Die Tochter des Sturms
1: Erwachen
von Maera Nyght, 2013
Für alle, die Bücher lieben: Ich hoffe, meins wird euch in seine Welt entführen.
Besonders für meine selbstgewählte Familie.
„Und in jener Nacht wird ein neuer Stern am Himmel aufgehen,
er wird erhellen die Dunkelheit,
und das, was in ihr verborgen.
Die Dunkelheit wird ein Licht hervorbringen:
strahlend hell, einzigartig und doch gleich,
und das, was aus der Auseinandersetzung, die entbrennen wird,
wenn sie sich zu erkennen gibt, hervorgeht,
wird unsere Welt verändern und auch andere Welten berühren.
Durch einen Zufall in unserer Welt, in die sie doch gehört,
an ihrer Seite ein Krieger, der für sie die Welt niederbrennen würde,
wird sie uns Dinge zeigen, die wir noch nie gesehen,
Dinge vermögen, die wir uns nicht vorstellen
und über Wissen verfügen, das sogar den Alten verwehrt bleibt.
Mögen die Götter ihr beistehen und sie in ihren Reihen willkommen heißen.“
Er starrte den Baum der Weisheit an. Im Garten war es dunkel, doch er rührte sich nicht.
Gerade hatten die Blätter, die seit Jahrtausenden im Wind raschelten, ihm eine Prophezeiung zugewispert, die die Welt verändern würde.
Wie lange war es her, seit sie überhaupt gesprochen hatten?
Wie lange, dass sie eine Prophezeiung hatten verlauten lassen?
Wieso taten sie es nun?
Ein Blitz erhellte die Nacht. Für ein paar Sekunden nur war alles gleißend hell, bevor die Dunkelheit erneut niedersank.
Er wusste, was es bedeutete.
Die Welt im Schatten würde sich verändern. Erschüttert werden. Durch sie.
Er war nicht sicher, wer damit gemeint war, aber er wusste, was alle vermuten würden.
Über ihm braute sich ein Unwetter zusammen.
Sie würden es erfahren. Die Prophezeiung ließ sich nicht verbergen. Nicht, wenn sie von diesem Baum stammte. Er hörte bereits, wie der Wind zu flüstern begann. Jeder, der sich darauf verstand ihm seine Geschichten zu entlocken, würde es erfahren.
Jeder.
Und die mächtigeren Sensitiven würden es träumen und so würden auch die, die diese Gabe nicht beherrschten, davon hören können.
Als der erste Donner über den Himmel rollte und die Ladung in der Luft schlagartig anstieg, traf er seine Entscheidung.
Sie würde sicher sein, solange er dafür sorgen konnte.
Sie würde von anderen beschützt werden und im Verborgenen bleiben, bis es so weit war. Und wenn sie es war, würde sie die Dunkelheit erhellen. Und er würde ihr beistehen, so gut er konnte.
Sein Wutschrei darüber, was diese Entscheidung bedeutete, verlor sich in seinem Sturm.
Es ist besser,
ein einziges kleines Licht anzuzünden,
als die Dunkelheit zu verfluchen.
-Konfuzius
(Quelle: http://www.poeteus.de)
Eigentlich sollte ich gar nicht hier sein. Dies war meine Stadt, doch um diese Uhrzeit noch draußen zu sein, war dumm. …Schön, eigentlich war die Uhrzeit auch nicht das Problem. Ebenso wenig war es die Dunkelheit, die mit der Zeit kam. Oder dass ich in ihrem alles-andere-als-schützenden ‚Mantel‘ durch die Straßen wanderte.
Unter normalen Umständen hätte mir das nichts ausgemacht.
Doch heute war meine Haltung angespannt, meine Schritte trugen mich schnell, zu schnell, die Straße entlang. Sie verrieten meine Unsicherheit und ich brachte nicht die Energie auf, sie davon abzuhalten. Weil ich es noch dazu eilig hatte.
Es war ein stiller, nebliger Abend, erst zwanzig Uhr zwar, jedoch schon so dunkel wie in den dunkelsten Winternächten. Nur, dass nicht Winter war.
Ich versuchte, meine Gedanken zu beruhigen. Immerhin war ich auf den Straßen Chicagos aufgewachsen, fand meinen Weg mit traumwandlerischer Sicherheit und kannte andere Dinge als bloße – heute durch die Stellung irgendeines Planeten bedingte ungewöhnlich früh eingetretene – Dunkelheit, die es sich zu fürchten lohnte.
Dennoch, meine Nerven blieben bis zum Zerreißen gespannt. Es war ein ziemlich beklemmendes und noch dazu ungewohntes Gefühl.
„Sei nicht so ein Angsthase!“, schalt ich mich selbst in Gedanken.
Das beklemmende Gefühl blieb. Wäre auch seltsam gewesen, wenn das geholfen hätte.
Es war, was neuerdings mit dem Einbruch der Dunkelheit kam, das in mir dieses beklemmende Gefühl verursachte. Was auch die anderen Leute veranlasste, schon jetzt nicht mehr draußen unterwegs zu sein, zumindest nicht zu Fuß, und nach der Arbeit zuhause zu bleiben, wenn es irgendwie möglich war.
„Und natürlich muss ich da erst recht losstiefeln“, dachte ich gedanklich über mich selbst seufzend. Denn die Schuld daran, dass ich mich nun so unwohl fühlen musste, lag natürlich größtenteils bei mir. Dafür, dass seit einiger Zeit ein mysteriöser Mörder sein Unwesen in Chicagos Straßen trieb, konnte mich allerdings niemand verantwortlich machen.
In den letzten zwei Wochen hatte es zehn Morde gegeben, die diesem Mörder zugeschrieben wurden. Das konnte auch jemand Toughes wie mich durchaus beunruhigen.
Vor allem, weil die zehn Morde keinerlei Muster aufzuweisen schienen.
Der erste Tote war ein Mann Mitte vierzig aus der Mittelschicht gewesen. Man hatte ihn in seinem eigenen Vorgarten gefunden, neben ihm ein Rechen. Nachbarn erzählten den Medien später, dass der Naturbegeisterte oft noch spät abends, wenn er nach Hause kam, zur Gartenarbeit geschritten war.
Die nächste Leiche war nur einen Tag später entdeckt worden –Anne, ein Mädchen, das ich flüchtig aus der Schule gekannt hatte. Wir hatten zusammen Physik gehabt und, wenn es zu langweilig geworden war, miteinander gequatscht, ohne dabei je erwischt zu werden.
Sie war total in Ordnung gewesen, sogar ziemlich beliebt wegen ihres guten Aussehens, der reichen Eltern und ihrer Mitgliedschaft im Cheerleader Team.
Dass sie zum Hofstaat der Queens gehört hatte, hatte man ihr gar nicht angemerkt, wenn man sie allein traf.
Ich hatte sie immer für oberflächlich gehalten, eine typische, dumme, blonde Cheerleader-Puppe, deren größtes Problem ein abgebrochener Nagel war. Anfangs hatte ich mich deshalb gewundert, dass sie überhaupt mit mir sprach, dann jedoch festgestellt, dass sie okay war.
Unsere Bekanntschaft war nie über die Physikstunden hinausgewachsen, aber wir hatten uns immer zugelächelt, wenn wir uns auf dem Flur begegneten: sie in tollen Klamotten mit einer Schar anderer Beliebten um sich herum, ich allein und mit der Menge verschmelzend, wie es typisch für mich war.
Den Gerüchten zufolge war Anne spät noch in der Disco gewesen, wo sie sich kurz vor Mitternacht von ihren Freunden verabschiedet hatte um nach Hause zu gehen und nie dort anzukommen.
– Dabei wusste doch jeder, dass man sich nach der Disco besser nach Hause begleiten lassen sollte… – Man fand sie in einer Seitengasse.
Die nächsten zwei Opfer ließen nicht lange auf sich warten, es waren zwei Mädchen in Grundschulalter gewesen, die noch nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße gespielt hatten.
Danach hatte es ein älteres Ehepaar erwischt, das spät noch im Millennium-Park spazieren gegangen war.
Ab da hatten die Medien begonnen, über einen Täter zu sprechen, der Dunkelheit zur einzigen Voraussetzung seiner Morde machte und ansonsten wahllos zuschlug.
Über die nächsten vier Opfer wusste ich nichts, nur, dass sie eben alle ermordet worden waren.
…Sämtliche bisherigen Morde waren nach Einbruch der Dunkelheit ausgeführt worden, so Gerüchteküche und Medienberichte.
Darum war ich nun die einzige Person auf der mäßig erleuchteten Straße.
Kopfschüttelnd startete ich einen Versuch, mich von den Gedanken, die mich nur noch mehr aus der Ruhe bringen konnten, abzulenken und das Positive zu sehen.
Es dauerte nicht lange, bis ich etwas Entsprechendes gefunden hatte. Nämlich die Tatsache, dass immer mehr Hunde, auch ältere und größere, aus dem Tierheim adoptiert wurden, weil sie den Leuten ein Gefühl von Sicherheit gaben. Diese Zeitungsmeldung konnte ich sogar bestätigen, schließlich arbeitete ich ab und zu im örtlichen Tierheim. „Na bitte, man muss nur positiv denken wollen, schon klappt es.“ …Oder auch nicht, denn beim Stichwort ‚Artikel‘ fiel mir auf der Stelle ein anderer ein, der erst neulich in der Zeitung gestanden und genau das Thema behandelt hatte, von dem ich eigentlich hatte wegkommen wollen:
„Seit zwei Wochen wird Chicago nun schon von einem unbekannten Mörder heimgesucht, der die Anwohner in Angst und Schrecken versetzt, sowie dem Tourismus zuzusetzen beginnt.
Die Polizei hat bis jetzt keinerlei Kommentar zu den Vorkommnissen abgegeben, doch so viel ist bekannt: Bis jetzt wurden zehn Personen aus verschiedenen sozialen Schichten und Stadtteilen ohne ersichtlichen Grund oder Zusammenhang getötet.
An den Tatorten waren keinerlei Spuren zu finden, die auf den Mörder oder sein Motiv hinweisen würden. Die Bevölkerung spricht bereits von einem Mörder mit übernatürlichen Kräften und übersinnlichen Fähigkeiten. Bis jetzt gelten fünf weitere Personen als vermisst.
Sachdienliche Hinweise bitte an die Polizeihauptdienststelle Chicago.“
Das mit den übernatürlichen Kräften und übersinnlichen Fähigkeiten bezweifelte ich zwar. Trotzdem hörte sich das Ganze schon seltsam und definitiv nicht gut an.
Ob bereits weitere Personen verschwunden waren?
…Sicher, es würde in der Zeitung stehen, wenn irgendein Typ mit Bürojob aus der Mittelschicht verschwinden würde; aber es gab in Chicago, wie in jeder anderen Großstadt, auch Leute, die niemand vermissen würde. Leute ohne Job, oder die zuhause arbeiteten und über kein gut funktionierendes soziales Netzwerk verfügten –oder über Mitmenschen, die sich für ihr Schicksal, ihren Verbleib interessierten.
