Cover

Titelseite

 

Die Tochter des Sturms

2: Erstrahlen

von Maera Nyght, 2013

 

 

 

Widmung

 Für alle, die Bücher lieben.

Ganz besonders gilt mein Dank

meiner Mutter und meiner Oma, die mich stets mit meinen Geschichten unterstützen.

Ich liebe euch dafür –und für alles andere. :)

 

 

Wohin du auch gehst,

geh mit deinem ganzen Herzen.

-Konfuzius

(Quelle: http://www.poeteus.de)

 

Klappentext

Als Sarah aus dem Koma erwacht, in das sie nach den Ereignissen mit den Dunkelmördern gefallen ist, muss sie dummerweise feststellen, dass die Welt nicht beschlossen hat, sie fürs Erste zu schonen. Tatsächlich geht es jetzt erst richtig los ...

 

Neben dem normalen Alltagswahnsinn erwartet Sarah auch noch die paranormale Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die großes Interesse an ihr zeigt und nicht wirklich begeistert von der Stärke ihrer Kräfte ist. Und dann erweitert sich ihr Horizont noch um eine weitere, nicht gerade ungefährliche Welt.

 

Sarah stellt sich die essentiellen Fragen: Wer ist sie? Woher stammen ihre Kräfte? Und vor allem: Kann diese Schlampe nicht endlich die Krallen von ihrem Gefährten lassen?!

 

1: Dunkelheit

 

 

 

Ich schwebte. Um mich sanfte Dunkelheit. Es war absolut still.

Ich schlief.

 

Als ich in Ohnmacht gefallen war, hatte Morpheus mich bereits erwartet, um mich in eine Art von Traumschlaf zu führen, die mir helfen sollte, mich schneller zu erholen.

Es war eine andere Bewusstseinsebene, wie ich aus seinen Worten geschlossen hatte. Aber wirklich zugehört hatte ich nicht. Ich war viel zu müde gewesen. Der Gott hatte mich mit wissendem Blick angesehen, war verstummt und hatte mich allein gelassen.

Ich genoss die Dunkelheit, die mich hielt und mir tatsächlich zu helfen schien. Ich spürte, wie ich wieder stärker wurde.

Wie lange ich schon hier war, wusste ich nicht, und zuerst war es mir egal gewesen. Doch seit einiger Zeit vermisste ich den Panther, der mich sonst stets in meinen Träumen begleitete. Das Schicksalsmal fehlte hier ebenso wie er.

Ich drehte mich um, wobei mir nicht ganz klar war, ob ich dafür irgendeine Bewegung machte, oder ob ich einfach nur daran dachte.

Der Gott der Träume schritt durch die Dunkelheit auf mich zu. Woher hatte ich gewusst, dass sich mir jemand näherte?

Morpheus war von goldenem Licht umgeben und seine bloßen Füße schienen goldene Abdrücke in der Schwärze zu hinterlassen. Geräusche aber verursachten sie nicht. Er blieb vor mir stehen.

„Da ist jemand, der mit dir sprechen will“, sagte er ruhig und musterte mich wie immer aufmerksam. Er war hin und wieder vorbeigekommen, ohne je viel zu sagen.

„Wer?“ Ich war überrascht. Und dieses Gefühl brachte mich leicht aus dem Konzept. Es kam so plötzlich, riss mich teils aus dem Nebel, der sich über meine Gedanken gelegt hatte.

Er zuckte die Schultern. Diese Frage würde er nicht beantworten. „Willst du darauf eingehen?“, fragte er stattdessen.

Ich überlegte nicht lange. „Ja.“

„Gut. Dann werde ich dich zu ihm bringen. Und danach ist es an der Zeit für dich, aufzuwachen.“

„Ich verstehe.“

Er lächelte leicht. Zweifelte er an meinen Worten, oder gefielen sie ihm? Ich brachte es nicht über mich, diese Frage zu stellen. So, wie ich ihm schon die ganze Zeit hier sehr viele meiner Fragen nicht gestellt hatte. Dabei waren sie mir vorher so wichtig erschienen. Außerhalb dieser Ebene. Dieser Dunkelheit.

Vermutlich sollte mich das beunruhigen“, sinnierte ich vage.

Ein golden schimmerndes Oval erschien in der Dunkelheit. Sein Licht zog mich an, obwohl meine Augen es unangenehm fanden. Morpheus deutete mit dem Kopf auf das eigenartige Fenster.

„Ich danke dir“, sagte ich noch, ehe ich durch das schimmernde Portal trat.

 

 

 

 

 

 

Teil 1

 

 

 

2: Wer ist das Meer?

 

 

 

Der Geflügelte sah aufs Meer hinaus.

Ich blickte mich um.

Hinter mir schloss sich das goldene Portal. Dann sah ich nach unten. Meine Füße waren nackt und gruben sich in den warmen, weißen Sand. Ansonsten trug ich mein übliches Traumoutfit normaler Alltagskleidung. In diesem Fall Jeans und ein halblangärmliges Shirt.

Schließlich musterte ich den Mann mit leicht vor dem hellen Licht zusammengekniffenen Augen. Sein Haar war braunblond, wie ich vermutet hatte. Ich trat vor, stellte mich neben ihn und blickte aufs Meer hinaus.

Mein Herz begann durch meine leichte Aufregung schneller zu schagen. Das war nach der Zeit in der Dunkelheit seltsam ungewohnt.

Am Strand war es vollkommen windstill, trocken und vielleicht fünfundzwanzig Grad. Doch draußen auf dem Meer stürmte es heftig und das Meer schäumte. Mir erschien es aber eher so, als würden Sturm und Meer miteinander spielen. Es war wie ein Tanz.

Obwohl ich spürte, wie der Braunblonde mich von der Seite musterte, beobachtete ich weiter das Schauspiel, das sich mir bot. „Was bedeutet dieser Sturm?“, wollte ich wissen. Es war ganz leicht zu fragen.

„Er ist eine Metapher“, erwiderte er, wandte den Blick wieder ab und sah wie zuvor zum Sturm. Er hatte sich merklich entspannt, schien erleichtert. Warum wohl?

Jetzt fangen wir also schon mit Stilmitteln an? Ich fühle mich schon wie im Englischunterricht.“

„Für was?“, fragte ich und behielt meine weiteren Fragen vorerst für mich.

Er schwieg.

„Du bist Nuriel.“

Ganz automatisch duzte ich ihn weiter, obwohl ich ihn doch für, nun ja, einen Gott hielt. Den Gott, der die Engel erschaffen hatte. Engel wie Adrian, meinen Schicksalsgefährten. Den Gott der Hagelstürme, der aus irgendeinem Grund seit meiner Einweihung in die Existenz des Paranormalen über meine Träume mit mir Kontakt gehalten hatte. Was für ein Interesse hatte er an mir?

Ich wartete. Er zeigte keine Reaktion. Weder bestritt, noch bestätigte er es. Und zu dem Du sagte er auch nichts.

„Das heißt, du bist der Sturm“, fuhr ich fort, nachdem ich eine Reaktion abgeschrieben hatte. „Aber wer ist das Meer?“

„Und wer ist es, der beides ist?“, fügte er hinzu.

Ich war sicher, dass das eine Art Hinweis sein sollte. Fragend sah ich ihn an. Erstmals.

Sein Gesicht war schön, scharfkantig und durch und durch maskulin. Allerdings sah ich es nur von der Seite, und die Helligkeit blendete mich.

„Sieh hin“, sagte er auf meine unausgesprochene Frage und nickte zum Sturm hin. Ich folgte der Anweisung.

Sturm und Meer tanzten. Ergänzten die Bewegung des anderen. Und an der Stelle, wo sie aufeinander trafen, vermischten sie sich. „Also das ist kein normaler Sturm. …Und kein normales Meer.“

Nachdenklich legte ich den Kopf schief und musterte die Zwischenschicht, die Sturm und Meer vereinte. Dort zuckten immer mal wieder kurze Blitze im Wasser. Es war, als vereinigten sich Sturm und Wasser zu mehr. Zu etwas Neuem. Ja. Wen sollte das wohl darstellen?

Eine Ahnung meldete sich in meinem Hinterkopf. Ich schob sie weg. Wenn ich dieser Ahnung nachginge, würde mir das alles zu viel. Und ich hatte echt keine Lust, durchzudrehen. Nicht noch mehr zumindest.

Er schien das zu spüren, denn er wechselte das Thema. „Deine Energie ist wieder aufgeladen. Dadurch, dass Morpheus dir Zugang zu einer Ebene gewährt hat, die du aus eigenen Kräften frühestens in zwanzig Jahren hättest betreten können, hat er unmissverständlich klargemacht, dass er dich schätzt. Das werden alle, die von solchen Dingen erfahren können, erkennen. Und nicht alle werden dies positiv aufnehmen. Deine Macht wächst immer weiter. Ich muss dir wohl nicht sagen, wie man Leute mit Macht betrachtet.“ Das musste er wirklich nicht.

Bei dem Gedanken, dass Leute mich nun hassten, nur weil ich… keine Ahnung was war, jetzt aber auf jeden Fall Macht besaß, schauderte ich.

„Du hast Freunde und Verbündete, die dich beschützen werden, so gut sie können. Und du hast deinen Krieger.“ Er schien mich mit der Aufzählung aufmuntern zu wollen.

„Was ist mit dir?“

„Ich werde dich beschützen, soweit es mir möglich ist“, erwiderte er und es klang entschlossen und grimmig, wie ein sehr ernst gemeinter Schwur. Ich hatte absolut keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte. Aber er ließ mir dazu ohnehin keine Gelegenheit. „Sei wachsam.“

Dieses Mal hörte es sich an wie eine Bitte. „Sicher. So gut ich kann.“ Ich sah, wie ein kurzes, stolzes Lächeln auf seinen Lippen erschien und seine Augen strahlen ließ. Wieder schaute er mich an. „Nun ist es Zeit, aufzuwachen. Wenn du noch länger auf dieser Ebene verweilst, wirst du in ihr verwurzeln, da du sie nun nicht mehr benötigst. Und dein Krieger erwartet dich.“

„Okay“, sagte ich unsicher. Schloss dann aber doch die Augen und konzentrierte mich darauf, diese Ebene der Welt der Träume zu verlassen und aufzuwachen. Als das Gefühl des Sandes immer schwächer wurde, wusste ich, dass es funktionierte.

„Ich bin stolz auf dich“, glaubte ich ihn noch sagen zu hören. Dann verließ ich die Ebene des magischen Heilschlafs.

 

3: Cori

 

 

 

Ich erwachte nur langsam. Hörte ein regelmäßiges, wirklich verdammt nervtötendes Piepen. Das interessierte mich jedoch nicht weiter, als ich die Gegenwart zweier Wesen spürte. Eine davon erkannte ich sofort.

„Was willst du eigentlich hier, Cori?“

Die Stimme belebte meine Sinne gleich noch mehr, aber die Anspannung, die darin lag, machte mich neugierig. Ich verhielt mich still und lauschte.

„Na, was wohl? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Genaugenommen tue ich das immer noch.“ Eine mir unbekannte weibliche Stimme antwortete ihm ärgerlich und fuhr auch schon fort: „Sobald ich gehört habe, was passiert ist, bin ich hergekommen. Und was finde ich vor?! Seit wie vielen Tagen hockst du jetzt ausschließlich in diesem Zimmer oder hängst höchstens hundert Meter davon entfernt herum!? Ach was, Tage, eher ein Monat! Keiner der anderen kann dich erreichen, verdammt! Versuch nicht, mir weißzumachen, dass dein Scheiß-Akku leer ist! Das hier tut dir nicht gut.“

„Fünfunddreißig.“

„Was?“

„Es sind fünfunddreißig Tage.“

„Also über einen Monat! Und, ist vielleicht irgendeine Besserung zu erkennen?! Nicht die Geringste.“ Ein tiefer Atemzug. „…Adrian, so kann es nicht weitergehen! Du solltest dich darauf einstellen, dass sie nie wieder aufwacht. Sie liegt wochenlang im Koma, obwohl niemand sie hineinversetzt hat. Ich weiß, es gibt diese Filme, wo sie erst endlos lang im Koma liegen, für Jahre, und dann irgendwann aufwachen, aber… Das sind Filme! Und danach sind sie nicht mehr die, die sie vorher waren.“ Die Stimme klang nun mitfühlend. Allerdings falsch mitfühlend.

Ob er das auch hört?“

„Sie wird aufwachen. Sie muss nur ihre Energie ersetzen und das dauert seine Zeit.“ Nun klang er absolut dickköpfig.

„Ja!“, schnaubte sie aufgebracht, „Sie muss bloß ihre Energie ersetzen. So viel davon, wie ein Mensch zum Leben in sich hat, weil sie die unbedingt verschenken musste. Dann noch die Energie, die sie vorher verloren und verbraucht hat, als sie diesen Sturm verursachte. Und dann noch die, mit der sie sich mal eben Flügel zugelegt hat! Flügel, Adrian! Wie hat sie das überhaupt gemacht?! Bist du sicher, dass sie vorher keine Ahnung hatte? Vielleicht ist sie eine Schwarzmagierin!“

Der Gedanke war fast komisch. Fast hätte ich gelächelt, aber mein ganzer Körper fühlte sich steif an. Auch meine Gesichtsmuskeln. „Moment, hat er gerade gesagt, ich bin schon seit fünfunddreißig Tagen bewusstlos?“

„Cori!“ Die Ermahnung klang wie ein Knurren.

„Wie auch immer, wir wissen doch beide, dass die meisten an einem solchen Energieverbrauch sterben würden. Spätestens nach der Übertragung. Nach und nach.“

„Sie ist aber nicht wie die meisten.“

Die Stimme fuhr ungerührt fort. „Sogar Cyril hat Zweifel! Und der Heiler wusste auch nichts. Du weißt, was er gesagt hat. Dass sie schon längst tot sein müsste! Dass ihr nur noch die Götter helfen könnten. Du weißt, was dieser Satz bedeutet. Vergiss sie! Wieso bist du überhaupt noch hier? Dir ist doch klar, dass dich keine Schuld trifft. Sie hat sich das selbst eingebrockt; sie hätte dir Bescheid sagen müssen.“ Der Klang der Stimme wurde verführerisch, leicht drängend. „Komm mit mir. Wir könnten wieder zusammen auf die Jagd gehen, wie früher. Du wirst sie vergessen, wenn du es zulässt. Komm zurück nach L.A. Wir werden sicher schnell einen Auftrag bekommen, und du kannst sie hinter dir lassen. Ich verstehe eh nicht, was du an ihr findest...“

„Cori! Sie ist...“

Was er noch sagte, hörte ich nicht. Die Wut rauschte in meinen Ohren, ich hörte, wie der Rhythmus dieses blöden Piepens sich leicht beschleunigte. Scheiß auf die Steifheit meiner Muskeln!

