Kapitel 1
+++ Sonntag, 01.08.2004 – Düsseldorf +++
Es geht nicht gerecht zu auf der Welt! Jedenfalls momentan. Wie sonst ließe sich erklären, dass ich gerade auf dem Fensterplatz eines Fliegers nach Mallorca sitze, um von dort eine 10-tägige Reise durchs Mittelmeer zu starten. Mit dem Kreuzfahrtschiff! Rentner machen eine Kreuzfahrt, aber doch kein 19jähriger Junge, der vor einigen Tagen sein Abitur bestanden hat.
„Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich wirklich diese Scheiße mitmachen muss“, sage ich vorwurfsvoll zu meiner Mutter, die neben mir sitzt und interessiert das Werbeheft der Airline auf mögliche Duty-Free Schnäppchen überprüft.
„Bernd, das Thema haben wir doch jetzt mehrfach besprochen. Ich will einfach, dass du in der freien Zeit vor dem Studium etwas Sinnvolles mit dir anfängst und nicht den ganzen Tag vor dem Computer verbringst.“
„Vor dem Computer? Mama, ich habe dir tausendmal gesagt, dass ich mit Arturo, Ben und Marc nach Bulgarien zum Campen fahren wollte.“
„Der Computer war doch nur ein Beispiel. Was soll denn an diesem Campingurlaub bitte sinnvoll sein?“, fragt meine Mutter mich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Gut, von Ben könntest du vielleicht ein bisschen Zielstrebigkeit lernen, der ist ja der einzige von euch, der sich schon für einen Studiengang entschieden hat. Und dann auch noch so was Vernünftiges wie Jura ... Aber dieser Arturo ist wirklich kein guter Umgang. Bei der letzten Klassenpflegschaftssitzung vor eurem Abitur ging sogar das Gerücht um, er habe die neue Referendarin verführt.“
Nur mit Mühe verkneife ich mir ein Grinsen – Arturo ist wirklich ein Frauenheld und die Sache mit Frau May ist natürlich nicht nur ein Gerücht – und lasse ich mir gegenüber meiner Mutter nichts anmerken.
„Meine Güte Mama, wir sind keine Kinder mehr, da hat man eben auch Sex.“
„Alle außer dir!“, mischt sich Volker, der auf dem Gangplatz neben meiner Mutter sitzt, in das Gespräch ein. Dabei lacht er laut und schaut erwartungsvoll meine Mutter an, in der Hoffnung, sie würde über diesen gelungenen Spaß mitlachen. Volker ist der neue Freund meiner Mutter. Sie haben sich im Schwimmbad kennengelernt, er ist dort Bademeister. Früher war er mal in irgendeiner Schwimmauswahl und das sieht man ihm an. Er ist zwar ein gutes Stück kleiner als ich, dafür aber kompakt und bestimmt doppelt so breit. Ich halte ihn für nicht sonderlich clever, meine Mutter ist dennoch vernarrt in ihn. Sie sind jetzt ein halbes Jahr zusammen und er hat bislang keine Gelegenheit ausgelassen, mich zu gängeln.
Tatsächlich kann sich meine Mutter ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen.
„Volker, lass den Jungen in Ruhe“, sagt sie tadelnd. Ich kann ihr aber ansehen, dass sie es ihm nicht übel nimmt. „Manche brauchen eben etwas länger“, ergänzt sie, als ob es das besser statt schlimmer machen würde.
Ich kann nicht fassen, dass meine Mutter ihm das wirklich erzählt hat! In der Tat bin ich noch Jungfrau und hatte gehofft, das ließe sich in Bulgarien ändern. Arturo hatte versprochen, mir zu helfen und auch von Marc, der jetzt schon einige Zeit mit seiner Freundin Davina zusammen ist, hatte ich mir ein paar Tipps erhofft.
