Cover

1.

Das ist schon die dritte Tablette seit heute Nacht.

Max warf die angebrochene Blisterpackung der Migränetabletten, aus welcher er eben eine herausgedrückt hatte, neben sich und griff nach der Mineralwasserflasche neben seinem Bett.

Zeitgleich dröhnte ein durchdringendes Geräusch durch das ganze Haus. Ihm war, als hätten sich sämtliche Straßenbauarbeiter der Stadt neben ihm am Bett versammelt, um dort mit ihren Presslufthämmern die Wände des Wohnhauses einzureißen. Er presste sich die Hände auf die Ohren und sank stöhnend auf sein Kissen.

Nein, das wurde nichts. In diesem Lärm konnte er seine Migräne nicht auskurieren. Er hatte sich heute eigentlich freigenommen, um seinen dröhnenden Schädel zu besänftigen und weil er vor lauter Kopfschmerzen nicht mehr klar denken konnte. Doch seine Wohnung war derzeit der schlechteste Ort, um sich zu erholen.

Vor einer Woche war über ihm jemand Neues eingezogen, der offenbar die komplette Wohnung umgestaltete, inklusive Abriss und neu Aufzimmern. Der Krach, der seit einer Woche von oben herunterdrang, war nicht mehr zum Aushalten. Ständig marschierten Arbeiter mit schweren, harten Sicherheitsschuhen die Treppen auf und ab, klapperten mit Materialien, Leitern und anderen Gerätschaften gegen die Wände und das Treppengeländer und verursachten zusätzlichen Lärm.

Mit einem Knurren schwang sich Max aus dem Bett und ging zum Fenster, um die Rollos hochzuziehen. Migräne kurierte man am besten im Dunkeln aus, doch bei dem Lärm war alles zu spät. Dann schlüpfte er in eine Hose, warf sich einen Pullover über sein zerknittertes Schlaf-T-Shirt und verließ seine Wohnung, um dem neuen Mieter seine Meinung zu geigen. Die Hausverwaltung hatte ihm zwar mitgeteilt, dass hier Renovierungsarbeiten getätigt wurden, dennoch war es extrem nervig. Gesetzlich konnte er nicht dagegen an. Die Arbeiter hielten die Ruhezeiten ein, doch die waren für Max nicht genug. Schon um sieben ging es los. Toujour bis zwölf durch, um dann nach der Mittagspause um zwei erholt und in alter Frische loszulegen bis um sechs Uhr abends.

Das war einfach nicht mehr auszuhalten.

Im kalten Flur kamen ihm ein paar Arbeiter entgegen, bepackt mit Eimern voller Bauschutt und Müll und trampelten die Treppe herunter. Max drückte sich an die Wand und ließ sie vorbeiziehen. Seufzend sah er ihnen hinterher und setzte anschließend seinen Weg fort.

Die Tür zur Wohnung stand weit offen. Erneut ratterte das markerschütternde Geräusch eines Presslufthammers durch das Haus. Max hielt sich die Ohren zu und trat ein. Er wartete eine Pause ab und rief: „Hallo?“

Ein Mann, Ende Dreißig, sein Arbeitsoverall von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt, kam aus dem Badezimmer und blickte ihn fragend an.

„Hallo!“, erwiderte er und nahm seinen Gehörschutz ab. „Kann ich was für Sie tun?“

„Ja“, nickte Max und verzog sein Gesicht vor Schmerz, als ihm die Migräne einen schmerzhaften Stich in die rechte Kopfhälfte versetzte. „Wie lange dauert das noch?“

„Darf ich fragen, wer Sie sind?“, erkundigte sich der Mann leicht unwirsch.

„Der Mieter von unten“, erklärte Max. „Mir platzt gleich der Kopf von all dem Lärm. Wie lange wird das noch dauern?“

„Die ganze Wand im Badezimmer muss raus, weil sich da der Schimmel festgesetzt hat. Ich schätze mal noch zwei Tage.“

Max verzog noch heftiger sein Gesicht und seufzte resigniert. „Zwei Tage noch?“ Er schnaufte tief. „Danke.“ Damit drehte er sich um und marschierte zurück in seine Wohnung. Noch bevor er sich ins Bett fallen lassen konnte, dröhnte der Bohrmeißel erneut durch das Mauerwerk und brachte die Einrichtung zum Tanzen.

Mit einem gequälten Laut, hievte sich Max wieder auf die Beine, schnappte sich sein Telefon und rief seinen besten Freund Karl an, um bei ihm um Asyl zu bitten. Karl hatte nur ein kleines Appartement, bei welchem er auf einem unbequemen, durchgelegenen Zweisitzersofa schlafen müsste. Dennoch war es besser, als in seiner eigenen Wohnung.

Karl war nicht zu erreichen. Es war kurz nach zehn Uhr Vormittag. Er war vermutlich noch in der Uni, wo er sein Handy obligatorisch ganz ausschaltete. Auch Sabine, Karls Freundin, ging nicht an ihr Telefon. Resigniert ließ sich Max in seinen Fernsehsessel sinken und überlegte, was er machen sollte. Zwei weitere Tage konnte er hier unmöglich verbringen. Dann wäre sein Kopf wirklich geplatzt und irgendjemand müsste dann die Sauerei aufwischen.

Als der Bohrmeißel abermals ohne Pause durch das Haus dröhnte, zog er sich an, hüllte sich in seinen dicken Wintermantel und verließ die Wohnung. Draußen war es arschkalt. Doch die frische Luft tat seinem pochenden Kopf und seinem gepeinigten Gehör gut.

Eine Stunde lang wanderte er ziellos durch die Gegend, bis sein Kopf so sehr hämmerte, dass er es nicht mehr aushalten konnte. Zudem hatte sich die klirrende Kälte bereits bis in seine Knochen ausgebreitet und seine Zehen trotz dicker Winterstiefel in kleine Eisklötze verwandelt. Er suchte sich ein Café, schob seinen Hintern auf einen der knallroten Kunstlederbänke und überflog die Auswahl der Getränkekarte lustlos.

Kaffee und Migräne vertrugen sich nicht sonderlich gut. Während eines Migräneanfalles wurde ihm davon kotzübel. Daher wählte er einen Tee – irgendeinen – er war kein Teetrinker und wollte nur etwas Warmes in seinem Bauch.

Seine Augen schmerzten und die ganze rechte Kopfhälfte piesackte ihn mit schmerzvollen Stichen. Scheiß Migräne. Musste sie ausgerechnet mit den Renovierungsarbeiten in der Wohnung über ihm zusammenfallen?

Bis vor Kurzem hatte dort noch eine ältere Dame gewohnt, von der man weder etwas hörte noch sah. Sie hatte bis zu ihrem Umzug in ein Seniorenheim zurückgezogen gelebt. Es war ein sehr ruhiges Wohnen gewesen, in dem Mehrparteienhaus in der Innenstadt, ganz in der Nähe seiner Arbeitsstätte. Ein paar Blocks weiter gab es sogar einen kleinen Park. Als Max die Wohnung vor drei Jahren bezogen hatte, als er vom Land in die große Stadt zog, um seine neue Anstellung als Einkäufer in einem Modehaus anzunehmen, war er glücklich gewesen, ein beschauliches Heim in einer so ruhigen Gegend ergattert zu haben. Dass drei Jahre später Presslufthämmer durch das Haus ratterten und drohten, seinen Verstand niederzumeiseln, wer konnte das schon ahnen.

Ewig konnte das ja nicht andauern.

Zwei Tage noch, hatte der Vorarbeiter gesagt. Es würden zwei sehr anstrengende Tage werden.

Lustlos schlürfte Max an seinem roten Tee, rührte darin herum, bis sich auch der letzte Zuckerkrümel verflüchtigt hatte, und besah sich die Insassen im Café. Zu dieser relativ frühen Stunde waren nicht viele Leute hier. Zwei Frauen, die sich bei einem Frühstück über den Klatsch aus der High Society unterhielten. Ein älterer Mann, der zeitungslesend in seiner Kaffeetasse rührte und ein jüngerer, der ganz hinten in der letzten Bank der Tischreihe saß, einen Laptop vor sich aufgeklappt, zahlreiche Bücher und Papiere auf der Tischplatte ausgebreitet, seine Finger über die Tastatur klappern ließ. Sein Kopf war fast vollständig hinter dem Bildschirm verschwunden. Von ihm konnte man nur noch den lustig wippenden Blondschopf sehen, der hin und wieder über die Kante ragte.

Ein Student, erkannte Max und erinnerte sich sogleich wieder an Karl. Nach einem Blick auf die Uhr, verwarf er den Gedanken, seinen Freund aus Kindertagen erneut anzurufen. Es war noch nicht Mittagszeit. Also würde es vergebliche Liebesmüh sein.

Die Minuten schleppten sich so dahin. Unzählige viele davon. Die Gäste wechselten. Die Frauen waren gegangen. Dafür kamen ein paar Jugendliche herein. Scheinbar war in der Nähe eine Schule und die Kids breiteten hier ihre Schulsachen aus, um ihre Hausaufgaben zu machen. Der Zeitungsleser faltete die Lektüre zusammen, warf ein paar Münzen auf den Tisch und ging ebenfalls. Für ihn kam ein weiterer, um sich auf denselben Platz zusetzen, seine Zeitung auszubreiten und ein frühes Mittagessen zu bestellen. Der Student blieb in der Ecke sitzen, schien von dem Kommen und Gehen im Café nichts mitzubekommen. Konzentriert arbeitete er an seinem Computer, brachte die Tastatur bereits bestimmt zum Glühen.

Max beobachtete ihn eine Weile. Etwas anderes konnte er ohnehin nicht tun. Zum Lesen schmerzten ihm seine Augen zu sehr und auf den Text konnte er sich auch nicht konzentrieren. Am liebsten würde er schlafen, doch ein Café war der denkbar schlechteste Ort hierfür.

Plötzlich schrillte sein Telefon los. Max fuhr erschrocken zusammen, fasste schnell in seine Manteltasche und holte das grässlich schrillende Ding hervor, um es mit einem Tastendruck zum Schweigen zu bringen. Das Geräusch hatte auch seine Migräne wieder alarmiert und er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen.

Mit einem Blick auf das Display rollte eine Welle der Erleichterung durch ihn hindurch. Karl.

„Hey“, nahm er den Anrufer dankbar entgegen.

„Hab gerade gesehen, dass du mich angerufen hast“, antwortete Karl. „Wenn du mich an einem Vormittag anrufst, muss die Welt am Abrauchen sein. Was ist denn los?“

„Ich brauche Asyl. Ich kämpfe gegen einen Migräneschub und in der Wohnung über mir werden gerade die Wände eingerissen“, erklärte Max hastig. „Kann ich ein paar Tage bei dir unterkriechen?“

„Na klar“, rief Karl sogleich. „Kein Problem, Mann. Ich ziehe derweil zu Biene.“

„Musst du nicht. Ich mache es mir auf dem Sofa bequem.“

„Quatsch. Auf dem alten Ding kann man doch nicht schlafen und erst recht nicht einen Migränescheiß überstehen. Biene hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich ein paar Tage bei ihr bin. Sie meckert ohnehin schon, dass wir uns so selten sehen. Aber du weißt ja, lernen und so … Das kann ich nicht, wenn mir ständig so ein süßes Mädel vor der Nase herumtänzelt.“

Max unterdrückte den Drang, zu kichern. Es hätte seinem Kopf nicht gut getan. Die beiden waren ein niedliches Paar, auch nach zwei Jahren noch immer so verliebt wie am ersten Tag. Stattdessen seufzte er eifersüchtig. Ja, er war wirklich eifersüchtig auf die beiden. Aber nicht, weil er sich ebenfalls in Sabine verliebt hatte, sondern weil die beiden so glücklich waren und ihm Tag für Tag vorlebten, wie es war, verliebt zu sein. Er wünschte sich, er hätte auch so eine Liebe. Doch sein Problem war, dass er nicht eine Frau dazu brauchte, sondern einen Mann. Denn Max war schwul. Doch Karl war noch nie ein potenzieller Kandidat für ihn gewesen. Er kannte ihn seit dem Kindergarten. Er war sein Blutsbruder, sein engster Vertrauter, so stockhetero wie Max schwul und der einzige Mann, an dessen Schulter er sich ausheulen konnte, ohne dass zwischen ihnen etwas Intimeres entstand.

„Aber du brauchst den Schlüssel. Wie schnell kannst du hier sein?“, störte Karls Frage Max' gedanklichen Ausflug in die Vergangenheit.

Max überlegte kurz. Sein Wagen stand in der Tiefgarage. Dorthin zurück brauchte er genauso lange, wie von hier aus mit dem Bus zur Uni zu fahren. Karl wohnte ganz in der Nähe der Universität, höchstens zehn Minuten Fußmarsch, die er zur Not auch noch absolvieren konnte – wenn er dafür ein paar Stunden erholsamen Schlaf erhielt. „Eine halbe Stunde“, schätzte er.

„Okay, beeil dich. Ich warte in der Mensa auf dich.“

„Okay. Danke dir.“

„Dazu sind beste Freunde doch da“, winkte Karl ab. Er lachte noch kurz, dann brach die Verbindung ab.

Max suchte in seinem Portemonnaie nach Kleingeld für den Tee, als sich plötzlich jemand an seinen Tisch stellte.

„Entschuldigung“, sprach ihn eine sanfte Stimme an. „Ich habe das Gespräch eben mitgehört.“

Max hob den Kopf und blickte geradewegs in das Gesicht eines jungen Mannes, der denselben wirren Blondschopf trug, wie der Student, der sich die ganze Zeit hinter seinem Laptop versteckt gehalten hatte. Sein Blick wanderte kurz in die Ecke ab. Der Computer stand nun verwaist dort herum, nur umringt von Büchern und jede Menge Papier.

„Das klingt jetzt wahrscheinlich total unverschämt“, fuhr der Student verlegen fort. „Aber ich versichere hoch und heilig, ich habe keine böse Absichten. Ich bin gerade in einer ähnlichen Situation und quasi obdachlos. Ich musste aus meiner Bude raus, bevor ich in meine neue einziehen konnte. Wäre es möglich, dass Sie Ihren Kumpel fragen könnten, ob er noch ein Plätzchen für mich hat?“

Mit offenem Mund starrte Max den Kerl an, der die Dreistigkeit besaß, bei einem Wildfremden um Obdach zu bitten. Doch als er sich das Gesicht etwas eingehender betrachtete, bemerkte er die dunklen Ringe unter den Augen und das abgehärmte Gesicht.

„Ich bin die letzte Woche bei irgendwelchen Freunden untergekommen“, redete der Blonde weiter. „Aber die haben auch nur wenig Platz und allmählich keine Geduld mehr. Die Preise für Hotelzimmer fressen einem die Haare vom Kopf. Daher versuche ich die Zeit irgendwie zu überbrücken, bis ich endlich in meine neue Wohnung kann.“

Man kann jemanden nicht einfach so vor die Türe setzen, wusste Max. Es gab Fristen, und wenn man es drauf ankommen ließ oder versuchte, mit den Ex-Vermietern zu reden, war es bestimmt auch möglich, ein paar Wochen zu verlängern.

„Ich habe vorher in einer WG gewohnt“, schien der Student die Gedanken Max' erraten zu haben. „Aber da kann ich unter keinen Umständen mehr hin. Also nicht, dass Sie denken, dass ich ein schlechter Typ wäre, aber wir hatten bestimmte Differenzen, die nicht auszuräumen waren.“

„Man hat Sie rausgeworfen?“

„Nein, ich bin freiwillig gegangen. Aber wenn ich jetzt dorthin zurückkehre, gibt es Mord- und Totschlag.“

Max verzog das Gesicht. Es war ja nicht so, dass er einem Notleidenden die Hilfe verweigerte, aber die Wohnung gehörte Karl, nicht ihm. Und ob er da jemanden mitnehmen dürfte, müsste Karl entscheiden.

„In Karls Appartement ist nicht viel Platz.“

„Das erwähnte Sofa klingt sehr verlockend“, gab der Fremde schüchtern lächelnd von sich. „Ich mache es mir auch irgendwo in einer Ecke bequem. Ich habe einen Schlafsack. Bitte“, ergänzte er flehend. Aus seiner Stimme sprang Max deutlich die Verzweiflung entgegen. „Wenn es draußen wenigstens warm wäre, könnte ich auf Parkbänken nächtigen, aber das werde ich bei dieser Witterung nicht überleben.“

Max rang mit sich. Es war ohnehin schon ziemlich kühn von dem Studenten, ihn einfach wegen eines Schlafplatzes anzubetteln. Er hatte einen Mut aufgebracht, den Max sich selbst nicht zugestanden hätte. Wie verzweifelt musste der Kerl sein?

„Ich kann nichts versprechen.“ Max warf das Geld für den Tee auf den Tisch. „Begleiten Sie mich zur Uni. Dort treffe ich meinen Freund. Dann soll er entscheiden. Aber ich kann nichts garantieren.“

„Danke!“, schnaufte der Blonde, wirbelte herum, raffte schnell seine Utensilien zusammen und stand zwei Minuten später gesattelt und gepackt wieder neben ihm. „Ich versuche, einen guten Eindruck zu machen“, versprach er und lächelte glücklich. „Ich hege wirklich keine böse Absichten.“

„So sehen Sie aus“, nickte Max, schlüpfte in seinen Mantel und knöpfte ihn zu.

„Mein Name ist Leonhard Schönhauser“, stellte sich der Student vor und hielt ihm die Hand zur Begrüßung hin. Dabei rutschte ihm der Laptop halb unter dem Arm hervor. Gerade noch rechtzeitig fing er ihn auf, bevor er auf den Boden aufknallen konnte. „Entschuldigung“, stieß er rasch hervor.

„Kein Problem. Kann ich was abnehmen?“

Leonhard war mit etlichen Büchern, einer dick gefüllten Sporttasche, einem Wulst aus einer rasch zusammengeschobenen Loseblattsammlung, dem Laptop und dem zuvor erwähnten Schlafsack beladen. Max griff nach den Büchern und dem Papier und klemmte es sich unter den Arm, ehe sie beide endlich die Gelegenheit erhielten, sich die Hände zu reichen.

„Max Brinck“, stellte er sich selbst vor.

Leonhard lächelte und schüttelte kurz die dargebotene Hand. „Kurz und bündig“, bemerkte er. „Schöner Name.“

Max lächelte etwas verunsichert zurück. „Eigentlich heiße ich Maximilian Theodor Andreas Brinck. Da geht einem der Atem aus, bevor man das Ende erreicht hat.“

Leonhard lachte heiter. „Ich kann auch kürzer. Leo Schöni“, sagte er und verzog leicht sein Gesicht. „So wurde ich früher in der Schule gerufen.“ Er richtete den Riemen seiner Tasche zurecht. „Leo“, sagte er beinahe feierlich.

„Max“, antwortete derselbige und erwiderte das freundliche Lächeln. Offenbar versuchte Leo mit allen Mitteln, ein vertrautes Verhältnis aufzubauen. Max war nicht ganz wohl bei der Sache, aber dieser Kerl strahlte nichts Böses aus. Seine hellen Augen blickten ihn klar und scheu an. Man konnte ihm direkt daraus ablesen, wie unangenehm die Situation auch für ihn war. Außerdem unterstrich die leicht derangierte Erscheinung und das wirre ungekämmte Haar die Aussage über seine Obdachlosigkeit. Max hoffte nur, dass er keinen Riesenfehler beging, und jemanden in Karls Wohnung ließ, der seinem Kumpel erhebliche Schwierigkeiten bereitete.

Aber das musste Karl entscheiden.

„Vielen Dank für die Chance“, bedankte sich Leo glücklich, während sie gemeinsam zur nächsten Bushaltestelle marschierten.

„Darf ich fragen, welche Differenzen es mit deinen Mitbewohnern gegeben hat?“, erkundigte sich Max nicht nur aus reiner Neugier.