Verärgert öffnete ich die Augen und wandte den Kopf zu der Stimme. Verspannte Naskenmuskeln knackten protestierend. Zuerst war ich von der plötzlichen Helligkeit geblendet, aber schließlich erkannte ich doch die beiden Personen, die vor dem mit Jalousien abgedunkelten Fenster standen. Die eine war Adrian.

Die andere war groß, so groß wie Adrian, blond, circa so alt wie Adrian – äußerlich – und absolut umwerfend. Das war dann wohl ‚Cori‘.

„Er geht mit dir nirgendwo hin, weil er nämlich mein Gefährte ist“, zischte ich die junge Frau an. Allerdings klang das nicht so energisch wie beabsichtigt, denn die Worte kamen belegt und nur stockend heraus. Ich versuchte, mich aufzurichten, verzog jedoch wegen meiner Kraftlosigkeit verblüfft das Gesicht und verharrte vorsichtshalber reglos in meiner halb liegenden, halb sitzenden Position.

Adrian war neben mir ehe ich auch nur die erste Silbe beendet hatte.

Hey, das ist doch mal ein Statement oder?“, giftete mein Unterbewusstsein in meinen Gedanken siegessicher. Zumindest das klang nicht als wäre es längere Zeit ohne Bewusstsein gewesen. Dumm, dass ich es als Einzige hören konnte.

Ich starrte weiterhin unverwandt die Blondine an.

Die Blondine starrte zurück. „Schätzchen, ich glaube, du weißt nicht genau, was du da faselst. Wer kann dir das so kurz nach deinem Aufwachen auch vorwerfen? Aber ich will es trotzdem mal kurz klarstellen. Du bist nicht seine Gefährtin.“

Ach nein? Wollen wir wetten?“

Meine Hand wanderte zu meiner Schulter, und ich zog den Ausschnitt des langärmligen, vermutlich ziemlich unvorteilhaften Krankenhausnachthemds runter, sodass sie das Mal entblößte. Der Panther befand sich nicht mehr in der Pose, die wir abgemacht hatten, sondern hatte eine lauernde, angespannte Haltung eingenommen, wie ich aus dem Augenwinkel feststellte. Erleichtert atmete ich aus. Nach der Zeit in der anderen Bewusstseinsebene, in der er nicht auf meiner Schulter zu sehen gewesen war, hatte ich schon halb befürchtet, er wäre auch in Wirklichkeit verblasst.

Nachdem Blondie eine Weile ungeniert auf das Mal geglotzt hatte, zog ich den Ausschnitt wieder zurück. „Tja, sieht so aus, als wäre er mein Gefährte, Schätzchen“, schnappte ich.

Langsam wurde mir meine Körperhaltung ungemütlich, aber ich hatte nicht vor, vor ihren Augen wieder zusammenzusacken.

Sie starrte immer noch auf meine Schulter, dann sah sie mir ins Gesicht und sagte mit einer süßlichen Miene: „Sieht so aus Kleine. Respekt, hätte nicht gedacht, dass du wieder aufwachst.“

Ihr Ton machte deutlich, dass ihr das auch lieber gewesen wäre.

Ich setzte zu einer gepfefferten Erwiderung an, aber Adrian trat vor und schob sich so zwischen mich und Blondie. „Ich denke, du solltest jetzt gehen“, stellte er ruhig fest.

Ich hätte viel dafür gegeben, in dem Moment ihr Gesicht sehen zu können, aber das war mir leider nicht vergönnt.

„Schön.“ Sie machte einen Bogen um Adrian, ging um mein Bett herum auf die andere Seite des Raumes zur Tür – wodurch ich gezwungen war, mich mitzudrehen, was mit einer kurzen Schmerzattacke seitens des Knöchels einherging –, öffnete sie und drehte sich nochmal um, als wollte sie noch etwas sagen. Ihr Blick fiel auf mich. Ich lächelte süffisant und hob die Hand. Bewegte sie nach rechts und links: winkte.

Sie schnaubte, drehte sich um und knallte die Tür hinter sich zu.

 

 

 

4: Gute Besserungswünsche

 

 

Als sie weg war, schwiegen wir kurz. Die einzigen Geräusche waren das blöde Piepen, das sich allmählich beruhigte, und ein Prasseln von draußen. Regen, wie mir klar wurde. Dann drehte Adrian sich um, und mit einer schnellen Bewegung hob er mich hoch, setzte sich hinter mich aufs Bett, zog mich mit dem Rücken an seine Brust und schlang die Arme um mich. Dabei war er vosichtig mit den ganzen Schläuchen, die von verschiedenen Maschinen ums Bett mit mir verbunden waren.

Ich lehnte mich dankbar an ihn und atmete tief seinen Geruch ein. Dann hob und drehte ich den Kopf und musterte ihn.

Der Goldanteil in seinen Augen hatte zugenommen und ich starrte hinein.

Er senkte den Kopf und küsste mich. Lang und ausgiebig. Ich schmolz dahin, versank ganz in dem Kuss.

Schließlich zog er sich zurück und vergrub seine Nase in meinem Haar. Ich schluckte und kuschelte mich enger an ihn. „Das... kam unerwartet“, stellte ich fest. Ich konnte spüren, wie seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. Seine Stimme war belegt, als er sprach. „Du machst so etwas nie wieder, und wenn ich dich dazu in einen Turm sperren muss.“

„Dann wirst du mir aber regelmäßig die Haare schneiden müssen“, murmelte ich, fügte dann aber ernster hinzu: „Ich mache so etwas nie wieder. Versprochen. Oder zumindest sage ich dir das nächste Mal vorher Bescheid.“

Er seufzte. „… Gut. Sonst hätte ich dir jetzt mitteilen müssen, dass ich der einzige Prinz für dich bin.“

Wieder schwiegen wir eine Weile. Das Piepen füllte die Stille.

„Mann, kann mal jemand das Teil abstellen?“, grummelte ich irgendwann.

„Das Teil gehört dem Krankenhaus und es wäre nicht nett, es zu schrotten.“ Sah ich aus wie eine Fünfjährige? Unruhig wie eine fühlte ich mich definitiv. Ich hatte keine Ahnung, was genau eigentlich los war, aber ich hatte so das Gefühl, dass seit meinem Kampf gegen Junis Entführer ganz schön viele Stunden den Strom der Zeit runtergesegellt waren. „Davon habe ich ja auch nichts gesagt. Hat es keinen Aus-Knopf?“

„Um den zu suchen, müsste ich aufstehen“, informierte er mich.

„Ähm, nee, so wichtig ist das dann auch nicht.“

Er lachte. Das tat er definitiv zu selten.

„Sag mal, wer war das eben?“, fragte ich und verdrehte mir wieder den Hals, um ihn ansehen zu können.

„Niemand, wegen dem du dir Sorgen machen müsstest.“

Ich hob die Brauen.

„Ich will nichts von ihr. Wollte ich nie.“

„Ach nein? Sie scheint aber eine andere Einstellung zu haben. Also, wer ist sie?“

Er seufzte. „Sie heißt Cori. Eigentlich Corinna.“

Ich beschloss sofort, sie weiterhin Blondie zu nennen.

„…Und früher waren wir ein Team.“

„Was bedeutet?“

„Sie ist auch eine Kadri und wir haben einige Zeit lang zusammen Aufträge ausgeführt. Aber dann wurde es schwierig…“

Ich sah ihn auffordernd an.

„Sie machte deutlich, dass sie eine intimere Beziehung wollte und gab sich nicht mit einem Nein zufrieden. Also habe ich ihr gesagt, dass ich von nun an wieder allein arbeiten würde.“

„Hm“, machte ich. Blondie wurde mir immer unsympathischer. Lag vielleicht auch daran, dass sie mich ein wenig an Vik erinnerte. Und weil sie so umwerfend war. Und weil sie Adrian länger kannte als ich. Und weil…

Vielleicht sollte ich aufhören, all diese guten Gründe aufzuzählen.“

Ich runzelte die Stirn. Es war lächerlich, schon klar, vor allem weil ich wusste, dass Adrian keinerlei Interesse an ihr hatte. Trotzdem war ich eifersüchtig.

Adrian lenkte mich von diesen mal wieder ziemlich düsteren Gedanken ab, indem er fragte: „Wie fühlst du dich?“

„Seltsam“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Er würde es sowieso merken, wenn ich log. „Außerdem fühle ich mich, als hätte ich die letzten hundert Jahre als Mumie in einem gemütlichen Sarkophag verbracht, allerdings ohne Nackenpolster, nur um dann aus diesem herausgezerrt zu werden mit dem Auftrag, Sit-ups zu machen.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Das kommt von dem Energieverlust und dessen Ersatz. Dein Körper hat alles hergegeben und dafür deine Fitness wohl vernachlässigt. Außerdem hast du etwa fünf Wochen im Koma gelegen. Da sind wohl einige Muskeln abgebaut worden“, erklärte er mir halb amüsiert, halb ernst, ehe er zu wütend wechselte. Allerdings zum Glück nicht auf mich. Wenn er je so wütend auf mich wäre… nein, das wollte ich mir nicht wirklich vorstellen.

„Und dein Knöchel war schlimm verdreht und gebrochen. Die Ärzte haben ihn gerichtet. Mittlerweile dürftest du davon kaum noch etwas merken. Obwohl die Heilung gemessen an deiner Paranormalität nur langsam vonstatten ging.“

Ich musterte ihn. „Du würdest sie gern noch mal umbringen, hm?“

Er nickte grimmig. Und ich musste zugeben, dass ich nichts dagegen hätte. Statt weiter darauf einzugehen, sah ich mich im Zimmer um. Krankenhaus, wie gedacht. Aber nicht auf die Art, wie ich es mir vorgestellt hatte.

„Wir sind in einem Einzelzimmer“, erklärte er. Hatte wohl meinen Blick bemerkt. „Bald wird vermutlich ein Arzt auftauchen. Sie kommen regelmäßig vorbei und sehen nach dir.“

„Hm. Und was ist mit dem ganzen Zeug? Wollen die hier einen Geschenkladen eröffnen?“

Als er anfing zu lachen, warf ich ihm einen bösen Blick zu. „Was?!“

Er beruhigte sich etwas. „Diese Sachen sind für dich.“

Ich schaute wieder ins Zimmer. Blumensträuße, Luftballons, Pralinenschachteln und anderer Süßkram, Karten. „Hä?“, machte ich verständnislos. Was sollte das denn heißen? Er stand auf, griff nach der nächstbesten Karte auf dem Tisch und gab sie mir. Vorne stand „Gute Besserung“ und auf der Rückseite hatten jede Menge Leute unterschrieben. Ich erkannte Stephs, Teddys, Tanyas und noch ein paar andere Signaturen. Manchmal nur Namen, manchmal noch mit Smiley oder einem kurzem Spruch. Mir stiegen die Tränen in die Augen und ich sah kurz Adrian an, ehe ich wieder das Zimmer musterte. „Das ist wirklich alles für mich?“

Er setzte sich wieder auf das Krankenbett und zog mich zu sich heran. „Ja. –Oder, nein, warte, ich habe vergessen zu erwähnen, dass sie dieses Einzelzimmer auch als Abstellkammer nutzen, bis der Krankenhaus-Shop für Patienten-Geschenke fertig ist.“

„Ha-ha.“ Ich legte den Kopf auf seine Schulter und starrte die Karte in meinen Händen an und all die anderen Sachen, die im Zimmer herumstanden oder lagen. „Das hätte ich nicht gedacht“, murmelte ich.

Offensichtlich“, bemerkte mein UBS.

„Du spielst eben in den Leben vieler eine Rolle“, flüsterte er mir zu, nahm sich eine Strähne meines Haares und begann, damit herumzuspielen. „Ein paar Sachen sind auch von Leuten, die dich vermutlich gar nicht kennen und sich nur mit dir verbunden fühlen wegen dieser Mörder.“

Klar. Darauf hätte ich auch selbst kommen können. „Verwandte der Opfer?“

„Ich denke schon.“

Mir kam ein Gedanke und ich musste lächeln. „Du hast schon jedes Päckchen genauestens untersucht, nicht wahr?“

Er grinste. „Sicher. Ich musste doch sichergehen, dass sie nichts Schädliches enthalten. Und ich brauchte eine Beschäftigung in all der Zeit.“

„Du hast meine Post gelesen.“

„Mhm.“

„Hiermit nehme ich mir das Recht, auch deine Post zu lesen. Und deine Mails und SMS.“

„Gut“, sagte er nur.

Ich seufzte. Der Typ war nicht erziehbar. Dann plötzlich: „Was ist mit Juni?“

„Alles okay“, beruhigte er mich. „Ihr geht es gut, sie ist schon wieder entlassen worden. Deutlich früher als du.“

Ich ließ mich wieder zurücksinken. „Gut. …Was hast du der Polizei erzählt?“

Ehe er mir antworten konnte, klopfte es kurz, dann trat jemand ein. Ich sah zur Tür und musterte die Ärztin Ende vierzig. „Menschlich“, ließen meine Instinkte mich wissen und ich hob die Brauen. Seit wann überprüfte ich das automatisch? Und seit wann gelang es mir so mühelos? Ich musste an das denken, was Nuriel – ich war mir immer noch ziemlich sicher, dass er es gewesen war – mir gesagt hatte. Dass meine Macht beständig wuchs. Er hatte anscheinend recht.

Als die Ärztin uns erblickte, riss sie die Augen auf. „Aber... Sie sind ja wach!“

 

5: Oh

 

 

Die Ärztin rief ihre Kollegen herbei, die alle genauso erstaunt waren wie sie. Alle wollten mich untersuchen, aber Adrian überzeugte sie irgendwie davon, dass das nicht nötig war, also entfernten sie nur die Schläuche und stellten die nervigen Maschinen ab, die, nun ja, mich in den letzten Wochen wohl am Leben erhalten hatten. „Also vielleicht doch nicht so nervig.“

Nachdem sich der Trubel gelegt hatte, blieb nur noch die Ärztin zurück, die mein Erwachen entdeckt hatte. Inzwischen hatte sie sich vorgestellt und ich hatte sie gebeten, mich zu duzen. Ihr Name war Dr Nigel, sie war hier für mich zuständig und hatte einen aufmerksamen Blick.

Adrian stand neben dem Bett und hielt meine Hand.

„Gut, nun, ich möchte nicht unhöflich sein, aber wie fühlst du dich? Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern, von dem, was da Schreckliches passiert ist?“

Ich nickte, schüttelte gleichzeitig den Kopf und wünschte, ich hätte Adrian früher gefragt, was er erzählt hatte. „Nur noch, wie ich auf einmal so schreckliche Schmerzen im Fuß hatte.“ Mein Schaudern war nicht gespielt und Adrian drückte kurz fester meine Hand. „Danach ist alles weg.“

Mitfühlend sah sie mich an. „Das hatte ich bereits vermutet. Der Schmerz im Fuß kam von deinem Knöchel. Er war ziemlich ramponiert. Aber wenn du ihn noch weiter schonst, bleibt es wohl bei dem guten Zustand in dem er mittlerweile schon wieder ist. Glücklicherweise ist das das Einzige, worum wir uns jetzt noch ein wenig sorgen müssen, wo du aufgewacht bist. Deine anderen oberflächlichen Blessuren wie Schürfwunden und Prellungen sind bereits früher verheilt, nirgends ist eine Narbe zurückgeblieben. Wir konnten keine inneren Verletzungen, ein Schädelhirntrauma oder andere Traumata feststellen.“

„Okay“, sagte ich erleichtert.

