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Unerwarteter Segen





Als sich Sean und Leon am Morgen voneinander verabschiedeten, war die Welt noch in Ordnung.
Ihre morgendliche Abschiedszeremonie fiel stets heiß und leidenschaftlich aus, denn keiner wollte sich von dem Anderen trennen. Sie küssten und streichelten sich solange, bis es in ihren Hosen ziemlich eng und feucht wurde und sie dadurch den ganzen Tag, den sie getrennt sein würden, aneinander denken mussten. Obwohl sie schon fast fünf Jahre zusammen waren und auch beinahe so lange eine gemeinsame Wohnung bewohnten, war es noch immer wie am ersten Tag ihrer Begegnung. Noch immer kribbelte es in Leons Magengegend, wenn er nur an seinen Freund dachte. Und noch immer wurde es in seiner Hose eng, wenn Sean auch nur in der Nähe war.
So fiel es ihm wie jeden Morgen nicht leicht, seinen Lebensgefährten für einen weiteren Arbeitstag seiner Wege ziehen zu lassen, während er sich für acht Stunden in sein Ladengeschäft in einem der neueren Industrieviertel begab, um musikalischen Kunden Musikgeräte, Noten und anderes Accessoires zu verkaufen, mit denen man Töne produzieren oder einfach nur Krach machen konnte.
Sean war Landschaftsarchitekt und Leon freute sich bereits jetzt auf den Abend, wenn sie sich wieder trafen und sein Freund nach feuchter Erde, Blütenpollen und manchmal sogar auch nach Baumharz duftete.
Nicht selten schweifen seine Gedanken tagsüber zu Sean ab. Dann holte er seine Geldbörse aus seiner Hosentasche und brachte das Bild hervor, das Sean und ihn in der Badewanne ihrer Wohnung zeigte. Ein Foto, dass sie kurz nach dem Einzug geschossen hatten, als sie ihren neuen Lebensweg gebührend feierten – bei Champagner, Kaviar, einem heißen Bad in Rosenblüten und jeder Menge Sex.
Leon hatte gerade eine neue Lieferung hinten im Lager verstaut, als er in das Ladengeschäft zurückkam und zwei Kinder dort unbeholfen stehen sah. Ein Junge und ein Mädchen, beide ungefähr acht, neun, höchstens zehn Jahre als. Sie sahen sich so ähnlich wie Zwillinge. Beide dunkle, fast schwarze Haare, dunkelbraune leuchtende Augen, das gleiche runde Gesicht, dieselben adrett geschwungenen dunklen Augenbrauen und derselbe verkniffene, etwas unsichere Ausdruck, während sie sich neugierig im Laden umsahen und offenbar bereits ihre Favoriten ausgemacht hatten. Während das Mädchen mit glitzernden Augen Richtung Klavier schielte, war der Junge vor dem Schlagzeug stehen geblieben, das vor dem Schaufenster stand und Kunden anlocken sollte.
„Hallo!“, begrüßte Leon die beiden und kam langsam näher. „Was kann ich für euch tun?“
Die Köpfe der beiden flogen beinahe gleichzeitig herum und starrten ihn einen Moment erschrocken an. Leon überkam sofort der Verdacht, dass sie gar nicht hier sein durften und sich womöglich fortgestohlen haben mussten, denn ihre Augen schielten auch bange in Richtung Ausgang, wo ein großer gut gefüllter Parkplatz war, den sich sein Geschäft mit einem großen Supermarkt und diversen Bekleidungsgeschäften teilte.
„Sucht ihr was bestimmtest?“, fragte er und versuchte so viel Unbekümmertheit und gute Laune hineinzulegen, wie er konnte, um die Kinder nicht noch mehr zu erschrecken.
Sie schüttelten simultan den Kopf. Doch die Augen des Mädchens glitten sogleich zurück zum Klavier, während die des Jungen unwillkürlich zum Schlagzeug wanderten.
Das Mädchen stand etwas näher an Leon, daher wandte er sich zuerst an sie. „Kannst du denn spielen?“, fragte er sie. Er bezweifelte, dass die beiden gekommen waren, um ihr Taschengeld für Musikinstrumente auszugeben, die ihr Budget bei weitem überstieg. Offenbar waren sie lediglich fasziniert von den Geräten, wollten sich lediglich umsehen und damit die Zeit vertreiben. Vermutlich verstanden sie sogar etwas davon, denn das Mädchen hatte sich zielsicher das beste der Tasteninstrumente ausgesucht. Die beiden etwas weniger wertvollen, die das teure Gerät flankierten, beachtete sie nicht.