„Das sind verbohrte homophobe Arschlöcher“, knurrte Leo. Dann blickte er seinen Begleiter fragend an. „Hast du ein Problem mit Schwulen?“, wollte er wissen. „Ich bin schwul und deswegen gab es in der WG ständig Zoff. Ich weiß nicht, von welchem Stern die gefallen sind, aber ich bin nicht der Typ, der andere im Schlaf vergewaltigt. Also echt. Die haben sich aufgeführt, als hätte ich die Pest. Hätte ich doch nur meinen Mund gehalten. Aber ich dachte mir, sie hätten ein Recht darauf, es zu wissen. Hast du ein Problem damit?“

Max schüttelte hektisch den Kopf und biss sich auf die Lippen, büßte die heftige Bewegung jedoch sofort wieder, als sich seine Migräne mit einem schmerzhaften Stich in die Schläfe meldete.

„Ich schwöre, ich werde weder dich noch deinen Kumpel anfassen“, versprach Leo. „Ich will nur ein Plätzchen, wo ich ein paar Stunden schlafen kann. Mehr nicht. Na ja, eine Dusche wäre auch noch ganz nett. Aber muss nicht sein. Ich bin schon zufrieden, wenn ich mich mal irgendwo hinlegen könnte. Bin schon seit gestern Morgen auf den Beinen, konnte niemanden finden, bei dem ich pennen kann. Viele Freunde habe ich hier nicht. Allmählich geh ich auf dem Zahnfleisch.“

„Was ist mit deiner neuen Wohnung? Warum kannst du da nicht rein?“

„Eigentlich kann ich mir diese Bude gar nicht leisten. Aber es war das erste, das ich auf die Schnelle ergattern konnte. Der Vermieter sagte mir, ich könne gleich einziehen. Nur jetzt muss da auf einmal noch irgendwas gemacht werden. Keine Ahnung was. Hab den Mietvertrag schon unterschrieben. Deswegen kann ich da nicht mehr raus. Da tröstet es mich nicht, dass mir die Verwaltung den Monat Miete erlässt, weil ich ja noch nicht rein kann. Ist eine echt blöde Situation.“ Er unterbrach seinen Redeschwall für einen Moment, drehte den Kopf in Max' Richtung und sah ihn neugierig an. „Bei dir werden gerade die Wände eingerissen?“

Max nickte. „In der Wohnung über mir ist jemand Neues eingezogen. Da wird seit Tagen Generalrenoviert. Den ganzen Tag Bohrmeißel. Ich drehe noch durch. Abends ist zwar Ruhe, aber tagsüber ist das nicht auszuhalten, vor allem nicht, wenn mir eh schon wegen Migräne der Kopf dröhnt.“

„Oh weh!“, gab er mitfühlend von sich. „Kopfschmerzen sind öde. Und dann noch der Lärm.“

Max nickte nur, da der Bus herangekommen war und sie beide einstiegen. Jeder kaufte sich beim Fahrer ein Ticket, dann setzten sie sich in eine freie Bank, wobei Leo Probleme hatte, seinen ganzen Kram auf dem Schoß unterzubringen. Max trug noch immer die Bücher in der Hand und lächelte mitleidig. Ständig sein ganzes Hab und Gut mitschleppen zu müssen, weil man keinen Platz hat, wo man es lagern konnte …

Er seufzte und lehnte seinen gepeinigten Kopf gegen die Scheibe. Dass dies wegen den Vibrationen, die vom Motor und den Straßenunebenheiten direkt auf die Scheibe übergingen und damit auch auf ihn, keine gute Idee war, bemerkte er ziemlich bald. Seine Gesichtshälfte wummerte immer stärker. Vermutlich ließ auch die Wirkung der letzten Tablette nach, die er bereits vor Stunden eingenommen hatte. Hoffentlich hatte Karl wenigstens Aspirin in seinem Arzneischrank.

Auf dem ganzen Weg zur Uni plauderte Leo unermüdlich weiter. „Ich studiere gerade Mathe und Physik, weil ich Lehrer werden will oder so. Genau weiß ich es noch nicht. Nicht, dass ich auf den Beamtenstatus stehe, auf dem ich dann meinen Arsch ausruhen kann, ich will irgendetwas mit Kindern machen. Das wäre schon genial. Aber sicher bin ich mir noch nicht. Meine Eltern wollen, dass ich was Gescheites lerne und in den Fliesenlegerbetrieb meines Vaters einsteige. Stell dir das mal vor, ich und Fliesenleger.“ Er schüttelte fassungslos den Kopf. „Dazu hätte ich kein Abi gebraucht. Kann sein, dass Fliesenlegen toll ist, aber ich kann nichts dabei empfinden, Keramikkacheln an Wände zu pappen. Und das mein Leben lang. Nee, nichts für mich.“ Ein Gähnen unterbrach seinen Redeschwall. Aber nur kurz. „Und dann diese Idioten in der WG. Waren vorher ja ganz nette Typen, mit denen man auch gut was Trinken gehen konnte. Doch mit meinem Geständnis wurden sie zu kompletten Idioten. Als ob ich ihnen ständig auf die Ärsche starren würde. Okay, am Anfang hab ich das schon gemacht, sind ja vor mir herumgelaufen wie Platzhirsche und präsentierten stolz, was sie haben. Doch da war nichts besonders Interessantes zu sehen. Wir hatten eigentlich ein gutes Verhältnis, doch dann hat sich alles gewandelt. Schon erstaunlich, wie man sich ändern kann. Ich wurde vom Kumpel zum WG-Feind Nummer Eins. Haben sich benommen, wie die letzten Rüpel, wie Kinder, meine Sachen durchwühlt, während ich in der Uni war. Mein Kaffeebecher ging wie von selbst kaputt. Ich konnte gar nicht so schnell einen neuen kaufen, wie er immer wieder aus Versehen in der Spülmaschine zu Bruch ging. Socken verschwanden, Klamotten verfärbt. Wie können Typen nur so homophob sein? Ich habe ihnen doch gar nichts getan. Ich musste da einfach raus, sonst hätten die mich irgendwann zerfleischt und das war es mir ehrlich nicht wert.“

Max hörte ihm nur milde lächelnd zu. Bis zur achten Haltestelle, die sich direkt vor der Uni befand, hatte Max Leos halben Werdegang erfahren. Wahrscheinlich hatte er endlich jemanden gefunden, bei dem er sein Herz ausschütten konnte und der ihn nicht unterbrach, oder er versuchte, mit diesen Erlebnissen weiter Vertrauen in Max aufzubauen.

„Und du? Was machst du so?“ Die Frage bohrte sich nur schwerfällig in Max' Gehirn.

„Macht es dir was aus, wenn ich dir diese Frage später beantworte?“, gab Max zerknirscht von sich. „Mein Kopf bringt mich gerade um. Ich bin kein besonders guter Gesprächspartner.“ Max wollte nur noch raus aus dem Bus. Sein Kopf wummerte heftig. Seine Gesichtshälfte strahlte gleißenden Schmerz ab, sodass er immer wieder das Gesicht verzog. Ihm war übel. Als der Bus endlich anhielt, flüchtete er förmlich aus dem Innenraum in die klirrend kalte Winterluft.

„Du siehst scheiße aus“, bemerkte Leo gnädig.

Es war Max klar, dass dies kein missglücktes Kompliment, sondern ein Ausdruck des Mitgefühls war.

„Ich hoffe, Karl hat Aspirin in seiner Wohnung“, knurrte Max, zog den Kragen seiner Jacke höher und stapfte durch den Schnee zur Uni.

Es war kurz vor ein Uhr und die Mensa rappelvoll. Dennoch fand Max seinen Freund rasch unter all den Studenten, die schwatzend und schmatzend an den Tischreihen saßen. Hin und wieder besuchte Max ihn in der Mittagspause und nahm mit ihm ein gemeinsames Essen ein. Daher kannte er Karls Stammplatz und steuerte zielstrebig darauf zu.

„Hi“, begrüßte er ihn und blieb hinter ihm stehen, da bereits alle Sitzplätze am Tisch belegt waren. Die übrigen am Tisch sahen neugierig hoch und nickte ihm zu. Einen Großteil von ihnen kannte Max bereits.

Karl drückte ihm gleich seinen Wohnungsschlüssel in die Hand. „Du siehst echt scheiße aus“, kommentierte er Max' Erscheinung.

Max wollte so schnell wie möglich in der Wohnung seines Freundes verschwinden. Daher kam er sogleich zur Sache.

„Das ist Leo. Er sprach mich im Café an. Er braucht einen Platz um ein paar Stunden zu schlafen. Ich kann das nicht entscheiden. Daher habe ich ihn mitgebracht.“

„Hey, Karl“, begrüßte Leo den anderen Studenten und lächelte ihn an.

„Ihr kennt euch?“ Max zog überrascht die Augenbrauen hoch und blickte verwundert von einem zum anderen.

Karl nickte. „Wir haben ein paar Vorlesungen zusammen.“ Er wandte sich an Leo. „Warum hast du nichts gesagt? Es gibt hier irgendwo eine Pinnwand, wo freie Zimmer angeboten werden.“

Leo räusperte sich verlegen. „Ich hab ja ne Wohnung, komm aber gerade nicht rein. Außerdem sind wir nicht so gut Freund, als dass ich dich mit meinem Problem belästigen könnte. Ich will mich nur ein paar Stunden aufs Ohr hauen. Ich weiß, das ist unverschämt, aber ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen. Und als ich Max' Gespräch mit dir belauschte, da dachte ich … Na ja, könnte ja sein …“

Karl lachte kurz. „Kein Problem. Ich sollte mir vielleicht einen Concierge besorgen. Benehmt euch.“

„Auf jeden Fall“, nickte Leo artig. „Danke, Mann.“

„Hast du Aspirin?“, wollte Max wissen.

Karl nickte. „Im Spiegelschrank.“

„Danke.“ Max konnte nicht umhin, ihn kurz freundschaftlich an sich zu drücken.

„Keine Ursache. Biene ist begeistert. Ich befürchte nur, sie lässt mich nicht mehr so schnell gehen.“ Er zwinkerte ihm schelmisch zu. „Melde dich, wenn's dir wieder besser geht.“

Max nickte vorsichtig und flüchtete anschließend förmlich aus dem überfüllten, lauten Saal. Sein Kopf dröhnte wie eine ganze Trommelkapelle. Schmerz überflutete mittlerweile seinen ganzen Schädel mit gleißenden Stichen.

Die zehn Minuten Fußmarsch von der Uni zu den Hochhäusern, ganz in der Nähe des Geländes, wo Karl eine der Billig-Appartements angemietet hatte, verbrachten die beiden Männer schweigend. Max stürmte voran, konnte nicht schnell genug dort ankommen. Vor der Haustür zitterten seine Hände vor Schmerz so arg, dass er den Schlüssel aus den Fingern verlor. Leo hob ihn auf und schloss auf. Max stürmte an ihm vorbei und hämmerte mit der Faust auf den Knopf des Aufzugs. Es dauerte unendlich lange, viel zu lange für Max, bis die Kabine endlich von irgendwo angereist kam, um ihn aufzunehmen. Mit dem ankündigenden Pling stürmte er bereits weiter, noch ehe sich die Türen geöffnet hatten.

Das Hochhaus, in dem viele Studenten wohnten, besaß dreiundzwanzig Stockwerke. Karls Wohnung lag in der fünfzehnten Etage. Max presste seinen Finger auf die Nummer fünfzehn und hätte den Knopf beinahe durchgedrückt.

Er wippte ungeduldig auf den Fußballen hin und her, bis sie endlich auf der richtigen Etage angekommen waren. Sein Kopf dröhnte mit jedem Stockwerk härter und schmerzvoller.

Leo hatte noch immer den Zimmerschlüssel in der Hand und schloss die Wohnung auf, vor der Max schließlich stehen geblieben war. Wortlos drängte Max nach drinnen und steuerte zielstrebig ins Bad. Leo legte seine Sachen neben dem Sofa ab und setzte sich müde, während Max im Spiegelschrank nach den erwähnten Tabletten wühlte, das Röhrchen fand und damit in die Küche marschierte, um sich ein Glas Wasser einlaufen zu lassen, in welcher er zwei der Brausetabletten auflösen konnte. Mit dem sprudelnden Glas ging er zum Bett, zog sich hastig Jacke, Schuhe und Hose aus und kletterte hinein. Es dauerte unerträglich lange, bis die Tabletten endlich aufgelöst waren. Als der letzte Rest im Wasser verging, stürzte er die Flüssigkeit in sich hinein und sank mit einem Stöhnen auf das Kopfkissen zurück.

„Äh …“, meldete sich Leo vorsichtig zu Wort. „Darf ich die Dusche benutzen?“

„Nur zu“, keuchte Max vor Schmerz. „Müsste alles da sein, was du brauchst.“ Seine Hand wedelte in die Richtung, in der er das Bad vermutete.

„Danke“, hörte Max noch die Stimme des Studenten, kurz bevor er Karls Pyjama über seine Augen legte, dessen herben Männergeruch in seine Lungen sog und dann einschlief.

 

2.

Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht. Als er aufwachte, musste sich Max erst einmal orientieren. Es war definitiv nicht sein Schlafzimmer. Es roch anders. Es roch nach Karl. Mit dieser Erkenntnis erinnerte er sich wieder an die Geschehnisse und daran, dass er einen Gast mitgebracht hatte, um den er sich überhaupt nicht mehr gekümmert hatte. Er richtete sich auf. Ein leises Schnarchen kam von dem alten, abgewetzten Zweisitzersofa. Ein paar Füße ragten über die Lehne ins Freie und wippten hin und wieder, als der Schlafende im Traum zusammenzuckte.

Max schwang sich aus dem Bett und näherte sich dem Möbel, auf welchem es sich Leo bequem gemacht hatte. Sein Schlafsack lag ausgebreitet über ihm, bedeckte ihn nachlässig. Ein Teil war abgerutscht und die Zudecke würde unweigerlich irgendwann ganz auf dem Boden landen. Max beugte sich über ihn, zog den Schlafsack hoch und deckte ihn zu. Es war warm im Raum, fast schon überheizt, weil Karl es so mochte. Zudem heizten sich die umliegenden Wohnungen gegenseitig, sodass es ständig zu warm hier war.

Als sich Max über ihn beugte, machte er einen tiefen Atemzug und nahm dabei auch den Duft von Karls Duschshampoo in sich auf. Ein merkwürdiger Schmerz machte sich in seinem Herzen breit. Max konnte nicht genau sagen, was ihn an dieser Sache störte. Irgendwie gefiel es ihm nicht, dass Leo nach Karl duftete. Nicht, dass er Leo den Duft nicht gönnte oder die Dusche, die er zwangsläufig mit Karls Utensilien machen musste. Es war eher umgekehrt.

Ihm gefiel es nicht, dass Karls Geruch an Leo hing. Aus einem undefinierbaren Grund machte sich Eifersucht in ihm breit, obwohl er absolut keinen Anlass dazu hatte. Leo hielt ihn für hetero und war anständig genug, die Finger von ihm zu lassen. So viel hatte er schon mitbekommen. Als sein Blick über das entspannte Gesicht huschte und sich jede Einzelheit dieses Gesichtes einprägte, inklusive der kleinen Narbe in der rechten Augenbraue und dem kleinen Grübchen am nun glatt rasierten Kinn, wurde ihm ganz seltsam zumute. Schmetterlinge erwachten in seiner Magengegend und begannen ihre Flügel zu strecken und zu recken und sich für einen wilden Flug vorzubereiten. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als Leo im Schlaf leise seufzte, als würde er eben von etwas ganz angenehmen träumen. Max widerstand der Versuchung, sich weiter vorzubeugen und dem leicht geöffneten Mund einen Kuss aufzudrücken.

Stattdessen richtete er sich ruckartig auf und ging ins Bad, um sich einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht zu werfen.

Oh Mann, war er gerade dabei, sich in einen Wildfremden zu verknallen?

Leo war irgendwie süß und niedlich in seiner Hilflosigkeit und seiner prekären Lage. Es war für den jungen Studenten sicherlich nicht leicht gewesen, um Asyl bei ihm zu betteln. Es stand für Max jedoch außer Frage, diese Notlage auszunutzen. Er war nicht der Typ Mann, der dies rigoros auskostete. Zudem hatte er Leo in dem Glauben gelassen, er sei hetero. Zumindest hatte er ihm keinen reinen Wein eingeschenkt und ihm erzählt, dass sie quasi vom gleichen Schlag waren. Daher war es unmöglich, dass er sich nun in den Kerl verknallen konnte.

Na ja, unmöglich war es nie, sich zu verlieben. Liebe hielt sich nicht an Abkommen, Grenzen, Verbote oder Prinzipien. Liebe machte, was es wollte und zwickte den Leuten in den Hintern, die es füreinander passend hielt.

Zudem befand sich Max derzeit auch gar nicht auf Partnersuche. Seine letzte etwas festere Beziehung lag zwar schon über ein Jahr her, dennoch fühlte er dich derzeit als Single wohler, als mit einem Mann an seiner Seite. Auch wenn er Biene und Karl neidisch beobachtete, wie sie umeinander herumturtelten, und sich vorstellte, wie es wäre, dies mit einem Kerl zu tun, der ihn tierisch anmachte. Er genoss es noch, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen und befriedigte seinen natürlichen Drang nach Sex in einschlägigen Bars bei One-Night-Stands oder mittels seiner rechten Hand.

Doch Leo rührte etwas in ihm und ließ den Wunsch aufkeimen, sich näher mit ihm zu beschäftigen, es vielleicht wieder einmal mit dieser Zweisamkeit zu probieren, die länger anhielt, als einen Fick lang.

Gedankenverloren setzte sich Max auf die Toilette und entleerte seine Blase.

Irgendetwas war an diesem Leo, das ihn nicht mehr losließ. Max wunderte sich über sich selbst, dass er einem Fremden so vertraute, es ihm sogar ermöglichte, sich auf dem Sofa einer fremden Wohnung bequem zu machen. Leo hätte Max' eigene Notlage ausnützen können und Karls Wohnung ausräumen, während er tief und fest einen Aspiringedämpften Schlaf schlummerte. Auch wenn Karl nicht wirklich viele Wertsachen in seiner Wohnung hatte. Karl war nicht so der Typ, der sich seine vier Wände mit Trophäen oder Prestigedingen vollbunkerte. Das Appartement war schlicht und praktisch eingerichtet, mit einem breiten Futtonbett, in welchem Karl und Sabine schon so manche heiße Nächte verbracht hatten. Ein simpler Esstisch mit zwei Stühlen, wo er aß, lernte und seine Hausarbeiten erledigte. Das alte Sofa, das schon in Karls Jugendzimmer gestanden hatte und das er aus sentimentalen Gründen mit in seine Studentenbude genommen hatte und vermutlich erst entsorgen würde, wenn es zusammenbrach. Der wuchtige Röhrenfernseher, der ebenfalls schon in seinem Kinderzimmer gestanden hatte. Eine einfache Singleküche, die bereits drin war, als er hier einzog und das Bad, das so klein war, dass es gerade mal für ein Waschbecken, einer Dusche und einer Toilettenschüssel Platz bot. Es genügte Karl. Keine Wertsachen, keine teure Stereoanlage, keine Spielkonsole, keine DVD-Sammlung. Das alles brauchte Karl nicht. Wenn ihm nach Zerstreuung war, kam er zu Max, fuhr zu sich nach Hause, wo der Rest seiner Habseligkeiten stand oder ging zu seiner Freundin.

Es war nichts hier, was Leo hätte mitgehen lassen können. Wahrscheinlich hatte Karl deswegen sofort ja gesagt, als Leo ihn um einen Schlafplatz gebeten hatte. Also was machte sich dann Max Sorgen?