Mitglieder von gewissen Gangs, Einwohner der Viertel mit schlechtem Ruf und hoher Kriminalitätsrate, Obdachlose… kurz: Leute, deren Existenz die Durchschnittsmenschen und hohen Tiere gern ignorierten und oft vergaßen.
Leute, die niemanden kümmerten.
Zu denen ich in einer anderen Zeit ebenfalls gezäh- Krumms.
Das Scheppern, das von irgendwo hinter mir gekommen war, riss mich aus meinen –zugegebener Maßen ziemlich dunklen – Gedanken und ließ mich zusammenzucken.
„Was war das?!“
Meine Nackenhaare stellten sich auf, aber ich drehte mich nicht um und blieb nicht stehen. Vielleicht machte ich Wirbel um nichts, schließlich konnte das auch eine streunende Katze, ein Hund oder meinetwegen auch eine Ratte gewesen sein.
So oder so, meine Instinkte, die jeder, der einmal auf diesen Straßen gelebt hat, automatisch entwickelt, waren erwacht.
Leos Stimme hallte in meinem Kopf, eindringlich erklärte er mir die Grundregeln zum Überleben auf der Straße. „Wenn du ein Geräusch hörst, bleib nicht stehen. Das kann deinen Tod bedeuten. Unauffälligkeit heißt Überleben. Niemand achtet auf Leute wie uns, solange wir uns so benehmen, wie man es von uns erwartet.
Du musst deine Umgebung kennen und jederzeit auf Gefahr gefasst sein. Fluchtwege, sichere Verstecke, öffentliche Orte; du musst einen Stadtplan im Kopf haben.
Lerne, die Leute einzuschätzen. Du musst lernen, zu erkennen, ob jemand harmlos oder gefährlich ist, Absichten sind bezeichnend.
Lerne, mit deiner Umgebung zu verschmelzen und sei um Gottes Willen immer aufmerksam!“
Nun, die Unauffälligkeit konnte ich vergessen, so als einzige Person auf der Straße.
Um genau solch einer Situation zu entgehen, hatte ich so oft wie möglich Wege durch Gassen genommen, aber diese Straße hatte ich entlang gemusst. Außer ich hätte einen Umweg durch die Gassen genommen, aber der hätte mich eine halbe Stunde gekostet.
„…Meine Prioritäten.“
Doch auch in den Gassen fiel ich schließlich auf.
„Allerdings wäre das immer noch besser als hier auf dem Präsentierteller“, dachte ich.
„Ganz toll. Das kommt davon, wenn man sich an das Gefühl von Sicherheit gewöhnt“, stichelte mein Unterbewusstsein.
Ich konnte ihm nicht wiedersprechen. Stattdessen beschleunigte ich meine Schritte zusätzlich, senkte den Kopf und beobachtete aus den Augenwinkeln meine Umgebung so gut ich konnte. Im Moment befand ich mich im Schatten zwischen zwei Straßenlaternen. Eine davon flackerte und ließ die Schatten immer wieder wachsen und schrumpfen.
„Das ist definitiv total klischeehaft“, dachte ich, wobei mir klar war, dass ich mich, sobald ich mich in den Lichtbereich der nächsten Laterne begab, sogar noch mehr auf den Präsentierteller manövrierte.
So, als würde ich genau zur Mitte des besagten Tellers spazieren, mich auf die Zehenspitzen stellen, winken und dazu rufen: „Hier bin ich! Hierher! Siehst du mich?! Ich bin ganz allein in einer spärlich beleuchteten Straße und kein Zeuge weit und breit!“
Um das Bild, das in meinem Kopf entstanden war, zu vertreiben, biss ich mir von innen leicht auf die Wange und spannte mich sogar noch mehr an, als ich im Licht der vor sich hin flackernden Laterne einen huschenden Schatten zu sehen glaubte.
Shit!
Noch bevor ich in den Lichtkreis der nächsten Straßenlampe geriet, tauchte ich schnell in eine Seitengasse ein und ließ mich von der Dunkelheit unsichtbar machen soweit es möglich war. In einer stockdunklen Ecke hinter ein paar Mülltonnen kauernd lauschte ich mit angehaltenem Atem. Wartete.
Schritte näherten sich.
Also hatte der Schatten doch nicht nur beweglich ausgesehen wegen der blöden Lampe, wie ich noch gehofft hatte.
Die Schritte verursachten kaum ein Geräusch auf dem leicht feuchten Asphalt der Gasse.
Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass es Übung brauchte, um sich so lautlos durch die Straßen zu bewegen.
Mittlerweile tat ich es instinktiv, aber früher hatte ich mich dabei stark konzentrieren und auf jede Unebenheit des Bodens, Steine und Abfall achten müssen.
Nach vielleicht zwei weiteren Schritten hörte ich nichts mehr. Keinen einzigen, verdammten Laut, sosehr ich auch lauschte und dabei selbst so flach atmete. Das musste allerdings nichts heißen. Einmal hatte ich gesehen, wie Leo sich vollkommen geräuschlos, als würde er schweben, auf einem verdammten Kiesstreifen bewegt hatte. –So gut wie er war ich naheliegenderweise nie geworden.
Mir kam eine verrückte Idee. Überhaupt waren meine Ideen öfters verrückt, doch ein paar davon stellten sich regelmäßig als gutartig verrückt heraus, weshalb ich vor der Umsetzung dieser nicht lange überlegte.
Langsam, und bedacht, so leise wie nur lebensmöglich zu sein, ließ ich meine Hand in die Tasche meiner Lederjacke gleiten und zog Stück für Stück mein kleines Notizbuch heraus. Eine Lichtreflektion fiel darauf und ließ das filigrane Muster auf dem Einband und den mattschwarz glänzenden Stift aufblitzen, der an seinem silbernen Faden vom Notizbuch baumelte.
Einen Sekundenbruchteil später war mein Versteck wieder in Finsternis getaucht. Es machte mir nichts aus.
Ich griff nach dem hin und her baumelnden Stift und hielt ihn fest, während ich das Notizbuch auf der Seite aufschlug, in der das schwarze Seidenband herauslugte –es kennzeichnete bei mir stets die nächste leere Seite.
Jetzt kam der Teil, den ich am liebsten irgendwie übersprungen hätte, der jedoch unvermeidlich war.
Mit fest zusammengekniffenen Augen klickte ich hinten auf den Kugelschreiber, damit die Miene zum Vorschein kam…
Ein Klicken, das sich in meinen Ohren wie ein Pistolenschuss anhörte, tönte durch die Gasse. Mist.
„Wenn ich hier lebend rauskomme, besorge ich einen Kuli, den man zum Öffnen dreht“, nahm ich mir vor. Ich setzte den Stift aufs Papier, öffnete die Augen und hob dann langsam den Kopf.
Ich blickte in grüne Augen, in denen ich goldene Sprenkel zu erkennen glaubte. Allerdings konnte es auch sein, dass das Licht, das von der Straße hereinschien und die Gestalt des jungen Mannes vor mir nur spärlich beleuchtete, mir einen Streich spielte.
Wie auch immer, ich hatte noch nie so schöne Augen gesehen – ob nun mit oder ohne Sprenkel.
„Wir haben keine Zeit für sowas“, erklärte mir mein Unterbewusstsein schnippisch und holte mich damit aus meiner Versunkenheit zurück, „also hör auf, dich wie ein liebeskranker Teenager zu benehmen!“
Es hatte recht. Himmel, wieso musste ich ausgerechnet jetzt anfangen, mich für Jungs zu interessieren? Die in der Schule ließen mich schließlich auch kalt.
„Die in der Schule sehen ja auch nicht so gut aus“, schnurrte es in mir.
„Typisch, dass die sich ausgerechnet jetzt meldet“, dachte ich genervt.
Meine Libido meldete sich äußerst selten zu Wort, aber wenn, hatte sie es faustdick hinter den Ohren. Allerdings musste ich zugeben, dass auch sie recht hatte. Mann, wie oft musste ich meinen inneren Quälgeistern heute denn noch Recht geben?
Er sah definitiv tausendmal besser aus als alle Jungs an meiner Schule.
Was mich jedoch erstaunte, war die Tatsache, dass er so verdammt jung aussah, allerdings… gab es überhaupt eine Altersbegrenzung für Mörder?
Dieser Typ… nein, Mann… ach verdammt, nennen wir ihn einfach Grünauge, sah aus, als wäre er gerade mal zwei Jahre älter als ich. Höchstens!
Seine Augen allerdings vermittelten einen anderen Eindruck. Nein, nicht weil sie so schön waren, dass man sich in ihnen verlieren konnte – nicht, dass das nicht möglich wäre –, sondern, weil sie sehr viel älter schienen als sie sein sollten.
Sie schienen schon sehr viel gesehen zu haben.
Sie wirkten irgendwie… alt. Und damit meine ich nicht Opa-alt, sondern einfach… naja, eben als hätten sie schon viel gesehen.
„Was du nicht sagst.“
Es war nicht das erste Mal, dass ich mehr in Augen sah, als da eigentlich sein sollte. Ich kannte Menschen auf der Straße, die hatten auch so einen Ausdruck in den Augen. Dass sie schon zu viel gesehen hatten.
Zum Beispiel Terry, der im Krieg gewesen war, oder Bill, der sich knapp aus einem Haus hatte retten können, das explodierte, und danach die ganzen Toten gesehen, beim Bergen geholfen und gewusst hatte, dass er selbst das hätte sein können. Er hatte mir davon erzählt: ich hatte Alpträume gekriegt.
Wenn man auf der Straße lebt, weiß man, was es bedeutet, nichts zu haben, außer den Dingen, die man vielleicht noch in einer Tüte mit sich herum trägt. Und man sieht vieles, was den anderen verborgen bleibt.
Ich fragte mich oft, ob auch in meinen Augen dieser Ausdruck zu sehen war. Vielleicht hin und wieder.
Aber zurück zu Grünauge. Der Ausdruck in seinen Augen war dem Ausdruck von Terry und Bill zwar ähnlich, und doch anders. In ihnen schien aber ein Feuer zu brennen.
Ich wurde nicht schlau aus ihm oder der Bedeutung dieses Feuers. Und das nicht, weil ich verlernt hatte, wie man Leute nach Leos Regeln einschätzte, sondern, weil er anders war.
Ich weiß, es hört sich bescheuert an, aber ich spürte das einfach. Und wenn ich eins tat, dann mich auf meine Instinkte verlassen. Das war Leos oberste Regel und er hatte mir eingeschärft, sie niemals zu vergessen.
„Du schweifst schon wieder ab! Konzentrier dich, Cat!“, schnauzte mein Unterbewusstsein, und holte mich zurück.
„Wenn ich weiter so in Gedanken versinke, werde ich noch meinen eigenen Mord verpassen“, stellte ich mit schwarzem Humor fest, obwohl mir klar war, dass diese Gedankengänge höchstens drei Sekunden in Anspruch genommen haben konnten.