Sie nickte heftig und schielte mit zusammengekniffenen Lippen abermals in Richtung Klavier.
„Dann zeig mal, was du kannst!“, forderte Leon sie auf, ging zu dem Klavier und klappte die Abdeckung für die Tasten auf. Es besaß einen Wert von mehreren tausend Euro, doch Leon bezweifelte, dass ein so kleines Mädchen in der Läge wäre, dem qualitativ hochwertigen Instrument auch nur einen Kratzer zu zufügen. Zudem stand es eh zu Testzwecken im Laden und war bereits von mehr oder weniger kundigen Händen gequält worden.
Das Mädchen zögerte, setzte sich aber dann doch in Bewegung. Graziös ließ sie sich auf den Hocker nieder, legte ihre zarten Finger auf die elfenbeinfarbenen Tasten und begann zu spielen.
Wenn Leon nicht bereits damit gerechnet hätte, dass sie zumindest die Tonleiter annehmbar zustande brächte, wäre ihm glatt die Kinnlade herunter gefallen, denn das Mädchen spielte Beethovens Götterfunken nahezu fehlerlos.
„Wow!“, entkam ihm spontan, als sie mitten im Lied eine Pause machte und ihn mit stolz glitzernden Augen ansah. „Da hast du aber viel geübt.“
Sie nickte und kniff die Lippen zusammen. Leon drehte den Kopf und suchte den Jungen, der noch immer in der Nähe des Schlagzeugs stand und sie beide sehnsüchtig beobachtete.
„Kannst du auch Klavier spielen?“, fragte Leon interessiert.
Der Junge nickte zuerst, dann zog er die Schultern hoch und schüttelte den Kopf. „Ein wenig“, druckte er aus sich heraus. „Nicht so gut.“
„Was spielt du denn für ein Instrument?“, wollte Leon als nächstes wissen. Seine Vermutung, dass die beiden in Sachen Musik nicht gänzlich unwissend waren, hatte sich bestätigt.
„Auch Klavier, aber ich mag es nicht so gerne“, gestand der Junge.
„Was wäre dir denn lieber?“ Leon konnte sich wahrlich denken, welches der vielen im Laden stehenden Geräte der Junge bevorzugte. Und tatsächlich drehte sich dieser zum Schlagzeug um.
„Spielst du Schlagzeug?“ Leon kam näher, stellte sich neben den Jungen und betrachtete mit ihm zusammen, das nicht minder teure Gerät.
Der Junge schüttelte den Kopf. „Mama lässt mich nicht. Ich würde aber so gerne.“ Er seufzte traurig. „Sie sagt, das ist Schrott.“
Leon lachte kurz. Für einen kurzen Moment flammte in seinem Kopf eine Erinnerung auf, längst vergessen und zur Seite geschoben. Diesen Spruch hörte er nicht zum ersten Mal. Abgesehen davon, dass er als Schlagzeuger immer schon gegen Vorurteile ankämpfen musste, war dies ein Argument gewesen, das ihm seine Ex-Frau entgegen geschleudert hatte, als ihr keine anderen Beleidigungen mehr einfallen wollten, mit denen sie ihn treffen konnte. Seine Scheidung von Melanie war dem eines Rosenkrieges nicht unähnlich gewesen. Sie waren so jung und unbedarft gewesen, als sie geheiratet hatten, nur wenige Monate nach Melanies achtzehntem Geburtstag. Er selbst war nur ein paar Monate älter gewesen. An ihrem neunzehnten lagen sie bereits in einem heftigen Scheidungskrieg.
Er seufzte innerlich. Denn es war seine Schuld gewesen, dass es nicht mit der Ehe klappte. Vor Melanie hatte er bereits einige lockere Beziehungen mit Jungs gehabt. Als er Melanie über den Weg lief und sich spontan in sie verliebte, sagte er seiner homosexuellen Neigung ab und ging voll und ganz in diese neue Beziehung auf. Doch dann begegnete er bei einem Gig mit seiner Band Greg. Melanie erwischte sie beide auf der Männertoilette in eindeutiger Situation, worauf sie verletzt und bis ins Mark erschüttert die Scheidung einreichte.
Das musste jetzt … Leon überlegte einen Moment … bereits zehn Jahre her sein.
Inzwischen war er dreißig geworden, hatte sich einen Namen mit seiner Band, in der er nach wie vor spielte und mit seinem gut gehenden Ladengeschäft gemacht und befand sich in einer langjährigen Beziehung mit Sean.