Nein, er hatte sich eigentlich keine einzige Sekunde lang Sorgen darüber gemacht, dass Leo unlautere Absichten hegen würde. Ganz im Gegenteil – mal ganz abgesehen davon, dass die Migräne seine Gedankengänge ohnehin so sehr hemmte, dass tiefer gehende Überlegungen gar nicht möglich gewesen wären.

Mit einem Seufzen stand Max auf, betätigte die Spülung, wusch sich die Hände und verließ das Bad. Leo hatte sich indessen auf seinem engen Liegeplatz gedreht, die Beine an den Körper gezogen und den Schlafsack als Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen. Von ihm war außer dem wirren Blondschopf nichts mehr zu sehen.

Sofort schalt sich Max, den Studenten vorher, als der halbe Körper noch unbedeckt gelegen war, nicht eingehend betrachtet zu haben. Dabei hätte er gerne mehr von ihm gesehen und ihn sich seine Statur noch eingehender einverleibt. Sich selbst bedauernd trottete Max zurück zum Bett, ließ sich nieder, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke.

Vielleicht war es mal wieder an der Zeit, sich über sein Leben Gedanken zu machen. Doch weit kam Max nicht. Denn keine fünf Minuten später war er wieder eingeschlafen.


Leises Klappern weckte ihn aus seinem Schlummer. Ein wohliger Schauer rann durch ihn hindurch, als Erinnerungsfetzen an seinen Traum über ihn hereinbrachen. Er hatte von Leo geträumt, seine Lippen auf diese schmalen, weichen Lippen gedrückt und ihn damit zum Seufzen gebracht. Dann hatte er den Körper des anderen mit Händen erkundet, jede einzelne Region betastet und gestreichelt und jeder Pore seinen Besitzstempel aufgedrückt. Als er wach und sich dessen bewusst wurde, auch der Anwesenheit jener Person, die er gerade im Traum vernascht hatte, ging eine prickelnde Welle aus Scham und Verlegenheit durch ihn hindurch. Er richtete sich auf und blickte sich um.

Leo hockte auf dem Sofa, mit überschlagenen Beinen, den Laptop auf seinen Knien und tippte unermüdlich auf die Tastatur ein. Das Futtonbett machte ein knirschendes Geräusch, als sich Max aufrichtete, und zog damit die Aufmerksamkeit der weiteren Person im Raum auf sich.

„Hab ich dich geweckt? Sorry“, sagte Leo sogleich und schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. „Geht's dir jetzt besser?“

Max nickte, wischte sich mit der Hand über sein Gesicht, um den Rest an Müdigkeit fortzuwischen und lauschte in seinen Kopf. Die Migräne war zwar noch vorhanden, hatte sich allerdings ziemlich zurückgezogen, sodass sie nur noch als dumpfes Ziehen in seinem Kopf zu spüren war.

„Und selbst?“, wollte er wissen.

Leo lächelte breit. „Gut. Danke. Die paar Stunden Schlaf haben es echt gebracht.“

„Wie spät ist es?“, erkundigte sich Max. Auf die Idee, auf seine eigene Armbanduhr zu sehen, kam er erst, als Leo antwortete.

„Kurz vor halb sechs“, erklärte dieser, legte den Computer beiseite und stellte seine Füße auf den Boden. „Ich hab Hunger. Wie sieht es mit dir aus? Soll ich was zum Essen holen für uns?“

Max überlegte kurz. Außer den Tabletten und der Tasse Hagebuttentee hatte er heute noch nichts Konkretes im Magen gehabt. Obwohl er trotzdem absolut keinen Hunger verspürte, sollte er das Angebot besser annehmen.

„Die Handwerker müssten bald Feierabend machen“, bemerkte er, hievte sich aus dem Bett und suchte nach seinen Klamotten. „Auch wenn Karl nichts dagegen hätte, dass ich mich hier häuslich einrichte, würde ich die Nacht allerdings lieber in meinem Bett verbringen. Dieses Futtondings ist zu hart. Ich spüre jeden Knochen einzeln.“

Leo gab ein leises Kichern von sich. Als sich Max umdrehte und ihn ansah, verstummte es abrupt. Seine Augen huschten rasch von der Leibesmitte nach oben, als ertappte er sich selbst dabei, wie er eine Region von Max angestarrt hatte, die dieser nicht gutheißen würde. Als Max einen flüchtigen Blick an sich heruntergleiten ließ, wusste er, wieso Leo verstummt war. Reflexartig drehte er Leo den Rücken zu. Dass er noch von seinem heißen Traum einen Ständer hatte, war ihm in seiner Müdigkeit vollkommen entgangen.

Scheiße.

„Ey, ich weiß, dass du ein Kerl bist“, versuchte Leo mit einem flapsigen Tonfall die Situation zu retten. „Und ich hab gewiss schon viele steife Schwänze gesehen. Aber ich kann mich beherrschen. Also keine Panik.“

Hastig stieg Max in seine Hose, kämpfte sein massives Ding in den Stoff, zerrte den Reißverschluss zu, schnappte sich seine restlichen Klamotten und flüchtete damit ins Bad.

„Ich meine das ehrlich“, rief ihm Leo hinterher.

„Ich weiß“, zischte Max noch, bevor er die Tür zuwarf. Oh Gott. War das peinlich! Männer hatten für gewöhnlich oft eine Latte, wenn sie morgens erwachten oder einen erotischen Traum durchlebt hatten. Also sollte er eigentlich kein solches Aufhebens machen. Dennoch fühlte er sich nicht wohl bei dem Blick, den ihm Leo zugeworfen hatte, als er die nicht zu übersehende Beule in der Unterhose gemustert hatte. Max hoffte nur, dass Leo nicht tiefer grub.

„War er wenigstens schön, dein Traum?“, kam es neugierig durch die Tür und zerstörte damit jegliche Hoffnungen, das Thema fallen lassen zu können.

„Scheinbar“, gab Max zurück. „Kann mich nicht mehr daran erinnern.“

„Schade. So ein bisschen heiße Erotik wäre jetzt nicht schlecht gewesen.“

„Ich dachte, du stehst auf Männer?“

„Ich habe eine Menge Fantasie und kann die Protas aus deinem Traum locker in das andere Geschlecht ummodeln.“

Max biss sich auf die Lippen. Nein, das wollte er eigentlich nicht. Leo sollte Leo bleiben und nicht zur Lea werden. Dieser Gedanke gefiel ihm gar nicht.

„Dir scheint es aber schon wieder besser zu gehen, wenn du so heiß träumen kannst“, ließ Leo nicht locker.

„Ja“, murrte Max nur knapp. Seine Migräne hatte sich spürbar beruhigt, war aber noch nicht gänzlich verschwunden. Nur der langen Ruhephase war es zu verdanken, dass es ihm besser ging. Normalerweise quälte sie zwei bis drei Tage lang.

„Hast du das öfter?“, fragte Leo neugierig.

Max schlüpfte rasch in seine Anziehsachen, wusch sich Gesicht und Hände, trocknete es eiligst ab und kam wieder aus dem Bad.

„Warum interessiert dich das?“, fragte er zurück.

„Neugier“, erwiderte Leo achselzuckend.

„Was interessiert dich an meinen erotischen Träumen?“

Leo prustete los. „Ich meinte deine Migräne“, gackerte er, holte sich jedoch rasch wieder zurück. „Entschuldigung. Hätte ich vielleicht dazu erwähnen sollen.“

Max spürte, wie seine Wangen zu brennen begannen, und drehte sich weg, um seine restlichen Sachen zusammenzusuchen.

„Wie war das mit dem Essensangebot?“, wechselte er das Thema. „Allmählich kriege ich auch Hunger.“

„Okay.“ Leo hatte sich ebenfalls angekleidet, als Max im Bad verschwunden war, und schloss sich der allgemeinen Aufbruchstimmung an. Er sammelte seine Bücher und Papiere zusammen, stopfte es in die ohnehin schon überfüllte Sporttasche, sprang in seine Stiefel und seine Winterjacke und gestellte sich zu Max, als dieser auch abmarschbereit an der Wohnungstüre stand.

„Ich nehm dir was ab“, bot sich Max an und griff nach ein paar Büchern, die bald herausgefallen wären, wenn Max sie nicht an sich genommen hätte. „Hast du keinen Platz, wo du deine Sachen irgendwo lagern kannst?“

„Das brauche ich alles für die Uni“, erklärte Leo kopfschüttelnd. „Ein paar Sachen liegen im Bahnhofsschließfach. Die übrigen Habseligkeiten bei einem Kumpel im Keller, bis ich in meine Bleibe kann.“

„Was du nicht dringend brauchst, kannst du bei mir lassen“, schlug Max vor und wunderte sich über sich selbst, dass er dieses großzügige Angebot aussprach. Aber er fühlte sich unheimlich gut dabei. Weniger als Samariter, eher als würde er sich bei Leo einschmeicheln, indem er ihm seine Hilfe anbot. „Außerdem ist mein Sofa etwas größer und bequemer, als das von Karl. Wenn du möchtest, kannst du bei mir übernachten.“

Leos Augen wurden groß. „Echt?“

Max nickte.

Spontan schlug Leo seine Arme um Max' Hals und zog dessen Wange zu einem Kuss heran. Doch genauso blitzschnell, wie er ihm dankbar um den Hals gefallen war, ließ er ihn auch wieder los, als hätte er sich an ihm verbrannt und brachte mit ein paar Schritten Abstand zwischen sie.

„Entschuldigung“, beeilte er sich zu sagen. „Kommt nicht wieder vor. Ich hab mich eben einfach hinreißen lassen. Sorry. Ich tu's nie wieder. Ehrenwort.“ Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Es war ihm sichtlich peinlich und man konnte ihm deutlich ansehen, dass er sich bewusst war, einen Schritt zu weit gegangen zu sein.

„Scheiße, Mann. Echt. Ich Idiot. Es tut mir leid. Ich wollte nicht …“

„Schon gut“, winkte Max ab, der ganz und gar nichts dagegen gehabt hatte, dass Leo ihn küsste. Dennoch musste er nun so tun, als sei konsterniert. „Ich kann's ja verstehen. Zur Strafe machst du den Abwasch.“

Leo sah ihn glücklich an, heilfroh, dass er so glimpflich davon gekommen war. „Einverstanden.“

Auf dem Weg nach unten, murmelte er unentwegt unverständlich vor sich hin, schien sich für seine Unvorsichtigkeit zu schelten.

„Vergiss es!“, zischte Max irgendwann entnervt.

Leo seufzte. „Es war wirklich keine Absicht. Ich war einfach nur happy, verstehst du? Seit ich hier bin, habe ich mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Als ich den Platz in der WG bekam, dachte ich, es geht jetzt endlich aufwärts, doch dann mussten die sich als Vollpfosten entpuppen. Seit Tagen denke ich, es war ein Fehler, alles liegen und stehen zu lassen und hierher zu ziehen. Ich habe quasi von vorn angefangen. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich einen Job gefunden habe, der nicht mit meinen Vorlesungen kollidiert. Und dann passiert das mit der neuen Wohnung. Und dann läufst du mir über den Weg. Ein Glückstreffer, und ich versau das auch noch. Scheiße. Vielleicht sollte ich einfach meine Klappe halten, bevor ich mich zum kompletten Idioten mache.“

„Ich höre dich gerne reden“, bemerkte Max amüsiert.

„Ja, das ist das einzige, das ich gut kann“, maulte Leo selbstironisch. „Aber ansonsten bin ich ein absoluter Versager. Ich bringe es nicht fertig, mein Leben zu koordinieren.“

„Na ja, ein wenig unstrukturiert sieht das Ganze schon aus“, pflichtete ihm Max bei und zeigte auf die dick gefüllte Sporttasche, in der sich offenbar Leos komplettes Leben befand. „Wie wäre es mit einem Einkaufswagen?“

Leo knurrte leicht verärgert und hieb mit der Faust auf Max Oberarm. Der Schlag war jedoch kaum zu spüren, zum einen, da Max Jacke mit dicken Daunen gefüllt war und zum anderen, hatten Leo wirklich nicht fest zugeschlagen.

„Wie lange dauert das mit deiner Wohnung noch?“, erkundigte sich Max interessiert.

Leon zog die Achseln hoch. „Der Verwalter sagte einen Monat. Ich hoffe, dass ich am nächsten ersten endlich rein kann.“

Der Aufzug hielt im Erdgeschoss an und entließ die beiden Männer. Sie marschierten den Hausflur entlang und traten zögerlich in die Kälte. Vor Leos Lippen bildeten sich sofort weiße Wolken, die in schnellen Stößen aus seinem Mund kam. Er schloss ihn und zog den Kragen über sein Kinn.

„Ah, saukalt“, murrte er, rückte den Riemen der schweren Tasche zurecht und presste seinen Computer fester an den Bauch.

„Das heißt, du sitzt Weihnachten und Silvester quasi auf der Straße.“

Leo nickte nur.

„Super Timing.“

Abermals nickte Leo stumm. „Wäre alles nicht halb so schlimm, wenn die in der WG nicht so bescheuert wären.“

„Hast du schon mal versucht, für die paar Tage im Studentenwohnheim unterzukommen?“

Erneut nickte Leo. „Da ist alles voll und die Warteliste ist so lang wie mein Wunschzettel als Kind.“ Er lachte leise. Weiße Atemwolken entkamen seinen Lippen. „Wenn ich das damals schon gewusst hätte, hätte ich es gleich mit draufgeschrieben.“

Die beiden Männer wandten sich zur Bushaltestelle. Es dauerte nur ein paar Minuten, ehe der nächste kam. Sie stiegen ein und ließen sich bis fast vor Max' Wohnung fahren. An der Ecke holten sie sich noch jeder einen Döner für das Abendessen.

Vor der Haustür blieb Leo wie angewurzelt stehen, als er bemerkte, wo genau sie sich befanden.

„Du wohnst hier?“, fragte er ungläubig.

Max nickte verwirrt.

„Das ist jetzt nicht wahr, oder?“

„Äh … warum?“ Max blickte verwirrt an der Fassade hoch.

„In welchem Stock?“

„Im zweiten.“

Ein Lachen entkam Leo. „Ich habe die Wohnung im dritten Stock angemietet. Hier in dem Haus.“

„Echt jetzt?“ Endlich dämmerte es Max. „Ach, dann bist du der Kerl, der mir seit einer Woche den Nerv raubt …!“

„Äh … ja … eigentlich nicht. Ich habe keine Ahnung, was die da noch machen müssen. Reißen die wirklich die Wände ein? Weswegen?“

„Schimmel“, erwiderte Max schmunzelnd. „Vorher wohnte da eine ältere Dame. Offenbar hat sie sich nicht mehr richtig um die Wohnung kümmern können.“

„Oh“, machte Leo wenig geistreich. „Aber was für ein Zufall. Geil, wir sind Nachbarn.“

„Ja“, machte Max, ebenso wenig intellektuell. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen, oder lieber schreiend davonlaufen sollte. Leo, der neue Nachbar über ihm. Wie konnte er ihm dann verheimlichen, dass er ebenso schwul war? Er musste das irgendwann zwangsläufig mitbekommen, wenn er sich mal einen Kerl zu sich einlud und sie es hemmungslos in seinem Schlafzimmer trieben. Zum Glück war die alte Dame schwerhörig gewesen und hatte von all dem nichts mitbekommen. Aber Leo hatte noch sehr gute Ohren.

„Das finde ich jetzt echt lustig.“ Leo kicherte noch immer, als sie in den Hausflur traten und den Weg in den zweiten Stock über die Treppe nahmen.

Max brachte es nicht fertig, darüber zu lachen. Seine kleine Schmierenkomödie würde bald auffliegen. Dann würde er keine Gelegenheit mehr haben, Leo aus der Nähe zu betrachten und zu beobachten, ohne dass dieser dachte, er wollte mehr von ihm.

Wollten Männer nicht immer nur das Eine?

Sex? Harten, unkomplizierten, primitiven Sex?


3.

Max ließ Leo in die Wohnung, knipste das Licht an und hängte seinen Schlüssel an die Hakenleiste neben der Tür.

„Ich hab nur Wasser, vielleicht sogar noch irgendwo eine Cola“, versuchte Max natürlich rüberzukommen. Er durfte sich nicht anmerken lassen, dass ihn diese neue Erkenntnis extrem verunsichert hatte. Wie konnte er in Zukunft einschlafen, wenn er wusste, dass Leo genau über ihm schlief.

„Wasser passt“, erwiderte Leo, ließ seine Tasche neben der Haustür niedersinken und bettete die Bücher und den Computer daneben. Dann zog er seine nassen Schuhe aus und stellte sie auf die Kunststoffunterlage, auf der bereits ein paar schwarze Schuhe standen.

„Ich kann auch Tee machen“, platzte aus Max heraus, noch ehe er über den Sinn seiner Worte nachdenken konnte. Tee? Wie kam er auf so eine Idee? Er war kein Teetrinker und hatte daher auch nichts im Schrank. Allenfalls Kamille von seiner letzten Erkältung, den ihm Sabine gebracht hatte. Zu seinem Glück lehnte Leo ab.

„Wasser ist reicht vollkommen.“ Leo ließ sich auf dem Sofa nieder, legte die Füße hoch und streckte sich der Länge nach aus. „Viel bequemer“, grinste er. „Meine Füße haben sogar auch noch Platz.“ Er wackelte frech mit seinen besockten Zehen und lachte unbekümmert. Anscheinend gefiel es ihm da viel besser, als auf Karls enger Couch.

Indessen tischte Max die Wasserflaschen und die in Alufolien eingepackten Döner auf.

„Ich kann dir auch ein Kissen und eine Decke bringen“, merkte Max an, als er den Schlafsack entdeckte, den sich Leo als Kopfkissen untergeschoben hatte.

„Kissen wäre super“, nickte Leo, richtete sich auf und griff nach einem der silbernen Päckchen. „Ich finde es echt klasse von dir, dass ich hier pennen darf. Allerdings muss ich nachher noch arbeiten. Ich habe die Nachtschicht in einer Tankstelle.“

„Kein Problem.“ Max wickelte sein Essen aus und suchte sich, das mit Fleisch und Salat gefüllte Fladenbrot in seinen Händen drehend, eine geeignete Stelle, um hineinzubeißen.

„Ich habe erst um zwölf Feierabend. Das heißt, ich komme circa halb eins zurück. Bist du da noch wach?“, wollte Leo wissen, während er die Folie um sein dick gefülltes Brot abwickelte.

Max war trotz allem nicht bereit, ihm einen Wohnungsschlüssel zu überlassen. „Ja klar“, nickte er.

„Super.“ Leo schlug hungrig die Zähne in sein Fladenbrot.

Gemeinsam verputzten sie ihr Essen schweigend. Danach richteten sie das Nachtlager für Leo, wobei nicht viel zu tun war. Während Max das Kissen aus seinem Schlafzimmer holte, hatte Leo seinen Schlafsack ausgerollt und auf dem Sofa ausgebreitet. Um halb acht verließ Leo die Wohnung und Max blieb allein zurück.

Eine Leere erfasste ihn, als er die Wohnungstür hinter Leo schloss und ins Wohnzimmer zurückkehrte. Irgendwie kam er sich plötzlich verloren vor.

Warum war das so?

Er kannte den jungen Studenten doch kaum, eigentlich überhaupt nicht. Sie hatten sich erst heute Vormittag kennengelernt, und obwohl ihm Leo während der Busfahrt das halbe Leben ausgebreitet hatte, war er sich sicher, dass dies nur die Spitze des Eisberges gewesen war. Von sich selbst hatte Max kaum etwas preisgegeben. Ihm war auch nicht nach Reden zumute gewesen, mit seinem Brummschädel.

Apropos … Mit dem Alleinsein kehrte die Migräne zurück. Ein schmerzhafter Stich durchzuckte Max' rechte Gesichtshälfte, worauf er sich auf die Suche nach der halbleeren Blisterpackung machte, die er irgendwo hingeworfen hatte. Nachdem er eine weitere Tablette geschluckt hatte, legte er sich in sein Bett. Doch schlafen konnte er nicht. Vielleicht kein Wundern, denn er hatte heute schon so viel geschlafen, wie an einem ganzen Wochenende zusammen. Er verschränkte seine Hände hinter seinem Kopf und dachte über Leo nach.