Automatisch dachte ich an die Gemeinschaftsstunde, in der Ms Clark uns im Brustton der Überzeugung erklärt hatte: „Wenn euch jemand etwas antun will, dann schreit so laut ihr könnt um Hilfe und lauft weg. Das verschreckt jeden Angreifer.“
Ich muss wohl nicht hinzufügen, dass Ms Clark noch nie auch nur annähernd in eine solche Situation gekommen war und sich wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben nur oberflächliche Gedanken um ihre Sicherheit, ach was, um irgendetwas gemacht hatte.
Sie war jemand der wiederkäute, was man ihr beibrachte, machte, was man ihr sagte und nichts hinterfragte: Also meist eine verdammt praktische Angestellte.
„Schluss jetzt“, rief diesmal ich selbst mich zur Ordnung und musterte interessiert Grünauges restliche Erscheinung, die hauptsächlich im Schatten lag. Dennoch musste man schon enorm kurzsichtig sein, um die Muskeln nicht zu sehen, die sich unter seiner offenen Lederjacke, beziehungsweise seinem Shirt abzeichneten. Trotz dieser war er von schlankem Bau.
Sein Gesicht verfügte über ausgeprägte Wangenknochen und war, wie auch der Rest von ihm, nun ja… perfekt. Will sagen meinem Schönheitsideal entsprechend. Wie glücklich ich mich doch schätzen konnte!
Sein Haar war pechschwarz und glänzte wie die Federn einer Krähe – jetzt wurde ich auch noch poetisch – und reichte ihm bis knapp oberhalb der perfekten Wangenknochen.
Hätte er nicht schon seinen Job im Ermorden von Leuten gewählt, bei dem er in dieser Saison eine steile Karriere hinlegte, hätte sich wahrscheinlich jede Modelagentur um ihn gerissen.
Aber wer sagte denn, dass sich das Eine nicht mit dem Anderen kombinieren ließe?
Vor meinem inneren Auge entstand ein Bild von ihm, wie er eine Pose einnahm, die so gern in Werbungen benutzt wurde: Er mit noch etwas feuchten Haaren, als käme er gerade… keine Ahnung, vom Joggen oder so, und einige Wassertropfen fielen aus seinem glänzenden Haar auf das schwarze Shirt, das sich wie eine zweite Haut an seinen geschmeidigen und dennoch muskulösen Körper schmiegte und so gut wie nichts der Fantasie überließ…
„Lecker“, kam es auch sofort von meiner Libido.
„Schluss, Schluss, Schluuuuss!!! Vergiss nicht, dass er in deiner Vision wohl nicht vom Joggen, sondern vom Morden zurückkäme!“, rief ich mich so energisch zur Ordnung wie ich es noch nie getan hatte. Mittlerweile starrte ich ihn nun wirklich zu lange wortlos an.
Vermutlich glaubte er, es hätte mir die Sprache verschlagen… okay, ähm, damit läge er vermutlich gar nicht so weit daneben, aber… Ach, war ja auch egal. Immerhin starrte er mich ja genauso fasziniert an wie ich bestimmt ihn.
„Du hast schöne Augen, weißt du das?“, fragte mein Gegenüber unvermutet mit der schönsten Stimme die ich jemals gehört hatte –und nahm mir so blöderweise die Möglichkeit, als erste etwas zu sagen, um den Eindruck der Sprachlosigkeit zu widerlegen. Ich blinzelte erst mal verblüfft.
Oookaaay.
Ja, tatsächlich wusste ich als Realistin und gute Beobachterin, dass ich schöne Augen hatte. Sie waren dunkelbraun und einen Tick dunkler als mein Haar, doch das Besondere an ihnen war, dass die Zeichnung einer Sonnenblume um die Iris verlief. So etwas kam relativ selten vor, zumindest in so symmetrischer Form, und ich bekam von den Leuten oft zu hören, dass ich schöne Augen hatte. Wenn sie es denn bemerkten.
So oft jedenfalls, dass ich gar nicht mehr wirklich hinhörte, doch als er es sagte, berührte es etwas in mir, eine Tatsache, die mich verblüffte. Scheiße! Ich hatte mich doch nicht etwa in ihn verliebt?!
„Sowas wie Liebe auf den ersten Blick gibt’s nicht, das sind nur chemische Reaktionen“, redete ich mir hastig ein.
Blöd nur, dass ich mir selbst nicht glaubte.
Meine Mum hatte sich auch auf den ersten Blick in meinen Vater verliebt, das hatte sie mir zumindest oft erzählt, und ich hatte ihr geglaubt. Auch, weil mein innerer Lügendetektor, der mich noch nie getrogen hatte, bei ihrer Behauptung nicht angeschlagen hatte. Meine Mum hatte nicht gelogen. Und sie hatte sich auch nie mehr ent-liebt.
Bei ihr war es keine vorrübergehende chemische Reaktion gewesen, sondern Liebe auf den ersten Blick und für immer und ewig.
Auch, wenn mein Dad nicht mehr da gewesen war.
…Naja, aber da gab es doch sicher Ausnahmen, oder? Bei Liebe auf den ersten Blick? Oder? Oder?!
„Ja, ich weiß und danke“, antwortete ich endlich und hoffte, dass er von meinem inneren Monolog nichts mitbekam.
„Wieso sagt er überhaupt sowas? Ist er ein Psychopath?“ –Nein, eher nicht, ich hatte in seinen Augen keinen Wahnsinn oder ähnliches erkennen können. Allerdings: ist nicht jeder Mörder ein Stück weit Psychopath?
Dass er der Mörder war, stand jedenfalls außerfrage, denn er hielt ein Messer in der Hand.
Oder sollte ich eher Dolch sagen? Denn für ein Messer war das Ding definitiv zu lang... nicht, dass ich Erfahrung mit Messern gehabt hätte. Stattdessen hatte ich Erfahrung im Kampf mit dem Katana, dem Degen und Bogen.
Und ich hatte eine Abhandlung über Waffen vergangener Zeiten gelesen, also Blankwaffen.
Außerdem beherrschte ich die Grundlagen von fast jeder Kampfsportart.
…Ich hatte in der Highschool einen Kampfkurs belegt, in dem wir alle zwei Monate die Grundlagen einer anderen Kampfsportart durchnahmen.
Als total ahnungslos konnte man mich also auch nicht bezeichnen, wenn ich jetzt so darüber nachdachte.
Bloß hatte ich das dumme Gefühl, dass mir das bei diesem Typen nicht viel nutzen würde.
An der Waffe jedenfalls, ich entschied mich für Dolch, also an dem Dolch befand sich ein dunkelroter Fleck, und ich bezweifelte stark, dass der von Rost kam: Grünauge wirkte nicht wie jemand, der seine Waffen verrosten lassen würde.
„Hör auf, über die Waffe nachzudenken, das macht dich nur verrückt!“, befahl mir meine Stimme der Vernunft.
„Zu spät“, gab mein Unterbewusstsein beleidigend humorvoll zurück.
Gehorsam wandte ich den Blick vom Dolch ab und sah ihm wieder in die Augen.
„Wie ist dein Name?“, erkundigte er sich mit seiner schönen Stimme.
„Nenn mich Cat“, erwiderte ich und war überrascht, wie normal meine Stimme klang. Mein früherer Straßenname erschien mir als die beste Antwort auf seine Frage. So sagte ich zwar die Wahrheit, denn immerhin war Cat mein Name, nannte ihm aber zugleich nicht den Namen, unter dem man mich finden könnte.
„Verstehe“, sagte er und ein Funkeln trat in seine Augen, was zu den goldenen Sprenkeln ziemlich gut aussah. Mittlerweile war ich mir ziemlich sicher, dass sie wirklich da waren. Also die Sprenkel. Weil ich ihm ja jetzt wirklich schon eine Weile in die Augen sah.
Ich konnte seiner Stimme nicht anhören, ob es ihm missfiel, dass ich ihm offensichtlich einen Spitz- und nicht meinen bürgerlichen Namen genannt hatte, doch er drang nicht weiter.
„Wen hast du gerade umgebracht?“, wollte ich nun geradeheraus wissen und war von mir selbst schockiert.
Ich wusste zwar, dass ich diese Frage einfach hatte stellen müssen, aber dass ich das tatsächlich getan und dabei auch noch so normal geklungen hatte, war dann sogar für mich verblüffend.
Auch er sah einen Sekundenbruchteil überrascht aus.
Ich hatte keine Antwort erwartet, doch er widerlegte das: „Ich habe einen der Mörder umgebracht.“ Er sagte es mit dem vollkommen normalen und nüchternen Ton, in dem man auch über die Dinge spricht, die man noch einkaufen muss.
„Wer jemand anderen umbringt, wird automatisch selbst zum Mörder“, sagte ich. Es war eine simple Feststellung.
„Ja, das ist richtig, aber ich habe verhindert, dass noch weitere Menschen ermordet werden“, gab er ohne Zögern zurück und seine Stimme klang sanft.
Das war ein gutes Argument, auch wenn es sich nicht so angehört hatte, als wolle er sich überhaupt rechtfertigen.
„Es gibt also mehrere Mörder?“, hakte ich vorsichtig nach. „Man erzählt sich aber nur von einem.“ Ja, okay, das klang jetzt blöd. Aber war doch so!
„Woher sollte ‚man‘ das wissen, wenn ‚man‘ nie eine Spur gefunden hat? Vielleicht will ‚man‘ nur eine Massenpanik verhindern, schließlich würden die Leute noch mehr ausrasten, wenn sie dächten, dass gleich mehrere Mörder ihr Unwesen in der Stadt treiben. Wahrscheinlich würde eine Massenflucht einsetzen und die Leute würden die Supermärkte stürmen und sich in ihren Häusern verschanzen.“
„Hat der etwa immer so gute Argumente drauf? Und was mache ich hier überhaupt?! Ich diskutiere in einer dunklen Gasse mit einem Mörder! Hab ich denn völlig den Verstand verloren?!“
„Definitiv. Wie ich schon sagte“, meldete sich die Stimme meines Unterbewusstseins hilfreich zu Wort.
„Haha.“
„Was willst du mit dem Notizbuch?“, riss mich Mr Grünauge aus meinen Gedanken.
„Was willst du mit dem Dolch?“, schoss ich zurück.
„Ich muss ihn reinigen, bevor ich ihn wegstecke“, erklärte er geduldig. „Deswegen hab ich ihn in der Hand behalten. Außerdem bin ich gern auf alles vorbereitet. –Jetzt du“, verlangte er.
„Ich will ein Portrait von dir zeichnen. …Ich bin in Kunst nicht schlecht.“
„In völliger Dunkelheit?“, kam es ungläubig zurück.
„Ich erkenne genug, außerdem kann ich auch mit geschlossenen Augen zeichnen.“
Mr Grünauge wirkte amüsiert und mir fiel auf, dass ich längst keine Angst mehr vor ihm hatte. Mit mir stimmte etwas ganz gewaltig nicht, definitiv nicht.
„So? Und dann?“, wollte er wissen.