"Es ist ja nicht so, dass du richtig scheiße aussiehst“, hatte Arturo mir noch vor dem Urlaub in seiner unnachahmlich charmanten Art erläutert, „du bist groß und blond, da stehen die Frauen drauf, wirst schon sehen. Du musst einfach mal was riskieren, dann läuft das.“
Während mir dieser letzte Satz durch den Kopf geht, suche ich zeitgleich fieberhaft nach einer schlagfertigen Antwort für Volker, mir will aber partout nichts einfallen. Das passiert mir oft, wenn mir etwas peinlich ist. Ein kleiner Blackout. Zu allem Überfluss laufe ich rot an, was Volker natürlich nicht verborgen bleibt. Hämisch grinst er mich an. Mein Leben ist einfach ungerecht zurzeit.
Kapitel 2
+++ Sonntag, 01.08.2004 – Mallorca +++
Kaum gelandet, erwartet mich die nächste Hiobsbotschaft.
„So, jetzt müssen wir nur gucken, wo die Anderen sind, dann nehmen wir ein Großraumtaxi zum Hafen“, eröffnet mir Mama, als wir gerade die Koffer vom Gepäckband gehievt haben und zum Ausgang gehen.
„Die Anderen?“
Verdutzt schaue ich meine Mutter an, die meine Überraschung offenbar nicht nachvollziehen kann.
„Habe ich denn gar nicht erzählt, dass Barbara und Edgar auch mitkommen?“
Barbara und Edgar, bzw. „Babs und Eddy“, sind alte Freunde meiner Eltern, die ich eigentlich sehr mag. Ihre Tochter Sandra ist ein Jahr jünger als ich, also jetzt 18. Als Kinder haben wir viel zusammen gespielt und waren vor einigen Jahren dann sogar für kurze Zeit ein Paar. Sie war das erste Mädchen, das ich geküsst habe. Leider hielt unsere „Beziehung“ nur drei Wochen. Eddy nahm damals eine neue Stelle in einer anderen Stadt, ca. 150 Km entfernt von uns, an und die Familie hatte sich entschieden, mit ihm umzuziehen.
Ich hätte zwar gerne versucht, trotzdem mit Sandra zusammenzubleiben, aber bei unserem letzten Treffen vor dem Umzug sagte sie mir, dass wir ohnehin keine Zukunft hätten. Ich sei ihr einfach noch nicht männlich genug. Dies mit 16 von einer 15-jährigen zu hören, nagte ganz schön an meinem Selbstbewusstsein. Manchmal glaube ich, so wirklich verwunden habe ich das bis heute nicht. Kontakt hatten wir danach keinen mehr. Vor einiger Zeit ist die Familie zwar wieder zurück in unsere Stadt gezogen, Sandra habe ich aber trotzdem noch nicht wiedergesehen. Um ehrlich zu sein, habe ich auch kein großes Verlangen danach, sondern hoffe eher, ihr möglichst lange aus dem Weg gehen zu können. Ein Glück, dass wenigstens sie nicht mit auf der Kreuzfahrt ist.
„Ach ja, und es fahren natürlich auch Sandra und ihr Freund Rene mit“, ergänzt in diesem Moment meine Mutter.
Na wunderbar. Ich werde diesen Sommer also nicht nur Jungfrau bleiben, sondern muss auch noch die Demütigung ertragen, Sandra mit ihrem sicher vor Testosteron strotzenden Freund zu erleben. Womit habe ich das nur verdient? Gerade, als ich im Selbstmitleid versinken will, tippt mir jemand auf die Schulter. Ich drehe mich um und sehe eine kleine junge Frau, vielleicht 25 Jahre alt, in Kapuzenpulli und einer dieser weiten Aladin-Hosen aus Seide. Sie hat rotblonde Dreadlocks, in denen vereinzelt bunte Perlen eingearbeitet sind und die sie zu einem lockeren Zopf gebunden hat. In der Nase trägt einen kleinen Silberring. Was will die denn von mir?
„Kann ich Ihnen helfen?“, frage ich.
„Ja, das können Sie in der Tat“, erwidert die Frau so betont höflich, dass es nur gespielt sein kann. „Ich würde gerne irgendwann diesen Flughafen verlassen. Dies ist mir allerdings dank Ihnen und Ihres Koffers nicht möglich.“
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich tatsächlich die Drehtür nach draußen blockiere und sich hinter mir eine kleine Menschentraube gebildet hat. Offenbar bin ich bei der Info meiner Mutter, dass Sandra und ihr Freund mitkommen, einfach stehen geblieben.