„Gut, allerdings ist das auch der Grund dafür, warum wir uns nicht wirklich erklären konnten, dass du so tief in ein Koma gefallen bist. Die einzige Erklärung ist wohl der tiefe Schock über die Situation, in der du dich befunden hast, zusammen mit der Schmerzkonfrontation. Deshalb solltest du versuchen, Stresssituationen vorerst zu vermeiden, damit du keinen Rückfall erleidest. Also keine Besuche von zu vielen Personen zur gleichen Zeit oder solchen, die dich aufregen könnten. Das gilt besonders für Journalisten.“

Ich nickte mit großen Augen. Diese Frau war nicht nur eine gute Ärztin, sondern auch völlig ahnungslos. Eine Wissende hätte den Grund für mein Koma erkannt: den Wiederaufbau meiner Energie.

Und warum betonte sie so sehr, dass mich keine Journalisten befragen sollten?

„Wir stimmen völlig mit Ihnen überein, Dr Nigel“, stimmte auch Adrian ihr zu.

Sie nickte zufrieden. „Gut, da ansonsten alles in Ordnung ist, denke ich, spricht nichts gegen eine baldige Entlassung. Wir würden dich allerdings gern noch etwa eine Woche zur Beobachtung hierbehalten. Nur zur Sicherheit. Dann kannst du auch wieder in aller Ruhe deine Muskeln stärken.“

„Einverstanden“, sagte ich, obwohl ich inzwischen schon spürte, wie meine Energie in mir arbeitete. Ein Teil konzentrierte sich auf meinen Fuß um zu bestätigen, dass er okay war, der Rest darauf, meine Fitness wiederherzustellen; Muskeln aufzubauen und Sinne zu schärfen, die zu lange geschlafen hatten.

„Gut. Ich mache schon mal die Papiere fertig und schicke sie an die Direktorin der Mohnblume. Sie ist doch deine rechtliche Fürsorgerin, oder?“

„Mhm“, machte ich nicht allzu begeistert.

Dr Nigel bemerkte es nicht. „Gut. Ach ja, wohin soll ich denn die ganzen Sachen schicken? Oder nimmst du sie mit?“

Bei ihr schien fast jeder Satz mit ‚Gut‘ anzufangen. „Mann, muss die Frau positiv denken.“

„Schicken Sie sie bitte an diese Adresse“, antwortete Adrian für mich, zog einen Notizblock hervor, kritzelte etwas darauf, riss den Zettel ab und gab ihn der Ärztin. Die nickte. „In Ordnung. Dann will ich nicht länger stören. Essen gibt es in einer halben Stunde.“

„Welche Adresse hast du ihr gegeben?“, fragte ich sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Die der Wohnung, in der ich wohne“, erwiderte er.

Ich hob die Brauen. „Und was willst du da mit meinen Sachen?“

„Ich habe vor, dich dorthin mitzunehmen.“

„Wie bitte?“

„Cyril hat schon einen Antrag gestellt, dass er als dein Vormund eingesetzt wird.“

Ich sah ihn groß an.

„Wenn der Antrag bewilligt wird, wovon auszugehen ist, wirst du nicht länger in der Mohnblume leben müssen.“

Stattdessen könnte ich mit ihm zusammen sein.“ Das wurde mir klar, auch wenn er es nicht direkt ausgesprochen hatte. Wir könnten zusammenleben. Und wenn er nach L.A. zurückkehrte, könnte ich mit ihm kommen. Einfach so. Weil Cyril, mein Vormund, unser Vormund, es mir erlauben würde. „Das heißt, wir könnten zusammen sein“, flüsterte ich. Richtig zusammen sein. Nicht durch Verbote der Direktorin, oder gar mehrere Staaten getrennt.

„Ja“, bestätigte er amüsiert. „Glaubst du, du kommst mit einer so engen Beziehung zurecht?“

„Zweifelst du an mir?“

„Würde ich nie wagen.“

„Gut. Ich freue mich nämlich darauf.“

Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Na dann. Ich koche und gehe einkaufen, wenn du die Spülmaschine ein- und ausräumst und hin und wieder Staub saugst.“

„Aha. Aber seine Wäsche übernimmt jeder selbst.“

„Abgemacht.“

„Jetzt, wo du fürs Essen zuständig bist: gibst du mir mal eine der Pralinenpackungen? Bis zum Essen dauert es mir zu lange.“

„Nein.“

„Bitte?!“

„Du hast jetzt seit einem Monat keine feste Nahrung gehabt. Genau gemnommen hast du gar nicht gegessen. Das Einzige, was ich dir unter diesen Umständen reichen würde, wäre ein Smoothie. Und den hat irgendwie keiner als Genesungsgeschenk vorbeigebracht.“

„Du bist… Schön, dann hole ich sie mir halt selbst.“

„Du unterschätzt mich gewaltig, wenn du glaubst, ich lasse dich so schnell schon aufstehen.“

„Adrian…!“

„Willst du mir irgendetwas sagen?“ Milder Spott klang in seiner Stimme mit, auch wenn er schlau genug war, ihn sich nicht auf seinem Gesicht niederschlagen zu lassen.

„Du bist der nervigste Fast-Adoptivbruder, den ich mir nur vorstellen kann! Räum die Spülmaschine doch selbst aus!“ Ich sah sehr genau, wie er sich kurz vor unterdrücktem Lachen verkrampfte und atmete tief aus. „Idiot.“

„Keine Sorge, Wunderkerze. Ich nehme dich sehr ernst.“

„Bestens!“

„Aus dem Bett lasse ich dich trotzdem nicht.“

Wütend starrte ich ihn an, nicht in der Absicht, bald wieder damit aufzuhören. Aber er schien sich unter meiner Fixierung überhaupt nicht unwohl zu fühlen. Erstmals fielen mir die leichten Schatten unter seinen Augen auf. Hatte er so wenig geschlafen, dass der Schlafmangel sogar ihn als Engels-Gestaltwandler zeichnete?

Er war wirklich ein Idiot, wenn er das beim Wachehalten für mich zugelassen hatte.

Und was hatte Cori ihm doch gleich vorgeworfen? Dass er für die anderen Kadri nicht zu erreichen gewesen war? Aber er war doch Cyrils Stellvertreter. Ich hatte zwar nur eine vage Vorstellung seiner Pflichten gegenüber dem Orden der paranormalen Krieger, aber dass diese Pflichten nicht vernachlässigt werden sollten, konnte ich mir trotzdem denken. Vor allem, weil das für alle Pflichten galt.

Er hatte sich wirklich verdammte Sorgen um mich gemacht. Und seine Aufgabe als mein Gefärhrte, der mich schützen sollte, wirklich ernst genommen.

Und dafür hat er seine anderen Aufgaben ignoriert. Als wäre ich das Wichtigste für ihn. Idiot.“

Das war der Moment, in dem ich realisierte, dass ich nicht nur für mich selbst stärker werden musste, wegen der merkwürdigen Entwicklungen mit meiner Energie, meiner Fähigkeiten, der Abtrünnigen und den Göttern. Nein, ich musste auch stärker werden, damit Adrian es nicht für mich sein musste. Damit er sich und diejenigen, die ihm wichtig waren, nicht nochmals vernachlässigen musste. Und diese Erkenntnis war nichts, was man einfach mal eben mitteilen konnte. Also sah ich ihn bloß weiter an.

 

Schließlich war es die Essenslieferung, die meinen nutzlosen Blick-Bann brach. „Fürs Erste nur einfache Nahrung für Sie, also Suppe. Guten Appetit.“

Mit diesen Worten wurde mir eine grünliche Suppe vor die Nase gesetzt. „Danke“, murmelte ich. Dann sah ich ihn an. Etwas zumindest gab es, worüber wir ganz normal reden konnten. „Während ich mich mit Krankenhausfraß zufrieden geben muss, kannst du mir ja erzählen, was du den Behörden gesagt hast. Ich hoffe, ich habe nichts Falsches erzählt, als ich Dr Nigel antwortete?“ Ich schob mir den ersten Löffel in den Mund.

„Nein, gar nicht. Ich habe dem FBI und der Polizei gesagt, ich wüsste nicht, wie du dort hingekommen bist, aber dass ich mit dir verabredet gewesen wäre im D und als du nicht gekommen bist, hätte ich mich auf die Suche gemacht. Ich hätte im South Side nachgeschaut, weil das meine erste Idee war, nachdem du dort schon einmal gewesen warst, und als ich die Scheibe explodieren sah, hätte ich nicht nachgedacht, sondern wäre sofort rein. Ich habe behauptet, da wärt ihr beiden, du und Juni, schon bewusstlos gewesen.“

„Das Fenster ist explodiert?“, hakte ich verständnislos nach. Daran erinnerte ich mich wirklich nicht mehr. „Dieses Mal war das aber nicht meine Schuld, oder?“

„Ich fürchte doch. Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Aber du hast ein Gewitter heraufbeschworen und die Fenster explodieren lassen.“

„Oh.“ Hoffentlich galt für zerbrochene Fenster nicht dasselbe wie für Spiegel.

„Und es hat zuerst gedonnert, ehe der Blitz kam“, fügte er hinzu.

„Oh.“ Ich schluckte. „Und wie hast du das mit dem Tod der beiden Abtrünnigen erklärt?“

„Gar nicht. Wir haben den Pathologen eine Gehirnwäsche verpasst und dann ein paar Zauber über die Leichen gesprochen, sodass es aussieht, als wären sie durch einen brutalen Kampf getötet worden.“

„Du willst sagen, die denken jetzt, du hättest sie mit bloßen Händen umgebracht?!“

„Ja.“

„Oh. Na toll.“

 

 

 

6: Unerwartetes Päckchen

 

 

Nachdem ich gegessen hatte, musste ich eingenickt sein, denn als ich die Augen öffnete, drang kein Licht mehr durch die Jalousie. Ein Klopfen hatte mich geweckt.

Adrian war noch oder schon wieder wach und schaltete das Licht ein, als er merkte, dass auch ich auf war. Ich blinzelte hinein und hätte ihm am liebsten gesagt, er solle es wieder ausmachen, da ich ja genug im Dunkeln sah, aber wer wusste schon, wer da vor der Tür stand. Okay, vermutlich hätte ich es mit einem schnellen Tasten der magischen Fühler herausfinden können. Aber Adrian wusste schon, was er tat. Er reagierte mit einem: „Ja, komm rein“ ohne sich von dem Sessel direkt neben meinem Bett zu rühren.

Cyril trat ein. Er hielt etwas in den Händen. Sein Blick fiel auf mich und er lächelte. „Ich habe schon gehört, dass du aufgewacht bist. Allerdings ließ es sich nicht einrichten, früher zu kommen“, erklärte er mir. „Wie geht es Morpheus?“

Ich blinzelte. „Ähm, gut. Zumindest hatte ich den Eindruck.“

Cyril nickte. Beide ignorierten wir Adrians fragend hochgezogene Augenbrauen. Der Mann streckte mir seine Hand mit dem Päckchen hin. „Das lag vor der Tür.“

Ich nahm es neugierig entgegen und wollte es gerade öffnen, als Adrian danach griff und es mir abnahm. „Hey!“

„Da ist etwas Magisches drin“, stellte er fest und musterte das Teil, als enthielte es eine tickende Zeitbombe.

„Adrian, gib mir das!“ Ich streckte mich nach dem Teil. Er warf mir einen überraschten Blick zu, und ich hielt in meinem Bemühen, das Päckchen zurückzuerobern – das wegen meiner Verfassung nicht so fruchtbar war, wie es eigentlich sein sollte –, inne, und runzelte die Stirn.

Was war denn mit mir los? Wieso regte es mich so auf?

Alles in mir schrie: „Meins!“ Ich streckte mich weiter und versuchte, das Päckchen zu schnappen. Er hielt es über seinen Kopf und so außer Reichweite.

Unglaublich!“, beschwerte sich mein UBS. Wie konnte er mir mein Eigentum verwehren?

Ich ließ mich nicht beirren, streckte mich stattdessen noch weiter, wobei ich fast aus dem Bett gefallen wäre.

„Gib ihr das Päckchen“, riet Cyril.

Adrian zögerte noch kurz und warf mir einen abschätzenden Blick zu. Ich erwiderte ihn störrisch und streckte mich wieder.

Er seufzte und gab es mir.

Geht doch!“

Das Päckchen war mit Silberpapier verpackt, wie man es bei Geschenkpackungen schicker Läden erwartete. Ich riss das Silber weg und zum Vorschein kam ein kleiner, rechteckiger Behälter aus schwarzem Karton, der auf meine ausgestreckte Hand passte.

Ich stockte. Musterte das silberne Emblem, das auf die Oberseite gedruckt war. „Nuriels Wappen.“

Adrian sog scharf die Luft ein und Cyril hob eine Braue, als hätte er etwas in der Richtung zwar erwartet, aber nicht wirklich damit gerechnet. Ich wollte ihn öffnen, und Adrian spannte sich hinter mir an. Er hatte sich inzwischen wieder hinter mir auf dem Bett positioniert.

Ich verdrehte die Augen in seine Richtung. „Das ist von einem Gott. Götter haben es nicht nötig, Bomben zu legen. Ein Erdbeben, ein Vulkanausbruch, ein Sturm oder ein tragischer Unfall, und die Sache ist geklärt.“

„Das stimmt nicht ganz“, berichtigte mich Cyril. „Die Götter hätten zwar die Macht dazu, aber es ist ihnen strengstens untersagt, die Geschicke jener, mit denen sie nicht verbunden sind, zu beeinflussen. Zumindest in den Menschenwelten, mit den Faewelten zum Beispiel sieht das schon wieder anders aus. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie das hier überhaupt könnten.“

„Hm“, machte ich. „Das heißt, hier drin ist eine Bombe?“

Cyril schüttelte den Kopf. „Das denke ich nicht.“ Diese Aussage brachte ihm einen scharfen Blick Adrians ein, aber mein Engel kam nicht dazu, nachzuhaken, denn ich öffnete bereits kurzerhand den Karton.

 

7: A letter from a god

 

 

 

Dafür, dass die Schachtel von einem Gott geschickt worden war, war ihr Inhalt ziemlich unspektakulär.

Auf den ersten Blick.

Aber auf den zweiten...