„Dann schreibe ich oben auf die Seite ‚Mörder‘ und lege es hier hin, damit die Polizei endlich einen Hinweis bekommt und weiß, wer mich umgebracht hat“, erklärte ich ihm völlig ernst.
„Äh, ja.“ Er kämpfte gegen ein Lächeln, ich sah es ihm sogar trotz der schlechten Beleuchtung an. „Der Plan hat aber zwei Haken.“
„Die wären?“, fragte ich. Außerdem fragte ich mich, warum ich ihm das gerade erzählt hatte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, bei ihm sicher zu sein.
Vielleicht hatte ich Fieber?
Vielleicht war das hier alles nur ein Fiebertraum und in Wirklichkeit lag ich bewusstlos und glühend vor Fieber irgendwo auf der Straße.
Nicht gerade positive Gedanken, das musste ich zugeben, aber daran war ich ja gewöhnt.
„Wenn es wirklich so ist, würde ich den Traum vorziehen“, erklärte meine Libido.
Grünauge unterbrach mal wieder meine Überlegungen, als er fortfuhr. „Zum Einen: was würde mich daran hindern, dir das Portrait abzunehmen, nachdem ich dich umgebracht hätte?“ Er machte weiter, ohne mir Zeit für eine Antwort zu lassen. „Und zum Anderen will ich dich gar nicht umbringen, ‚Katze‘.“ Er machte eine kurze Pause und blickte mir tief in die Augen.
Ich stellte fest, dass es mir gefiel, wie er meinen Namen aussprach, und dass ich ihm auf der Stelle glaubte. Mein Lügendetektor sprang nicht an. Würde der bei ihm überhaupt funktionieren? Manchmal wurde ich dadurch in die Irre geführt, dass derjenige selbst glaubte, was er sagte.
„Ich bin kein Mörder“, fügte er dann hinzu, als hätten wir das schon längst geklärt.
Ich war da aber nicht so überzeugt. Und außerdem, wollte er mich jetzt ernsthaft am Leben lassen, obwohl ich jetzt so einiges wusste? Ihn sogar gesehen hatte?
Ich beschloss, ihm zu verschweigen, dass ich auch sehr gut aus dem Gedächtnis ein Portrait zeichnen konnte. Ein fotografisches Gedächtnis kann so ungeheuer praktisch sein. Als er mein skeptisches Gesicht sah, fügte er hinzu: „Naja, zumindest kein Mörder der üblichen Sorte.“
Das konnte selbst ich nicht bezweifeln. „Na schön. Aber du weißt, wo und vielleicht sogar wer die Mörder sind, und kannst die Polizei zu ihnen führen. Schließlich hast du einen von ihnen umgebracht“, sagte ich mit einem kurzen Blick auf den Dolch. „…Das erwähnst du bei der Polizei aber lieber nicht“, fügte ich kurz darauf hinzu.
„Ach, und wie soll ich der Polizei erklären, woher ich angeblich weiß, wo und wer die Mörder sind? Was übrigens nicht stimmt, ich weiß nur, wie ich sie erkenne. Und was sollte die Polizei überhaupt gegen sie unternehmen?“ Amüsiert sah er mir schon wieder so tief in die Augen.
Oh je, da waren weitere gute Argumente in Anmarsch.
„Wie meinst du das?“ Verständnislos blinzelte ich zurück.
Er lachte. „Du hast es doch schon gemerkt. Dass ich anders bin. Das kannst du nicht bestreiten. Du hast es gespürt, sobald du mir in die Augen gesehen hast. Ich konnte es dir ansehen. Es ist sehr selten, dass ein Mensch so etwas instinktiv erkennt.“
„So viel zu meinem Pokerface.“
Was hatte er mir noch angesehen? Eine beunruhigende Frage. In anderer Weise als die Tatsache, dass ich mich hier mit einem Mörder in einer dunklen Gasse aufhielt.
Er fuhr mit seinen Fingern meine Wangenknochen nach. Ich erstarrte bei seiner Berührung. Zärtlichkeit stand in seinem Blick. Was war das denn jetzt?!
Ich musterte ihn und hatte Mühe, mich auf seine Worte zu konzentrieren.
Was wollte er damit sagen? Als wäre er von sich selbst überrascht, nahm er seine Hand weg und runzelte die Stirn.
„Meinst du damit, die Zeitungen haben recht, wenn sie von übernatürlichen Mördern reden?“, fragte ich hastig, um mich sowohl von dem Kribbeln, als auch von der Erkenntnis abzulenken, wie gut er aussah, wenn er die Stirn runzelte.
Nun sah er wieder ernst aus. „Ja.“
Oh. Mein. Gott. „Oh mein Gott! Aber das bedeutet… Oh Mann, das heißt… dass er… Moment… übernatürliche Mörder?!“
„Entweder das, oder der Typ vor dir ist wirklich verrückt“, brachte meine Vernunft mir einen ganz neuen Blickwinkel nahe.
„Shit“, brachte ich zu all dem bloß heraus.
„Ganz genau“, bestätigte er.
„Das ist aber gar nicht gut“, sagte ich nach einer Weile, in der ich schweigend dagesessen und meine Gedanken geordnet hatte.
„Nein, ist es nicht, und deswegen bin ich hergekommen.“
„Und… kannst du das zufällig auch beweisen?“
„Endlich. Wurde aber auch mal Zeit, dass du die naheliegendste Frage stellst“, stöhnte mein Unterbewusstsein.
Ich ignorierte es, obwohl ich wusste, dass es mal wieder recht hatte. Das ätzte.
Eine seiner Brauen hob sich. „Glaubst du, dass ich lüge?“
„Ich glaube, dass du selbst von der Wahrheit deiner Worte überzeugt bist“, gab ich schluckend zurück.
Verständnisvoll nickte er. „Na schön. Dann sieh her.“ Er wechselte den Dolch von der rechten in die linke Hand und streckte die freie Rechte dann aus, Handfläche nach oben. Keine Sekunde später schwebte dort unvermutet ein rundes, schimmerndes… Gebilde.
Es war grüngrau, goldene Funken stoben davon auf und es verströmte Wärme. Mit großen Augen starrte ich es an. „Was ist das?“ Vorsichtig streckte ich eine Hand aus. Einer der goldenen Funken landete darauf und erlosch beim Kontakt mit meiner Haut, ohne, dass etwas von ihm zurückblieb.
„Ein Abbild meines inneren Energiekerns. In manchen Kulturen auch als Seele bekannt.“
„Sieht es deshalb ein bisschen aus wie seine Augenfarbe? Von wegen, Augen gleich Fenster zur Seele?“, überlegte ich, während meine Vernunft feststellte: „Es dürfte sich um eine ziemliche Ehre handeln, das Abbild seiner Seele ansehen zu dürfen.“ Oh. Ja, da war vermutlich was dran.
„Wir Paranormalen bevorzugen den Ausdruck Energieball. Ich könnte das hier auch mit einem Element meiner Wahl verbinden und als eine Art Waffe einsetzen“, erzählte er weiter. Absurd, aber das schreckte mich nicht weiter.
„Er… sie… es ist wunderschön“, lächelte ich unsicher.
Er zuckte nur die Schultern und ließ es erlöschen, oder was auch immer. Jedenfalls war danach nichts mehr davon zu sehen.
Als ich probeweise mit beiden Händen dort durch die Luft fuhr, wo es eben noch geschwebt hatte, war diese lediglich ein wenig wärmer als die umliegende. Ein Trick konnte das schon einmal auf keinen Fall gewesen sein.
„Überzeugt?“, wollte er wissen, als hätte er meine Gedanken erraten.
Vorsichtig und etwas verlegen nickte ich und sofort fiel mir die nächste essentielle Frage ein: „Wieso erzählst du mir das alles?“
„Das werde ich dir erklären, aber vielleicht sollten wir erst mal diese Gasse verlassen, hier wird’s langsam ungemütlich.“
„Okay, gern“, stimmte ich zu.
Er erhob sich anmutig aus der Hocke und half mir auf.
„Danke“, sagte ich, steckte Notizbuch samt Stift weg und dankte den Göttern, dass sie mich mit dem Fluch des Rotwerdens verschont hatten. Dann warf ich noch einen Blick auf meine Armbanduhr. Mittlerweile war es halb neun. Ich hatte also doch noch genug Zeit.
Gemeinsam verließen wir die Gasse.
Nach ein paar Schritten fiel mir auf, dass der Dolch aus seiner linken Hand verschwunden war. Ich beschloss, ihn nicht danach zu fragen. Seltsam, aber es gab wichtigere Dinge.
„Na, hast du deinen Plan, ein Portrait zu zeichnen, aufgegeben?“
„Hat er mich gerade aufgezogen?“
Ich zuckte mit den Schultern und setzte meinen Weg Richtung Mohnblume fort; Mr Grünauge folgte mir. „Vielleicht hol ich’s später nach, aber jetzt will ich erst mal deine Erklärung hören. Du kannst anfangen.“
„Sehr wohl, Mylady“, bemerkte er spöttisch, machte aber gleich weiter. „Ich bin ein Kadri und ein Engelskrieger. Bevor du fragst: Ja, ich bin tatsächlich ein Engel. Und wenn ich möchte, habe ich Flügel. Und ein Kadri bin ich, weil ich zum Orden der Kadri gehöre. Nicht alle Engel oder Krieger gehören zu den Kadri, musst du wissen. Und auch nicht alle Kadri sind unbedingt Engel, aber das würde jetzt zu weit führen.
Bleiben wir erst mal bei den Engeln. Einige schließen sich auch mit anderen zusammen, einige schließen sich Christian oder Lucien an, das sind zwei Engelsführer seit Jahrtausenden, oder bleiben ganz für sich. Manche leben auch wie Menschen unter denselben. Uns, die Paranormalen, gibt es überall auf der Welt, und darüber hinaus in nochmal anderen Welten.“
„Andere Welten?“ Mir gingen Narnia und Alice im Wunderland durch den Kopf.
„Ja, es gibt mehrere, die unterschiedlich oder gleich hoch entwickelt sind. Mehrere Menschenwelten, fast unzählige Fae-Welten…“
Ich machte ein verständnisloses Gesicht.
„Fae kennst du wohl aus Filmen als Feen, Elfen und Elben. Das Volk der Fae wird auch gern kurz als ‚die Fae‘ zusammengefasst.“
„Fae? Was ist das für ein Name?“
„F-A-E“, buchstabierte er mir, „gesprochen ‚fäi‘.“
„Du bist sicher, dass du kein Y vergessen hast, ja?“
„Du meinst F-A-Y-E? Ja, so kann man sie auch schreiben. Fae ist dasselbe, nur in ihrer Sprache, die auch Fae heißt.“
„Okay, und was ist jetzt mit den Elfen und Feen?“
Er grinste amüsiert. „Wie kommt es, dass immer alle so fasziniert davon sind?“
Ich zuckte die Schultern. „Engel sind out. Du solltest dich damit abfinden.“
„Autsch, das war fies. Pass auf, sonst erkläre ich gar nichts mehr.“
„Sorry, bin schon still.“
„Also, Elfen und Feen gehören zum Volk der Fae.“
„Den Fae“, fasste ich es kurz.
