Keller werfen. Dort gab es in dem großen Gemeinschafts Keller eine Kellerbar. Vor einiger Zeit fand ich noch Fotos von Familienfeiern, die dort stattfanden. Wir hatten zwei Kellerräume, in dem größeren hatte mein Vater sowas wie eine Werkstatt eingerichtet. Außerdem gab es ein aus weißen Paneelen selbstgebautes Kabuff. Welches mein Vater als Arbeitszimmer nutzte und Schreibarbeiten für die Gewerkschaft erledigte. Denn Fussboden hatte mein Vater grün gestrichen und mit roten Fußabdrücken von mir verziert. Ob man davon noch was sieht? Der zweite kleinere Keller diente uns als Spielkeller. Er war Holzvertäfelt und ganz im Sinne der 70er wurde das Holz mit einer Lötlampe abgeflammt. Unter dem Fenster am Kopfende stand ein Tisch. Ein altes Holzregal und eine Modelleisenbahnplatte füllten den Raum fast ganz aus. Ich weiß noch, dass wir eine Brücke bauten, die von der Platte zum Regal ging und bis auf das Regal Schienen verliefen. So hatten wir noch mehr Platz für Gleise. In diesem Keller hörte ich oft Hörspiel-Kassetten der Firma Europa. Einmal hörte ich Gruselgeschichten und traute mich nicht mehr nach oben in die Wohnung, weil jemand im Keller das Licht ausgemacht hatte. Der Lichtschalter für den Keller aber lag am Zugang zur Treppe. Die vielleicht drei oder fünf Meter dorthin waren für mich damals unübersichtlich. So wartete ich, wer weiß wie lange darauf, dass jemand in den Keller kam und das Licht anschaltet. Noch heute habe ich mehr oder weniger Albträume, die mich immer wieder in diesen Keller führen. So tauche ich wieder aus der Vergangenheit in die Gegenwart ein und stelle fest, dass es den Friseur gegenüber noch gibt. Allerdings kenne ich ihn auch noch unter einem anderen Namen. Der Garten daneben existiert nicht mehr. Er musste dem Neubau zweier Häuser weichen. In ihm standen große alte Birnbäume, mit riesigen, saftigen, weichen Früchten, wie ich sie nie wieder sah. Von einer kleinen Mauer, welche direkt an den Friseursalon grenzte, konnten wir gut die Birnen erreichen oder direkt in den Baum steigen. Die damalige Inhaberin Frau H. schimpfte oft, wenn sie uns dabei erwischte. Mein kleiner Rundgang führt mich auf die andere Strassenseite. Hier gibt es zwischen Feld- und Piusstraße einen weiteren Garagenhof. Auch dieses Dach war vor uns nicht sicher. Zur Piusstraße hin gab es einen kleinen Grünstreifen, der heute gepflastert ist. Hier spielten wir einmal Fallschirmjäger, nachdem wir einen schwarz weiß Spielfilm über den D-Day und die Landung in der Normandie gesehen hatten. Wir sprangen vom Dach der Garage, welches vielleicht zwei Meter hoch war, hinunter auf den damals noch existierenden Rasen und rollten uns ab, wie es die Fallschirmjäger in dem Film auch taten. Die nächste Station ist die Kneipe neben dem Garagenhof. Sie hat geschlossen. In ihr spielte mein Vater Schach und ich erinnere mich auch, dass meine Eltern dort Karneval gefeiert haben. Auch weiß ich noch, dass meine Eltern dort in einem Sparclub waren. Gibt es sowas überhaupt noch? Mein Weg führt mich weiter in Richtung Rottmannstraße. Vorbei an Haus Nummer 58 und 60. Auch dort wohnten Freunde von mir. Jürgen und Christian. Christians älterer Bruder Michael brachte mir das Fahrradfahren bei. Auf einem kleinen roten Rad mit dicken beigen Rädern. Wieder tauchen Bilder aus der Vergangenheit auf. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich noch etwas Zeit habe und den Durchgang zur Piusstraße kurz zu durchwandern. Ich biege links ab und komme nach einigen Metern auf der Rückseite des Garagenhofes vorbei. Im Haus direkt davor, wohnte eine Freundin meiner Mutter. Sie war Schneiderin und nähte für mich Mal ein Karnevalskostüm. Damals ging ich als Zorro. Dieser maskierte Westernheld war damals ganz groß und jeden Freitag in der schwarz-weiß Westernserie Western von gestern zu sehen. Wie gerne wäre ich die Piusstraße ganz heruntergelaufen, an Häusern von ehemaligen Freunden vorbei auf der Suche nach weiteren Erinnerungen. Aber die Zeit drängt und ich gebe mir selber das Versprechen, mit mehr Zeit wiederzukommen und diese Reise in die Vergangenheit fortzusetzen. Wieder ein Stück weiter biege ich erneut links ab. In den Durchgang von der Piusstraße zur Feldstraße. Hier gab es früher auf der Ecke einen Imbiss. Der auch einen Kiosk hatte. Ich erinnere mich genau, dass ich noch am Tag unseres Umzugs dort etwas kaufte. Ein Sammelalbum für ein Star Wars Bildchen. Es kostete 50 Pfennige und ein Tütchen mit Sammelbilder 20 Pfennige. Meine Mutter war nicht begeistert, dass ich mein Taschengeld dafür ausgab, aber der erste Film der langen Star Wars Reihe war 1978/79 für uns das non plus ultra. Wer in sein wollte, musste Dinge wie das Sammelalbum einfach besitzen. Ich habe das Album nie voll bekommen, weil es dort wo wir hingezogen keinen Kiosk gab. Ich überquere die Feldstraße und gehe Gegenüber in den Durchgang Feldstraße - Ludgeristraße. Bevor ich wieder in den schwarzen Patt einbiege und zu meinem Auto zurück kehre, bleibe ich noch einmal stehen, denn wieder tauchen Bilder aus längst vergangenen Tagen auf. Ein Freund hatte damals aus einer Jeanshose und einem Hemd, welche er zusammen genäht hatte, eine Puppe gebastelt. Hose und Hemd wurden mit Zeitungspapier vollgestopft und so in Form gebracht. Ein paar alte Gummistiefel brachten der Puppe zwar Füße, aber es fehlten Kopf und Hände. Das störte uns aber nicht und so schleppten wir diese fast lebensgroße Puppe mit uns herum. An einem Tag setzten wir sie auf die niedrige Hecke an der Stelle, an der ich jetzt stehe. Wir kickten sie, wie David Carradine, in der TV-Serie Kung Fu immer wieder von der Hecke herunter. Bis ein vorbeifahrendes Taxi plötzlich hielt, der Fahrer war herausgesprungen, weil er glaubte, wir würden gerade einen wehrlosen Jungen verprügeln. Wütend stieg er wieder in sein Taxi, als er nach einer Gardinenpredigt bemerkte, dass es sich nur um eine schlecht gemachte Puppe handelte. Dieses trieb uns natürlich dazu, noch mehr Blödsinn mit diesem künstlichen Kumpel zu treiben. Das Piepen meines Smartphones holt mich in die Gegenwart zurück. Ich laufe den schwarzen Patt entlang zurück zu meinem Auto und freue mich darauf, diese Reise in die Vergangenheit an einem anderen Tag fortzusetzen.
Ende der ersten Geschichte.
Publication Date: 01-19-2023
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