In der Schachtel lagen zwei Anhänger, die jeweils an einer Silberkette befestigt waren. Den einen erkannte ich sofort. Es war mein Kirandu.

„Wie...?“ Vorsichtig nahm ich die Kette heraus und ließ den Stein mit dem Schutzzauber vor meinem Gesicht hin und her baumeln. Adrian untersuchte ihn kurz, ehe er mir die Kette umlegte. Dann wandten wir uns dem auf den ersten Blick wertlosen zweiten Anhänger zu, der, wenn man seine Geschichte kannte, den wertvollsten Inhalt der Schachtel, den Brief unter dem Schmuck vielleicht mal ausgenommen, darstellte.

Der Anhänger war vollkommen aus Silber und ohne jede Verzierung. Und er hatte die Form einer Träne. Eine Träne des silva vocalis. Ein klares Zeichen?

Noch zu gut erinnerte ich mich daran, wie Seth mir erzählt hatte, dass der sprechende Baum, dem auch ich schon – in einer Vision, einem Traum oder der Realität? – begegnet war, in Nuriels Welt wuchs und seine Blätter im Herbst in Form silberner Tränen zu Boden fielen. Und Nuriel führte eine Träne in seinem Wappen…

Ich ließ zu, dass Adrian den Tränenanhänger nahm und untersuchte, während ich nach dem Pergamentstück, das nun frei dalag, griff, um es auseinanderzufalten. Es war eine kurze Nachricht. Aber sie enthielt so viele unausgesprochene Dinge, dass ich mich wunderte, dass das Pergament nicht schwerer war.

Dort stand: ‚Ich denke, es wird Zeit, das Wappen zu tragen. –N.‘

 

 

 

8: Nachrichtensprecher

 

 

Adrian sah mir stirnrunzelnd über die Schulter. „Was bedeutet das?“

Ich seufzte. „Ich glaube, es ist Zeit, dass ich dir ein paar Dinge erzähle.“

Und das tat ich. Ich erzählte ihm alles, was ich vorher verschwiegen hatte. Cyril hörte ebenfalls zu, und schien aus dem was er erfuhr seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Ich hätte zu gern gewusst, welche. „Das heißt, seit einiger Zeit mischt sich ein Gott in dein Leben ein“, stellte Adrian schließlich fest.

„Mit Morpheus zwei“, bestätigte ich. Aber was ging ich die Götter an? Wieso konnten sie sich in mein Leben einmischen? Bedeutete das, dass ich mit ihnen verbunden war? Definitiv. Aber wie? „Der Sturm und das Meer haben sich vereint und etwas Einzigartiges hervorgebracht“, flüsterte es in mir. Und es waren weder meine Vernunft, meine Libido, die innere Streberin, noch mein UBS. Sondern mein paranormaler Instinkt.

 

Die Zeit bis zur Entlassung verging wie im Flug. Die meiste Zeit schlief ich, die restliche verbrachte ich entweder gemütlich an Adrian gelehnt oder auf einem Laufband in der Gymnastikhalle des Krankenhauses. Wir redeten meist über belangloses Zeug. Er erzählte mir zum Beispiel, wo er schon überall gelebt hatte und ich verlor mich in seinen Schilderungen von lauten Großstädten und kleinen verschlafenen Ortschaften.

Ich erzählte ihm aber auch, wie ich es geschafft hatte, mich selbst an die beiden Abtrünnigen auszuliefern. Von der Schilderung meines, seiner Meinung nach, unüberlegten Vorgehens, war er nicht sehr begeistert, musste aber zugeben, dass ich mich ganz gut geschlagen hatte. Ganz gut. Pah!

Wir achteten darauf, meine anormale schnelle Erstarkung nicht zu sehr raushängen zu lassen. Darum musste ich das Training in der Gymnastikhalle ziemlich beschränken und machte insgeheim zusätzliche Übungen im Einzelzimmer und täuschte bei Routinechecks leichte Schwäche vor.

Nach und nach verarbeitete ich nebenbei, dass meinem Leben ein ganzer Monat fehlte. Nicht allzu schlimm, schließlich wusste ich inzwischen, dass ich paranormal war und meine Lebenserwartung sich wenigstens auf hundertfünfzig Jahre belief. Allerdings auch nur, wenn ich nicht vorher umgebracht wurde, und wenn man bedachte, wie knapp ich nicht über mein sechzehntes Lebensjahr hinausgekommen wäre… na ja.

Wirklich realisieren tat ich meinen Zeitverlust erst, als Adrian mich zwei Tage nach meinem Aufwachen darauf hinwies, dass wir den vierten Juli hatten. Independence Day. Statt wie sonst live die Feuerwerke an diesem Tag zu bestauenen, verbrachten wir den Abend wie alle anderen im Krankenhaus-Einzelzimmer vor dem Fernseher.

Und ich füllte Formulare aus. Adoptionspapiere, die früher von der Leitung der Mohnblume für mich hätten ausgefüllt werden müssen (Dinge wie Krankheiten, Allergien und Fragen nach Familienverhältnissen), die ich in meinem Alter aber auch selbst ausfüllen durfte.

Als ich am Tag meiner Entlassung zurück von den Waschräumen der Station ins Zimmer trat, gekleidet in Klamotten, die allesamt Nuriels Wappen trugen, drehte Adrian mir den Rücken zu. Neben ihm stand noch ein anderer Mann, den ich nicht kannte. Ich schätzte ihn auf fünfundzwanzig, aber neuerdings musste das ja nicht viel heißen.

Gestaltwandler“, flüsterte es in mir.

Meine neuen Instinkte waren definitiv praktisch.

Obwohl beide mich gehört haben mussten, drehten sie sich nicht um, sondern sahen weiterhin auf den Fernseherbildschirm, wie ich erkannte. Ich trat neben Adrian und sah ebenfalls hin. Und erkannte Sprecher-Bill.

Der schon wieder.“

„Sarah Midnight, das letzte Opfer der Chicago Mörder, die nun bereits seit letztem Dienstag wieder bei Bewusstsein ist, wie uns eine vertrauliche Quelle informierte, wird heute entlassen. Wir befinden uns vor dem Saint Mary Hospital, in dem die Sechzehnjährige über fünf Wochen auf der Privatstation im Koma lag, ehe sie vergangene Woche völlig überraschend wieder erwachte. Seit sie ihr Bewusstsein wiedererlangt hat, hat sie das Krankenhaus noch nicht wieder verlassen. Sarah Midnight wurde vor ziemlich genau vier Wochen von den sogenannten Chicago-Dunkel-Mördern, die, wie sich herausstellte, zu zweit zusammenarbeiteten, entführt, ebenso wie Juni B.,“, ein verpixeltes Foto von Juni wurde gezeigt, „ein zwölfjähriges Mädchen aus dem gleichen Kinder- und Jugendheim wie Sarah. Juni leidet an Gedächtnisverlust, Gerüchten zufolge Sarah ebenso. Als die beiden gefunden wurden, waren sie nicht bei Bewusstsein…“

Ein Bild wurde eingeblendet, das ich verblüfft musterte. Es zeigte Adrian, der mich bewusstlos in den Armen trug, neben ihm ein Sanitäter, der sich über mich beugte, im Hintergrund sah man Polizeilichter, Einsatzfahrzeuge, Menschen und das Haus, zu dem Yake mich geführt hatte. Alles war gestochen scharf. Und Adrian sah einfach zum Sabbern gut aus.

„…darüber hinaus waren beide Mörder tot, und der 17-Jährige Adrian A., Gerüchten zufolge entweder der Stalker oder feste Freund Sarahs, vor Ort. Zu diesen Fakten will keine der zuständigen Behörden eine Stellungnahme abgeben, doch natürlich informieren wir Sie, sollten uns Neuigkeiten darüber zu Ohren kommen. Und gleich berichtet unser Reporter Jay live vom Saint Mary Hospital über die Entlassung Sarah Midnights. Schalten Sie nicht ab! Ich bin Bill…“

Der Mann neben Adrian schaltete den Fernseher aus. Dann drehte er sich zu uns um, sodass ich erstmals sein Gesicht sah. Es hatte asiatische Züge und ich hatte, zumindest was sein Äußeres betraf, sein Alter richtig geschätzt.

„Tja“, sagte er. „Sieht so aus, als würde da draußen eine Horde Typen mit Kameras und Mikros warten. Es ist auf allen Kanälen das Gleiche. Irgendeine Idee, wie wir hier rauskommen? Wir müssen es ohne Magie machen, weil es verdächtig sein wird, wenn absolut niemand unser Verschwinden bemerkt. Und wir haben kein Auto. Ich bin mit dem Taxi gekommen.“

Ich hob eine Braue.

Der Typ grinste mich an und hielt mir die Hand hin. „Hi. Ich bin Iatsu. Und du bist wohl die berühmte Sarah. Freut mich.“

Vermutlich wirkt er nur so herrlich unkompliziert, aber schön ist es trotzdem.“

Ich schüttelte ihm die Hand und musterte ihn neugierig. „Freut mich auch. Und was machst du hier?“

„Ich bin ein alter Freund von Ade, und als ich hörte, was läuft, dachte ich, ich komm mal vorbei.“ Er sagte das so, als wäre es vollkommen alltäglich, einen alten Freund mal eben im Krankenhaus zu besuchen, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass alle über seine Freundin redeten, die gerade aus dem Koma erwacht war. Er war mir auf Anhieb sympathisch.

Adrian meldete sich zu Wort. „Bestell ein anderes Taxi, Iatsu. Ich würde Cyril anrufen, aber seine Limo ist nicht das unauffälligste Gefährt und würde sofort belagert werden. Um noch etwas Anderes zu arrangieren ist es zu spät. Wir werden wohl einfach hinausgehen müssen. Wenn wir uns hier verschanzen, werden sie nur noch mehr reden.“ Er warf Iatsu einen fragenden Blick zu. „Hilfst du mir, sie so gut wie möglich von Sarah fernzuhalten?“

Der andere zögerte keine Sekunde. „Klar. Auf geht’s.“

 

 

 

9: Höllentrip

 

Oder: eine nervenaufreibende Flucht

 

Danach gab es nicht mehr viel zu sagen. Ich schnappte mir die Tasche mit meinen Habseligkeiten, die ich schon vorher gepackt hatte, und dann liefen wir auch schon den Krankenhausflur entlang.

Dabei genoss ich es, den Fuß bedenkenlos aufsetzen zu können.

Nur einmal blieben wir kurz am Empfangstresen stehen, um dort noch mal zu sagen, dass ich jetzt ging. Die Entlassungspapiere hatte Adrian schon morgens früh abgegeben. Dann liefen wir schnurstracks zum Hintereingang.

Irgendwer musste jedoch die Presse informiert haben, dass wir diesen Weg nahmen, oder aber sie hatten damit gerechnet, denn dort tummelten sich die Übertragungswagen, Kameras, Reporter, und was nicht noch alles. Die beiden Männer nahmen mich in die Mitte, und wir joggten schon fast los ohne uns groß absprechen zu müssen. Ich senkte den Kopf und ließ mir von Adrians Bewegungen den Weg weisen.

Kurz fühlte ich mich von der Situation total überfordert. Überall waren Leute, deren alleinige Aufmerksamkeit uns galt. Dauernd ertönten Kamerageräusche, es wurde gerufen und ich hörte, wie einige versuchten, über den Lärm hinweg Bericht zu erstatten.

„Soeben verlässt Sarah Midnight das Hospital…“

„Eine Frage! Bitte, Sarah! Die Menschen wollen deine Geschichte hören!“

„Was ist genau passiert?“

„Wie geht es dir?“

Himmel! Promis konnten einem wirklich nur leidtun. Inzwischen hatten wir die Straße erreicht und sahen uns nach einem Taxi um. Nichts. „Scheiße“, fluchte Iatsu. „Dabei habe ich dem Fahrer eine hübsche Summe im Voraus geboten. Aber die Pressefutzis müssen mich ausgestochen haben. Vielleicht haben sie untereinander gesammelt, damit genug zusammenkommt.“

„Telefonisch hat Geld eben nicht den gleichen Effekt wie direkt vor der Nase“, stellte Adrian angespannt fest.

Ich nickte weise, um mich vom Stress abzulenken. „Ja ja, der Spatz in der Hand und so weiter.“

Die Leute waren uns in Wagen, aber auch zu Fuß auf den Fersen.

Adrian neben mir fluchte jetzt auch.

Von Iatsu kam ein verwunderter Pfiff. „Was macht der denn hier?“

„Wer?“, konnte ich noch fragen, ehe ich etwas erschrocken nach Luft schnappte.

Reifen quietschten. Dann hielt genau vor uns ein schwarzer Van quer auf dem Bürgersteig. Die Schiebetür schwang auf und ich sah Lucien vom Fahrersitz aus zu uns hinausgrinsen. Der Engel zwinkerte mir zu.

Mein vollkommen perplexer Anblick, der durch den leicht geöffneten Mund perfekt abgerundet wurde, freute ihn sichtlich. „Hey. Brauchst du ne Mitfahrgelegenheit?“ Hinter uns wurden nach kurzer Stille wieder Rufe laut.

„Nun schwingt schon eure Hintern hier rein“, riet Lucien uns ungeduldig.

Diese Aufforderung brauchte er nicht zu widerholen. Wir sprangen in das Fahrzeug, die Schiebetür schloss sich knallend, womit auch die Geräusche ausgeschlossen wurden und Lucien rief: „Schön festhalten!“, und brauste los.

Er fuhr polternd vom Gehsteig runter zurück auf die Straße, wodurch er kurzes Chaos auslöste, und für einige Huperei sorgte. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit schoss er rücksichtslos weiter.

„Vielen Dank, dass ihr euch für Höllentrip Transport Services entschieden habt. Niemand könnte je ein normales Taxiunternehmen vorziehen. Ich hoffe, ihr genießt es. Wo soll’s hingehen?“

Ich sah zu Adrian, für den Moment ratlos. Der ratterte eine Adresse hinunter, die im besseren Teil Chicagos lag. Auf meinen fragenden Blick erklärte er: „Meine Wohnung.“

„Aber ich muss doch in die Moh-nblu-me zurü-ück.“ Mein Protest entfaltete nicht wirklich Wirkung, denn bei den letzten Worten wurde ich ziemlich herumgeschleudert. Adrian umfing mich in einer haltgebenden Umarmung, ehe ich noch endgültig das Gleichgewicht verlor.

„Die Direktorin hat am Telefon darauf bestanden, dass ich sofort dorthin zurückkehre. Angeblich, weil sie sich Sorgen macht.“

Adrian murmelte etwas Unflätiges, was Lucien in schallendes Gelächter ausbrechen ließ.