„Genau. Aber sie sind eigentlich die sogenannten ‚Kleinen‘ beim Volk der Fae. Obwohl sie auch menschengroß werden können. Die Fae, auch die Normalen genannt, was sie aber auf keinen Fall schwach macht, bilden den größten Anteil des Volks der Fae und haben Menschengröße.“
„Da scheinen Bücher das aber ziemlich falsch darzustellen.“
„Wie so oft. Und wir sind ziemlich vom Thema abgekommen.“
„Richtig, du wolltest mir mehr über eure generelle Orga erzählen.“
„Der Gesellschaft der Paranormalen, ja. Also… Wir alle haben uns den Regierungen zu beugen, denen wir angehören. Die zwei Hauptaufgaben der Kadri sind es, jeden zu beschützen, der Schutz braucht und die Existenz der Paranormalen vor den Unwissenden geheim zu halten.“
„Äh, wäre so eine Unwissende nicht ich?“
Grünauge wurde ernst. Ich zog seinen amüsierten Anblick vor, wie ich feststellte. „Die Kandidatin hat hundert Punkte.“
Weil er so düster klang, brachte mich der Spruch nicht zum Lächeln. Ein unwohles Gefühl stieg in mir hoch.
„Um dir die ganzen Verhältnisse zu erklären, würde es jetzt zu lange dauern, deshalb nur so viel: Es gibt immer Wesen, die aus der Reihe tanzen.
Einige glauben, besser als die Menschen zu sein. Tatsächlich ist dieser Glaube sehr verbreitet, aber nur die wenigsten Paras bringen deshalb Menschen um, so wie es gerade in dieser Stadt geschieht. Die meisten empfinden das als unter ihrer Würde. Und diejenigen, die es eben doch tun, werden beseitigt –meist von uns.“
Ich starrte ihn fassungslos an. Oookaaay. „Heißt das, ihr Kadri seid sowas wie das FBI, nur was das Paranormale angeht?“
Er nickte. „So könnte man es wahrscheinlich ausdrücken. Vielleicht etwas mehr in Richtung Men in Black.“
Ich nickte auch und erklärte „Die Filme mochte ich schon immer“, während ich mich unwillkürlich fragte, wie Mr Grünauge wohl im Anzug aussehen würde. Blinzelnd vertrieb ich die Vorstellung aus meinem Hirn, um einen klaren Kopf zu behalten.
„Manno!“, quengelte meine Libido.
Ich ignorierte sie. „Im Klartext heißt das, dass hier mehrere übernatürliche Leute aus der Reihe tanzen und du das unterbinden sollst“, stellte ich fest.
„Richtig.“
„Wieso sind sie hier in Chicago?“, hakte ich nach.
„Ich bin mir nicht sicher. Zum einen wahrscheinlich, weil hier so viele Menschen leben. Das bedeutet viel Energie auf einem Haufen; entschuldige, dass ich es so ausdrücke.“
Es störte mich nicht im Geringsten. „Energie?“
„Ja, jeder Mensch hat Energie in sich. Lebensenergie. Abtrünnigen verschafft es den Kick, Energie auszusaugen. Natürlich könnten sie das auch bei Paranormalen, aber es ist meist schwieriger, diese zu überraschen und zu überwältigen. Deswegen nehmen sie sich meist Menschen vor.“
„Wie saugen sie Energie aus?“
„Das ist dummerweise ziemlich leicht, wenn man über keine Schutzzauber verfügt. Sie müssen nur nahe genug an einen drankommen, dann brauchen sie nur noch die Hand auszustrecken oder dich zu berühren und die Energie zu rufen. Und wenn sie nicht rechtzeitig mit der Aussaugung aufhören, töten sie ihre Opfer. Je mehr Energie ein Abtrünniger in sich aufnimmt, desto stärker wird er.“
„Das hört sich… ziemlich bedrohlich an.“
„Das kommt daher, dass es so ist“, stellte er trocken fest.
„Wieso ist er so logisch?“, fragte ich mich ein wenig quengelig.
„Wieso bist du so einfältig?“, machte mein Unterbewusstsein mich nach.
„Weiß der Präsident von euch?“, wandte ich mich mit einer neuen Frage wieder an Grünauge.
„Der jetzige schon, aber das war auch nicht immer der Fall. Wir haben einige von uns oder unseren Verbündeten im Weißen Haus sitzen, auch im Militär“, er grinste. „Man könnte sagen, wir sind überall.“
Als er meine ungläubige Miene sah, besann er sich. „Aber zurück zum Thema: Wieso hier? Wie schon gesagt, gibt es in einer Großstadt wie dieser viele Menschen und alle tragen Energie in sich. Außerdem gibt es hier eine ungewöhnlich hohe Rate Übernatürlicher. Allerdings denke ich, dass da noch etwas ist, etwas, wovon ich noch nichts weiß. Etwas zieht sie hierher. Wenn es nur zwei auf einmal wären, könnte es noch Zufall sein, aber bei so vielen ist das unwahrscheinlich.“
„Wieso? Wie viele sind denn hier?“, stirnrunzelnd blickte ich ihn wartend an, ohne die Antwort wirklich wissen zu wollen.
„Sieben. Es sind sieben“, erwiderte er.
Ich schluckte. Theoretisch waren das nicht viele, aber wenn sie alle einfach mit einer Berührung und ausreichendem Hautkontakt töten konnten… Außerdem waren das Übernatürliche. Also… stärker als Natürliche. Menschen. Wie ich. Ganz toll.
Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander her.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte ich schließlich.
„Ich bin erstaunt, dass du erst jetzt fragst. Wenn ich es dir verrate, sagst du mir dann auch deinen richtigen Namen?“
Ich überlegte kurz und nickte schließlich.
„Mein Name ist Adrian. Adrian Black.“
„Wow“, dachte ich, „sein Name ist genau so schön wie er.“ Und dann konnte ich nicht glauben, dass ich das jetzt wirklich gedacht hatte.
„Und dein Name ist…?“
„Sarah. Sarah Lynn Midnight. Cat ist ein alter Spitzname.“
„Ein schöner Name. Er passt zu dir.“
Ich dankte den Göttern nochmal, dass sie mich mit dem Fluch des Rotwerdens verschont hatten.
„Danke“, erwiderte ich bloß. Kurz fing ich einen verwirrend freundlichen Blick von Adrian auf, ehe er wieder nach vorn sah. „Du hast mir immer noch nicht erklärt, warum du mir das alles erzählt hast“, stellte ich fest.
Er seufzte. „Richtig. …Ich habe es dir erzählt, weil du strahlst.“
Ich sah ihn an und zog fragend die Augenbrauen hoch. „Juhu. Ich strahle. Äh… was bedeutet das noch gleich?“
„Damit will ich sagen, dass du, zumindest wenn ich mich auf meine Aura-Sicht verlege, vor Energie förmlich leuchtest wie ein Weihnachtsbaum, der mit Lichterketten zugekleistert wurde.“
Das klang jetzt doch etwas drastisch.
Doch er fuhr unbeirrt fort. „So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich sage das nicht gern, aber du wirst sehr viel Aufmerksamkeit auf dich lenken, wenn sie dich nicht schon längst bemerkt haben. Du wirst sie anziehen wie Motten vom Licht angezogen werden.“
Ich wurde blass. „Ach ja. Das bedeutet es. Alles klar. Streicht das Juhu wieder.“
„Heißt das, sie werden Jagd auf mich machen um mich auszusaugen?“
Adrian Black verzog grimmig den Mund. „Sie werden es zumindest versuchen. Aber ich werde auf dich aufpassen und habe nicht vor, das zuzulassen.“
„Ooooh!“, quietschte meine Libido, „Er hat gesagt, er wird auf uns aufpassen!“
„Deswegen machst du das also“, stellte ich fest, bemüht, meine übereifrige Libido, die gerade in einem imaginären Kleiderschrank kramte, immer mehr Klamotten auf dem imaginären Boden verteilte und dabei verschiedene Variationen von „Nein“; „Nein, das auch nicht“; „Oh Gott, was soll ich nur anziehen?!“ und „Er ist sooo heiß!“ von sich gab, zu ignorieren.
„Hast du eine Idee warum meine Energie so strahlt?“
„Er gehört einem Orden an, der normale Leute wie mich schützen soll. Krieg dich gefälligst wieder ein!“, fuhr ich meine Libido in Gedanken an.
„Naja, Lebensenergie ist erst einmal bei jedem unterschiedlich. Sie kann sich im Laufe deines Lebens immer mal wieder verändern. Sie wird auch von einfachen Dingen beeinflusst, wie zum Beispiel deiner Stimmung. Bist du wütend, sprüht sie Funken, und sie wächst, wenn du kurz vorm Ausbruch stehst. Bist du frisch verliebt, nimmst du meist mehr Energie auf, weil du dann positiv draufbist; hast du dich gerade von jemandem getrennt, hast du nicht so viel Energie, weil du total durch den Wind et cetera bist. Aber das ist bei jedem unterschiedlich. Einige sind ja zum Beispiel erleichtert, wenn sie mit jemandem Schluss gemacht haben. Manche werden außerdem von der Jahreszeit beeinflusst, vom Wetter, von der Ernährung… du siehst also, es gibt verschiedene Faktoren.“
Ich nickte lediglich, von meinen eigenen Gedanken ziemlich abgelenkt.
Zum einen, weil gerade meine Libido, eine mangahafte Version von mir, vor ihrem Schminktischchen saß (so etwas hatte ich nicht einmal!), in den Spiegel starrte und sich schminkte, wobei sie furchtbar unmelodisch „Adrian, Adrian, Adriaaan!“ sang und zum anderen, weil ich nervös überlegte, ob sich wohl auch meine Energieausstrahlung oder wie man das nannte, verändert hatte, weil ich mich, nun ja… ja ganz offensichtlich in Adrian verliebt hatte.
Schon allein das Verhalten meiner Libido war aussagekräftig genug, um diesen Schluss zu ziehen.
„Wie blöd kann man eigentlich sein“, schimpfte ich im Stillen, „konntest wohl keinen noch unerreichbareren Typen aussuchen! Oh, ja, richtig, es gibt ja keinen, der noch weiter entfernt ist!“
„Außer vielleicht dieser Typ, der in ‚Twilight‘ und ‚Atemlos‘ spielt“, warf mein Unterbewusstsein ein, doch ich ignorierte es.
Ich hatte mich in einen Typen, einen Engel, verliebt, der höchstwahrscheinlich sehr viel älter war als ich, sicher schon mit wer-weiß-wie-vielen übernatürlich gutaussehenden Paranormalen zusammen gewesen war, und der mich kleines Menschenmädchen wahrscheinlich als eine Art Nichts ansah, das er jetzt am Bein hatte, weil es leuchtete wie ein gottverdammter ‚mit Lichterketten tapezierter Weihnachtsbaum‘!
Ich hatte mich in den wahrscheinlich schönsten Mann der Welt verliebt, der quasi geschäftlich nach Chicago gekommen war und der, wenn er seine Geschäfte erledigt hatte, wieder abhauen würde. Wie armselig war das eigentlich?!