Der Kerl gefiel ihm. Die aufgeregten Schmetterlinge in seinem Bauch stimmten ihm mit flatternden Flügeln zu. Es war schön, ihn um sich zu haben, obwohl er bisher das Alleinsein und die Ruhe, die ihn stets empfangen hatte, wenn er nach der Arbeit nach Hause gekommen war, genossen hatte. Leo war eine Frohnatur, die etwas Licht in sein Leben brachte, es mit einem Lächeln erfüllte, die auch sein Herz aufhellte und ihn voller Ungeduld auf dessen Rückkehr warten ließ.

Mit Wehmut dachte er an das Bild zurück, das ihm der schlafende Mann in Karls Wohnung geboten hatte. Die sanften, entspannten Züge in dessen Gesicht hatten sich an sein Gemüt gekuschelt und ihn ganz weich in den Knien werden lassen. Das T-Shirt, das Leo zum Schlafen getragen hatte, lag eng an seinen Körper geschmiegt und hatte die Muskeln und die Proportionen deutlich zur Schau gestellt. Wie schön und wie anregend mussten sie aussehen, wenn er sie im Fitness-Center anspannte. Vielleicht sollte er ihn einfach einladen, wenn er selbst wieder einmal seine Muckis auf Vordermann brachte. Max bezweifelte nur, dass er sich dann überhaupt auf seine Übungen konzentrieren konnte.

Leo war wirklich ein leckerer Anblick, trotz seines etwas abgegriffenen Anblickes und den dunklen Ringen unter den Augen. Sobald dieser seine Wohnung hatte, würde er ausreichend schlafen und sich binnen weniger Tag in einen noch leckereren Bissen verwandeln. Max freute sich bereits darauf.

Umso schmerzvoller würde es für ihn sein, ihn täglich an sich vorbeimarschieren zu sehen, ohne dass sie sich nähern konnten – zumindest wie er es gerne hätte. Er brauchte keinen Kumpel mehr zum Quatschen, einen Trinken gehen oder Videospiele zocken, wenn ihnen mal langweilig war. Dafür hatte er Karl. Er wollte jemanden, mit dem er intimere Gespräche führen und sich an ihn kuscheln konnte, eventuell sogar bis sie keuchend, erschöpft und verschwitzt nebeneinander sanken …

Seufzend zog Max die Decke höher, drehte sich zur Seite und zog die Beine an, so wie es Leo getan hatte, auf der kleinen Liegefläche des Sofas. Dass er sich in diesen Leo verknallt hatte, konnte er nicht mehr leugnen. Die Zeichen war so deutlich, wie ein Leuchtfeuer in einer mondlosen Nacht. Aber warum konnte er ihm dann nicht sagen, dass sie am gleichen Ufer fischten? Dass es ihm ganz anders wurde, wenn er ihn mit diesem strahlenden Blick ansah? Dass sich seine Zunge, seine Gedanken und sein Hormonhaushalt haltlos verhedderten und er manchmal nicht wusste, ob er atmen oder lieber gleich bewusstlos zu Leos Füßen sinken sollte?

Stattdessen benahm er sich wie ein Trottel, spielte ihm eine Komödie vor und hoffte, dass der andere von allein drauf kam.

Wollte er das?

Irgendwie war gerade alles in ihm vollkommen durcheinander. Noch vorgestern war die Welt noch in Ordnung gewesen, hatte sich alles prima und reibungslos abgespielt – abgesehen von dem Lärm, der aus der Wohnung oberhalb drang, von dem er aber erst etwas mitbekam, als ihn die Migräne in ihrem Griff hatte. Vorgestern hatte er sich nicht vorstellen können, sich jemanden an seiner Seite zu wünschen, der seinen Blondschopf unentwegt selbst verwuschelte und wie ein Wasserfall quasseln konnte. Da war er einfach nur neidisch auf Karl und Sabine gewesen, ohne zu wissen, was genau er eigentlich wollte.

Mit diesen Gedanken schlief er schließlich ein und wurde von einen durchdringenden Laut geweckt. Seine Türklingel riss ihn so jäh aus dem Tiefschlaf, dass er hochgefahren war und sich erst einmal orientieren musste. Er brauchte einen Moment, um den nächtlichen Störenfried, der es wagte, ihn um halb eins aus dem Bett zu klingen, mit Leo in Verbindung zu bringen. Endlich hievte er sich aus dem Bett, drückte auf den Türöffner, öffnete die Wohnungstür einen Spalt und trottete in sein warmes Bettchen zurück. Er war noch so müde und von dem Migränemedikament so benommen, dass er eingeschlafen war, noch ehe Leo die zwei Etagen bis zur Wohnung erklimmen konnte. Wie dieser leise die Wohnungstür schloss und sich in den Schlafsack kuschelte, bekam er gar nicht mehr mit.


Am Morgen weckte ihn verführerischer Kaffeeduft. Auch wenn ihn bereits wieder seine Kopfschmerzen zwickten, so ließ ihm dieser Duft das Wasser im Mund zusammenlaufen und aus dem Bett krabbeln. Leo stand in der Küche, hatte Kaffee gekocht, den Esstisch gedeckt und schnitt gerade Brotscheiben ab, um sie wie ein Fächer auf einem Teller anzuordnen.

„Guten Morgen!“, rief er fröhlich, als er Max' Anwesenheit bemerkte, und lächelte ihn freundlich an. „Ich dachte, wenn ich hier schon pennen durfte und die mitgebrachten Döner nicht wirklich für einen Abwasch geeignet waren, könnte ich wenigstens ein Frühstück machen. Ich hoffe, es ist als Strafersatz angenommen.“

Wie man in aller Frühe nur so trällern konnte …?

Max presste seine Handfläche gegen den stechenden Schmerz in seiner Schläfe und setzte sich an den gedeckten Tisch. „Du bist widerlich“, murrte er und stöhnte gequält.

„Danke, ich habe auch gut geschlafen“, konterte Leo schnippisch und stellte den Teller mit dem Brotscheibenfächer auf den Tisch. „Bist du immer so mies drauf, wenn du deine Migräne hast?“

Max nickte vorsichtig, um seine Kopfschmerzen nicht noch mehr zu ärgern.

„Hast du das öfter?“

„Alle zwei, drei Monate.“

„Dann bitte ich dich, beim nächsten Mal ein Warnschild vor die Tür zu stellen, damit ich Bescheid weiß und ich auf leisen Sohlen an deiner Tür vorbeischleiche.“

„Sorry“, brummelte Max und rieb seine Schläfe.

„Schon gut.“ Leo setzte sich, goss Max Kaffee in die Tasse und schob sie ihm näher. „Vielleicht hilft ein gutes Frühstück, um deine Laune zu verbessern.“

„Danke.“ Kaffee und Migräne vertrugen sich im Allgemeinen nicht so gut, dennoch freute sich Max regelrecht darauf. Seit zwei Tagen hatte er keinen mehr getrunken und allmählich bekam er Entzugserscheinungen.

Leo lächelte liebenswürdig. „Kann ich meine Sachen bis heute Abend hier lassen? Ich versuche, einen Platz im Wohnheim zu kriegen, auch wenn die Chancen schlecht stehen, aber vielleicht gibt es ja doch einen Platz.“

„Warum?“ Max sah hoch. Er wollte nicht, dass Leo ging. „Du kannst gerne hier bleiben. Wir sind schließlich Nachbarn und so lange wird es doch nicht dauern, bis du endlich in deine Wohnung kannst. Der Handwerker meinte etwas von zwei Tagen. Bis das ganze dann verputzt und verfliest ist …“ Im selben Moment dröhnte der Bohrmeißel durch das Haus, als hätte er nur auf dieses Stichwort gewartet und der Rest des Satzes ging im Krach unter. Max verzog vor Schmerz sein Gesicht und stöhnte laut. Das Geschirr auf dem Tisch tanzte nervös hin und her.

„Ach du Schreck“, kommentierte Leo den plötzlich einsetzten Krach. „Und ich hielt dich die ganze Zeit für ein Weichei und dachte, du übertreibst. Aber diesem neuen Mieter würde ich mal gehörig die Meinung geigen.“ Er musste ziemlich laut sprechen, damit seine Stimme, die des Bohrmeißels übertönte.

Max knurrte nur vor Schmerz, während sein Kopf allmählich auf die Tischplatte sank. Verdammt noch mal. Nach den Handwerkern konnte man wirklich die Uhr stellen.

Dann richtete er sich ruckartig wieder auf und sprang auf die Beine. „Ich verzieh mich wieder zu Karl. Das stehe ich keine weitere Minute durch.“

Schade um das Frühstück und die Mühe, die sich Leo gemacht hatte. Aber Max konnte wirklich nicht mehr länger als unbedingt notwendig in seiner Wohnung bleiben. Er eilte ins Bad, vollzog eine Katzenwäsche, schnappte sich noch die angebrochene Tablettenpackung und flüchtete regelrecht aus der Wohnung. Leo war hinter ihm, als er die Türe schloss.

„Danke“, sagte er, als Max den Schlüssel umdrehte.

„Wofür?“, fragte Max verwirrt.

„Dass ich bei dir pennen darf, bis meine Bude so weit ist.“ Im Treppenhaus hallte das durchdringende Hämmern des Meißels durch die kahlen Wände noch lauter. Leos Stimme ging fast unter.

„Du hilfst mir damit ganz enorm“, fuhr Leo fort. Seine Augen leuchteten glücklich. „Ich würde dich dafür gerne noch einmal küssen, aber das lass ich lieber, bevor du noch denkst, ich hätte Hintergedanken oder so …“ Er biss sich verlegen auf die Lippen.

Max starrte ihn einfach an, wusste nicht, wie er reagieren sollte. Liebend gern hätte er sich von Leo noch einmal küssen lassen, sogar mit Hintergedanken. Dennoch konnte er jetzt nicht so einfach darauf eingehen oder ihn gar auffordern, seinem Drang nachzugehen. Er hatte eine Schmierenkomödie inszeniert, die er nun nicht mehr so einfach abblasen konnte.

Im selben Moment, als er zu einer Erwiderung ansetzen wollte, hörte er Stimmen durch das Treppenhaus hallen. Einige der Arbeiter kamen die Treppe hoch, unterhielten sich über irgendwelche Spielergebnisse vom gestrigen Abend und verursachten bei jedem Schritt dumpf hallendes Klopfen, das jedoch vom ohrenbetäubenden Lärm, das ihr Kollege einen Stock höher fabrizierte, verschluckt wurde.

„Gehen wir“, schlug Max statt der Antwort, die sich auf seiner Zunge befunden hatte, vor und eilte die Treppe herunter in die Tiefgarage, wo sein Wagen stand. Er nahm Leo mit zur Uni, die auf dem Weg zu Karls Appartement auf dem Weg lag, setzte ihn dort ab und fuhr weiter. Während der Autofahrt hatten sie geschwiegen, nicht zuletzt, weil das Pochen in Max' Kopf so zugenommen hatte, dass er kaum noch klar denken konnte, erst recht nicht auf den Verkehr und gleichzeitig auf ein Gespräch konzentrieren. Rechtzeitig, bevor er sich in Karls Bett fallen ließ, erinnerte er sich noch daran, seinem Chef Bescheid zu geben, dass er noch einen Tag frei brauchte, und schlief unter Einfluss einer Migränetablette ein, noch ehe seine Gedanken erneut zu Leo abwandern konnten.

Scheiß Migräne. Sie knockte ihn regelmäßig aus, machte aus ihm einen wandelnden Griesgram, dem man besser nicht unter die Augen trat. Wie musste er nun vor Leo dastehen? Dass dieser ihn für ein Weichei hielt, war ein gewaltiger Tiefschlag, den er erst noch verdauen musste.


4.

Nach vier Stunden Schlaf wachte Max noch geräderter auf, als er vorher schon war, und suchte sich etwas zu essen. Am liebsten hätte er seinen Kopf eingetauscht, oder irgendwo zur Reparatur abgeliefert – wenn es so etwas gäbe. Warum musste es auch immer ihn erwischen? Manchmal kam er sich wirklich vor wie eine verwöhnte Tussi, die den Stress des Alltags nicht packte. Ein Mann ließ sich von simplen Kopfschmerzen nicht auf das Sofa nageln. Dumm nur, dass dies seine Migräneanfälle noch nicht bemerkt zu haben schienen.

In Karls Kühlschrank gab es nur Milch und eine Packung mit angeschnittenem Emmentaler. Zusammen mit einem Stück Brot, das Karl vor ein paar Tagen gekauft haben musste, machte er sich eine notdürftige Mahlzeit. Nicht, dass ihm sein Magen vor Hunger in den Kniekehlen hing. Aber er musste einfach etwas essen, um die obligatorische Übelkeit zu bekämpfen, die ihn manchmal während eines Migräneanfalles quälte.

Zurück im Futtonbett musste er wieder an Leo denken.

War es richtig gewesen, Leo zu sich einzuladen?

Der Student saß auf der Straße, wusste nicht, wohin er gehen sollte. Da war es rechtens, dass sich Max als Retter in der Not anbot. Aber irgendwie fühlte er sich nicht wohl dabei. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas fühlte sich bei dieser Angelegenheit falsch an.

War es, weil er Leo nicht reinen Wein eingeschenkt hatte?

Er sollte seine Arschbacken zusammenkneifen und es ihm endlich sagen.

Aber was versprach er sich davon?

Dass er sich ihm gleich an den Hals warf?

So notgeil kam ihm der Blondschopf gar nicht vor.

Und nur weil er endlich zugab, ebenfalls schwul zu sein, muss das doch keine Freifahrtkarte für hemmungslosen Sex sein.

Wenn doch diese bescheuerte Migräne endlich aufhören würde. Dann könnte er endlich wieder ein normaler Mensch werden, der auch stinknormale Reaktionen an den Tag legen konnte.

In Selbstmitleid badend, schlief er irgendwann wieder ein und wurde Stunden später von Musik, die von irgendwo nebenan zu ihm drang, wieder geweckt. Er blickte auf die Uhr. Es war kurz vor sechs und Leo wartete sicherlich schon auf ihn vor dem Haus.

Rasch zog er sich an und fuhr nach Hause. Es war bereits dunkel geworden und die Straßenbeleuchtung zauberte helle Lichtkegel in regelmäßigen Abständen an den Straßenrand. Leo wartete tatsächlich schon auf ihn, lehnte mit dem Rücken an der Wand neben dem Eingang, den Kragen seiner dicken Jacke bis zur Nasenspitze, die von der Kälte bereits leicht rot war, hochgezogen, die Hände tief in den Taschen vergraben. Neben ihm standen zwei Pizzaschachteln auf dem Boden.

Sofort überkam Max Scham. Wie lange musste Leo bereits dort draußen gestanden haben?

„Wartest du schon lange?“

Leo stieß sich von der Wand ab und lächelte freundlich. Man konnte ihm jedoch ansehen, dass er komplett durchgefroren war.

„Nicht lange“, gab er abwinkend von sich, hob die Pizzaschachteln und seine Tasche mit dem Laptop auf und folgte Max in den Treppenflur. „Es wäre vielleicht doch ganz gut, wenn man die Pizza noch mal kurz aufwärmt.“

Vermutlich war sie inzwischen genauso arschkalt wie die vorweihnachtliche Winternacht. Max unterdrückte das beklemmende Gefühl, stieg wortlos die Treppe hoch, schloss die Wohnung auf und ging schnurstracks in die Küche, um den Backofen anzuwerfen.

„Du siehst besser aus“, bemerkte Leo, der ihm in die Küche gefolgt war und die Schachteln öffnete. „Konntest du dich gut erholen?“

Max nickte vorsichtig. Tatsächlich war es nicht mehr ganz so schlimm. Allmählich schien sich die Attacke wieder zu verabschieden. Wurde auch Zeit.

„Danke für die Pizza“, presste er schuldbewusst hervor.

Leo lächelte. „Das ist das Mindeste, das ich tun kann, nachdem, du mich bei dir pennen lässt. Immerhin geht es dir gerade auch nicht so gut. Das ist wirklich großzügig von dir. Ich zahle auch gern Mietanteil für die Zeit, die ich hier …“

„Quatsch“, unterbrach ihn Max rasch. „Hin und wieder eine Pizza reicht.“ Er versuchte sich in einem Lächeln. Es musste ihm jedoch absolut misslingen, da Leo zu lachen begann.

„Da möchte ich echt wissen, wie du deine gute Figur hältst“, feixte er, schob die inzwischen wirklich kalte Pizza auf Backbleche und faltete die leeren Kartons zusammen.

Max sah kurz an sich herunter. Als Mann, der sich für andere Männer interessierte, sah man natürlich etwas genauer hin. Nicht anders praktizierte er es selbst. Leo war eine Augenweide, mit Proportionen, die genau richtig saßen, auch wenn er noch nicht viel davon hatte sehen können. Doch unter den weiten Winterpullis war ein recht ansehnlicher Körper zu erahnen. Zudem hatte ihm der Anblick, als Leo auf Karls Sofa schlief, mehr als eine Ahnung wahr werden lassen.

Okay, er selbst war jetzt auch kein wandelnder Kinderschreck und achtete auf seine Figur und dass die Rettungsringe nach Schlemmerorgienfeiertagen wie Weihnachten und Ostern nicht überhandnahmen. Er ging nicht ohne einen prüfenden Blick in den Spiegel aus dem Haus und legte Wert darauf, dass seine Garderobe nicht aussah, als stammte sie aus einem Secondhand-Laden. Dass Leo ihm eine gute Figur zusagte, rührte ihn und machte ihn in gewisser Weise auf sich selbst Stolz – auch wenn er dies niemals offen zugeben würde. Es gefiel ihm auch, dass er offenbar Leos Männergeschmack traf. Er schien in dessen Beuteschema zu passen. Denn die anderen, die für einen nicht in Betracht kamen, bezeichnete man kaum als gut.

Max zumindest. An Kerlen, für die er kein Interesse aufbringen konnte, fand er immer einen Haken, der ihm die Lust auf eine nähere Bekanntschaft vermieste. Aber nicht bei Leo. Da ließ sich einfach nichts finden.

„Danke!“, gab Max leicht verlegen von sich. „Kostet mich auch harte Arbeit im Fitnessstudio.“

„Gehst du da oft hin?“, wollte Leo wissen, während er die Pizzas in den Ofen schob.

„Hin und wieder.“

„Ist der Laden gut? Ich muss auch ab und zu was für mich tun. Das stundenlange Herumsitzen in Vorlesungssälen und dann die Arbeit nachts, da kommt man zu nichts. Außerdem koche und esse ich für mein Leben gern.“ Leo richtete sich auf, kicherte leise und strich sich dabei über seinen Bauch. Dann sah er Max freundlich an, während er mit den Fingern durch seine von der Mütze zerdrücktes Haar fuhr. Dadurch verwuschelte er es noch mehr, aber das ließ ihn noch betörender aussehen. Max verkniff sich eine Reaktion.

„Als Gegenleistung für die Nutzung von Sofa und Badezimmer verwöhne ich dich gerne kulinarisch … wenn du möchtest. Ich kann gut kochen.“

„Oh, das wäre super. Meine Kochkünste sind arg bescheiden. Ich bringe es gerade mal fertig, ein Steak in die Pfanne zu hauen und so zu braten, dass es essbar ist.“

„Das ist doch auch schon eine beachtliche Leistung“, gab Leo anerkennend von sich. „Nicht jeder bringt etwas Essbares zustande. Wo sind Teller und Besteck?“ Er sah sich in der Küche um, schien sich aber nicht zu trauen, sich selbstständig auf die Suche zu machen.