Ich verdrehte die Augen. Der Typ nahm sein Image zu ernst. „Wie weit ist Cyril mit der Adoptionssache?“

„Noch nicht durch. Ich fürchte, wir werden tun müssen, was deine Direktorin gesagt hat. Sonst wird man Lucien noch wegen Entführung verklagen.“

Der andere Engel schnaubte nur und drehte sich zu uns um, wahrscheinlich, um uns ganz genau auseinander zu setzen, wie egal ihm das war. Ich vereitelte dies jedoch, indem ich ziemlich scharf befahl: „Schau auf die Straße, verdammt!“

Zu unser aller Verwunderung gehorchte er. „Übrigens interessantes Wappen, das du da trägst, Sarah“, stellte er fest, diesmal, ohne sich umzudrehen.

„Danke.“

„Du willst mir nicht zufällig erklären, was das zu bedeuten hat? Ich meine, dass du es trägst und noch am Leben bist?“

„Nö.“

„Hm-hm. Alles klar. Wenn ich das richtig mitgekriegt hab, haben wir eine Zieländerung?“

„Ja.“ Ich nannte ihm die Adresse der Mohnblume.

„Na schön, wie die Lady wünscht.“ Ich biss mir auf die Zunge, einen Aufschrei nur mühsam unterdrückend, als er unvermittelt mitten auf der geraden Straße eine hundertachtzig Grad Wende machte, um in die andere Richtung zurückzufahren. Dass wir hier in der drittgrößten Stadt der USA mit entsprechend verkehrsreichen Straßen waren, strafte unser Fahrer mit dreister Todesverachtung.

„Das nächste Mal nehme ich den Himmelstrip Transport“, murrte ich, nachdem ich wieder sprechen konnte.

Lucien überhörte das geflissentlich.

Adrian wurde deutlicher. „Sie ist gerade erst raus aus dem Krankenhaus, Luce! Ich habe keine Lust, als nächste Zieländerung unseren Ausgangspunkt angeben zu müssen, klar?“

Lucien tat weiter, als hätte er nichts gehört. Aber er ging etwas mit dem Gas runter.

„Weißt du, früher hat er sich nie getraut, so mit mir zu reden“, erklärte er mir im Plauderton.

Ich lächelte. „Ich habe einen schlechten Einfluss auf ihn. –Dir ist klar, dass du jetzt auf allen Kanälen bist?“

„Und ob. Was tut man nicht alles, um mit Berühmtheiten abzuhängen. Der Sturm war übrigens obercool.“

„Danke“, sagte ich schon zum zweiten Mal. Oder dritten? Man zählt nicht mit, wenn ein Verrückter am Steuer ist und einem Komplimente macht, sondern reagiert lieber schnell, damit er sich nicht umdreht und die Fahrbahn aus den Augen lässt.

„Woher kennt ihr euch?“, unterbrach Adrian unsere Unterhaltung.

Ja, woher eigentlich?“, wiederholte meine Libido leicht panisch.

Doch nicht etwa von einem Abendessen bei einem Jungen?!“, stichelte mein UBS.

Lucien zögerte.

Ich biss mir auf die Zunge –dieses Mal nicht wegen des Fahrstils des dunklen Engels. Schließlich seufzte ich. „Von einem Geschäftsessen bei Teddys Eltern.“

„Du warst bei Teddy zu Besuch?“ Seine Stimme war ruhig und ließ nicht erkennen, was er dabei fühlte. Dafür taten es seine plötzlich angespannten Muskeln umso mehr. Die Umarmung war nicht mehr so gemütlich wie einen Moment zuvor.

„Äh, ja, Teddy ist mein bester Freund?“, gab ich sarkastisch zurück und wurde erst danach ernster. „Hör zu, das war nur, weil Teddy doch so ‘n Stress mit seinen Eltern hat, weil die seine sexuelle Orientierung nicht akzeptieren wollen.“

„Und da dachte er, er lädt dich ein, damit du ihm als Puffer dienst.“

„Genau. Das haben wir schon früher so gemacht. Ein Freundschaftsdienst, nichts weiter.“

Plötzlich umgab uns beide ein Kraftfeld in einem matten Dunkelblau. Ich streckte die Hand aus und berührte es. Ein warmer, prickelnder Funke sprang auf meine Hand über. „Was ist das? Das bist doch du, oder?“

Er nickte. „Ein schalldichtes Kraftfeld.“

„Oh.“

Hast du keine Privatsphäre, schaff dir eine.“

Ich sah, wie Iatsu und Lucien auf der anderen Seite des Kraftfelds betont nicht zu uns hinübersahen, sondern stattdessen ein angeregtes Gespräch begannen, dass ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen schien.

Hoffentlich nicht. Schließlich muss der Engel fahren“, bemerkte mein UBS trocken.

„Warum hast du mir nichts davon erzählt?“, fragte Adrian herausfordernd. Oh. Anscheinend hatten Lucien und Christian die Wahrheit gesagt, was dieses besitzergreifende Instinktding betraf.

„Du warst nicht da“, verteidigte ich mich. Die Antwort schien ihm nicht zu gefallen. Mir ja auch nicht. „Außerdem war es nichts weiter“, fuhr ich fort. „Wie gesagt.“

Er starrte mir in die Augen und ich starrte zurück. „Hör zu, du wirst akzeptieren müssen, dass ich manchmal etwas mit Teddy unternehme. Okay, er ist ein Junge und so weiter. Aber er ist schwul, und auch wenn er das nicht wäre: ich bin nicht an ihm interessiert. Dasselbe gilt für meine anderen Freunde! Selbst wenn es dir nicht gefällt, ich werde bestimmt nicht aufhören, mit ihnen zusammen zu sein, oder ihnen zu helfen. Und wenn ich das tun kann, indem ich bei ihm zu Abend esse, na, dann nichts leichter als das!“

Er wollte etwas sagen, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Das ist meine Sache. Und ich weiß auch gar nicht, warum dich das jetzt so aufregt.“

Okay, eigentlich war es mir schon klar, aber… „Wenn du Zweifel an meiner Treue hast, dann…“

Er unterbrach mich, indem er mir seinen Zeigefinger auf den Mund legte. Zuerst. Dann ersetzte er ihn durch seine Lippen. Mann, damit könnte er glatt meinen größten Ärger ins Wanken bringen. Okay, er ließ ihn genau genommen verschwinden.

Ich bin nicht sicher, ob ich das gutheißen soll.“

Sanft löste er sich kurz darauf von mir. Misstrauisch musterte ich ihn und warf dann einen schnellen Blick zu unseren Freunden hinüber. Die beiden waren immer noch in ihr Gespräch vertieft, und Lucien fuhr mit einer fast schon beängstigenden Aufmerksamkeit für den Verkehr. Also, den draußen.

Was denkst du da?“, mischte sich meine Vernunft ein. „Hier drinnen gibt es und wird es keinen Verkehr geben!“ In ihrer Bestimmtheit war sie von fast lächerlich. Aber recht hatte sie. Ich dachte echt nur Stuss.

Ich sah wieder zu Adrian. Und dachte gar nichts mehr. Stattdessen versank ich im Gold seiner Augen. „Blubb“, machte mein UBS.

„Ich weiß das alles“, erklärte er, und holte mich zurück.

„Aber es ist nicht so leicht, es zu akzeptieren. Und mit diesem ‚Teddy‘ gehst du so selbstverständlich um. Und er kennt dich länger als ich.“

„Tja, dann weißt du ja, wie es mir beim Gedanken an ‚Cori‘ geht“, erwiderte ich etwas schnippisch und verlieh mir selbst eine Goldmedaille, weil ich es zu Stande gebracht hatte, etwas Sinnvolles von mir zu geben.

Er musterte mich. „Aber du weißt, dass du nicht auf sie eifersüchtig sein musst.“

„Ja. –Und wer hat was von Eifersucht gesagt? Oh, und: Gleichfalls.“

Er lachte. Das Kraftfeld zerplatzte. Iatsu und Lucien verstummten abrupt. „Endlich! Mehr belanglose Themen wären mir beileibe nicht eingefallen“, seufzte Lucien.

Iatsu verpasste ihm eine kleine Kopfnuss. Lucien gab ein Knurren von sich, das jedoch nicht halb so überzeugend klang wie Adrians. „Hey! Nur, weil ich nett zu einem Mädchen bin, und mich von einem Kadri herumkommandieren lasse, heißt das nicht, dass ich plötzlich nett bin und man mir beliebig Kopfnüsse geben kann. Die beiden genießen bei mir einen Sonderstatus, weil ich Sarah mag, und Adrian ihr Gefährte ist, und weil sie das Zeichen Nuriels tragen darf. Adrian ist außerdem der Schützling und vermutlicher Erbe eines gewissen mächtigen Wesens, was eine Handlung gegen ihn doppelt unerfreulich machen würde. Du hast keinen Sonderstatus, Gestaltwandler-Kadri, also sieh dich vor!“

Iatsu schien tatsächlich kurz verunsichert, ehe er wieder grinste. Das bewies mal wieder, dass Lucien verdammt mächtig war. Allerdings bezweifelte ich, dass er einfach mal eben einen Gestaltwandler umbringen konnte, ohne dass es Folgen hätte. Allerdings wohl keine so schweren Folgen, dass er es sich nicht leisten könnte.

„Du bist ein Kadri?“, wandte ich mich verwundert an Iatsu.

„Früher“, erwiderte er. „Jetzt nicht mehr. Ich habe aufgehört, als ich eine Familie gefunden hatte. Jetzt arbeite ich nur noch in einer der normalen Firmen, die Cyril gehören.“

Ich musste lächeln und sah dann zu Adrian. Ob der wohl auch seinen Job als Kadri aufgeben würde, um mehr für mich da, und nicht ständig der Gefahr getötet zu werden ausgesetzt zu sein?

Wohl eher nicht“, gestand ich mir selbst ein, während Lucien erklärte: „Einmal Kadri, immer Kadri.“

Adrian war der Besitzer einer Kadri-Firma, als Cyrils Adoptivsohn innerhalb des Kadri-Krieger-Ordens verdammt einflussreich und galt unter den Paras als Stellvertreter des respekteinflößenden weißhaarigen Cyrils, der mich immer an einen Greifvogel denken ließ. …Der Gedanke an Vetternwirtschaft lag nicht fern. Und sicher war Adrians ‚Job‘ folglich nicht so leicht an den Nagel zu hängen.

Und wenn er nur den Bürojob machen würde?“

Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Und ich wollte es auch gar nicht. Ich konnte es verstehen, wenn Adrian seinen inoffiziellen Job nicht aufgeben wollte. Schließlich vermisste auch ich den Kampf bereits, nun, da ich so lange nicht mehr den wöchentlichen Kampfkurs besucht hatte, der mir sonst immer das sichere Gefühl einer Waffe in der Hand gegeben hatte, das Fließen der Bewegungen, und das Wissen, dass ich zu allem fähig war. Es war fast wie eine Droge.

Nicht so gut wie ein Kampf gegen einen ebenbürtigen Gegner natürlich. Die Stunden mit Adrian hatte mir das damals deutlich in Erinnerung gerufen. Aber dennoch süchtig machend. Ich wusste schon jetzt, dass ich bald wieder zum Katana greifen würde. Schon allein, um die Muskeln, die in den letzten Wochen vernachlässigt worden waren, wieder zu stärken.

Nun betrachtete ich Lucien. Mein Blick fiel auf seine Schulterblätter, die nicht vom hinten tief ausgeschnittenen T-Short verdeckt wurden, und mir schoss durch den Kopf, dass dort wohl seine Flügel waren, wenn er sie zeigte. Vermutlich war das T-Shirt deswegen dort so tief ausgeschnitten. Wäre echt blöd, wenn bei der Verwandlung immer die Klamotten dran glauben müssten.

Apropos Flügel, da war doch was…“

„Adrian, hat Corinna nicht irgendwas über Flügel gesagt?“

Adrian sah auf mich herunter. „Ja. Du hattest in diesem Haus bei den Abtrünnigen plötzlich Flügel. Die sind allerdings verschwunden, als du das Bewusstsein verloren hast.“

Ich runzelte die Stirn. Auch daran fehlte mir jede Erinnerung.

„Auf deinen Schulterblättern prangt übrigens ein kleines, silbernes Flügelpaar. Sieht aus wie ein Tattoo.“

„Was?! Und das sagst du jetzt erst?!“

„Ich war davon ausgegangen, dass sie dir inzwischen aufgefallen sein würden. Immerhin duschst du regelmäßig.“

„Und?! Ich betrachte mich danach nicht selbstverliebt im Spiegel, nur damit du’s weißt, okay? So eine kurze Zwischenfrage ob ich es inzwischen bemerkt hätte wäre-“

„Du hattest Flügel?“, unterbrach Lucien meine Tirade verwundert und runzelte die Stirn, als würde ihn das höchst nachdenklich machen. Die grüblerische Miene stand ihm. Allerdings sah der dunkle Engel die ganze Zeit gut aus.

Ich fragte mich, ob das Teil seines Images war. Es hieß doch immer, Luzifer sei die pure Versuchung, oder so ähnlich. Aber Lucien war ja nicht Luzifer. Mir schwirrte der Kopf.

Hallo? Flügel? Tattoo? Komm mal zurück zum Thema!“, befahl mein UBS. Richtig.

Mit gehobenen Augenbrauen sah ich Adrian an. „Was, wenn die Bullen jetzt auch noch fragen, wo ich das illegale Tattoo herhabe? Die Direktorin wird sicher nicht behaupten, sie hätte es mir erlaubt! Und wir haben schon so genug Probleme!“

„Du hast Probleme mit den Behörden? Das wird ja immer besser!“

Ich warf Lucien einen bösen Blick zu, der allerdings nur seinen Hinterkopf traf.

„Beruhige dich“, sagte Adrian. Er klang belustigt. Belustigt!

Ich starrte ihn an.

„Das ‚Tattoo‘ ist nur sichtbar für Wissende. Mächtigere Wissende, um genau zu sein, weil es mit einer Art Schimmer belegt ist. Kein Sehender wird es sehen, und kein Übernatürlicher zufällig.“

Erleichtert lächelte ich. Puh! „Wieso hast du das denn nicht gleich gesagt?“

„Du hast diese Angewohnheit, ihn dauernd zu unterbrechen“, erklärte Iatsu an Adrians Stelle.

Ich hörte, wie Lucien seinen Mund geräuschvoll wieder schloss. Anscheinend war es allen aufgefallen.

„Sorry“, murmelte ich.

Adrian lächelte nur. Und ich war sicher, dass das Schalk war, der da in seinen Augen blitzte. Die Spülmaschine würde er aber sowas von übernehmen müssen.

 

10: Chauffeurdienst

 

 

Lucien hielt nur einen Meter entfernt von der Eingangstür der Mohnblume. Und der eine Meter lag auch nur an der Breite des Bürgersteigs, sonst hätte er wohl wirklich direkt vor der Türöffnung geparkt.

Ich löste mich widerwillig von meinem Gefährten. Im Vorbeigehen lächelte ich Iatsu an. „War schön, dich kennenzulernen. Danke für deine Hilfe. Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder“, sagte ich aufrichtig.