„Vielleicht habe ich ja diesen Komplex, der die Leute dazu bringt sich nur in die Unerreichbaren zu verlieben“, überlegte ich gerade, als ich von meiner Libido, die ich bis jetzt mehr oder weniger erfolgreich ignoriert hatte, abgelenkt wurde.
„Vielleicht können wir ihn ja nach seinen Geschäften noch ein bisschen zum Bleiben überreden?“, fragte sie weinerlich, wobei sie es irgendwie schaffte, dennoch verführerisch auszusehen. In ihren Manga-Mädchen-Augen glitzerten Tränen.
„Nichts da!“, schnauzte ich sie in Gedanken an, „Ich bin doch kein Zeitvertreib, nach dem Motto: ‚Okay, noch ein bisschen Spaß zusammen, aber dann bin ich weg‘!“
Eine Berührung an meiner Schulter schreckte mich auf. „Hey, kleine Wildkatze, alles in Ordnung?“
„Ein Kosename!“, kreischte meine Libido verzückt.
„Ja, klar, alles okay“, sagte ich schnell und wusste, dass es alles andere als überzeugend klang.
Hoffentlich würde er es auf die Neuigkeiten schieben, die ich gerade erfahren hatte und die Tatsache, dass man bald versuchen würde, mich umzubringen. Mal ehrlich, der Gedanke war nicht gerade abwegig. Überhaupt blieb ich bemerkenswert ruhig, wie ich fand. Ich wäre stolz darauf gewesen, war mir aber dummerweise ziemlich sicher, dass der Nervenzusammenbruch schon hinter der nächsten Ecke lauerte, um sich auf mich zu stürzen, wenn ich am wenigsten damit rechnete, genauso wie die übernatürlichen Mörder.
Er zog eine Augenbraue hoch, fragte dann aber: „Wohin geht’s überhaupt?“
„Willkommen, Ablenkung!“
„Zum Haus Mohnblume“, sagte ich. „Das ist das örtliche Heim. Eines der Wohlhabenderen.“
Er musterte mich aufmerksam. „Lebst du dort?“, fragte er sanft.
„Ja“, erwiderte ich knapp und wünschte, er würde nicht fragen. Aber alle fragten, wenn sie das hörten.
„So wie du dich auf der Straße bewegst, dachte ich, dort wärst du zu Hause.“
„Wow“, stellte ich gedanklich fest, „so schön hat das noch niemand formuliert.“
„Er hat nicht gefragt“, erkannte mein Unterbewusstsein ebenso beeindruckt.
„Ich habe die ersten vier ein halb Jahre meines Lebens auf der Straße gelebt. Und ich wohne in Haus Mohnblume, aber es ist kein zu Hause für mich. Nicht mehr zumindest.“
„Woher hat du deinen Namen?“, hakte er scheinbar zusammenhanglos nach.
Darauf warf ich ihm einen erstaunten Blick zu. „Wie kommst du jetzt darauf?“
„Die Menschen, die auf der Straße leben, haben oft keine Papiere oder Ausweise. Meistens bekommen sie Spitznamen.“
Nickend stimmte ich zu. „Das ist richtig, obwohl das den meisten nicht so klar ist.“ Kurz zögerte ich noch. Die Geschichte, wie ich von der Straße runtergekommen und ins Waisenhaus gekommen war, hatte ich noch nie jemanden erzählt.
Und vielleicht war es keine gute Idee, sie ausgerechnet diesem Engel neben mir zu erzählen.
Doch ich hatte mich verliebt –in ihn.
Und außerdem hatte er mir vorher auch geduldig auf all meine Fragen zu dem paranormalen Zeug geantwortet. Dabei wäre das nicht seine Pflicht gewesen, es hätte gereicht, mir zu erklären, dass er in Zukunft ein Auge auf mich haben würde wegen so ein paar paranormalen Mördern, die vermutlich bald Jagd auf mich machen würden oder es schon taten. Punkt. …Stattdessen hatte er mich eingeweiht und mir auch Dinge erklärt, die mit der momentanen Lage nichts zu tun hatten.
Was mich letztlich zu meiner Entscheidung bewog, war jedoch die Tatsache, dass er Verständnis zu haben schien. Eine ungefähre Ahnung, sowohl vom Leben auf der Straße, als auch dem Leben als Waise. Nicht diese typischen Vorstellungen, gemacht aus Klischees in Filmen und dem, was man so hörte, sondern echtes Wissen.
Mit einem tiefen Atemzug begann ich, meine Geschichte zu erzählen.
„Ich habe nichts zu verlieren“, dachte ich, „entweder er bleibt, oder er geht nachdem er alles erledigt hat. Ich werde die Zeit mit ihm einfach genießen und ich selbst sein.“
„Ich wurde am vierten Dezember in einer Chicagoer Seitengasse geboren, von der wunderbarsten Mutter, die ich haben konnte. Ich bin auf den Straßen dieser Stadt aufgewachsen, als Angehörige und Schützling des Löwenclans.“
„Löwenclans?“
Er hätte nicht vorsichtig nachzuhaken brauchen, ich hätte es ihm so oder so erklärt. Das war etwas, das er nicht wissen konnte. „Es gibt in den Straßen Chicagos verschiedene Straßengruppen. Sie setzen sich aus den verschiedensten Leuten zusammen: Familien, Obdachlosen, Angehörigen der Unterschicht. Der größte gemeinsame Nenner ist, dass diese Gruppen von der gebündelten Stärke und des Zusammenhalts der Einzelnen profitieren und sich wie Straßengangs meist auf ein Viertel oder einen größeren Abschnitt eines Stadtteils konzentrieren.
Eine dieser Gruppen ist jedenfalls der Löwenclan, zu dem meine Mum und ich gehörten. Angeführt wurden wir von Leo. Er heißt soviel ich weiß tatsächlich mit Vornamen so. Für mich war er immer eine Art Vaterfigur, weil ich mich nicht an meinen echten Vater erinnern kann. Er war nicht von der Straße. Meine Mum eigentlich auch nicht.“
Ich änderte leicht das Thema, auch, weil das wirklich so ziemlich alles war, was ich dazu zu sagen wusste. „Cat ist mein früherer Straßenname. Ich bin mir nicht sicher, warum, vielleicht weil ich so leise bin, ein gutes Gleichgewicht habe… oder einfach, weil ich für alle Leos Tochter, also die Tochter des Löwenclanchefs war, und auch jeder das wissen sollte.
Meine Mum war meine Zuflucht vor der Welt und Leo brachte mir bei, wie man in ihr überlebt, ohne davonlaufen zu müssen.
Meine Mutter starb als ich vier war. Sie hatte Krebs. Er war nicht aufzuhalten, und sie wollte nicht ins Krankenhaus, weil wir weder Geld, noch eine Versicherung, noch reiche Freunde hatten.
Nach dem Tod meiner Mutter kam eine schwere Zeit. Das Essen war knapp, Krankheiten breiteten sich rasend schnell aus und der Winter, der bis April andauerte, war schrecklich.
Dann hat Leo beschlossen, dass es so nicht weiterginge. Er wollte, dass mein Leben besser war. Er selbst besitzt eine Bar und mit dem Geld unterstützt er diejenigen im Clan, die keinerlei Einkommen haben und sonst nicht überleben würden. …Wir wussten, dass es bald nicht mehr reichen würde.“
Kurz stockte ich und blickte hinauf in den dunklen Himmel, der von Hauswänden eingefasst wurde. Meine Sicht verwischte langsam, doch ich hob nicht die Hand, um das salzige Wasser loszuwerden. Dann fuhr ich fort. „Ich war fünf Jahre alt, gerade in einem Wachstumsschub, hatte also oft Hunger und kaum noch Klamotten, die mir passten. Trotzdem glaube ich nicht, dass er mich zum Haus Mohnblume gebracht hätte.“
Adrian hob die Brauen. Ich konnte nicht sagen, ob er das guthieß oder nicht. Trotzdem glaubte ich nicht, dass er sich einfach ein Urteil erlauben würde. Zögernd fuhr ich fort, im Wissen, wie seltsam das Folgende sich für ihn anhören würde. „Aber dann, eines Abends, geschah etwas, auch wenn ich immer noch nicht verstehe, was genau. Wir bekamen Besuch von einem Mann, den ich noch nie gesehen hatte, der nicht zum Clan gehörte und der mich sehr aufmerksam ansah. Dieser Mann sprach mit Leo und nachdem er gegangen war, sagte Leo lange kein Wort. Noch in derselben Nacht brachte er mich zum Haus Mohnblume. Er hat mich zur Hintertreppe geführt, mich angesehen und gesagt: ‚Du bist ein großes Mädchen. Du schaffst das schon. Viele der Regeln der Straße sind auch auf dein neues Leben anzuwenden. Es tut mir leid, Kätzchen, aber die Straße ist für dich nicht mehr sicher. Du strahlst immer heller, sie würden dich bald finden. Denk daran: Fürchte dich nicht vor der Dunkelheit. Du wirst auf der Straße immer Freunde haben. Wähle klug deine Freundschaften und bleib du selbst. Ich liebe dich, als wärst du meine eigene Tochter, Kätzchen. Vergiss das nie.‘“ Ich holte tief Luft. Diese Worte hatte ich tief in mir vergraben gehabt. Wenn man sie aussprach, klangen sie kitschig, darum hatte ich sie immer für mich behalten.
Der Eindruck verflog als ich Adrian ansah. Er musterte mich sanft und abwartend.
Ich führte meine Schilderung fort. „Damit drückte er mir einen Kuss auf die Stirn, klingelte an der Hintertür von Haus Mohnblume und versteckte sich in der Dunkelheit.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass er dort stand, bis ich von einer der Erzieherinnen hineingeholt wurde.
Seitdem heiße ich Sarah, weil die Erzieherin, die mich hereinholte, so hieß, Midnight, weil gerade Mitternacht schlug, als sie aufmachte und Lynn weil, und das ist echt das Verrückteste, Llyn auf walisisch See bedeutet, auf altirisch bedeutet Lynn außerdem Wasserfall. Diesen Namen haben sie ausgesucht, weil eines der Lieblingssprichwörter des Direktors ‚Stille Gewässer sind tief‘ lautet.
Ich glaube, er wollte damit auf das Geheimnis meiner Herkunft oder so hindeuten, denn ich habe ihnen nie von meinem vorherigen Leben erzählt.
Sie haben sich selbst zusammengereimt, dass ich auf der Straße aufgewachsen war. Wieso sie mir so einen Namen verpasst haben, weiß ich nicht. Hatten wohl einen Kreativitätsschub. Aber ich mag meinen Namen.
Und der Direktor wurde für mich eine Art Vater, wenn auch nicht wie Leo.
Er war ein sehr guter Mann. Ehrenwert und nett und hat immer zugehört.