Max holte Geschirr und Besteck hervor. Gemeinsam deckten sie den Tisch und aßen schließlich, als die Pizza ausreichend aufgewärmt war. Um halb acht machte sich Leo wieder zu seiner Arbeitsstelle auf. Etwas verloren hockte Max in seiner Wohnung herum und überlegte, was daran nicht stimmte.

Er konnte sich doch nicht schon so sehr an Leo gewöhnt haben, dass er ihn vermisste. Sie hatten sich kaum kennenlernen können und dennoch glaubte er, dass ihm etwas fehlte. Er schalt sich, nicht den Mut aufbringen zu können, Leo die Wahrheit zu sagen. Denn insgeheim war er davon überzeugt, dass es für irgendwelche Gefühle einfach noch zu früh war.

Liebe auf den ersten Blick gab es für ihn nicht. Liebe musste wachsen, brauchte festen Grund unter den Wurzeln und brauchte Platz, um sich zu entwickeln und zu entfalten. Soweit war es noch nicht mit ihnen beiden.

Zufrieden mit dieser Einstellung beugte er sich seinen wieder angewachsenen Kopfschmerzen und legte sich ins Bett. Er war wirklich zu nichts zu gebrauchen. Seit Tagen tat er nichts anderes, als zu pennen und sich in Selbstmitleid zu suhlen.

 

Irgendwann nachts läutete ihn die Wohnungsklingel aus dem Schlaf. Müde schlurfte er zur Tür. Leo war zurück. Er nickte ihm nur zu, ließ ihn ein und ging wieder zu Bett. Mehr war einfach nicht nötig. Zu mehr war er auch nicht fähig.

So ging das die nächsten Tage. Zu Max' Glück verflüchtigte sich seine Migräne allmählich, sodass er am dritten Tag wieder zur Arbeit gehen konnte. Leo und Max sahen sich am Morgen und Abend beim Essen. Die Zeit in der Nacht, in der Max' nur kurz aufstand, um Leo nach seiner Arbeit einzulassen, konnte nicht wirklich als gemeinsame Zeit bezeichnet werden.

Max fühlte sich immer mieser, obwohl ihm es kopfmäßig immer besser ging. Am Wochenende war die Migräne verschwunden und dennoch fühlte er sich zerschlagen und gefühlsmäßig durch den Fleischwolf gedreht. Immer wenn Leo bei ihm war, ging es ihm besser, doch sobald er wieder allein war, glaubte er, dass ihm etwas fehlte.

Er hatte sich tatsächlich in den Studenten verliebt. Das konnte nicht sein. Gut, er hatte sich längst daran gewöhnt, dass Leo das Abendessen übernahm und ihn mit köstlicher, selbstgemachter Lasagne, Kartoffelauflauf mit Lauch und Gemüse oder morgens sogar mit frisch aufgebackenen Brötchen verwöhnte. Er genoss es, so umsorgt zu werden, auch wenn ihm seine Waage das mit ein paar Kilos mehr quittierte. Er freute sich sogar darauf, nach Feierabend nicht allein in seiner Bude herumzuhocken und seine Fernsehabende in Gesellschaft zu verbringen.

Entgegen seinen Erwartungen arbeitete Leo Samstag und Sonntag in der Tankstelle, sodass er das Wochenende weitgehend allein verbringen musste. Doch da Weihnachten vor der Tür stand, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, seine Wohnung etwas festlicher zu gestalten und ein paar Geschenke einzukaufen – zumindest für Karl und Sabine. Er überlegte sich auch, etwas für Leo zu besorgen, ließ es aber dann doch bleiben, da er nicht wusste, wie dieser diese Geste auffassen konnte.

„Morgen ist Weihnachten“, eröffnete Max das Gespräch am Sonntagabend, nachdem sie Leos Schweinebraten mit Kartoffelknödel verputzt hatten. Max strich sich über den gut gefüllten Bauch und lehnte sich zurück. „Was machst du an den Feiertagen?“

Leo zog die Achseln hoch. „Mal sehen“, schnaufte er. „Ich versuche, im Wohnheim unterzukommen. Jetzt da einige nach Hause fahren, kann ich vielleicht eine leer stehende Bude bekommen. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komme schon irgendwo unter.“

„Wer sagt denn, dass ich wegfahre?“, fragte Max überrascht. „Ich hatte eher erwartet, dass du zu deiner Familie fährst.“

Leo verzog leicht sein Gesicht und schüttelte langsam den Kopf. „Ne, den Stress tu ich mir nicht an. Weihnachten kann ich mir auch anders versauen, als mir stundenlange Vorträge über Sinn und Unsinn eines Physikstudiums anzuhören.“ Er schob seinen leeren Teller von sich. „Ich habe kein gutes Verhältnis zu meiner Familie seit meinem Outing, und mit meinem Entschluss, nicht die Firma meines Vaters zu übernehmen, habe ich es mir komplett verscherzt. Und du? Hast du keine Familie, die du besuchen möchtest?“

Max schüttelte leicht den Kopf. „Keine, die Wert auf meine Anwesenheit legt.“ Er konnte sich gerade noch davon abhalten, zu erzählen, dass seine Flucht in die Stadt auch eine Flucht vor seinem Outing war. Der Einzige, der darüber Bescheid wusste, war Karl.

„Familienstreit kann so öde sein“, kommentierte Leo trocken, stapelte die beiden leeren Teller übereinander und erhob sich, um das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine zu stellen. Als er die Klappe wieder schloss, lehnte er sich an die Maschine und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Dann machen wir es uns hier gemütlich“, schlug er vor. „Ich back uns ein paar Schokoladenkekse und dann setzten wir uns mit einer heißen Tasse Schokolade mit Schuss vor den Kamin und grölen schiefe Weihnachtslieder.“

Max musste schmunzeln. „Da gibt es nur ein Problem“, erklärte er. „Ich habe keinen Kamin.“

Leo stieß sich lachend von der Spülmaschine ab. „Aber ich habe einen Kaminfeuerbildschirmschoner auf meinem Laptop. Wenn ich den auf eine DVD brenne, können wir uns das auf deinem Fernseher ansehen.“

„Okay“, fiel Max in das Lachen ein und erhob sich ebenfalls. „Ich bin Nachmittag noch mit Karl und seiner Freundin Sabine auf dem Christkindlesmarkt verabredet. Du kannst gerne mitkommen.“

„Ich will eure traute Runde nicht stören“, winkte Leo ab. „Ich bin da sicher das fünfte Rad am Wagen.“

„Wenn du dabei bist, können wir beide das fünfte Rad sein“, entgegnete Max. „Karl und Biene hängen immer so eng zusammen, dass ich mich stets überflüssig fühle.“

„Also gut“, ging Leo kichernd darauf ein. „Dann komm ich mit.“ Er schaltete die Maschine an und klatschte tatenkräftig in die Hände. „Ich hab gesehen, du hast eine umfangreiche DVD-Sammlung. Wie wäre es, wenn wir uns vor die Glotze werfen? Ich brauche etwas anderes im Kopf als chemische Formeln und mathematische Funktionen.“

Dagegen hatte Max nichts einzuwenden, auch wenn er jeden seiner Filme schon mindestens zehn Mal gesehen hatte und er sich derzeit andere Zerstreuung vorstellen konnte. Vor allem, als Leo seine Arme in die Luft reckte, sein Kreuz in alle Richtungen renkte und dabei genussvoll ächzte. Sein Pullover und das darüberliegende Hemd rutschten dabei ein Stückchen nach oben und entblößte einen kleinen Spalt nackten Bauch. Dieser Anblick löste in Max eine Katastrophe aus, die sich geradewegs in seiner Hose auszutoben gedachte.

Mist, wenn der Kopf wieder funktioniert, scheinen auch alle anderen Funktionen wieder tadellos zu laufen, schalt er sich und schickte einen mentalen Befehl unterhalb seiner Gürtellinie, wo sich etwas in seiner Hose ausbreitete, das in diesem Moment gar nichts zu sagen hatte. Frech wie Oskar machte sich dort sein Schwanz breit und beulte die bequeme Jogginghose aus. Max beugte sich über den Tisch und griff nach der Wasserflasche, um sich noch etwas einzuschenken.

„Such dir schon mal etwas aus“, schlug er vor, während er mit leicht zitternden Händen die Flasche aufschraubte.

Leo nickte und verließ die Küche. Erleichtert atmete Max auf, goss prickelndes Sprudelwasser in sein Glas und überlegte, wie er den Ständer vor Leo verborgen ins Wohnzimmer bringen konnte.

Vielleicht sollte er sich das Glas mit dem kalten Wasser einfach in die Hose kippen, aber er bezweifelte, dass es etwas bringen würde. Vielleicht sollte er Leo endlich gestehen, dass ihm sein Anblick nicht kalt lässt und er am liebsten mehr tun würde, als nebeneinandersitzen und DVDs kucken. Auch wenn sich Max längst eingestehen musste, dass ihm Leo gefiel, brachte er es nicht fertig, ihm dies zu sagen. Irgendetwas hemmte ihn, hielt ihn davon ab, klare Verhältnisse zu schaffen.

Leo war selbst schwul und würde es wie kein Zweiter verstehen. Dennoch zögerte Max. Wenn er jetzt damit rauskam, musste Leo es als billige Anmache halten und denken, Max nutze die Notlage aus und wolle ihn damit einfach nur ins Bett bekommen. Es war zu spät, die Wahrheit zu gestehen.

Nach einem halben Glas Wasser, das er in kleinen Schlücken trank, beruhigte sich sein aufgeregter Schwanz allmählich, sodass Max es wagen konnte, zu Leo ins Wohnzimmer zu gehen. Dieser hatte bereits eine Auswahl von Plastikhüllen auf dem Tisch ausgebreitet und studierte die Angaben auf der Rückseite. Max setzte sich einfach dazu und segnete Leos Entschluss schließlich mit einem Nicken ab.

 

 

5.

Es war für Max fast schon zur Gewohnheit geworden, sich von verführerischem Kaffeeduft aus dem Tiefschlaf locken zu lassen. Er hörte das Klappern von Geschirr und schlug die Augen auf. Leo schien ein Frühaufsteher zu sein, oder absichtlich vor seinem Herbergsvater aus den Federn zu kriechen, um seine Versprechen einzuhalten, sich um die kulinarische Seite ihre WG auf Zeit zu kümmern.

Obwohl er im Grunde nicht auf die Einhaltung dieses Versprechens bestand, fühlte er sich geschmeichelt und nahm es gerne an. Leo schien auch in dieser Aufgabe aufzugehen und gab sich wirklich Mühe. Sein Essen schmeckte auch köstlich. Dass er kochen konnte, war nicht übertrieben.

„Guten Morgen“, flötete Leo munter, als Max verschlafen und mit einem Gähnen in der Küche erschien. Die Nacht war etwas kurz geraten, da sie noch ziemlich lang Filme gekuckt hatten. Drei oder vier mussten es gewesen sein. Genau konnte sich Max nicht mehr erinnern. Da er alle Filme bereits kannte, wusste er auch nicht mehr genau, welchen sie als Erstes gesehen hatten.

„Frohe Weihnachten“, trällerte Leo, öffnete den Backofen und holte ein Blech mit duftenden, dunkelbraunen Schokoladenkeksen heraus. Sofort wurde die Küche mit einem Aroma überflutet, das einem das Wasser in den Mund trieb und die Fettpölsterchenproduktion zur Arbeit rief.

Verwundert blickte Max die Köstlichkeiten an. „Bist du heute schon einkaufen gewesen?“

Er konnte sich nicht daran erinnern, so etwas wie Mehl oder Schokoladekrümel in seiner Küche zu haben.

Leo nickte. „Ich hab doch Kekse für heute Abend versprochen.“

Max setzte sich an den Tisch, der bereits gedeckt war und nur noch darauf wartete, von ihm benutzt zu werden.

„Hör mal, du musst das nicht machen“, erinnerte er ihn. „Ist ja ganz nett, aber ich will nicht, dass du denkst, ich nutze deine Notlage aus …“

Leo lachte lauthals los, schob das Blech mit den dampfenden Keksen auf die Arbeitsplatte und drehte sich um. An der Wange hing etwas Mehl und an ein paar Haarspitzen ebenfalls. Max' Finger zuckten, wollten ihm das weiße Pulver aus dem Gesicht streifen, doch er hielt sich krampfhaft am Tisch fest.

„Keine Angst“, versicherte er ihm. „Ich mach das gerne, bin sogar froh, dass ich was für dich tun kann. In der WG hab ich auch oft gekocht. Es hat allen geschmeckt. Zumindest solange, bis sie erfuhren, dass ich schwul bin. Von da an behaupteten sie, ich würde ihnen irgendetwas ins Essen mischen … Arschlöcher“, schimpfte er und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Als er die Kaffeekanne in die Hand nahm und ihnen beiden einschenkte, waren seine gute Laune und das Lächeln wieder zurückgekehrt. „Weißt du, ich hatte schon daran gezweifelt, dass es noch Heten-Männer ohne Vorurteile gegenüber Schwulen gibt“, fuhr er fort und lächelte so hinreißend, dass Max sich verkrampfen musste, um den Impuls, der von diesem Lächeln ausgelöst direkt in seinen Unterleib fuhr und dort erneut für freudige Erwartung sorgte, zu unterdrücken. „Deswegen bin ich echt froh, dich getroffen zu haben.“ Er schob die Milch näher an Max heran und lächelte erneut.

Max biss die Zähne zusammen.

„Du hast meinen Glauben an die Menschheit wieder hergestellt“, plauderte Leo weiter, bediente sich an der Milch, als Max nicht reagierte, und kicherte sogar. „Und mir einer meiner liebsten Hobbys ermöglicht. Normalerweise hinterlasse ich eine Riesensauerei, wenn ich mit Kochen fertig bin. Meine Mutter verzweifelte oft mit mir, aber ich verspreche dir, ich mach alles wieder sauber. Hochheiliges Ehrenwort.“ Er legte dabei eine Hand auf sein Herz und sah sein Gegenüber mit bitterernster Miene an.

Max blickte sich um. So schlimm sah die Küche gar nicht aus. Jedenfalls nicht schlimmer, als wenn er selbst zu Gange gewesen wäre. Die paar Kleckse Mehl, die an den Türfronten klebten, oder die Eierschalen, aus denen noch Reste von Eiweiß auf die Arbeitsfläche tropften, hätten auch von ihm sein können.

„Es ist Weihnachten. Da will ich mal nicht so sein“, bemerkte er gnädig. Nach außen hin gab er sich amüsiert. In seinem Inneren wütete jedoch der Satz mit dem Glauben an die Menschheit, wie ein Berserker.

„Wann hast du vor, auf den Markt zu gehen?“, erkundigte sich Leo unbekümmert, schnappte sich eine warme Semmel aus dem Brotkorb und malträtierte sie mit seinem Messer.

„Wir treffen uns um zwei Uhr am Rathaus“, berichtete Max, löste sich endlich aus der Starre und nahm sich ebenfalls ein heißes Brötchen. Leo verwöhnte ihn wirklich sehr. Max würde es sicherlich vermissen, wenn Leo erst in seine eigene Wohnung gezogen war.

„Dann kann ich noch ein paar Bleche Kekse backen. Du magst doch Schokokekse, oder?“ Leo sah erschrocken hoch, als ihm erst in diesem Moment einfiel, dass er ihn gar nicht nach dessen Vorlieben gefragt hatte.

Max musste lachen und nickte. „Auf jeden Fall. Vor allem selbst gebackene.“ Er zwinkerte ihm zu und bediente sich an der Marmelade. Ohne Leo wäre er vermutlich nur mit einem Kaffee im Magen auf den Markt gegangen und hätte sich dort eine Steaksemmel oder Ähnliches als Frühstück und gleichzeitig Weihnachtsessen reingezogen.

„Für heute Abend dachte ich mir, machen wir Fondue. Das ist unkompliziert und schnell gemacht.“

„Oh“, machte Max enttäuscht. „Ich hätte jetzt mit einem dicken fetten Truthahnbraten gerechnet.“

„Hatte ich vor, aber der war leider schon ausverkauft.“

„Ne, jetzt im Ernst?“

Leo machte erst ein verdrießliches Gesicht, dann platzte der Schalk aus ihm heraus und er lachte laut auf, beruhigte sich jedoch rasch wieder. „Bei uns zuhause gab es immer Bratwürste mit Sauerkraut. Ich dachte mir, wenn ich dir damit komme, wirst du mir das Zeug um die Ohren hauen.“

„Du musst dir nicht so viele Mühen machen“, erinnerte ihn Max. „Sauerkraut wäre jetzt auch nicht unbedingt etwas gewesen, was ich mit einem Freudentanz aufgenommen hätte, aber wir hätten uns auch auf dem Markt ordentlich den Magen mit Steaks, Popcorn und Lebkuchen verderben können. Immerhin hast du doch auch noch die Kekse.“

„Hab ich dir schon gesagt, dass ich gerne koche?“, fragte ihn Leo und blickte ihn verschmitzt an. „Außerdem ist es mein erstes Weihnachten außerhalb von Zuhause. Das wollte ich dann doch etwas persönlicher gestalten.“

„Noch schöner wäre es gewesen, wenn du es in deiner neuen Wohnung hättest gestalten können“, warf Max ein.

„Nein“, widersprach Leo ernst und biss in sein Brötchen, kaute ein wenig darauf herum und schluckte dann hörbar. „Es ist schöner in Gesellschaft, als allein in meiner Wohnung. Danke, dass du mich Nervensäge für eine Weile adoptiert hast.“

„Wer sagt, dass du eine Nervensäge bist?“, drängte es Max, diese Aussage zu dementieren.

„Ich“, erwiderte Leo grinsend. „Ich sehe es dir an. Du hast auf jeden Fall etwas bei mir gut. Wenn du mal ne Tasse Zucker oder was auch immer brauchst, zögere nicht, bei mir anzuklingeln.“

Max wollte etwas darauf erwidern, als plötzlich sein Telefon schrillte. Er angelte nach dem Festnetzteil und nahm das Gespräch entgegen. Die Stimme seines besten Freundes schallte ihm ebenso gut gelaunt, wie die von Leo, entgegen.

„He, altes Haus. Geht es dir besser?“, wollte Karl sofort wissen.

„Ja“, gab Max nickend von sich, obwohl sein Gesprächspartner dies nicht sehen konnte. „Wolltest du mich aus dem Bett werfen, damit ich rechtzeitig zu unserem Treffen komme?“

„So ungefähr. Wie ich sehe, bist du wach. Es bleibt doch bei unserer obligatorischen Caipi-Sauftour?“

„Ich weiß nicht. Was sagt Biene? Außerdem kommt Leo mit …“ Im selben Moment, wie Max den Namen aussprach, war ihm auch bewusst, wie das bei seinem Kindergartenfreund ankommen musste.

„Leo …?“, echote dieser erwartungsgemäß mit einem gewissen Unterton, der seine Gedanken genauestens zum Ausdruck brachte. „Läuft da was zwischen euch?“

„Nein“, sagte Max rasch. „Er kann immer noch nicht in seine Wohnung und pennt daher bei mir. Er ist derjenige, der bald in die Wohnung über mir einziehen wird. Ich dachte mir, bevor er allein hier herumsitzt …“ Er brach ab und schalt sich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Es war eine absolut blöde Idee, Leo eingeladen zu haben. Karl würde ihm brühwarm erzählen, dass Max am selben Ufer wie er fischte und dann war er am Arsch.

Max unterdrückte den Fluch, der ihm auf der Zunge lag. Er war doch so ein Feigling.

„Kein Problem“, drang es aus dem Telefon direkt in sein Ohr und riss Max damit aus seinen selbstverfluchenden Gedanken. „Irgendjemand muss dich dann wieder heimfahren. Gute Idee.“

„Wolltest du nicht heute noch nach Hause?“, erinnerte sich Max.