Er nickte mir zu. „Ebenfalls.“

Ich sah zum Fahrer. „Danke, Lucien. Du bist genau im richtigen Moment vorbeigerast.“

„Timing ist meine Spezialität“, erklärte der und lächelte mich an. „Gern doch. Mit dir ist es einfach nie langweilig, Sarah.“ Er zwinkerte.

Ich verdrehte grinsend die Augen und warf Adrian ein letztes richtiges Lächeln zu, ehe ich die Tür aufschob und hastig hinaus sprang.

Mit zwei Schritten war ich über den Bürgersteig und die Eingangsstufen hinauf. Winkte noch kurz und verschwand hastig in der Blume. Ich wettete, dass irgendwelche Kameras das Ganze gefilmt hatten. Innen an die Tür gelehnt hörte ich, wie der Motor des Vans aufheulte und der Wagen davonbrauste. Ich schüttelte grinsend den Kopf. Lucien fuhr wie der Teufel persönlich.

Als ich schnelle Schritte hörte blickte ich auf. Avery kam als Erstes in Sicht. Dicht gefolgt von Jem und dahinter Andrew. Ihnen folgten James, Nate, und etwas langsamer auf Krücken Juni. Ob noch jemand kam, sah ich nicht mehr, denn Jem umarmte mich sofort fest, genau wie Ave, Nate und James. Wobei nur Jem mir die Sicht versperrte, denn er war von den Vieren der Einzige der mich überragte. Von einem Zehnjährigen oder noch Jüngeren Kids in Sachen Körpergröße ausgestochen zu werden hätte mir auch nicht sonderlich gefallen.

Gruppenumarmung!“, jubelte meine Libido.

„Sarah!“ „Endlich!“ „Du bist wieder da!“ „Wir haben uns solche Sorgen gemacht!“ „Die Ärzte wollten uns nicht zu dir lassen!“ „Wir haben in den Nachrichten deine Entlassung gesehen.“ „Wer war das in dem Van? Wirklich Lucien Hell, dieser große Geschäftsmann?“ „Wir müssen dir sooo viel erzählen.“ „Was ist passiert?“ „Wie geht es dir?“

Alle redeten wild durcheinander. Der Einzige der alles mit einem stillen Lächeln an die Wand gelehnt beobachtete, war Andrew.

Ich lachte. „Hey, Leute! Ich hab euch auch vermisst. Jetzt beruhigt euch mal wieder.“

Einer nach dem anderen lösten sie sich von mir und musterten mich. Avery, Nate und James glücklich, Jem genauso prüfend wie Andrew von seiner Wand aus, Juni unsicher, was wohl nicht nur an den Krücken lag. „Wir wär’s, wenn wir alle in mein Zimmer gehen und da reden?“, schlug ich vor.

Der Vorschlag fand Zustimmung und wir gingen nach oben. Auf dem Weg durch den Flur trafen wir auf die Direktorin, die „Willkommen zurück“ sagte, allerdings offensichtlich ohne es so zu meinen.

Die Grown kreuzte ebenfalls unseren Weg, die mich wie immer missgelaunt musterte. Irgendwie fand ich es schön, dass sich in der Mohnblume so gar nichts verändert zu haben schien. In meinem Zimmer setzten wir uns auf den Boden, nur Juni ließ sich,

die Krücken an den Schreibtisch gelehnt, auf meinem Schreibtischstuhl nieder.

 

„Was ist passiert?“, verlangte Ave ungeduldig zu erfahren.

Ich sah Juni an. Ich glaubte zwar, mich zu erinnern, ihr Gedächtnis gelöscht zu haben, aber ich wollte sicher sein. „Du kannst dich nicht erinnern?“, fragte ich deshalb.

Sie schüttelte den Kopf. „Sie nennen es Gedächtnisverlust nach einem Trauma. Gibt auch irgendeinen Fachbegriff dafür. Die Ärzte meinen, dass vielleicht alles wiederkommt.“ Sie schien jedoch eher daran zu zweifeln.

„Hm.“

„Kannst du dich denn noch erinnern?“, fragte Ave. Ihre Stimme war nun nicht mehr ungeduldig, sondern ruhig. Ihr war der Ernst des Gesprächsthemas wieder bewusst geworden.

„Nicht an alles“, erwiderte ich vage.

Jem merkte, dass ich nichts erzählen wollte, und wechselte das Thema. „Die Presse hat dauernd die Story gebracht. Über die Rettung und den Tod der Mörder.“

James erklärte: „Es ging durch alle Zeitungen.“

„Unser Lieblingsbild ist das, wo dieser Typ dich in seinen Armen aus dem Haus trägt“, informierte mich Ave. Beim Wort ‚Typ‘ seufzte sie betont verträumt und blinzelte mir zu.

Als ich mir das beschriebene Bild vor Augen führte, konnte ich mir vorstellen, was die Presse daran so begeistert hatte. „Die Leute hatten sich gerade wieder etwas beruhigt, als die Nachricht über deine Entlassung kam“, erzählte Nate.

„Zuerst kam die Nachricht, dass du aufgewacht bist“, fügte James mit einem Blick zu Ave an.

„Sie haben uns die ganze Zeit nicht zu dir gelassen! Nicht bevor und nicht nachdem du aufgewacht bist. Die Ärzte wollten Ruhe für dich. Aber die Geschenke sind doch angekommen, oder?“, schaltete sich wieder Ave ein, James‘ Blick ignorierend.

„Ja. Sie sind toll.“

„Wo sind sie denn?“

„Adrian verwahrt sie für mich.“

„Wir haben die Entlassung live gesehen“, wechselte Nate das Thema. Seine Augen funkelten aufgeregt. „Wer war das in dem Van, der euch zur Flucht verholfen hat? Das waren voll coole Manöver!“

„Ein Freund. Und lass dir nicht einfallen, das je nachzumachen!“, befahl ich streng. Schon beim Gedanken daran bekam ich Gänsehaut.

Es war eine Sache, wenn solche ‚coolen Manöver‘ ein unsterblicher, mehrere Jahrtausende alter Engel vollführte. Aber ein Normalsterblicher, momentan zehnjähriger Junge?

Und dann auch noch so einer wie Nate? M-mh, kam nicht in die Tüte!

„Ja, ja“, murrte er genervt.

„Und wer war der Typ bei Adrian, der dich von den Kameras abgeschirmt hat?“, fragte James.

„Lass mich raten“, ließ sich And erstmals vernehmen, „ein Freund.“

Kurz war es still. Unbehaglich still. Ich zog eine Braue hoch und sah ihn fragend an.

Er erwiderte meinen Blick. Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte er den Kopf ab und unterbrach so den Blickkontakt. Was war denn mit dem los? Der Gedanke an Iatsu schien ihm nicht zu gefallen.

Jem sah erst mich, dann ihn fragend an. „Naja, wir sind jedenfalls froh, dass du wieder da bist“, beendete er die Stille.

„Genau!“, bestärkte Ave.

„Aber jetzt lassen wir dich erst einmal zur Ruhe kommen. In zehn Minuten gibt’s Abendessen“, fuhr Jem fort.

Damit erhob er sich und legte mir kurz die Hand auf die Schulter. Ich sah fragend zu ihm hoch, und dann kurz zu And, ehe ich wieder ihn ansah. Er zuckte die Schultern und formte mit den Lippen „Später“. Was war denn los?

Auch wir anderen standen auf, und einer nach dem anderen verließ mein Zimmer.

And warf mir einen besorgt-düsteren Blick zu, ehe er Jem folgte. Juni war mit ihren Krücken die Letzte. Sie blieb kurz vor mir stehen. „Ich weiß zwar nicht mehr, was passiert ist, aber ich weiß, dass du mich gerettet hast“, stellte sie mit festem Blick klar. „Einige Details über die Sache sind durchgesickert. Es heißt, du seist freiwillig mit meinen Entführern gegangen, um mich zurückzuholen. Dabei wusstest du sicher, dass sie die Dunkelmörder sind. Das ist nicht selbstverständlich, dass du das für mich getan hast. Danke.“

„Juni, das ist-“, wollte ich abwehren, doch sie sprach weiter. „Ich bin mir sicher. Du musst mir nichts erzählen. Vielleicht ist es sogar besser, es vergessen zu haben.“ Ihre Augen wirkten dunkler. „Ich glaube mich vage an Schreie, Schmerz und ein merkwürdiges Gefühl zu erinnern. Und diese vagen Eindrücke reichen mir.“ Sie lächelte mich an. Es war nicht das offene Lächeln von einst. Und auch der Ausdruck in ihren Augen war anders.

Vielleicht würde sie nie wieder so werden wie früher.

Vielleicht hatten, nachdem schon der Verlust ihrer Eltern sie nicht umgehauen hatte, der Ernst, die Traurigkeit und die Ungerechtigkeit des Lebens auch sie eingeholt, und sie hatte zugelassen, dass sie sich bei ihr einschlichen. Aber vielleicht würde sie es auch überwinden. Sie musste ja nicht werden wie früher. Sie musste nur klarkommen.

Ich sah ihr nach, wie sie auf ihren Krücken neben Ave den Flur entlanghumpelte. Sie würde ganz bestimmt klarkommen. Avery würde gar nichts Anderes zulassen.

 

11: Frohe Kunde

 

 

Als es klopfte, waren gerade mal zwei Minuten vergangen. Höchstens.

Ich lag auf meinem Bett und reagierte nicht. Die Tür wurde trotzdem geöffnet. „Sarah?“

Ooch nee. Die Grown.“

„Ja, Mrs Grown?“ Ich setzte mich auf und spähte zu der Frau hinunter, die im Türrahmen stand und missgelaunt zu mir heraufschaute. An ihrem verkniffenen Gesichtsausdruck war abzulesen, wie wenig es ihr gefiel, dafür den Kopf in den Nacken legen zu müssen und wie wenig ihr mein Anblick generell zusagte. Ihretwegen hätte ich wohl für immer im Koma liegen können. Sollte sie sich doch mit Cori zusammentun!

„Das FBI ist hier. Sie warten im Büro der Direktorin.“ Sie schien nicht sicher, ob sie Genugtuung angesichts dieser Nachricht, oder Erniedrigung empfinden sollte, dass sie für diesen Dienstbotengang bestimmt worden war, weswegen sie ein nicht ganz so mürrisches Gesicht wie sonst machte, dies jedoch durch eine sehr aufrechte, respektbietende Haltung auszugleichen versuchte. –Die aber eben wegen des besagten Aufschauens irgendwie ineffektiv blieb.

Ich hätte mich mehr darüber gefreut, wären ihre Worte nicht gewesen. „Das FBI?“

„Die Agents Morgan und Martin“, sagte sie mit hörbarem Vergnügen.

Ich überlegte, ob ich wohl damit durchkäme, wenn ich sagte, ich wolle sie nicht sehen. „Vermutlich eher nicht.“

„Ich komme“, seufzte ich und begann aus dem Bett zu klettern. Konnten die mich nicht in Ruhe lassen?

Andererseits war es schon ein kleines Wunder, dass sie mich erst jetzt sprechen wollten. Eine Woche, nachdem ich erwacht war. Ob ein plötzlicher Anfall menschlichen Einfühlungsvermögens in Form von Rücksichtnahme der Grund war?

Nee“, entschied ich.

 

Im Büro warteten nicht nur die Agents, sondern auch die Direktorin. Ich machte mir jedoch keinerlei Hoffnung auf moralische Unterstützung ihrerseits.

„Da bist du ja“, begrüßte sie mich, nachdem ich nach einem kurzen Klopfen eingetreten war. Das „das wurde ja auch Zeit“ schwang deutlich in ihrem Tonfall mit. Sie wandte sich an die Agents. „Sie gehört Ihnen. Sarah, ich erwarte, dass du alles sagst, was du weißt, um so hilfreich wie möglich zu sein.“ Ich nickte gezwungener Maßen und sie rauschte hinaus.

Was für eine warmherzige, fürsorgliche Persönlichkeit.“ …Die mich mit den beiden nun allein gelassen hatte.

Es war das erste Mal, dass ich vollkommen allein mit ihnen war. Sonst waren immer wenigstens Adrian oder Anian dabei gewesen, ein Polizist oder ein Zeuge.

„Sarah“, Agent Morgan lächelte mich falsch an. „Wie geht es dir?“

Sie gab mir keine Gelegenheit zur Antwort. Vermutlich hatte sie ohnehin meine Krankenakte gelesen. Und die Ärzte befragt.

„Ms Schneider war so freundlich, uns ihr Büro zur Verfügung zu stellen.“ Die Agentin setzte sich auf den Schreibtisch der Direktorin und deutete einladend auf den Stuhl, der auf der anderen Seite des riesigen, scheußlichen Ungetüms von Schreibtisch stand, den sich Ms Schneider nach ihrem Amtsantritt angeschafft hatte. Das Gleiche galt für den Stuhl, der nicht halb so bequem war wie er aussah. Das wusste ich aus Erfahrung.

Dieser Eindruck könnte allerdings auch an den Erlebnissen, genauer: Standpauken, Vorwürfen und Anschuldigungen, liegen, die ich auf diesem Stuhl über mich hatte ergehen lassen müssen. Jetzt kam also noch ein FBI-Verhör hinzu.

Man soll nie aufhören, Erfahrungen zu sammeln.“

Ich setzte mich.

Martin lehnte sich an die Wand neben der Tür. Die beiden begannen stillschweigend, mich zu fixieren. Ich spürte Martins Blick im Nacken, starrte jedoch unverwandt Morgan an. „Was kann ich für Sie tun?“, erkundigte ich mich, als wäre das hier ein Laden, und sie meine Kunden. Und in gewisser Weise würde ich ihnen ja auch etwas verkaufen. Meine Geschichte nämlich.

„Wir haben ein paar Fragen an dich“, begann sie.

„Was Sie nicht sagen“, bemerkte ich trocken.

„Was genau ist passiert? Wie haben sie dich geschnappt?“, meldete sich Martin hinter mir ungeduldig zu Wort.

„Ich war mit Adrian verabredet. Auf dem Weg hat mich ein Mann abgepasst, der sich als Yake vorstellte. Er sagte, ich solle mitkommen, wenn ich nicht wollte, dass Juni etwas zustößt. Natürlich wollte ich das nicht, also bin ich mitgegangen.“

„Und du hast ihm so ohne Weiteres geglaubt, dass er Juni in seiner Gewalt hatte? Kamst du nicht auf die Idee, es könnte ein Bluff sein?“, fragte Martin verächtlich.

„Doch, sicher. Aber er war recht überzeugend, und bevor ich aufgebrochen war, war Juni noch nicht hier in der Blume. Das war ungewöhnlich.“

„Es war schon recht spät, als du gingst, nicht wahr?“, fragte Morgan.