Abends hat er sogar in jedem Zimmer vorbeigeschaut, den Kleinen vorgelesen und sie getröstet, sich mit uns unterhalten…“ Ich verstummte, als ich merkte, dass ich anfing herumzufaseln. Beim Erzählen war ich stehengeblieben und bemerkte erst jetzt, dass Adrian mich in seine Arme gezogen hatte.
Etwas peinlich berührt und zugleich trotzig bereit, diese Reaktion zu verteidigen, wischte ich die Tränen fort und löste mich von ihm. „Danke“, sagte ich.
Wortlos nickte er. Als wir unseren Weg fortsetzten, ging er näher neben mir her als vorher.
Es dauerte seine Zeit, bis ich den Mut fasste, die Frage zu stellen, die mir beim Erzählen gekommen war. „Adrian, glaubst du, Leo wusste von euch? Weil er doch sagte, dass ich immer mehr strahlen würde und deswegen nicht mehr sicher wäre. Und wer sollte mich finden? Natürlich habe ich schon früher darüber nachgedacht, aber es hat nie einen Sinn ergeben.“
Adrian trat vor mich, beugte sich vor, sodass er mit mir auf gleicher Augenhöhe war – er war etwa einen Kopf größer als ich – und musterte mich ruhig.
Ich starrte auf sein Kinn, weil es mir zu riskant erschien, bei einem Blick in seine Augen darin zu versinken.
„Ich weiß es nicht, aber ich bin mir sicher, dass er von der verborgenen Welt wusste und ich bin mir auch sicher…“ Er hob mein Kinn an, damit ich ihm in die Augen sah, „…dass er dich sehr geliebt hat und dich um jeden Preis beschützen wollte. Hättest du weiterhin auf der Straße gelebt, hättest du unweigerlich Aufmerksamkeit auf dich gezogen. Daher war ein Heim, in dem du dich unter andere mischen und in dem du die Nacht verbringen konntest, sehr viel sicherer.“
Bei diesen Worten fiel mir etwas Anderes ein: „Warum wurden alle Morde bei Dunkelheit verübt? Seid ihr irgendwie lichtempfindlich?“
Er ging auf den Themenwechsel ein. „Nein, das hat praktische Gründe“, erwiderte er, richtete sich wieder auf und bedeutete mir weiterzugehen. Diesmal schlang er mir sogar einen Arm um die Taille, was in mir ein prickelndes Gefühl, besser als jede Brause, auslöste. „In der Nacht können wir Energie besser erkennen, so wie das Licht einer Laterne ja auch besser in der Nacht zu sehen ist. Sie strahlt dann viel weiter und heller. Wenn ich bei Tag in die Aurasicht wechseln und dich ansehen würde, wäre es, als hätte ich ein Nachtsichtgerät bei Tag aufgesetzt, so gleißend hell strahlst du. Allerdings ist es bei uns auch einfach Instinkt, dass wir nachts auf Energiesicht umschalten. Tagsüber tun wir das so gut wie nie. Es ist sehr viel unauffälliger und auch leichter, einen Mord bei Dunkelheit zu verüben als am helllichten Tag.“
„Klingt logisch“, gab ich zu. „Noch eine Frage: Wieso wurden die Opfer umgebracht? Ich meine, klar, ihnen wurde Lebensenergie ausgesaugt, aber das hinterlässt doch keine optischen Spuren, oder? Aber alle Opfer wurden irgendwie umgebracht. Erstochen, erwürgt, Genickbruch, erschossen und so weiter. Wieso? Ich meine, wenn man das Opfer umbringt, verflüchtigt sich doch die Energie, weil sein Leben dann zu Ende ist, wenn ich das richtig interpretiert habe.“
Adrian nickte. „Du stellst genau die richtigen Fragen. Du hast recht, was das Verflüchtigen der Energie angeht. Deswegen saugen sie auch zuerst die Energie aus. Danach ist der Mensch nur noch eine Hülle, man könnte seinen Zustand als komatös bezeichnen. Alle Organe arbeiten noch, man atmet, körperlich lebt man. Aber auf geistlicher Ebene ist kaum noch etwas da. Meistens lassen sie einem nur die Persönlichkeit, sprich unsere Erinnerungen, die uns zu uns machen. Die filtern sie raus, wenn sie klug sind, weil sie nichts mit ihnen anfangen können und damit sie nicht mit den Erinnerungen oder der Persönlichkeit ihres Opfers herumlaufen. Erst danach bringen sie ihre Opfer wirklich um. Und erst dann hört das Herz auf zu schlagen, die Restenergie verflüchtigt sich und man ist tot.
Aber auch nachdem dir alle Energie ausgesaugt ist, lebst du nicht mehr. Du existierst nur noch. Deswegen ist man nach dem übernatürlichen Maßstab bereits tot, wenn man nur noch Restenergie in sich trägt.“
Ich schluckte. „Und wenn einem nur etwas abgezapft wird? Ich meine, wenn man rechtzeitig aufhört, was passiert dann?“
„Dann ist es genauso als würdest du zur Blutbank gehen und dort Blut spenden. Danach ist dir schlimmstenfalls schwindelig und du fühlst dich, im wahrsten Sinne des Wortes, energielos, aber das gibt sich. Du nimmst neue Energie auf oder bildest neue und alles ist okay. Man kann bis zu einem gewissen Grad die verlorene Energie neu bilden, aber wenn du die Grenze überschreitest und mehr Energie verlierst als du bilden kannst, ist es aus.“
„Das ist ja wirklich wie bei Blut“, dachte ich.
„Wann geht’s hier endlich mal zur Sache? Hast du kein anderes Thema außer Mord, Energie und Blut?! Also ich wüsste wofür ich jetzt Energie hätte“, maulte meine Libido.
„Schnauze!“, zischte ich zurück. „Beschwer dich nicht, immerhin liegt sein Arm um meine Taille!“
Sofort verfiel sie wieder ins Schwärmen und ich ignorierte sie wieder. Notiz an mich selbst: Ablenkung hilft!
Vor uns kam Haus Mohnblume in Sicht. Darauf deutend erklärte ich: „Das ist es.“
Wir blieben in einiger Entfernung in den Schatten stehen.
„Wieso heißt es Haus Mohnblume?“, fragte er und musterte es eingehend. Wahrscheinlich erkannte er sehr viel mehr als ich, obwohl auch ich eine ungewöhnlich gute Nachtsicht besaß.
„Glaub mir, das fragen wir uns auch. Die Direktorin behauptet, dass dort früher Mohnblumen rund ums Haus gewachsen sind und dass es deswegen so herausstach, dass es im Volksmund nur noch ‚Haus Mohnblume‘ genannt wurde, also ‚das Haus mit den Mohnblumen‘. Aber das muss schon einige Zeit her sein, weil hier nämlich nicht mal eine einzige Mohnblume, oder sonstige Blumen außer Löwenzahn und Gänseblümchen wachsen. Aber zumindest bei uns Bewohnern heißt es nur ‚in der Mohnblume‘ weil niemand ‚Heim‘ sagen will.“
Er nickte und sah wieder hinüber.
Die meisten Fenster waren dunkel. Sehr einladend konnte es nicht auf ihn wirken, auch ohne meine Erzählung.
„Sie werden sich wohl schon Sorgen machen wo du bleibst. Schließlich treibt ‚ein Mörder sein Unwesen‘.“
Verneinend schüttelte ich den Kopf: „Ich denke nicht, dass sich eine der Erzieherinnen Gedanken macht. Sie haben uns zwar nahegelegt, vor Dunkelheit da zu sein, aber die Sperrstunde ist für jeden ab sechzehn zweiundzwanzig Uhr und jetzt ist es…“, ich schaute auf meine Uhr, „…viertel vor zehn. Aber die Anderen werden sich vielleicht Sorgen machen.“
Gerade wollte ich mich – widerwillig – von ihm lösen, als er mich in eine Umarmung zog. Er legte sein Kinn auf meinen Kopf und sagte: „Auf Wiedersehen, kleine Wildkatze. Pass auf dich auf.“
Er wich ein wenig zurück und sah mir fest in die Augen.
„Ist dir klar, dass das erste, was du je aus seinem Mund gehört hast, ein Kompliment war? Das würde eine so süße Kennlerngeschichte abgeben!“, schwärmte meine Libido.
„Ach ja, das kann ich mir schon richtig vorstellen“, zog mein Unterbewusstsein es ins Lächerliche, „ ‚Tja, also kennengelernt haben wir uns in einer finsteren Gasse. Adrian hatte ein Messer in der Hand und ich dachte, dass er mich umbringen wollte, aber dann fragte er mich, ob ich wüsste, was für schöne Augen ich hätte.‘“
Das klang tatsächlich lächerlich. Zum Glück konnte ich, gefesselt von seinem Blick, nicht weiter darüber nachdenken.
Trotzdem schien es ihm vorzukommen, als wäre ich nicht ganz bei ihm.
„Cat? Hör mir zu. Versprich mir, dass du dich vor Einbruch der Dunkelheit an einen sicheren Ort mit Dach und wenigstens vier Wänden begibst und dort bleibst, bis es wieder hell wird! Und das jeden Tag!“
Oho, er konnte mich schon jetzt gut einschätzen. Er hatte seine Bedingungen so gut ausformuliert, dass selbst ein Anwalt Schwierigkeiten hätte, Schlupfwinkel darin zu finden. Allerdings hatte er ja auch Zeit zum Üben gehabt. „Versprich es!“, forderte er, als ich nachdenklich und ihm wohl zu lange schwieg.
„Okay, ich versprech’s.“
„Was versprichst du?“
Ich seufzte. Er war gut! „Ich verspreche, mich jeden Tag vor Einbruch der Dunkelheit an einen sicheren Ort mit mindestens vier Wänden und Dach zu begeben und dort zu bleiben, bis es wieder hell wird“, leierte ich herunter und hob die Hände, um zu zeigen, dass ich die Finger nicht kreuzte.
„Danke“, flüsterte er in mein Haar und drückte einen Kuss hinein, woraufhin meinem imaginären Manga-Püppchen-Ich sämtliche Haare zu Berge standen. Schon in der nächsten Sekunde trug es ein Cheerleader-Kostüm, schwenkte diese komischen Wuscheldinger, deren Namen ich immer vergaß, verrenkte sich und rief dabei: „Go, Go, Go Cat, Go, Go, Goooo Caat! Cat vor, noch ein Tor, oooh…, Team! Das ist mein Mädchen!“
„Werde ich dich wiedersehen, oder verschwindest du jetzt einfach? Jetzt, wo du mir dieses Knebel-Versprechen abgenommen hast?“, fragte ich, wobei meine Stimme leicht zitterte.
Ernsthaft?!
Ich hatte mit ruhiger Stimme mit dem Mann gesprochen, von dem ich gedacht hatte, er würde mich umbringen; ich hatte mit ruhiger Stimme mit dem Engelskrieger über Mord, Energieaussaugen und eine verborgene Welt gesprochen, nur um bei solch einer banalen Fragen das Stimmenzittern zu kriegen?!
Mein Unterbewusstsein starrte mich ungläubig an; meine Stimme der Vernunft warf resigniert das Handtuch und meine neue Libido stand regungslos in ihrem Cheerleader-Outfit da und wartete auf seine Antwort.