„Sorry. Ich bin übrigens Bernd.“
Warum habe ich das jetzt gesagt?
Die gleiche Frage stellt sich wohl ebenfalls die junge Frau, denn ich ernte ein genervtes Stirnrunzeln.
„Schön für dich, Bernd. Jetzt beweg bitte dich und deinen Koffer durch diese Tür.“
Ich spüre, wie ich wieder rot anzulaufen drohe und gehe schnell durch die Drehtür. Hier stolpere ich direkt in die Arme von Babs, Eddy, Sandra und Rene, die wohl bereits auf uns gewartet haben. Mein erster Blick gilt Sandra, die immer noch so hübsch ist, wie ich sie in Erinnerung habe. Sie ist verhältnismäßig groß, sicher 1,80 m, gertenschlank und ihre langen dunklen Haare reichen ihr bis weit über die Schultern. Ein bisschen weniger Schminke hätte es auch getan, geht mir kurz durch den Kopf, aber das tut ihrer Schönheit keinen Abbruch. Ihren dunklen Reh-Augen sehe ich an, dass sie genauso erfreut über unser Treffen ist, wie ich.
„Hi Sandra, lange nicht gesehen“, stammle ich und reiche ihr unsicher die Hand.
„Hallo Bernd“, antwortet sie ohne gefühlsmäßige Regung und ohne meine Hand zu ergreifen. „Das ist Rene, mein Freund“, fährt sie fort und zeigt dabei auf den dunkelhaarigen, braun gebrannten Muskelberg hinter sich, der schon um die 30 sein muss. Dieser ergreift gleich meine noch ausgestreckte Hand und schüttelt sie heftig. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien, sein Händedruck ist wie ein Schraubstock.
„Tach Bernd, schön dich kennenzulernen“, sagt er und wendet sich ohne ein weiteres Wort an Volker, um sich ebenfalls vorzustellen. Ihr Gelächter zeigt, dass sie sofort auf einer Wellenlänge liegen. Gleich und gleich gesellt sich offenbar wirklich gern.
Babs und Eddy kommen näher und umarmen mich. „Hey Sportfreund, du bist ja richtig groß geworden“, lobt mich Eddy, der mich mit echter Herzlichkeit begrüßt. Nachdem er sich mit einem kurzen Blick vergewissert hat, dass uns keiner zuhört, macht er eine Kopfbewegung in Richtung Volker und Rene. „Na, da haben sich ja zwei Intelligenzbestien gefunden, was?“, raunt er mir verschwörerisch ins Ohr. Ich muss grinsen und Eddy schlägt mir lachend auf die Schulter.
Die Fahrt mit dem Taxi verläuft unspektakulär. Wir unterhalten uns über den Flug und wie unverschämt es doch ist, dass Brian-Air jetzt sogar Geld für die Getränke nimmt. Am Hafen angekommen, geht es direkt zum Check-In. Ein freundlicher Mann, auf dessen Namensschild „Alberto“ zu lesen ist, lässt sich unsere Pässe geben, tippt die Namen in den Computer ein und verteilt die Zimmerkarten. Babs und Eddy erhalten eine Außenkabine in der ersten Ebene, ebenso Mama und Volker. Dann wendet sich Alberto in perfektem Deutsch an Sandra, Rene und mich.
„Es tut mir unendlich leid, aber wie bei Flugzeugen nutzen auch wir die Möglichkeit der Überbuchung. Leider haben diesmal wirklich alle Passagiere eingecheckt, sodass wir statt zwei nur noch eine Kabine im Innenraum übrig haben, die Sie sich teilen müssen. Als Entschädigung erhalten Sie ein blaues Armband, sodass Sie ab 17.30 Uhr an der Bar die Getränke umsonst bekommen.“
Sandra findet als Erste ihre Sprache wieder. „Das ist doch nicht Ihr Ernst? Wie stellen Sie sich das vor?“, keift sie Alberto an,
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Kimon Rudisch
Images: kuleczka/Shotshop.com
Cover: kuleczka/Shotshop.com
Publication Date: 10-18-2020
ISBN: 978-3-7487-6156-3
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