„Biene fährt“, eröffnete ihm Karl. „Die Caipi-Sauftour lass ich mir doch nicht entgehen.“

Mit Grauen dachte Max an den letzten Besuch auf dem Christkindlesmarkt im vergangenen Jahr, bei welchem sie das verheerende Gesöff entdeckt und Gefallen daran gefunden hatten. Noch im Suff hatten sie sich geschworen, dies jedes Jahr zu machen. Max hatte den restlichen Abend seinen Rausch ausgeschlafen und seinen einsamen Heiligen Abend am nächsten Tag, den ersten Weihnachtsfeiertag, nachgeholt, indem er unter hämmernden Kopfschmerzen endlich seinen kleinen Tannenbaum geschmückt und lustlos an den Resten der vergangenen Tage herumgeknabbert hatte. Eigentlich bestand er nicht sonderlich darauf, dies zu wiederholen. Doch diesmal würde Leo dabei sein und wenigstens den Aspekt mit dem einsam sein eliminieren.

„Okay, wenn du meinst“, gab er schließlich nach. Sich die Birne volldröhnen, war vielleicht doch keine so schlechte Idee, überlegte er. Womöglich vergaß er dann, dass er im Grunde ein feiges Aas war, das es nicht fertigbrachte, dem Kerl, der ihm die Hitze direkt zwischen die Beine schießen ließ, reinen Wein einzuschenken.

Alkohol war keine Lösung, wusste er selbst. Aber es konnte ungemein hilfreich sein, wenn es Zungen lockerte und Hürden niederriss.

Mann, war er ein Feigling.

„Dann treffen wir uns um zwei am Rathaus.“

Max nickte abermals, verabschiedete sich und ließ das Telefon mit einem Schnaufen niedersinken.

„Kannst du Autofahren?“, erkundigte er sich bei Leo.

Dieser sah ihn verwirrt, nickte schließlich langsam. „Willst du meinen Führerschein sehen?“

„Karl hat vor, sich mit Caipi vollzuschütten und ich soll ihn dabei begleiten. Wenn es genauso wird, wie letztes Jahr, dann bin ich die nächsten zwei Tage nicht ansprechbar. Dieses Zeug ist echt teuflisch.“

„Caipi?“ Leo legte den Kopf leicht schief und sah ihn verwundert an.

„Heißer Caipirinha“, erklärte Max und verzog sein Gesicht. Sein Kopf begann bereits jetzt schon, zu dröhnen. „Da reichen drei oder vier, um dich direkt ins Nirwana zu schicken.“

„Ist das nicht ein Ladydrink?“, fragte Leo amüsiert. „Dass sich gestandene Männer so was antun, überrascht mich.“

„Ich krieg von Glühwein Sodbrennen. Und das war die Alternative.“

„Und dein Freund Karl macht ganz soldarisch mit“, kommentierte Leo mit einem leicht bissigen Unterton. Aber da er gleich darauf kicherte, sich erhob und die Kekse vom Backblech in eine Schale legte, ging es unter. In Max Kopf rotierten die Worte „dein Freund Karl“ unentwegt hin und her. Er wusste nicht, wie er das deuten sollte. Was genau meinte Leo damit?

Karl war sein bester Freund, aber nicht sein Freund – zumindest keiner, mit dem er in eine Kiste sprang.

Etwas verwirrt von dieser Aussage und seinen Überlegungen, die zu keinem Schluss kommen wollten, widmete er sich schließlich seinem Frühstück. Er brauchte etwas im Magen, wenn er Karl im Caipi-Trinken nicht nachstehen wollte. Ihm wurde bereits jetzt schon schlecht und die nächsten Tage würden sicherlich nicht angenehm werden.

 

 

6.

Um zwei Uhr standen die beiden wie verabredet vor dem Rathaus. Am letzten Tag des Marktes schienen noch einmal sämtliche Einwohner der Stadt die Gelegenheit nutzen zu wollen und noch ein letztes Mal das Flair des Weihnachtsmarktes in sich aufsaugen oder die letzten Geschenke besorgen wollen. Es war brechend voll.

Max wusste zwar, dass sich dies in den nächsten Stunden drastisch ändern würde, denn je näher es dem Heiligen Abend zuging, desto mehr Leute verschwanden in die Gottesdienste oder zu ihren Familien, um im beschaulichen Kreis der Lieben das wichtigste Fest der Christen zu feiern.

Er selbst war nie sonderlich religiös gewesen, hatte sich aber den Traditionen nie entgegen gestellt. Seine Eltern hatten ihn an jedem Weihnachten vormittags auf den Markt geschleppt, nachmittags in die Kirche, abends an den heimischen Tisch, um bei Engelsgesang ein üppiges Mahl zu verputzen und danach mit einem kleinen hellen Glöckchen die lang ersehnte Bescherung einzuläuten.

Erst mit seinem Auszug hatte sich der Ablauf etwas geändert. Die Besuche auf dem Weihnachtsmarkt waren rarer geworden und eine Kirche hatte er seit seinem Umzug in die Stadt nicht mehr von innen gesehen. Was das Essen und die anderen Gepflogenheiten, wie die Dekoration der Wohnung und das Schmücken des Baumes betrafen, da hatte er die Sitten auch etwas gelockert. Im Ausverkauf Ende letzten Jahres hatte er ein vollständig geschmücktes, künstliches Bäumchen erstanden, das nun etwas verloren in einer Ecke des Wohnzimmers stand und dieses Jahr hatte er sogar vergessen, einen Adventskranz zu besorgen. Die übrige Weihnachtsdeko lag noch in der Schachtel im Keller.

Die Weihnachtsstimmung war ihm dieses Jahr irgendwie abhandengekommen, oder hatte sich gar nicht erst einstellen wollen. Wenn Leo nicht gewesen wäre, säße er die nächsten drei Tage vermutlich wieder allein vor seinem kleinen Plastikbäumchen und träumte davon, endlich einem Mann zu begegnen, an dessen Brust er sich im Glanz der Lichter schmiegen konnte.

Dieses Jahr saß er zwar nicht allein in seiner Wohnung, aber an anschmiegen war sicherlich nicht zu denken.

„Hey!“, rief Leo aus und stieß dabei eine weiße Wolke in die Luft. „Da kommen sie. Wird Zeit. Ich frier hier schon fest.“ Er tänzelte zitternd von einem Bein auf das andere, schob seine Hände tiefer in die Taschen seiner dicken Winterjacke und zog den Hals ein, um sich in den Kragen der Jacke zu kuscheln. Ein weicher, weißer Strickschal bedeckte beinahe die gesamte untere Hälfte seines Gesichtes. Die weiße Strickmütze fast den ganzen oberen Rest. Nur die lustig dreinblickenden Augen und die in der Kälte rötlich gewordene Nase waren noch zu sehen.

Max hatte sich nicht minder dick eingemummt. Immerhin wollten sie ein paar Stunden in eisiger Kälte verbringen. Die heißen Getränke, mit denen sie sich abfüllen wollten, würden zwar dafür sorgen, dass sie die Minustemperaturen irgendwann nicht mehr spürten, dennoch durften sie sie nicht unterschätzen.

„Hi“, rief Karl, hielt Max die Hand hin, damit er einschlug und zog ihn leicht an seine Schulter. Sabine hauchte dem Freund ihres Freundes einen Kuss auf die kalte Wange und lächelte ihn froh gelaunt an. Leo wurde von den beiden jeweils mit einem Handschlag begrüßt.

„Dann lass uns mal die Caipi-Bar stürmen“, rief Karl zum Appell auf.

Die vier bahnten sich einen Weg durch das Getümmel, blieben an dem einen oder anderen Stand kurz stehen und pilgerten schließlich weiter, mit dem Ziel zu dem Stand mit den heißen Caipirinhas, der sich in der Mitte des Marktes befand.

Die erste Tasse breitete sich rasch mit einem wohligen Gefühl in Max' Magengegend aus. Das bittere Aroma der Limetten ließ die Geschmacksnerven zusammenziehen, sodass er den vielen Zucker, den das Getränk erhielt, nicht spüren konnte. Die ersten Schlücke waren auch so heiß, dass er sich die Zunge verbrannte und vom eigentlichen Geschmack des Getränkes lange nichts mitbekam. Bei der zweiten Tasse war er etwas vorsichtiger. Die Wärme und die Wirkung des heißen Alkohols machten sich rasch in ihm breit. Die Wirklichkeit driftete etwas von ihm ab und er wurde redseliger. Doch noch immer hatte er seine Zunge gut unter Kontrolle. Ebenso seine Gehirnzellen. Er achtete darauf, dass Leo nicht mit Karl oder Biene allein war, damit diese ihm die Wahrheit über seinen Gastherrn verraten konnten.

Warum er immer noch darauf beharrte, Leo im Unklaren zu lassen, konnte er selbst nach dem dritten Caipirinha nicht sagen. Eigentlich wäre es so leicht gewesen, diese paar Worte über seine Lippen fließen zu lassen. In der nachfolgenden Stunde floss jede Menge Sinn und Unsinn aus ihm heraus, doch nichts davon, klärte Leo über die wahre sexuelle Orientierung Max' auf.

Bei der vierten Tasse war Max davon überzeugt, dass es ohnehin überflüssig war. Leo machte keinerlei Andeutungen, dass er für ihn interessant sein könnte. Er lachte zwar unbekümmert, erzählte schmutzige Witze, diskutierte über Weltprobleme und Politik, berichtete bereitwillig von sich, seinen ehemaligen WG-Genossen und seinem Studium, näherte sich Max aber keinen Deut an, obwohl er direkt neben ihm stand und ihn so manches Mal beiläufig berührte oder scherzhaft anrempelte. Max, der längst nicht mehr sicher auf seinen Beinen stand, musste sich sogar einmal an Leo festklammern, als ein paar Passanten an ihm vorbeidrängten und ihn beinahe umwarfen.

Um fünf Uhr schloss der Weihnachtsmarkt seine Pforten. Als sich die vier auf den Heimweg machten, hatten sich die kleinen künstlich geschaffenen Gassen zwischen den Holzhütten sichtlich geleert. Sie verabschiedeten sich voneinander. Karl würde die Feiertage bei seinen Eltern auf dem Land verbringen und erst zu Heilig-Drei-König zurück kommen. Wie jedes Jahr lud Karl ihn ein, ihn in den nächsten beiden Wochen zu besuchen, doch Max lehnte ab. Er wollte mit seiner Vergangenheit nichts mehr zu tun haben, alles hinter sich lassen und keine alten Wunden mehr aufreißen.

Dass Leo ihn tatsächlich nach Hause gefahren hatte, bekam er irgendwie nur noch am Rande mit. Vor seiner eigenen Wohnungstür stellte er fest, dass ihm die Umgebung verdammt bekannt vorkam, und musste lachen, als ihm bewusst wurde, dass er vollkommen betrunken war.

„So, jetzt können wir Weihnachten feiern“, rief Max frohgelaunt, warf seine Stiefel einfach in den Flur und hängte seine Winterjacke an den Haken. Dass er den Haken verfehlte und das Kleidungsstück zu Boden fiel, registrierte er nicht. Zielstrebig marschierte er ins Wohnzimmer. Sein Gang war etwas wankend, er war jedoch der Meinung, sich noch gut genug unter Kontrolle zu haben. Als er den Schalter des kleinen Bäumchens betätigte, um die Lichter anzuschalten, wofür er sich bücken musste, wäre er beinahe zur Seite gekippt. Gerade noch rechtzeitig fing er sich an der Kante des Sofas ab und ließ sich ächzend in das Polster sinken.

„Wie war das mit den Keksen?“, wollte er wissen. Leo kam ins Wohnzimmer, lächelte leicht unsicher und nickte schließlich.

Er drückte Max eine silberne Scheibe in die Hand. „Mach schon mal das Kaminfeuer an“, sagte er und ging in die Küche, um die Kekse zu holen und wenig später mit einem Tablett zurückzukehren.

Während Leo den Kakao zubereitet hatte, focht Max einen Kampf mit dem DVD-Player, den er dank eines kleinen Hiebes an die Seite des Gerätes für sich entscheiden konnte.

Wenig später prasselte ein knisterndes Feuer über den Flatschirm und er lehnte sich ächzend an den Couchtisch.

„Schön“, flötete er begeistert, schloss die Augen. Sein Gesicht glühte, als wirkte sich die Hitze des Feuers auf ihm aus. Er glaubte, es tatsächlich spüren zu können. In Wirklichkeit hatten die Caipirinhas ihn in ihrem vollen Griff.

Wie viele hatte er eigentlich getrunken? Jedenfalls mehr als letztes Jahr, dessen war er sich sicher.

Leo setzte sich neben ihn auf den Boden, stellte das Tablett auf den Couchtisch und verschränkte seine Beine zu einem Schneidersitz. Max schnappte sich eines der Kekse und biss hinein. Sie schmeckten wirklich sehr gut und er grummelte zufrieden kauend.

„Ich hatte eigentlich gedacht, dass das mit der Caipi-Sauftour ein Scherz war“, gestand Leo. „Aber ihr habt das wirklich durchgezogen. Mir wäre schon nach dem ersten Glas schlecht geworden.“

Leo hatte sich strikt an Kinderpunsch gehalten, ebenso wie Sabine.

„Manchmal muss man eben seinen Mann stehen“, gab Max mit vollem Mund und schwerer Zunge von sich. „Du hast was von Kakao mit Schuss gesagt, heute Morgen.“

Leo hielt ihm eine Tasse mit dampfender, dunkel gefärbter Milch entgegen. Max schnüffelte kurz daran und verzog angewidert das Gesicht, hielt ihm die Tasse entgegen und blickte ihn herausfordernd an.

„Da fehlt der Schuss.“

„Du hast für heute schon genug Schuss“, bemerkte Leo lächelnd. „Ach, apropos … Frohe Weihnachten.“ Er stieß mit seinem eigenen Becher an den von Max und prostete ihm lächelnd zu.

„Ich will einen Schuss“, meckerte Max, hievte sich schwerfällig auf die Beine und tapste wankend in die Küche, um sich den Wodka zu holen. Mit einem Ächzen ließ er sich wieder auf dem Boden nieder und kippte sich eine ordentliche Portion in seinen Kakao. Erst dann hob er seine Tasse und prostete zurück.

„Frohe Weihnachten“, kicherte er, ehe er seine Worte in Kakao ertränkte. „Wann kannst du eigentlich endlich in deine Wohnung?“, wollte er wissen, nachdem er einige großzügige Schlücke genommen hatte.

„Ich wusste, ich bin dir lästig“, erwiderte Leo. „Ich rufe nächste Woche mal die Verwaltung an. Vielleicht kann ich doch schon früher rein.“

„Nein, das meinte ich nicht“, ruderte Max sofort wieder zurück. „Ich meinte … das müsste doch längst alles fertig sein. Ich hab jedenfalls nichts mehr von oben gehört.“

„Ich war am Freitag kurz oben. Die Handwerker meinten, dass sie nächste Woche fertig werden. Sind nur noch Kleinigkeiten zu machen.“

„Gut.“ Max nahm ein paar weitere Schlücke. Die warme Flüssigkeit rann angenehm seine Speiseröhre herunter und wärmte seinen Bauch von innen. Dort hatten zwar schon die Caipirinhas für tüchtig Hitze gesorgt, dennoch glaubte er, dass der Kakao einen weiteren Schub an Wärme in ihm verursacht hatte. Ihm wurde plötzlich ziemlich warm. So zog er seinen Pullover aus und warf ihn einfach von sich. Dies verschaffte ihm nur mäßig Linderung, sodass er auch noch sein Hemd auszog.

„Ganz schön heiß der Kamin“, schnaufte er und ließ das Hemd fallen.

Leo kicherte und nahm sich einen Keks. Seine Augen leuchteten, als sich Max mit nacktem Oberkörper wieder an den Tisch lehnte. Offenbar beschämt von diesem Anblick, drehte er den Kopf zur Seite und schob sich das Gebäck beinahe vollständig in den Mund, um darauf herumzukauen und mit einem großzügigen Schluck Kakao herunterzuspülen.

„Hast du Geschwister?“, wollte Max plötzlich wissen. Er wusste selbst nicht, warum ihm auf einmal seine eigene Familie einfiel. Seine Eltern, die ihn irgendwie noch nie richtig verstanden hatten und seine jüngere Schwester, für die er stets ein lästiges Übel gewesen war. Ein großer Bruder, der in ihren Augen seltsam und gestört war. Keiner von ihnen hatte sich die Mühe gemacht, dieser Sache auf den Grund zu gehen.

„Eine jüngere Schwester“, gestand Leo.

„Ich auch“, erwiderte Max begeistert. „Sie kann mich allerdings nicht ausstehen.“

„Ich hab ein ziemlich gutes Verhältnis zu ihr … ganz im Gegenteil zu meinen Eltern.“ Er nahm einen weiteren Schluck aus seinem Becher. Seine Miene war einen Moment versteinert und nachdenklich.

„Weißt du, was in meiner Familie fehlt?“, wollte Max wissen und schnaufte tief durch, als beschäftigte ihn diese Frage ziemlich. „Herzlichkeit“, antwortete er sich selbst. „Es hat niemanden gekümmert, dass ich in die Stadt gezogen bin. Sie haben mir sogar geholfen, mein Auto vollzuladen und mir dann nur zum Abschied gewunken. Sie waren froh, dass ich gegangen bin.“

„Hattet ihr Streit?“, erkundigte sich Leo interessiert.

Max schüttelte den Kopf. Ihm wurde dabei etwas schwindelig. Deswegen ließ er es wieder sein. „Nein.“ Er keuchte, als der Schwindel nicht aufhörte. Mühsam rappelte er sich auf die Beine. „Ich muss mal“, schnaufte er und wankte ins Badezimmer.

„Soll ich dir helfen?“, rief ihm Leo hinterher, doch Max winkte nur ab. Seiner Meinung nach war er nicht so betrunken, dass er zum Pinkeln Unterstützung brauchte.

Er schaffte es sogar, seine Hose zu öffnen, ohne sich dabei etwas einzuklemmen und seine Blase zu erleichtern. Er war stolz auf sich, als er die Kloschüssel direkt in der Mitte traf und nichts daneben ging.

Waren schon lustig, die Gedanken, die man sich machte, wenn der Kopf vom Alkohol schwirrte.

Als er den Abzug betätigte und sich umdrehte, zog ihm jemand den Boden unter den Füßen weg. Mit einem Fluch kippte er zur Seite und krachte gegen die Duschwand. Es gab ein unschönes Geräusch, als die Plastikplatten dem Druck nachgaben und er in der Duschwanne landete.

Kaum hatte er Leos Namen gerufen, stand der auch schon neben ihm und zog ihn aus der kleinen Wanne wieder heraus.

„Ich pack dich ins Bett“, beschloss Leo, schob sich unter Max' Achseln und schleppte ihn ins Schlafzimmer. Dort ließ er ihn auf das Bett nieder. Dass noch immer die Hose offen war und einen freien Blick auf Max' Geschlechtsteil offenbarte, registrierte Max erst, als Leo ihm die Hose über die Hüften zog.

„Oh, scheiße“, stieß Max peinlich berührt aus.

„Vergiss es. Ich hab schon viele Schwänze gesehen. Leg dich hin.“ Leo drückte ihn auf das Bett und langte nach der Zudecke.

Max' Hand schnellte empor, umfasste Leos Arm und zog ihn an sich.

„Weißt du, dass du einen echt geilen Arsch hast?“

Leo starrte ihn entgeistert an, schien fieberhaft zu überlegen, wie er darauf reagieren sollte. Er entschied sich für ein zaghaftes Lächeln.

„Ich weiß“, sagte er. Seine Stimme brach. Er versuchte, sich von Max zu befreien, doch der zog ihn mit noch größerer Kraft an sich heran. Leo verlor das Gleichgewicht und plumpste in das Bett, direkt auf Max.

„Du riechst gut“, bemerkte Max, schloss kurz seine Augen und sog einen tiefen Atemzug in seine Lungen.