Adrian senkte den Kopf zu meinem Ohr und ich muss zugeben, dass ich in dem Moment wahrscheinlich große Ähnlichkeit mit meiner Libido aufwies. „Natürlich sehen wir uns wieder“, flüsterte er, „Ich muss dich schließlich beschützen, kleine Wunderkerze.“
„Versprochen?“, flüsterte ich, diesmal ohne Stimmenzittern, dafür aber ziemlich leise.
Meine Libido hielt den Atem an und ich tat das Gleiche.
„Ja.“ Sein Atem kitzelte an meinem Ohr.
Ich konnte zuerst nicht reagieren, bis meine Libido mich aus meiner Benommenheit riss, indem sie wieder wild herumtanzte, mit den Wuscheldingern wedelte und so laut „Er hat ja gesagt!“ kreischte, dass es deutlich in meinem Kopf widerhallte und sich mit dem Echo des einen Wortes mischte.
Guut, Zeit, die Spannung zu lockern.
„Was versprichst du?“, wollte ich wissen.
Er lachte und trat zurück, um wie ich die Hände zu heben. Unbewaffnet und keine gekreuzten Finger. „Ich verspreche, dass du mich wiedersehen wirst.“
„Okay“, sagte ich und versuchte – vermutlich erfolglos – meine Erleichterung und Freude zu verbergen.
„Du bist armselig“, stellte mein Unterbewusstsein nüchtern fest.
Er umarmte mich noch einmal – wenigstens schien er genauso schwer von mir loszukommen wie ich von ihm – und ließ mich los. Ich sog seinen verbleibenden Geruch – Kardamom mit Aftershave, und fragt mich nicht, woher ich das so genau wusste – tief in meine Lunge, trat ebenfalls einige Schritte zurück, winkte trottelmäßig und drehte mich zum Haus um.
Ich spürte seinen Blick auf dem ganzen Weg, aber als ich den Eingang erreichte und zurück schaute, war er verschwunden. Verschmolzen mit den Schatten.
Ich öffnete die Tür und lächelte, weil ich wusste, dass ich ihn wiedersehen würde. Er hatte es versprochen. Und bis dahin hatte ich mich an mein eigenes Versprechen zu halten. Seufz.
Ich betrat das Haus, schloss leise die Tür hinter mir und warf noch mal einen schnellen Blick auf die Armbanduhr. „Zehn vor zehn. Alles im grünen Bereich.“
Um Punkt dreiundzwanzig Uhr würde die Tür verschlossen werden und schon um zehn würde sich eine der Drachen auf die Lauer legen.
Alle, die bis dahin nicht zurück waren und dann womöglich klingeln mussten, würden einen Mega-Vortrag bekommen, nach dem die meisten heulten…
Ein Schicksal, dem ich bisher erfolgreich, wenn auch öfters knapp entgangen war.
Der Flur war dunkel wie gewöhnlich; wir sollten Strom sparen. Haus Mohnblume war ein im viktorianischen Baustil errichtetes, sehr altes Haus.
„Sagt diejenige, die sich in einen Typen verliebt hat, der wahrscheinlich älter ist als dieses Gebäude“, schleuderte mein Unterbewusstsein mir entgegen. „Diese Typen sind doch immer unglaublich alt, das ist in allen Büchern so. Wahrscheinlich hat er dir Jahrhunderte voraus.“
Ich war sofort im Kratz-Modus. „Na und?! Ihm sieht man es jedenfalls nicht an!“, fauchte ich zurück.
„Genau!“, gab meine Libido mir Rückendeckung.
„Ach, wer hat denn so endlos über den Ausdruck seiner Augen nachgedacht, der älter ist als es zu seinem sonstigen Aussehen passt?“, fragte mein Unterbewusstsein zuckersüß und grinste triumphierend.
In meiner Gedankenwelt stürzte meine Libido sich mit einem „Nimm das!“ auf sie und krallte sich in ihren Haaren fest.
Während die beiden ihren Kampf ausfochten, setzte ich meinen vorherigen Gedankengang fort.
Früher war dieses Haus mal eine Stadtvilla von irgendwelchen Adligen gewesen, später eine ‚Schule für junge Damen‘, danach ein Mädcheninternat der Oberschicht und nach dessen Schließung hatte es einige Jahre leer gestanden.
Schließlich war es, vor vielleicht neunzig Jahren oder so, zu einem Heim geworden, nachdem irgendeine reiche Milliardärin ihr gesamtes Vermögen der Stadt hinterlassen und in ihrem Testament verfügt hatte, dass mit dem Geld die Entstehung eines ‚Heims für heimatlose Kinder und Jugendliche‘ finanziert werden sollte. Also restaurierte die Stadt das Haus soweit es nötig war und machte es dazu… oder zumindest zu einer Bleibe für Kinder, denn als Heim, wie in „Zuhause“, bezeichnete es niemand, zumindest keiner von uns.
Erst Recht nicht mehr, seit Mrs Schneider unseren alten Direktor ersetzt hatte.
Allerdings war das Haus groß – es besaß drei Stockwerke –, es war modern eingerichtet und verfügte durchaus auch über gemütliche Ecken.
In meinen ersten Jahren hier war es in dem schmalen Eingangsflur ziemlich düster gewesen, doch vor sieben Jahren waren seine Wände in einem dunklen Rot gestrichen worden, wodurch er schon sehr viel freundlicher wirkte.
Ich durchquerte leise den Flur und die angrenzende Küche, von der eine Tür zum Büro der Direktorin, hinter dem auch ihre Wohnung lag – links –, und eine zum Aufenthaltsraum der Drachen, auch Betreuerinnen genannt – rechts –, führte, wobei keiner von uns jemals die Drachenhöhle – den Betreuerraum – betreten durfte …als ob wir das gewollt hätten.
Als ich an der Drachenhöhle vorbei kam, duckte ich mich, denn in die obere Hälfte der Tür war ein kleines Fenster eingelassen. Darauf bedacht, keinen Laut zu verursachen, auch wenn ich noch rechtzeitig kam, vermied ich es stets so gut wie möglich, einen der Drachen auf mich aufmerksam zu machen.
Die dritte Tür, dem Flur gegenüber, führte ins Treppenhaus. Diese wählte ich und schlich leise die Treppe hinauf, wobei ich mich am Rand der Stufen hielt um einen Knarz-Laut zu vermeiden. Die Treppe führte zu einem kleinen Absatz, um die Kurve und weiter hinauf.
Im ersten Stock angekommen, lugte ich erst einmal vorsichtig um die Ecke.
Die Treppe mündete in der Mitte eines Flurs und am rechten Ende dieses Flurs stand ein gemütlicher, alter, hässlich grüner Ohrensessel, in dem oft ein Drache lauerte.
Im ersten Stock befanden sich der Esssaal, der zugleich auch Hausaufgaben- und Versammlungsraum war; eine Abstellkammer in der Bettwäsche, Putzmittel, Staubsauger und ähnliches aufbewahrt wurden; und der Chillraum, in dem es Bücher, gemütliche Sitzangelegenheiten und drei PCs gab.
Schön und gut, allerdings befand sich mein Ziel im zweiten Stock.
Auch heute lauerte im Sessel ein Drache, allerdings schlafend.
Unwillkürlich dachte ich an das Sprichwort: „Schlafende Drachen sollte man nicht wecken.“
Wie recht wer-auch-immer mit dieser Aussage gehabt hatte. …Oder hatte der von Hunden geredet?
In diesem Fall jedenfalls war der schlafende Drache Mrs Grown, die Ende fünfzig und seit ich sie kannte Witwe war. Flüchtig fragte ich mich, ob sie früher wohl netter gewesen und einfach verbittert war, oder ob sie ihren Mann wohl genauso behandelt hatte wie uns.
„Wenn ja, ist er wahrscheinlich gestorben um von ihr weg zu kommen. Oder er hat seinen Tod vorgetäuscht und eine andere Identität angenommen“, dachte ich und schämte mich gleich darauf für diesen Gedanken. Das war wirklich ziemlich fies.
„Konzentrier dich!“, mahnte meine Vernunft, die erstmals wieder auftauchte, seit sie das Handtuch geworfen hatte. Ich war erleichtert, dass sie meine Gedankenwelt nicht für immer verlassen hatte. Und sie hatte Recht.
Mrs Grown war sehr hellhörig und würde wahrscheinlich sogar von einer fallenden Stecknadel geweckt werden.
„Okaaay“, dachte ich und konzentrierte mich auf mein Anliegen, über den Flur zur Treppe auf der anderen Seite gelangen, die in den zweiten Stock führte. Hätte ich es erst einmal um die Wende geschafft, die die Treppe auch hier auf halbem Weg machte, wäre ich in Sicherheit.
Das alles musste ich lautlos hinbringen, beziehungsweise ohne die Grown zu wecken. Problem: Die Treppe zum zweiten Stock hatte es an sich, zu quietschen und zu knarzen.
Auch am Rand.
Weshalb die Drachen auch so gern hier Stellung bezogen.
Aber ich wusste, wie ich dieses Problem umgehen konnte.
Ich ging leicht in die Hocke, sammelte mich und konzentrierte mich auf mein Ziel: Das metallene, etwa elf Zentimeter breite Treppengeländer auf der anderen Seite des Flurs. Dann rannte ich los. Meine Schuhe erzeugten keinerlei Geräusch auf dem Laminatboden des Flurs und dann sprang ich.
Es fühlte sich an wie Minuten, in denen die Zeit stehen blieb, in denen ich in der Luft schwebte, frei von der Schwerkraft, aber ich wusste, dass dem nicht so war.
Dann lief die Zeit weiter und ich landete in geduckter Haltung und Fuß hinter Fuß auf dem Treppengeländer.
Ich spürte, wie es die Bewegung leitete, aber es bewegte sich nicht, sondern hielt stand. Wie schon die vielen Male zuvor. Dieses Geländer war aus einem unbiegsamen Material und hielt so gut wie jedes Gewicht aus.
„Zehn Punkte für Cat“, grinste ich still.
Auf den Straßen war ich für diese Art Sprünge bekannt gewesen. Sprünge, wie sie nur Katzen in solcher Perfektion beherrschten. Sogar einige ältere Jungs die Parcours machten hatten mich gefragt, was mein Trick sei. Ich hatte mich dasselbe gefragt. Mittlerweile dachte ich nicht mehr großartig darüber nach.
Langsam richtete ich mich auf und wanderte auf dem Treppengeländer in den zweiten Stock, von wo ich federnd auf den Boden sprang.
Auch hier mündete die Treppe in der Mitte eines Flurs. Direkt auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs befand sich der Gemeinschaftsraum, der Raum, in dem wir uns neben dem Chillraum am liebsten aufhielten.
Links von ihm lagen die Duschräume der Mädchen, rechts die der Jungs.
Ich betrat den Raum der direkt links neben der Treppe lag. Dort befand
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Publication Date: 10-04-2013
ISBN: 978-3-7438-7002-4
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