Ich zuckte die Schultern. „Ja. Aber ich war ja verabredet.“

„Um diese Zeit? Deine Abwesenheit wäre beim Abendessen aufgefallen. Du bist ungefähr um zehn nach sechs aufgebrochen, laut Avery Kingsley. Und das Abendessen gibt es um halb sieben. Du willst uns doch nicht erzählen, dass dein Treffen nur zwanzig Minuten in Anspruch genommen hätte.“

„Nein“, gab ich zu. „Vermutlich wäre es tatsächlich aufgefallen.“

„Es war dir also egal“, stellte Morgan kopfschüttelnd fest.

Ihr Blick sagte deutlich: ‚Du wirst dir noch deine Zukunft ruinieren mit dieser Einstellung.‘

„Wo wolltest du dich mit Adrian treffen?“, fragte Martin. Er klang nicht halb so verurteilend wie seine Partnerin.

„Am D.“

„In dem Café, in dem du eineinhalb Jahre gearbeitet hat, nur um dann fristlos zu kündigen? Mr Dawson wäre sicher nicht begeistert gewesen, euch zu sehen.“

„Erstens, was Mr D begeistert und was nicht, ist mir ziemlich egal. Zweitens, er ist ein Arschloch und schuldet mir noch zwei Monatsgehälter. Und drittens: Ich sagte ‚am‘ wie in beim oder vor dem D, nicht ‚im‘“, stellte ich klar. Bisher lief dieses Verhör eigentlich ganz gut.

Martins Blick verdüsterte sich, wie ich mit einem kurzen Blick über die Schulter feststellte.

„Na schön“, sagte Morgan. „Du bist also mit diesem Yake gegangen. Weiter!“

„Er brachte mich zu dem Haus in der S.S.“ Auf den fragenden Blick schob ich nach: „South Side. Dort wartete bereits seine Partnerin. Capria, wie sie sich vorstellte.“ Jetzt wurde es schwieriger. Ich wählte meine Worte nun noch sorgfältiger und versuchte, mir genau das nicht anmerken zu lassen. „In der Wohnung war auch Juni, wie Yake gesagt hatte. Capria meinte, wenn ich mich nicht wehre, würden sie sie danach freilassen. Allerdings hatte ich da so meine Zweifel, vor allem, weil Juni nicht wirkte, als würde sie in nächster Zeit irgendwo hingehen können.“

So lange bei der Wahrheit bleiben wie möglich lautet die Devise.“

„Sie war ohnmächtig?“

„Nein, sie sah eher vollkommen apathisch aus.“

„Was wollten sie mit dir machen?“, fragte Morgan behutsamer.

„Ich weiß nicht genau.“

„Sie haben es dir also nicht gesagt?“

„Nein. Und ich wollte nicht unbedingt fragen.“ Ich schnitt eine Grimasse. „Schließlich wusste jeder, was mit den Opfern passierte.“

„Du bist also automatisch davon ausgegangen, dass sie die Chicagoer Mörder sind?“, hakte Martin nach.

„Ja. Ich wusste niemanden sonst. Außerdem sagte Capria, dass es ja wie ein Wink des Schicksals gewesen wäre, dass ich Gale fand und am nächsten Fundort auch auftauchte.“

Martins folgendes Schweigen ließ mich vermuten, dass ich ihn überzeugt hatte.

„Und was ist dann passiert?“, forderte mich Morgan zum Fortfahren auf.

„Ich hab versucht, zu fliehen. Aber sie haben mich geschnappt, ich wehrte mich, ein Schuss fiel…“ Ich machte eine kurze Pause, als würde mich das Erzählen sehr mitnehmen. „Ich hörte Glas splittern, dann hielten sie mich am Boden, und Capria verdrehte meinen Fuß.“ Diesmal musste ich das kurze angestrengte Schlucken nicht spielen. Dann sah ich auf. „Und das war’s. Danach ist alles weg.“

Einen Moment starrte Morgan mich an, als könnte der bloße Blick mich dazu bewegen, ihr mehr zu erzählen. Da konnte sie lange eins auf Hypnotiseurin machen. Ich begegnete ihrem Blick mit neutraler Miene. Sie seufzte. „Was du sagst, stimmt mit den ärztlichen Befunden überein. Gedächtnisverlust.“

„Du wirst uns informieren, falls die Erinnerung wiederkommt!“, befahl Martin.

„Die Karte hast du ja noch“, fügte Morgan noch überzeugt hinzu.

„Klar“, seufzte ich, und wusste als Einzige, dass sich diese Antwort nur auf die Feststellung Morgans bezog.

„Gut. Anderes Thema: Dir ist bewusst, dass Mr Gavin Cyril versucht, die Vormundschaft für dich zu erlangen? Dich zu adoptieren?“

„Ja“, erwiderte ich, überrascht, dass auch sie das schon wussten.

Sie sind das FBI. Was habe ich erwartet?“

„Und?“

„Er ist ebenfalls Adrians Vormund“, stellte Morgan fest.

„Ich weiß“, erklärte ich ungeduldig.

„Adrian war noch vor uns am Tatort, nachdem wir über den Schuss in dem verwaisten Haus informiert worden waren“, ging sie scheinbar zu einem anderen Thema über.

Ich fragte mich immer noch, wer die Polizei gerufen hatte. Doch nicht wirklich besorgte Nachbarn?

„Und?“, wiederholte ich mich.

„Ist das nicht seltsam? Er ist schon wieder vor uns bei dir gewesen“, brachte mich Morgan etwas genervt auf die Spur, die ich schon vorher erkannt hatte.

„Er hat sich halt Sorgen gemacht, als ich nicht auftauchte.“ Ich zuckte die Schultern. „Ist doch klar. Und da hat er sich eben als Suchgebiet das ausgesucht, das ihm am logischsten erschien.“

„Die South Side“, stellte sie fest.

„Richtig.“

„Und hat dich innerhalb weniger Minuten gefunden? In diesem riesigen Viertel?“

„Vermutlich hat er den Schuss gehört, was weiß ich.“

„Schüsse in der SouthSide sind nichts Ungewöhnliches“, mischte Martin sich ein.

Ich wandte ihm genervt den Kopf zu. „Etwas Alltägliches aber nun auch wieder nicht. Und woher sollte er das denn wissen? Okay, ich weiß auch nicht, wie er mich so schnell gefunden hat. Aber ich bin froh darüber. So. Sind Sie jetzt zufrieden?“

Er schnaubte.

„Sarah. Worauf wir hinaus wollen, ist, dass er dir vielleicht gefolgt ist. Für wahrscheinlicher halten wir jedoch, dass er dir einen Peilsender oder Ähnliches zugesteckt hat, um immer zu wissen, wo du bist. Dadurch hat er dich so schnell gefunden.“

„Das ist doch lächerlich!“, rief ich und warf die Arme in die Luft. Dann besann ich mich eines Besseren. Es war die einfachste Erklärung, die sie dafür finden konnten. Wieso sie abstreiten, wo es doch keine andere logische, unmagische gab? „Schön, okay. Vielleicht hat er das. Aber das ist doch jetzt egal. Es war besser so, schließlich hat er mich gerettet.“

Die Agentin nickte. „Stimmt. Das hat er. Du hast nicht zufällig eine Idee, wie er das geschafft hat?“

Ich starrte sie an. Wieso musste sie mir solche Fragen stellen? „Ähm, keine Ahnung, ich weiß es nicht mehr. Aber er ist gut in Kampfsport. Wir haben da eine AG zusammen.“

„Das wissen wir“, schaltete sich mal wieder Martin ein, „Eine weitere Gemeinsamkeit. Aber du bist ebenfalls gut in Kampfsport. Wieso konntest du sie also nicht besiegen?“

Gute Frage – nächste Frage, bitte! „Vielleicht ist es Ihnen nicht aufgefallen, aber ich bin immer noch ein Mädchen. Ich bin kleiner als die beiden es waren. Auch kleiner als Adrian.Und ich musste auf Juni Rücksicht nehmen. Sie hatten mich dauernd im Blick. Es ergab sich einfach keine gute Gelegenheit. Und Adrian ist besser als ich.“ Beinahe hätte ich 'erfahrener' gesagt.

„Aber die beiden hatten mindestens eine Pistole“, gab Morgan zu bedenken.

„Der Überraschungsmoment kann eben manchmal recht nützlich sein“, meinte ich nur, „Das haben Sie sicher schon häufiger festgestellt. Bei Razzien und so.“

„Sicher…“, begann Morgan, wurde jedoch von Martin unterbrochen. Der Agent kam mit einigen Schritten zu uns, ging um den Schreibtisch herum, sodass er jetzt neben seiner Partnerin stand, stützte die Hände auf die hölzerne Tischplatte und beugte sich zu mir vor. „Es scheint dich nicht im Geringsten zu stören, dass dein ‚Freund‘ dir vielleicht ein Ortungsgerät zugesteckt hat. Ist dir klar, dass er damit immer weiß, wo du bist? Jederzeit? Das ist kein Kavaliersdelikt, Mädchen, das ist Kontrollsucht! Als nächstes wird er vielleicht versuchen, dir zu befehlen, mit wem du deine Zeit verbringen darfst und mit wem nicht! Das ist kein Spiel!“

Überrascht von diesem Ausbruch lehnte ich mich zurück und starrte ihn an. „Warum werde ich dauernd auf ein ‚Mädchen‘ reduziert?“

Er starrte zurück, eine Mischung aus Ärger, Überraschung und Sorge stand in seinen Augen, die jedoch von dem üblichen mürrischen Ausdruck rasch wieder verborgen wurde. Ich überlegte, ob ich Martin nicht vielleicht sogar sympathischer finden sollte als Morgan. Er war gezwungen, eine Rolle zu spielen, um die Bösen zu schnappen. Und er tat es sehr gut, zumindest besser als Morgan. Aber dahinter schien auch er zu menschlichen Emotionen fähig zu sein. Schade, dass wir nicht auf derselben Seite standen.

Aber er würde mir ohnehin nicht zuhören, wenn ich ihm die Wahrheit erzählte. Er war niemand, der bereit wäre, sein Weltbild für unlogische Magie aufzugeben. Und auch ich hatte eine Rolle zu spielen. Was er wohl dazu sagen würde, dass ich selbst der Peilsender war? Adrian brauchte keine Elektronik, um mich zu finden. Das Band zwischen uns genügte. Ich könnte ihn ebenfalls immer finden, davon war ich überzeugt.

Außer, er wäre zu weit entfernt, oder das Band hätte eine Störung. Das war nun schon einige Male vorgekommen. Ich vermutete, dass es damit zu tun hatte, dass wir die Vereinigung noch nicht vollendet hatten. Deswegen hatte ich es Adrian gegenüber auch nicht angesprochen. Aber er musste es ebenfalls gemerkt haben.

„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich bin kein Mädchen, das sich befehlen lässt, was es tun oder lassen soll. Ich bin aus freien Stücken mit Adrian zusammen, weil ich es will. Und wenn ich es nicht mehr will, werde ich mit ihm Schluss machen. Wenn ich Hilfe brauche, sage ich Bescheid.“

„Das ist gut“, sagte Morgan und blickte Martin mit kurzem Stirnrunzeln an. „Du kannst mich jederzeit…“

„Und dass er zwei Menschen allein, und scheinbar ohne jede Mühe umgebracht hat, wie findest du das?“ Martins Stimme war wieder normal –oder so, wie ich sie kannte. Kalt. Herausfordernd. Er spielte wieder seine Rolle.

Morgans Stirn glättete sich. War es das ungewohnte und unerwartete Verhalten, das sie irritiert hatte, oder konnte sie mit dem Mann hinter der Maske nicht umgehen?

Ich zögerte kurz vor der Antwort. Was Martin zweifellos als kleinen Sieg verbuchte. „Mir gefällt es nicht, aber er war gezwungen, es zu tun.“

„Um dich zu retten.“

„Ja. Und Juni. Und woher wollen Sie wissen, dass es ihm keine Mühe bereitet hat? Vielleicht hat es das.“

Es hörte sich verdammt dünn an. Sehr wenig überzeugend.

„Er hat zwei Menschen umgebracht. Ohne körperliche Schäden davonzutragen. Einfach so.“

Ich starrte ihn durchdringend an. „Wenn Sie vor Adrian vor Ort gewesen wären, hätten Sie die Wohnung doch gestürmt und geschossen, sobald Sie die Situation erkannt hätten. Wollen Sie mir erzählen, dass es Ihnen Mühe gemacht hätte, abzudrücken? Vor Ihnen habe ich trotzdem keine Angst. Wieso sollte ich dann welche vor Ade haben?“

Tja. Da hatte ich ihn kalt erwischt.

„Das ist etwas Anderes“, versuchte Morgan mich zu beruhigen, die Ehre Martins zu wahren und die Situation zu retten. „Wir sind Agenten des FBI. Wir wurden für solche Situationen ausgebildet, haben die nötigen Qualifikationen –und auch die Genehmigungen. Ich denke, wir sind uns eilig, dass das korrekte Verhalten gewesen wäre, auf uns zu warten, und nicht einfach reinzustürzen. Wenn ich daran denke, was da alles hätte passieren können.“

Oh ja, sie hätte bestimmt nächtelang nicht schlafen können“, bemerkte mein UBS sarkastisch. Ich musste mir ein Lächeln verkneifen und ließ meine Stimme ungeduldig klingen. „Aber es ist ja nichts passiert. –Hören Sie, wieso fragen Sie das alles nicht Adrian?

Er könnte sicher besser antworten als ich.“ Gleichzeitig hoffte ich, dass sie sich den Vorschlag nicht zu Herzen nahmen.

„Sicher. Wir haben bis jetzt nur keine Gelegenheit dazu gefunden.“ Das war lächerlich. Sie hatten sechs Wochen Zeit gehabt und wären vom Krankenhauspersonal sicher nicht aufgehalten worden, wenn sie zu uns gewollt hätten, nur um mit Adrian zu sprechen. Das ‚Keine-Aufregung‘-Gebot hatte sich nicht auch auf ihn erstreckt. Was hatten sie so lange gemacht? Waren sie auf dem Lake Michigan herumgesegelt? Hatten sie wirklich schlecht Golf gespielt?

„Und wir wollten zuerst mit dir reden“, fügte sie noch hinzu.

Wieso das denn?“

Keine Ahnung.“

„Wieso haben Sie das nicht im Krankenhaus getan?“

„Wir wurden aufgehalten“, brummte Martin.

„Von den Ärzten?“, fragte ich ungläubig.

„Von einer klaren Anweisung höherer Stelle“, antwortete Morgan.

Oo-haaa. Okay, dann muss ich das zurücknehmen. Sie wurden eben doch aufgehalten.“

Morgan versuchte abzulenken. Zurecht vermutete sie hinter der ‚Anweisung höherer Stelle‘ wohl Adrian oder Cyril und wollte verhindern, dass mir dieselbe Erleuchtung kam. Damit ich sie bloß nicht anrief, um die Agenten hier loszuwerden. „Wo wir gerade dabei sind, wer war es, der euch abgeholt hat? Der in dem Van? Dir muss da drin ja ganz schlecht geworden sein.“

Also wussten sie vermutlich schon, wer Iatsu war, weil sie nicht nach ihm fragten.