„Und du bist stockbetrunken“, kommentierte Leo, versuchte ein weiteres Mal, sich aus Max' Griff zu befreien. Doch wie Stahlklammern hielt der ihn fest. „Lass mich los!“, verlangte er daher.

„Ich will dich nicht loslassen“, widersprach Max. Eine Hand legte sich auf Leos Hinterkopf und zog ihn zu sich heran. Erst widersetzte sich Leo dem und kämpfte gegen den Druck an. Dann gab er nach und gestattete es, dass Max ihn küsste.

Doch sobald Max den Kuss löste, wand er sich blitzschnell aus dem Griff, rutschte vom Bett und brachte sich mit einem Schritt Abstand in Sicherheit.

„Schlaf jetzt!“, herrschte er und wollte sich umdrehen, um Max allein zu lassen.

„Ich mag dich echt“, jammerte Max mit schwerer Zunge. „Ich finde dich großartig. Ich mag dein Lachen und deine Stimme. Ich mag deine gute Laune und dass du dich nicht unterkriegen lassen willst. Und ich mag es, wie du riechst.“

Leo blieb stehen, drehte sich wieder um und betrachtete das Häufchen Elend argwöhnisch, das sich nun auf dem Bett zusammenkrümmte, die Decke an sich zog und umarmte, als wäre es seine Geliebte.

Langsam hob Max den Kopf an und suchte den anderen mit glasigen Augen. Ein Lächeln huschte um seine Lippen.

„Magst du mich auch?“, wollte er wissen.

„Ich dachte, du stehst nicht auf Kerle?“, gab Leo skeptisch von sich.

„Ist doch scheiß egal“, zischte Max leicht ungehalten. „Magst du mich?“ Er streckte seine Hand nach ihm aus und wackelte ungeduldig mit den Fingern, als Leo nicht reagierte.

Leo blieb, wo er war. „Du bist betrunken“, sagte er nur trocken.

„Ich weiß“, grinste Max frech. „Das macht das Ganze etwas leichter.“

„Finde ich nicht“, blieb Leo beharrlich.

„Komm her!“, forderte Max ihn auf und streckte erneut die Hand nach ihm aus. „Ich will dich hier bei mir, in meinem Bett.“

„Das halte ich für keine gute Idee.“

„Ich schon. Ich will nur kuscheln, an dir riechen …“ Max hievte sich aus dem Bett und wollte sich den Mann zurückholen, nachdem es ihn sehnte. In seinem Kopf gab es nur noch eines: Leo. Er wollte ihn, neben sich, unter sich, ihn einfach in seiner Nähe haben.

Aber als er seine Beine aus dem Bett schwingen und dabei gleichzeitig aufspringen, Leo packen und zurückholen, verhedderte er sich in der Zudecke und wäre mit dem Gesicht voraus auf dem Boden aufgeknallt, wenn Leo ihn nicht aufgefangen hätte.

„Du bist eine Gefahr für dich selbst, wenn du einen zu viel in der Krone hast“, bemerkte Leo unwirsch, während er den Betrunkenen mit sanfter Gewalt auf das Bett zurückdrapierte. Doch damit hatte er sich wieder in den Handlungsbereich von Max gebracht, der sich sogleich an ihm vergriff und zu sich ins Bett zog.

„Bitte, bleib hier“, bettelte Max diesmal. „Bitte, ich will dich spüren.“

Leo verharrte, ließ sich aber nicht näher heranziehen.

„Ich weiß, warum du mich nichts magst“, plauderte Max weiter. „Du denkst, ich nutze deine Notlage aus.“

„Ich bin mir im Moment nicht sicher, wer hier nun in einer Notlage ist“, gab Leo zurück. „Lass mich los, Max. Ich weiß nicht, was in deinem Caipi-umnebelten Kopf gerade los ist, aber das sollten wir klären, wenn du wieder nüchtern bist.“

„Küss mich … nur einmal“, flehte Max und reckte Leo seine geschürzten Lippen näher.

„Du bringst mich noch dazu, dir eine reinzudonnern.“

Tatsächlich ließ Max los, aber nur, um sich vollständig auszuziehen und sich ihm nackt zu präsentieren. „Das gehört alles dir“, flötete er mit schwerer Zunge.

Leo reagierte nicht.

Schmollend legte Max sich zurück ins Bett, zog die Decke hoch und umarmte sie wieder, als würde er Leo an seinen Leib pressen.

„Nur einen Kuss“, murmelte er. Im nächsten Moment war er auch schon eingeschlafen.

 

 

7.

Mittlerweile liebte er es, von Kaffeeduft geweckt zu werden. Max schlug die Augen auf und lächelte.

Leo, wusste er sofort. Doch im nächsten Moment, mit dem Licht, das von dem Fenster in seine Augen fiel, wurde er von einer Wucht niedergestreckt, die ihn laut aufstöhnen ließ. Sein Kopf begann hämmernd zu dröhnen, als hätte dort schlagartig ein ganzes Ensemble an Steptänzern mit Holzschuhen ihre Darbietung begonnen.

Oh, scheiße. Wie viele Caipis waren es denn gewesen?

Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Im Grunde konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie er ins Bett gekommen war, geschweige denn nach Hause. Sie hatten vereinbart, dass Leo fuhr, wenn in Max der Pegel zu hoch angestiegen war. Offenbar hatte er ihn nicht nur erreicht, sondern auch maßlos übertrieben. Der Geschmack in seinem Mund ähnelte jedoch eher Milch und Wodka, als zuckrigem Limettensaft. Er schluckte hart und versuchte, sich aufzurichten. Sein Kopf quittierte die Aufwärtsbewegung seines Körpers mit hämmernden Schmerzen.

Nie wieder, schwor er sich. Im nächsten Jahr konnte ihn Karl mal kreuzweise am Arsch lecken. Aber dieses Fiasko machte er nicht mehr mit.

Müde schlurfte er ins Bad, suchte im Spiegelschrank nach Aspirin und bugsierte sich an der Wand entlang in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu organisieren. Der Kaffeeduft war plötzlich unerträglich und unangenehm, sodass er das Gesicht angewidert verzog und die Augen zusammenkniff, als er die Küche betrat.

Leo saß bereits am Tisch und blickte hoch, als Max auftauchte.

„Morgen“, krächzte Max und tastete sich mit den Händen zum Schrank, wo die Gläser standen. Beinahe hätte er eines davon umgestoßen. Gerade noch rechtzeitig fing er es auf und stellte es an seinen Platz zurück.

Mit dem gefüllten Wasserglas kam er an den Tisch und ließ sich ächzend niedersinken.

„Scheiße“, stieß er heftigst aus. „Ich bringe Karl um, wenn er mich nächsten Weihnachten wieder zu einer Caipi-Sauftour überreden will.“ Mit den Fingerspitzen massierte er sich die Schläfen und stöhnte ungeniert.

Leo sagte nichts, sondern schien geduldig abzuwarten.

„Ich hab doch gestern nichts Peinliches getan oder von mir gegeben, oder?“, erkundigte sich Max vorsichtig. „Ich hab einen kompletten Filmriss.“

„Nein“, gab Leo betont emotionslos von sich. „Aber du solltest dich um eine neue Duschwand kümmern. Du bist beim Pinkeln reingefallen.“

„Echt?“ Max sah erschrocken hoch. Sein Kopf hämmerte wie ein ganzes Schmiedewerk.

„Außerdem wäre es ratsam, wenn du dir etwas anziehen würdest. Ich meine, es ist deine Wohnung und du kannst hier herumlaufen, wie du willst, aber in Anbetracht dessen, dass du derzeit nicht allein hier bist, wäre dies angebracht.“

Ein heißer Blitz schoss durch ihn hindurch, als er an sich heruntersah. „Verflucht!“, zischte er, sprang erschrocken auf und setzte sich sogleich wieder, als ihm klar wurde, dass er damit seine Blöße erneut Leo direkt unter die Nase hielt. „Sorry … ich …“, suchte er nach Erklärungen.

„Vergiss es“, winkte Leo ab, erhob sich, stellte seine Tasse in die Spüle und schickte sich an, die Küche zu verlassen. Wenig später tauchte er wieder auf, seine Jacke unter dem Arm. „Ich muss arbeiten. Es ist jemand ausgefallen und ich muss einspringen. Also hast du den ganzen Tag Zeit, aus dir wieder einen Menschen zu machen.“

„Es tut mir leid, Leo“, beeilte sich Max zu sagen.

„Das muss es nicht“, winkte Leo ab. „Es ist dein Leben.“ Damit drehte er sich um.

„Leo!“, hielt ihn Max zurück. „Nimm meinen Schlüssel.“

Der blonde Mann zog die weiße Strickmütze über seinen Kopf und drehte sich langsam wieder zu Max um. Mit einem gemächlichen Kopfschütteln lehnte er ab. Genauso langsam schlüpfte er in seine Jacke und zog den Reißverschluss zu. Während dieser Zeit hatten sich ihre Blicke aneinander geheftet und gegenseitig fixiert. In Leos Gesicht war keine Emotion zu erkennen, keine Regung, als berührte es ihn überhaupt nicht, dass Max sich so hatte gehen lassen.

Schließlich riss sich Leo los, drehte sich um und verließ die Wohnung.

Max fühlte sich noch elender als zuvor. Er war sich bewusst, einen fatalen Fehler begangen zu haben. Er konnte jedoch nicht sagen, ob es die Sauferei mit Karl, sein umnachteter Zustand, in welchem er die Duschkabine zerlegt hatte oder der ungebührliche Aufzug am Morgen gewesen war. Jedenfalls schien Leo keinerlei Interesse mehr an ihm zu haben. Er hatte es verbockt. Absolut.

 

Während des ganzen Tages machte er sich die schlimmsten Vorwürfe und hieß sich einen kompletten Idioten. So selten dämlich hatte er sich noch nie angestellt. Auch wenn er nicht direkt auf Jagd gewesen war, aber Leo war es wert, sich Gedanken über eine Beziehung zu machen. Er war ein absolut ansehnlicher Kerl, mit einem Lachen, das einem das Herz erleuchten konnte. Dessen Frohnatur war wie ein frischer Frühlingswind, der in Max' Leben geweht war, um die Spinnweben, die sich in seinem Gemüt breitgemacht hatten, davonzuwehen.

Doch nun war die Frühlingsbrise verschwunden und hatte erneut dem Herbst das Feld überlassen, der sich ohnehin schon seit Jahren mit seinem dicken Hintern in Max' Leben breitgemacht hatte. Wenn er nicht aufpasste, würde der Winter bei ihm eingekehrt sein und es dann für alle Zeiten zu spät sein. Er beschloss, sich noch einmal aufrichtig bei Leo zu entschuldigen, wenn dieser zurückkam, und versuchen, die Sachlage zu klären. Er wollte ihm auch sagen, dass er schwul war und sich längst in ihn verliebt hatte.

Ja, das hatte er. Dieses flaue Gefühl in seinem Magen konnte nicht anders gedeutet werden. Leo war ihm längst nicht gleichgültig. Er vermisste ihn, das Lachen, dessen Stimme, den Glanz in seinen Augen.

Doch als es endlich gegen sechs Uhr abends bei ihm läutete und er hoffnungsvoll die Tür öffnete, war Leo nicht allein gekommen. Ein Mann war bei ihm.

„Ein Arbeitskollege“, erklärte Leo knapp. „Martin lässt mich in seinem Gästezimmer wohnen. Ich will nur eben meine Sachen abholen.“

„Können wir uns kurz unterhalten?“, bat Max.

Leo schüttelte den Kopf und blieb auf Distanz. „Ich wüsste nicht, was es zu bereden gäbe.“

„Ich würde die Sache gerne klären.“

„Da gibt’s nicht zu klären“, wiegelte Leo sogleich ab. „Ich wäre dir dankbar, wenn ich meine Sachen holen dürfte.“

Max seufzte leise. Anscheinend hatte er wirklich großen Bockmist verzapft, so heftig, dass Leo jegliche Unterredung verweigerte. Dessen entschlossene, versteinerte Miene zeigte ihm deutlich, dass er zu keiner Unterhaltung bereit war.

Schließlich öffnete Max seine Wohnungstür für die beiden Männer und ließ sie die Habseligkeiten zusammensuchen. Fünf Minuten später war er auch schon wieder allein in seiner Wohnung und fühlte sich wie ein mieses Stück Dreck.

 

Max fühlte sich noch nie so einsam und verlassen, wie in den nächsten Tagen. Karl war bei seiner Familie und genoss es, von seiner Mutter verwöhnt zu werden. Leo tauchte nicht wieder auf, und selbst als der neue Monat anfing und der neue Mieter eigentlich eingezogen sein sollte, konnte er von oben weder Geräusche noch sonst irgendwelche Laute vernehmen. Er hatte sogar nicht einmal mitbekommen, dass Leo überhaupt eingezogen war. Kein Rumpeln im Treppenhaus, kein Umzugswagen vor der Tür, kein Dröhnen von Bohrmaschinen. Absolute Stille kam von oben.

Max bezweifelte es allmählich, denn selbst das Namensschild am Briefkasten fehlte. Doch eines Abends, am Abend des Heilig-Drei-Königs-Tages rumpelte es von oben, als sei dem Bewohner im Stockwerk über ihm etwas umgefallen oder heruntergefallen. Anscheinend war Leo doch da.

Kurz entschlossen ging Max nach oben und klingelte an der Tür. Sein Herz klopfte wild und ihm ging der Arsch tüchtig auf Grundeis, dennoch zwang er sich dazu, abzuwarten und Leo um ein Gespräch zu bitten.

Dieser machte tatsächlich auf. Als er den abendlichen Besucher erkannte, wollte er die Tür gleich wieder schließen.

„Bitte, Leo, hör wenigstens meine Entschuldigung an“, bat Max und hielt die Tür auf, ehe sie ins Schloss fallen könnte.

Seufzend öffnete Leo die Tür wieder und setzte ein ungeduldiges Gesicht auf. „Du kannst dir deine Entschuldigung sparen. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst. Es ist dein Leben, nicht meines und ich habe nichts damit zu tun.“

„Das, was du an Weihnachten erlebt hast, das war nicht ich. Ich bin nicht so.“

„Weißt du, was mir das ist?“

Max seufzte verzweifelt. „Es ist mir wichtig, dass …“ Er verstummte, weil er nicht mehr wusste, wie er es am besten anstellen sollte. Es war schon schwierig genug, einen Fehler zuzugeben, ihn auch noch gerade zu biegen, stellte sich in diesem Moment als schier unlösbare Aufgabe dar. „Ich habe mich daneben benommen“, gab er offen zu. „Und dafür möchte ich mich in aller Form bei dir entschuldigen. Du musst mich für einen absoluten Idioten halten, aber das war nicht meine Art. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist.“

„Erspare mir das bitte“, unterbrach ihn Leo in einer Atempause. „Du musst dich vor mir nicht zu rechtfertigen. Es braucht mich nicht zu interessieren, weswegen du dich volllaufen lässt und dann Scheiße verzapfst. Das ist ganz allein deine Sache. Es geht mich nichts an.“

„Das mit der Duschwand, war eine blöde Sache …“

„Duschwand …?“ Leo schnappte nach Luft. „Tu mir bitte einen Gefallen und verschwinde.“ Damit wollte er die Tür erneut zuwerfen. Doch abermals hielt Max sie auf, diesmal, indem er seinen Fuß rasch in den Spalt stellte. Dummerweise hatte er keine Schuhe an, sondern trug nur Socken, weswegen sein Fuß ziemlich unsanft eingequetscht wurde, als Leo die Tür zuwarf.

„Mist“, fluchte Max und hob seinen schmerzenden Fuß an.

„Du bist wirklich eine Gefahr für dich selbst“, bemerkte Leo mit einem kalten Schmunzeln. „Wenn du endlich zu dir selbst gefunden hast, würde ich dir raten, dass du ein wenig Konzentrationstraining machst.“

„Was meinst du damit, zu mir selbst gefunden?“

Max sah verwirrt auf.

„Du hast einen Filmriss“, sagte Leo emotionslos, als würde er einen Zeitungsbericht zitieren. „Kein Wunder, bei den vielen Caipis, die du in dich reingeschüttet hast. Ich habe mich den ganzen Nachmittag gefragt, warum du dir das antust. Erst dachte ich, deinem Freund Karl zuliebe. Aber dann erkannte ich, dass da ein anderer Grund dahinterstecken muss. Weswegen du mir vorenthältst, dass du schwul bist, ist deine Sache. Aber wenn im Suff deine wahre Natur zum Vorschein kommt und du nur mit Volldröhnung einen anderen Kerl anbetteln kannst, es mit ihm zu tun, bist du definitiv kein Fall für mich.“

„Ich hab was …?“ Max blieb der Mund offen stehen. Daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern.

„Genau das meinte ich.“ Erneut wollte Leo die Tür schließen.

Ein weiteres Mal hielt Max die Tür auf und drängte sich sogar ungefragt in die Wohnung. Sein Blick über die Schulter Leos hinweg hatte etwas anderes einfangen, das ihn mehr beschäftigte, als die Tatsache, dass er betrunken etwas von sich gegeben hatte, das seinem Erinnerungsvermögen vollkommen entglitten war.

Leos Wohnung war komplett leer. Keine Umzugskartons, keine unausgepackten Möbel, keine obligatorische Unordnung frisch nach einem Einzug. Absolut leer.

„Was ist das hier?“, wollte er wissen und blieb mitten im leeren Wohnzimmer stehen. An der Heizung unter dem großen Fenster lag der Schlafsack ausgebreitet, daneben der aufgeklappte Laptop. Unweit davon stand die vollgestopfte Sporttasche. Es gab noch einen Umzugskarton, auf dem ein paar Bücher standen und offenbar als Tischersatz dienen musste, denn eine geöffnete Pizzaschachtel stand auf ihm und eine Flasche mit Cola. Ansonsten war die Wohnung leer.

„Ich dachte, du bist hier eingezogen?“

Leo folgte ihm, blieb unter dem Türstück stehen und verschränkte säuerlich die Arme vor der Brust.

„Ich wüsste nicht, dass dich das etwas anginge“, motzte er.

„Du pennst im Schlafsack auf dem Boden.“ Max konnte es kaum fassen. „Wo sind deine Möbel? Deine ganzen Sachen. So kannst du doch nicht leben.“

„Noch einmal“, bekräftigte Leo nachdrücklich, jede einzelne Silbe betont. „Das geht dich nichts an.“

„Wenn du dir keine Möbel leisten kannst, dann …“

„Schaff deinen Arsch hier raus!“, blaffte Leo wütend. Er trat einen Schritt zur Seite, um Max zu verstehen zu geben, dass seine Anwesenheit nicht mehr erwünscht war. „Ich brauche deine Almosen nicht. Verzieh dich!“

„Ich kann dir gerne mein Sofa zum Schlafen leihen“, versuchte Max es erneut.

„Raus!“, donnerte Leo.

Max rührte sich nicht. „Ich würde liebend gerne wieder mit dir ins Reine kommen.“

„Aber ich nicht mit dir. Mach, dass du hier raus kommst, ehe ich massivere Maßnahmen ergreifen muss.“

Eine Drohung konnte Max schon gleich gar nicht verputzen. Jemand, der ihm so krumm kam, wurde umgehend mit einem Gegenangriff konfrontiert. „Und welche wären das?“ Er baute sich provozierend vor ihm auf und reckte trotzig das Kinn.

„Du glaubst wirklich, du kannst dich über eine Schwuchtel lustig machen?“, gab Leo unbeeindruckt zurück. „Ich hab schon so viel Scheiße erlebt, da ist deine Psychokacke, die du mit mir abziehen willst, ein Miezekätzchen dagegen.“

„Ich mach mich nicht über dich lustig“, widersprach Max heftig. „Wie kommst du auf eine solche absurde Idee?“

„Schluss mit dieser Charade!“ Leo schnaubte erbost und zeigte Richtung Ausgang. „Ich bitte dich zum letzten Mal, geh endlich.“

„Ich weiß, ich hab Scheiße gebaut und ich würde es gerne wieder gut machen. Gib mir eine Chance.“

„Kein Interesse“, blockte Leo ab und deutete erneut Richtung Tür.