Ich sah sie groß an.

„Er wird wegen einigen Verkehrsdelikten gesucht“, setzte Martin hinzu.

Wieso bloß?“

„Ein Freund Adrians“, antwortete ich. „Name?“, bellte Martin. „Ähm…“ Würde Lucien es mir übel nehmen, wenn ich es ihnen sagte? „Irgendwas mit L…“

Der Van musste ihm gehören. Das, oder er hatte ihn geliehen. Und auf irgendeiner Überwachungskamera war er sicher gut zu erkennen. Und Kameras musste es irgendwo auf unserer Strecke geben. Wir waren schließlich mindestens einmal auf einer Hauptstraße gefahren, und das hier waren immer noch die Vereinigten Staaten von Amerika. Also würden sie es eh rauskriegen. „Lucien Hell“, sagte ich mit einem ‚Ach, jetzt ist es mir doch noch eingefallen‘-Lächeln.

Die Reaktion war großartig. Die beiden tauschten einen verblüfften Blick, zückten gleichzeitig ihre Handys, nur um nochmals einen Blick zu wechseln. Darauf steckte Morgan ihres, mit einem kurzen Augendrehen, das deutlich ‚Männer!‘ sagte, wieder weg, während Martin sich an eins der Regale neben dem Schreibtisch lehnte und mit fliegenden Fingern eine SMS oder E-Mail zu tippen begann.

Ich sah wieder zu Morgan. Die hatte die Arme auf den Tisch gelegt, ihre Fingerspitzen berührten sich.

„Ist irgendwas?“, fragte ich unschuldig.

„Das ist lediglich eine interessante Entwicklung. Lucien Hell ist uns nicht unbekannt.“

„Was für ein Zufall! Stimmt, jetzt weiß ich auch wieder, dass er es war, mit dem Adrian sich wegen dieser Geschäftsangelegenheiten treffen musste, als er nicht zur Schule kam!“, sagte ich großäugig. „Treib’s nicht zu weit!“, warnte meine Vernunft.

Martin brummte etwas Unverständliches dazu. Ich glaubte etwas zu hören wie: „Der taucht auch immer im unpassendsten Moment auf.“ Timing war eben Luciens Spezialität.

„Dir ist klar, dass die Presse dich weiter verfolgen wird? Dass sie über dich recherchieren werden?“

Ich nickte stumm. „Deswegen wollten wir dich fragen, ob es etwas gibt, das sie nicht erfahren sollen. Wir würden versuchen, es zu verhindern.“

Ich blinzelte sie überrascht an, meine Gedanken begannen zu rasen. Mir war klar, welche Antwort sie erwarteten. Meinen unausgesprochenen Schwachpunkt, den Morgan schon einmal angedeutet hatte. Aber wollte ich ihn wirklich aussprechen? Ihn damit zugeben? Nein. Definitiv nicht. Aber… „Wenn ein Journalist das bringt, bin ich geliefert.“

„Die Smiths“, flüsterte ich. „Sorgen Sie dafür, dass Sie es nicht herausfinden.“

Morgan tätschelte kurz meine Hand. Ihr Mitgefühl war falsch, und ich musste mich beherrschen, nicht die Hände wegzuziehen. „Es steht nicht in deiner Akte.“

Nein. Dafür hatte Mr Layer gesorgt.

„Aber in den Polizeiberichten“, stellte ich fest.

„Ja“, bestätigte sie.

Ich brauchte nicht noch einmal extra zu bitten.

„Wir werden versuchen, die Akten unter Verschluss zu halten. Aber wir können vermutlich keinen Einfluss auf eventuelle Zeugen, den damals ermittelnden Beamten oder die Smiths selbst nehmen.“

Niedergeschlagen nickte ich.

Sie werden tun, was sie können“, tröstete mich meine Vernunft.

Eine peinliche Stille entstand, in der Morgan mich ansah, Martin vor sich hin tippte, ich mit dem Fuß wippend auf die Uhr sah. Ich kam zu spät zum Abendessen.

Um die Stille zu brechen, sagte ich das Erste, was mir einfiel: „Wissen Sie, wenn Sie als Agenten nur Ihre Initialen verwenden würden, würden Sie M&M heißen. Verstehen Sie? M&M?“ Als mir bewusst wurde, was ich da schwafelte, klappte ich den Mund zu.

Morgan blinzelte verblüfft.

Martin hob den Kopf und sah mich mit einem Stirnrunzeln irritiert an. „Notiz an mich selbst: Nie wieder einfach drauflosquatschen.“

„Ich muss dann auch los“, erklärte ich und stand auf.

Morgan nickte. „Ich hoffe, die verlässt während der restlichen Ferien nicht die Stadt?“

Ich schnitt unwillkürlich eine Grimasse. „Welche Ferien?“

„Nun, es sind doch Sommerferien.“

„Vielleicht für die meisten, aber die Sunhill ist eine Privatschule. Dort dauern die Sommerferien nur sechs Wochen, nicht die üblichen zehn oder elf. –Obwohl die meisten gern schon eine Woche vor Ferienbeginn abhauen, sobald die letzten Prüfungen vorbei sind, um noch mehr herauszuholen. Im Gegenzug sind bei uns die kürzeren Winter- und Frühlingsferien länger und in der Zeit sind Reisen natürlich auch billiger. Nicht, dass es für die Familien der meisten Schüler darauf ankäme.“

„Das heißt, die Schule hat für dich eigentlich schon wieder begonnen?“

„Jepp. Ich habe fieser Weise die Ferien verschlafen und morgen werde ich wieder zur Schule gehen.“

„Die Ärzte haben dir Ruhe verschrieben. Du solltest dich nicht überanstrengen.“

Wow. Machte sie sich etwa doch Sorgen um mich? Ich seufzte. „Egal. Ich will endlich mal wieder was machen. Immer nur schonen ist so langweilig, und all meine Freunde werde ich auch sehen. Also dann, ciao, Agents Martin und Morgan.“ Als ich hinausging und die Tür hinter mir schloss, schenkte Morgan mir ein Lächeln, während Martin nicht mal von seinem Handy aufsah, über das er sich wieder gebeugt hatte. Irgendwie fand ich sein Verhalten ehrlicher.

 

12: Premieren

 

 

Ich klopfte und hoffte, sie würden mich nicht hier stehen lassen.

Glücklicherweise öffnete sich nach einigen Sekunden die Tür, und das mürrische Gesicht der Grown erschien im Spalt, dessen Ausdruck sich aus Enttäuschung darüber, dass mich die Agents nicht mitgenommen und in eine Gummizelle gesteckt hatten, noch verdüsterte. Aber sie ließ mich ein. Eine Premiere. Aber es war ja auch nicht meine Schuld, dass ich zu spät kam. In völliger Stille schritt ich zur Theke und nahm mir mein Essen.

Mary stand nicht dahinter. Auch das war eine Premiere. Sofort machte ich mir Sorgen.

Hinter mir schloss die Grown die Tür energischer, als es nötig gewesen wäre. Ich ging mit meinem Tablett zu unserem Tisch. Auf halbem Weg fing es an. Zuerst war es nur einer, dann stimmten andere ein. Als ich mich einmal im Kreis drehte, klatschten alle.

Selbst jene, die ich nur flüchtig kannte. Einige formten mit den Lippen sogar „Willkommen zurück“ oder reckten die Daumen in die Höhe. Alle lächelten.

Die Einzigen, die mit versteinerten Gesichtern reglos zusahen, waren die Betreuer und die Schneider. Mit vor Rührung weichen Knien und einem fassungslosen Lächeln im Gesicht nahm ich Platz. Das Klatschen ebbte ab, und alle aßen weiter, als wäre nichts passiert.

Aber es war etwas passiert. Etwas, woran wir uns alle noch oft erinnern würden.

 

Das Essen ging schweigend zu Ende, wie jeden Abend. Danach strömten wir alle hinaus. Einige klopften mir auf die Schulter und begrüßten mich. Ich und Jem zogen uns davor in mein Zimmer zurück. And verschwand in Richtung dritter Stock, wo sein und Jems Zimmer lag, offen auf unsere Gesellschaft verzichtend.

„Was ist denn mit ihm los?“, kam ich sofort zum Thema und baumelte mit den Füßen. Wir saßen auf meinem Bett, Schulter an Schulter. Es wäre unmöglich, mich an jedes Mal zu erinnern, an dem wir so hier gesessen, geredet und gelacht hatten. Manchmal hatten wir auch in friedlichem Schweigen nebeneinander auf die gegenüberliegende Wand gestarrt und unseren eigenen Gedanken nachgehangen. Heute kam es mir vor, als wäre das Ewigkeiten her und genau deshalb genoss ich das Gefühl der Einigkeit.

Plötzlich überkam mich der Wunsch, ihm zu erzählen, was wirklich los gewesen war. Was momentan vor sich ging. Aber war das eine so gute Idee? Nun, das würde ich später entscheiden müssen. Andrew kam vor meinem Beichtwunsch.

„Ich weiß es nicht genau“, antwortete Jem auf meine Frage. „Seit er deine Entlassung live gesehen hat, ist er so drauf. Und komisch war er schon vorher, als er von der Entführung, der Befreiung und dem Koma hörte. Aber da habe ich mir natürlich nichts bei gedacht.“ Er zuckte die Schultern und ich seufzte. „Soll ich mit ihm reden?“, fragte ich.

„Ich würde ihn fürs Erste in Ruhe lassen. Er benimmt sich unmöglich, und das weiß er auch. Da kann er nicht erwarten, dass du dich um ihn bemühst.“ Jem schürzte in seiner Missbilligung über And die Lippen. „Irgendwann wird er dir schon sagen, was läuft.“

Wieder seufzte ich. „Okay“, stimmte ich zögernd zu. Ich wusste, dass er vermutlich recht hatte. Aber es gefiel mir nicht. Mein Vorhaben, ihm alles zu erzählen – oder auch nicht – verschob ich auf unbestimmte Zeit. Aber etwas erzählen musste ich ihm doch. Weil er das Recht hatte es als Erster – okay, nach dem FBI – zu erfahren. „Jem“, begann ich zögernd, „der Vormund von Adrian, ein gewisser Gavin Cyril, hat die Vormundschaft für mich beantragt.“ Okay. Jetzt war’s raus. Gespannt wartete ich auf seine Reaktion. Er wandte alarmiert den Kopf und sah mich prüfend und gespannt an. „Bist du damit einverstanden?“, lautete seine erste Frage.

„Ja. Ich meine, ich finde Cyril zwar etwas einschüchternd, aber okay. Und ich liebe Adrian“, beim letzten Satz flüsterte ich nur noch und sah an ihm vorbei an die Wand. Es war das erste Mal, dass ich diese Tatsache gegenüber einem Menschen bekannte, den ich nicht von Adrians Unschuld überzeugen wollte.

„Und wenn Cyril die Vormundschaft zugesprochen wird, könntest du mit ihm zusammen überall hingehen, weil Cyril dir die Erlaubnis dazu geben würde“, stellte er langsam fest.

Ich nickte und sah wieder zu ihm. Er wirkte äußerlich entspannt, aber in ihm arbeitete es. „Okay. …Ich muss diesen Adrian so schnell wie möglich kennenlernen. Und auch diesen Cyril. Denkst du, er wird sie bekommen?“

„Die Vormundschaft? Ja.“

„Du bist dir ja ziemlich sicher. Gibt es etwas, was du noch nicht erzählt hast?“

Jede Menge.“

„Er ist gesellschaftlich ziemlich hoch gestellt“, erklärte ich.

„Höher als die meisten, deren Kinder die Sunhill besuchen?“, fragte er.

Ich nickte lediglich.

„Okay“, sagte er noch einmal. „Dann wirst du die Mohnblume verlassen.“

Ich schwieg. Als Adrian mir von seinem Plan, dass ich zu ihm zog, erzählt hatte, war es mir wie das Beste der Welt vorgekommen. Aber jetzt? Was war mit denen, die ich hier zurückließ? Mit Ave, Juni, den Zwillingen, Andrew und Jem? Meinem Zimmer? Mary? Ich machte mir nicht vor, dass ich sie trotzdem sooft sehen würde wie vorher. Das war schlicht unmöglich. Und was war mit der Direktorin und der Grown? Wer würde die Anderen gegen die verteidigen? Wer die kleine Rebellion fortführen, die bereits ihren Anfang genommen hatte, und zu deren Anführerin sie mich gemacht hatten?

„Vielleicht“, sagte ich schließlich. Ich würde das mit Adrian besprechen müssen.

Wir schwiegen. Beide wussten wir, dass die Direktorin mich wohl kaum weiter hier leben lassen würde, wenn ich auch anderswo unterkommen könnte, wo ich ihr nicht im Weg war, und weder Platz, noch Essen der Mohnblume einnahm.

„Wann erzählst du es den Anderen?“, fragte Jem irgendwann.

Ich ließ meinen Kopf auf seine Schulter sinken. „Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie ich es ihnen sagen soll. Vor allem James und Ave.“

„Das Prinzip der Adoption ist ihnen nicht unbekannt“, bemerkte er. „Wir haben alle schon Mitbewohner abziehen sehen.“ Ja. Das stimmte. Und einige dieser Mitbewohner waren wiedergekommen. Mit erloschener Hoffnung auf eine Familie in den Augen, still und schweigsam. Oder triumphierend.

„Ich weiß. Trotzdem.“

Er nickte. „Ich verstehe, was du meinst. Ich werde nichts sagen. Auch And nicht. Zumindest, solange er sich weiter so benimmt.“

„Danke.“

Er legte mir den Arm um die Schultern und erklärte mit deutlich weniger Ernst: „Aber du wirst dich darauf einstellen müssen, dass ich versuche, die beiden zu vergraulen, wenn sie mir nicht gefallen.“

Ich lachte und stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. „Alles klar. Ich werde Adrian sagen, er soll sich von seiner besten Seite zeigen und einen Anzug tragen.“

„Gut.“

Gähnend lehnte ich mich wieder an ihn.

„Man sollte meinen, du hättest die letzten Wochen genug geschlafen. Sag bloß, du hast eine Party im Krankenhaus gegeben.“

Ich schnaubte und gab einen empörten Laut von mir, als er aufstand und mein Bett runter kletterte.

Ich will die Stütze wieder!“

„Sag mal Pfütze“, forderte ich Jem auf.

„Kommt nicht in Frage“, kam es von unten. „Ich hab gerade keine zehn Minuten. In fünf wird die Grown hier aufschlagen. Und männliche Gäste sind in

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 12-04-2013
ISBN: 978-3-7438-7004-8

All Rights Reserved

Next Page
Page 1 /