„Aber ich an dir“, gestand Max aufrichtig. „Ich möchte mit dir zusammensein …“

Leo schnaufte warnend. „Bitte geh!“, sagte er kalt. „Was auch immer deine wahren Absichten sind, ich bin der Falsche hierfür.“

„Bitte, Leo.“

„Raus!“, bellte der schließlich.

Max' gab auf. Er erkannte, dass es keinen Zweck mehr hatte. Die Sache mit Leo hatte er sich gewaltig verbockt. Was immer er im Caipi-Delirium von sich gegeben hatte – und da kamen ihm ganz böse Vorahnungen auf – war der Ausschlag gewesen, dass Leo sich von ihm abgewandt hatte.

Schweigend marschierte er an Leo vorbei, ins Treppenhaus und trat auf die ersten Stufen … und segelte unversehens schneller tiefer, als ihm lieb war.

Max war sich in der Minute danach nicht sicher, ob es daran gelegen hatte, dass er keine Schuhe, sondern nur Strümpfe trug und der Marmorboden schon mit Schuhwerk ziemlich glatt war, oder der Tatsache, dass in der Zwischenzeit jemand mit nassen Schuhen die Treppe hochgelaufen sein und Pfützen aus geschmolzenem Schnee hinterlassen haben musste. Jedenfalls – kaum, dass er die ersten Stufen abwärts betreten hatte, rutschte er über die Kante. Er konnte sich noch am Treppengeländer festhalten und fangen, ehe er das gesamte Stockwerk abwärtsfiel. Doch da war es bereits passiert.

Sein Knöchel brannte erst wie Feuer, dann kam der Schmerz, der sich wie eine brennende Lunte sein gesamtes Bein hochzog und bis in die Hüfte strahlte.

Wut überkam ihn und er fluchte so laut er konnte. Die Schimpfwörter flossen ihm nur so über die Lippen, während er versuchte, den Rest des Stockwerkes auf dem Hosenboden und halb auf der Seite robbend zu absolvieren, um in seine Wohnung zu gelangen und einen Notarzt anzurufen. Denn dort auf dem Wohnzimmertisch lag sein Handy. Schier unerreichbar in seiner derzeitigen Situation. Er brauchte sich keinerlei Illusionen zu machen, dass diese Verletzung mit einem einfachen Salbenverband oder einer Schmerztablette zu kurieren oder stillzulegen war. Der Fuß war innerhalb kurzer Zeit blau angelaufen und dick angeschwollen.

„Scheiße!“, schimpfte er abermals.

Plötzlich war jemand neben ihm.

„Vielleicht hätte ich lieber die Männer mit den Zwangsjacken rufen sollen, als einen Notarzt“, hörte er Leos Stimme neben sich. „Du bist wirklich eine Gefahr für dich.“

„Wenn der Schmerz vorüber ist, lache ich vielleicht drüber“, keifte Max und biss die Zähne zusammen, als er versuchte, sich aufzurichten.

Leo drückte ihn zurück. „Bleib sitzen. Der Notarzt ist unterwegs.“

„Mist, verfluchter“, schimpfte Max und verzog das Gesicht vor Schmerz, der sich immer weiter nach oben ausbreitete und allmählich auch die Schmerzrezeptoren seines übrigen Körpers in Alarmbereitschaft versetzte. „Ich glaube allmählich, du hast recht. Ich sollte mich einweisen lassen. Ich bin eine wandelnde Katastrophe.“

„Jetzt kannst du hoffentlich verstehen, warum ich nichts mit dir zu tun haben will.“

Das traf Max trotz allem. Er sah hoch und blickte geradewegs in Leos Augen.

„Ich wollte dich wirklich nicht verletzen. Was auch immer ich im Rausch gesagt habe, es tut mir echt leid. Es ist nur so …“ Er brach ab, wusste nicht, wie er es formulieren sollte.

„Das, was du da gesagt hast, war viel schöner, als das, was du im nüchternen Zustand zu mir gesagt hast“, sagte Leo. „Warum hattest du nicht den Mut, es mir bei klarem Verstand zu gestehen?“

„Ich weiß nicht – wirklich. Ich war irgendwie gehemmt. Mein Kopf war am Platzen, meine Gedanken hingen irgendwo in der Luft. Ich war nicht bei mir. Und als mein Verstand wieder einigermaßen funktionierte, war es zu spät. Ich bin nicht hetero … Ich bin …“

„Das weiß ich längst“, unterbrach Leo ihn sanft.

Abermals blieb Max' Mund offen stehen. „Woher …? Warum hast du mich dann im Glauben gelassen …?“

„Karl hat es mir erzählt, wollte mich vorwarnen oder so.“ Leo zwinkerte amüsiert. „Was glaubst du, warum ich versucht habe, dich mit den Essen von mir zu überzeugen? Ich bemerkte, dass bei dir irgendwo Hemmungen vorhanden waren. Aber dass die erst im Vollrausch beseitigt werden konnten, das gefiel mir ganz und gar nicht.“

„Da waren keine Hemmungen. Ich war nur ein ganz normaler, migränegeplagter Vollidiot.“

Eine Sirene kam näher.

Leo lachte leise. „Also der Vollidiot könnte hinkommen.“

Max grummelte leise, widerstand der Versuchung, dem zu widersprechen. Er hatte sich ja selbst so bezeichnet. Und wenn er noch eines draufsetzen musste, dann müsste noch das Attribut feige hinzugefügt werden.

„Ich geh mal dem Notarzt aufmachen“, erklärte Leo, sprang auf und eilte die Treppe runter.

Max blieb sitzen. Mehr konnte er ohnehin nicht tun. Selbst aufrichten und auf einem Bein Treppabwärtshüpfen wäre eine schlechte Idee gewesen. Abgesehen davon, dass ihm der Schmerz bereits den Schweiß aus den Poren trieb, wahrscheinlich würde er noch einmal ausrutschen und sich auch noch das andere Bein verletzen.

Zehn Minuten später wurde er im Sanka ins Krankenhaus transportiert. Leo fuhr mit Max' Wagen hinterher, damit er ihn nach der Untersuchung und Behandlung wieder nach Hause fahren konnte. In der Notaufnahme saß er schweigend neben ihm, winkte ihm zuversichtlich zu, als Max zum Röntgen gefahren wurde, und begrüßte ihn mit einem Lächeln, als er in den frühen Morgenstunden mit einem dicken, mit Gips und Schienen fixierten Knöchel wieder entlassen wurde.

Beide waren müde, hatten sich eine ganze Nacht um die Ohren schlagen müssen. Dennoch konnte keiner von ihnen schlafen. Sie waren noch zu aufgewühlt und voller Adrenalin. Zudem kämpfte Max trotz Medikamente mit den Schmerzen, die pochend und gleißend wie Feuer sein gesamtes Bein überfluteten.

Leo half Max beim Ausziehen und brachte ihn auch ins Bett. Erschöpft sank Max in sein Kissen und starrte an die Decke. Es war fast sechs Uhr morgens und seine Augen waren schwer. An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Er musste auch noch seine Arbeitsstelle anrufen und sich krankmelden. Zudem kündigte sich ein neuer Migräneanfall an. Der dumpfe Druck an seiner Schläfe war das erste Anzeichen hierfür.

„Leo?“, ergriff er irgendwann das Wort, während dieser die Anziehsachen sorgsam über das Fußteil des Bettes legte und die Krücken in greifbare Nähe gegen den Nachtkasten lehnte. „Musst du heute unbedingt in die Uni?“

Leo sah ihn verwirrt an und schüttelte schließlich langsam den Kopf.

„Wie wäre es, wenn du heute hier bei mir bleibst … neben mir … eng aneinander gekuschelt …?“

Der Student verzog leicht sein Gesicht. „Dieses Angebot hast du mir schon mal gemacht. Allerdings hatte ich da den Eindruck, dass deine Zunge durch viel Caipirinha gelockert war.“

„Jetzt bin ich Herr meine Zunge und es wäre wirklich schön, wenn du dich zu mir legen würdest.“

Leo zögerte, doch dann schien er sich einen Schubs zu geben, zog seine Schuhe aus, zerrte sich den Pullover über den Kopf, kletterte zu Max ins Bett und schmiegte sich eng an ihn.

„Richtig so?“

„Noch näher“, verlangte Max.

Leo drängte sich noch enger heran. „Besser?“

Max drehte den Kopf in Leos Richtung und sah ihn an. „Ich weiß nicht, ob du das Angebot auch schon hattest. Aber ich hätte jetzt gerne einen Kuss von dir.“

Mit einem Lächeln beugte sich Leo näher. Ihre Lippen berührten sich scheu, streichelten sich sanft, ehe sie sich endgültig aufeinanderlegten und aneinander schmiegten, genauso wie es ihre Körper taten. Max schloss genussvoll die Augen, ließ dieses Gefühl in sich einwirken und bemerkte angenehm überrascht, dass es den lästigen Druck in seinem Kopf zurückdrängte. Leo schien die Medizin für ihn zu sein, sein Migräneschmerzmittel.

Als sich dieser von ihm löste, seufzte er dem Kuss traurig hinterher.

„Warum sind in deiner Wohnung keine Möbel?“, brannte die Neugier in Max.

Leo senkte kurz den Blick, ehe er zurückkehrte und sich wieder mit dem von Max verband. „Es wäre unsinnig, Möbel zu organisieren, wenn ich in ein paar Monaten wieder umziehe.“

Panik schoss in Max hoch. Seine Augen weiteten sich erschrocken. „Warum willst du wieder umziehen?“

„Wegen dir“, gestand Leo. „Ich konnte es nicht ertragen, zu wissen, dass du nur wenige Meter unter mir bist … unerreichbar …“ Sein Arm, der zuvor locker über Max' Bauch gelegen hatte, hob sich und legte sich auf die Brust. Dort begannen die Fingerspitzen, sanft über das Shirt zu streicheln und den Leib darunter zu ertasten. Als er die Brustwarzen fand, richteten sie sich unter den zarten Liebkosungen auf und wurden hart wie kleine Kieselsteine. Ein leiser, lustvoller Laut löste sich aus Max' Kehle.

„Wenn du nicht so betrunken gewesen wärst, hätte mich dein Geständnis wirklich in die Knie zwingen können“, gestand Leo. „Ich war so unendlich wütend auf dich, dass du dich erst volllaufen lassen musstest, um den Mut aufzubringen, es mir zu gestehen. Schon als du im Café aufgetaucht bist, dachte ich mir „Wow! Der könnte mir gefallen.“ Du hast mir so leidgetan, mit deinen Kopfschmerzen. Ich habe richtig mitgelitten.“

Ein Schmunzeln huschte um Max' Lippen. „Was habe ich denn alles gesagt?“, wollte er wissen.

Leo kicherte leise. Seine Hand glitt langsam tiefer, blieb einen Moment auf dem Bauch liegen, als wollte er das Beben, das von dem Körper ausging in sich aufnehmen. Dann bewegten sich seine Finger, streichelten sanft über die Bauchdecke, worauf sie sich leicht verkrampfte. Schließlich schob sich die Hand ein kleines Stückchen tiefer, hielt am Bund der Shorts an. Langsam schob sie sich am Rand entlang zur Seite, bedachte die Hüfte und die Taille mit sanften Berührungen und kehrte wieder zurück auf den Bauch.

Während dessen hatte sich Schweigen zwischen ihnen ausgebreitet, obwohl Max' Frage noch immer drängend in der Luft hing. Leo schien es nicht eilig zu haben, sie zu beantworten und Max drängte nicht.

Sie verharrten einfach nebeneinander, blickten sich in die Augen, ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander getrennt. Max' Atem ging rasch. Sein Brustkorb hob und senkte sich in kurzem Wechsel. Leos Oberkörper bebte nicht weniger.

„Etwas …“, brach Leo nach einer ganzen Weile endlich die Stille, „… was mich sehr berührt hat“, fuhr er fort. „Ich konnte nur nicht verstehen, warum du es mir nicht schon früher gesagt hast.“ Sein Kopf senkte sich langsam. Seine Stirn berührte zärtlich die von Max. „Etwas …“, setzte er erneut an, „was dafür sorgte, dass ich mich erst recht in dich verliebte. So etwas hat noch nie jemand zu mir gesagt.“

Max grummelte missmutig und wünschte sich, er würde sich wenigstens an Anhaltspunkte erinnern. Doch wenn er in sich ging, wusste er die Antwort selbst. Er schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug, um so viel wie möglich von Leos besonderen Duft in sich aufzunehmen. Er mochte diesen Geruch, der etwas in ihm auslöste, das wie eine tosende Brandung durch ihn hindurchjagte und sein Ziel genau zwischen seinen Beinen fand. Es sog ein zweites Mal die Lunge voller Leoduft und seufzte genussvoll.

„Nach was riechst du eigentlich?“, wollte er wissen.

Ein Geräusch entwich Leo. „Wieso?“, fragte er verwundert. „Das ist nur einfaches Deo und Duschshampoo. Ich verwende kein Parfüm, wenn du das meinst.“

„Es riecht nach dir.“ Damit legte Max eine Hand in Leos Nacken und zog ihn gänzlich an sich heran, um dessen Mund einzufangen und ihm einen Kuss zu rauben. Dabei verlor dieser ein wenig sein Gleichgewicht, kippte an Max' Körper. Die Hand rutschte abwärts, da er offenbar versucht hatte, sich einen anderen Platz zum Abstützen zu suchen, als den Bauch. Doch damit platzierte er seine Hand geradewegs auf Max' harte, pochende Beule.

Sofort nahm er die Hand zurück. Max grummelte missmutig.

„Da war sie schon sehr gut aufgehoben“, brummelte er, ohne den Kuss allzu lange zu unterbrechen.

Leo löste sich aus dem Kuss. Ein Grinsen breitete sich auf dessen Gesicht aus. „Ich bin mir nicht sicher, ob du nicht doch von all den Schmerzmitteln, die sie dir im Krankenhaus verabreicht haben, vollgedröhnt bist.“

Tatsächlich bemerkte Max die Wirkung der Medikamente, die schmerzlindernd und abschwellend sein sollten. Sein Knöchel pochte dumpf, als wollte er sich mit unterschwelligen Schmerzen in Erinnerung halten. Er schalt sich, so dumm und tollpatschig gewesen zu sein. Dumm, weil er nicht in der Lage gewesen war, früher vor Klartext zu sorgen. Tollpatschig, weil er nicht in Gedanken versunken eine Treppe heruntergehen konnte, ohne sich den Hals zu brechen. Gleichzeitig dankte er diesem Zwischenfall. Er hatte dafür gesorgt, dass Leo einlenkte und ihm sogar half.

Und jetzt lag er neben ihm im Bett und sie kuschelten aneinander, wie ein frisch verliebtes Paar.

Eigentlich waren sie es auch.

Frisch verliebt, erst vor wenigem Minuten oder Stunden erkannt, dass sie einander liebten und zusammengehörten.

Max ließ seine Finger durch die blonde Mähne fahren, während sie sich erneut küssten. Leo legte seine Hand zurück auf die heißen, ungeduldig pulsierende Erregung an Max' Leibesmitte und streichelte sie sanft. Gern hätte Max mehr, doch er wollte nichts überstürzen. Es war erst der Anfang, dachte er zuversichtlich. Sie hatten noch alle Zeit der Welt und wenn seine Migräne, die sich immer heftiger mit einem unangenehmen Druck hinter seinem rechten Auge ankündigte sich zu sehr anschwoll, würde es an diesem Tag vielleicht noch zu mehr kommen.

Doch plötzlich erschütterte ein durchdringendes Geräusch das gesamte Haus. Ein Beben ging durch Mauerwerk und Mobiliar und ließ die Scheiben der Fenster ängstlich zittern.

Leo und Max stöhnten gleichzeitig auf.

„Nein!“, keuchte Max und kniff die Augen zu, als ihm das nervtötende Geräusch eines Presslufthammers oder einer Schlagbohrmaschine von unten oder in der Wohnung neben ihn, einen äußerst schmerzhaften Stich durch die Schädeldecke verpasste. „Nein. Das darf doch nicht wahr sein …?“

Leo erhob sich. „Karl?“, fragte er schmunzelnd.

Max nickte nur, worauf Leo aus dem Bett sprang und nach dem Telefon suchte.

Eine halbe Stunde standen sie in Karls Wohnung, der ihnen noch verschlafen ob der frühen Stunde und mürrisch die Tür geöffnet hatte. Während Leo Max aus der Jacke half und sie an der Garderobe aufhängte, fixierte Karl seinen Freund mit einem fragenden Blick, wobei seine Augen dabei zwischen den beiden Besuchern hin und her wanderten. Max erkannte die nicht ausgesprochene Frage. Mit einem Nicken breitete sich ein Grinsen auf dessen Gesicht aus. Sofort hellte sich Karls Gesicht auf. Verstohlen zeigte der Student den erhobenen Daumen.

„Wird das jetzt zur Gewohnheit?“, wollte der wissen und unterdrückte ein Gähnen.

„Ich hoffe nicht“, schnaufte Max entnervt und musste sein Gesicht verziehen, da der schmerzhafte Druck in seiner Schläfe schlagartig zugenommen hatte.

„Dann verzieh ich mich mal wieder zu Biene. Macht es euch gemütlich.“ Karl griff nach seiner Jacke.

„Danke.“

Karl nickte nur und ließ die beiden Männer allein. Wenig später sanken sie eng umschlungen, nur in Unterwäsche gekleidet in Karls Futtonbett. Max ließ sich auf den Rücken sinken. Sogleich rollte sich Leo auf ihn, setzte sich rittlings auf den Schoß und beugte sich vor, um von Max' Lippen einen Kuss zu rauben. Wohl darauf bedacht, den angeknacksten Knöchel nicht zu berühren. Doch Max konnte die Zärtlichkeiten nicht mehr genießen, denn die Bewegung und die Aufregung hatte seinem Schädel ziemlich zugesetzt, sodass er unter dem pochenden Schmerz das Gesicht verzog.

„Wieder Migräne?“, erriet Leo.

Max nickte nur und kniff die Lippen zusammen. Er hasste es. Der Zeitpunkt konnte nicht unpassender sein.

Leo drehte Max' Kopf zur Seite, legte seine Lippen auf die Schläfe neben dem Auge und saugte sich daran fest, als wollte er den durchdringenden Schmerz aus ihm herausholen. So verharrte er eine Weile.

Max versuchte, sich zu entspannen und die Liebkosung zu genießen. Doch Leo hätte schon wesentlich fester saugen müssen, um die verflixte Migräne zu entfernen.

„Besser?“, hauchte Leo, als er wieder von ihm gelassen hatte.

„Nicht wirklich“, gab Max ehrlich von sich und lächelte dennoch glücklich. „Aber mach weiter!“

Ein Kichern entkam Leo. Er schob sich tiefer, arbeitete sich küssend und knabbernd über den Hals tiefer, schob das Shirt nach oben und saugte sich kurz und heftig an einer Brustwarze fest.

„Du bist auf dem richtigen Weg“, raunte Max erregt.

Mit einem Schmatzen löste sich Leo von dem kleinen Knubbel und schob sich tiefer. „Wäre doch gelacht, wenn wir diese dämliche Migräne nicht zum Schweigen bringen könnten“, sagte er, kurz, bevor er den Bund von Max' Unterhose nach unten schob und die pralle Erregung, die das Kleidungsstück in ein kleines Zelt verwandelt hatte, empfing und in seiner Mundhöhle verschwinden ließ.

 

Imprint

Text: Ashan Delon
Images: Judith Lisser-Meister_pixelio.de, Uta Herbert_pixelio.de
Editing: myself
Publication Date: 02-11-2014

All Rights Reserved

Next Page
Page 1 /