Leon riss sich aus seinen Gedanken und widmete sich wieder dem Jungen.
„Würdest du es denn gerne mal ausprobieren?“
Der Kopf des Jungen fuhr hoch und starrte ihn fassungslos an. In seinem Gesicht spiegelte sich ein wahres Wechselbad an Gefühlen wieder. Einerseits schien er nichts lieber als das zu tun und zuckte bereits, von der Sehnsucht, sich endlich an die Trommeln zu setzen und darauf herumzuhämmern. Andererseits hallte offenbar das Verbot seiner Mutter in seinen Ohren wieder und er ließ den Kopf traurig sinken.
„Nein, danke“, gab er leise von sich. Sein Blick wanderte zum Schaufenster hinaus auf den Parkplatz. Unversehens ging ein Ruck durch seinen Körper. „Mama kommt“, rief er plötzlich. „Komm, Lara. Wir müssen gehen!“
Die beiden Kinder sprangen auf und waren binnen weniger Sekunden durch die Türe entschwunden.
Leon sah ihnen nach. Als sie zwischen den Autoreihen verschwanden, zuckte er amüsiert die Schultern und widmete sich wieder seinem Tagesgeschäft.

Drei Tage später, standen die Kinder wieder im Laden.
Er begrüßte sie erfreut. Das Mädchen – Lara, erinnerte er sich sogleich wieder – stand zappelig vor dem Klavier und wartete nur auf ein Nicken von Leon, ehe sie schnell die Abdeckung anhob und sogleich zu spielen begann. Diesmal Arabesque von Claude Debussy. Ein weiteres Mal blieb Leon der Mund offen stehen. Fasziniert von der Hingabe, mit der das offensichtlich begabte, noch ziemlich junge Mädchen das Stück spielte, überwältigte ihn förmlich. Ihre Mutter musste unheimlich stolz auf das Talent ihrer Tochter sein.
Er riss sich jedoch von dem Mädchen los und widmete sich dem Jungen.
„Soll ich dir ein paar Schläge zeigen?“ Leon ging an dem Jungen vorbei, nahm die Sticks von der der großen Trommel, setzte sich auf den Hocker und vollführte einige leichte Taktschläge.
Die Augen des Kleinen wurden bei beinahe jedem Schlag größer und größer.
„Komm her!“, forderte er ihn auf und winkte ihn zu sich.
Der Junge zögerte kurz, gab sich jedoch einen Ruck und kam näher. Er ließ sich von Leon zwischen dessen Beine drapieren. Leon griff links und rechts an dem Jungen herum, legte ihm die Sticks richtig in die Hände und führte sie für erste zaghafte Schläge auf die Trommel. Der Kleine zierte sich noch ein wenig, doch rasch verlor er seine Zurückhaltung und ließ sich gefügig leiten. Dann ließ Leon ihn los und gestattete es dem Jungen, selbst erste Rhythmen auf dem Schlafzeug auszuführen.
Mit ihrem recht unregelmäßigen und unbeholfenem Spiel brachten sie die Konzentration des Mädchens durcheinander, worauf diese aufhörte, sich auf ihrem Hocker umdrehte und sie beobachtete.
Leon war erstaunt, dass der Junge ziemlich rasch ein entsprechendes Taktgefühl entwickelte und in einem schwindelnden Tempo den Rhythmus nachvollziehen konnte. Vermutlich besaßen beide Kinder ein beachtliches musikalisches Talent und waren bereits daraufhin ausgebildet worden.
Unwillkürlich musste er an sich selbst denken, als er noch als Kind wie ein Besessener ein Musikinstrument nach dem anderen zu spielen begann, für einige Unterricht bekam, andere, wie Gitarre und Schlagzeug sich selbst aneignete, weil seine Eltern seine wechselnde Begeisterung irgendwann nicht mehr mitmachten. Angefangen hatte er wie ein Großteil aller Kinder mit Blockflöte, doch das war ihm ziemlich rasch zu langweilig geworden. Er ging zu Querflöte und Klarinette über, bis er bemerkte, dass Blasinstrumente nicht sein Ding waren und er sich das Klavier vornahm. Als er lieber auf einem elektronischen Keyboard die modernen Stücke nachspielte, anstatt auf dem klassischen Klavier die Klassiker der Musikkultur zu üben, streikten seine Eltern, ihm weiter Musikunterricht zu finanzieren. Daher erarbeitete er sich die Gitarre und das Schlagzeug selbst.
Heute waren seine Eltern stolz auf ihren Sohn, auch wenn er noch mit dreißig mit seiner Band durch die Lande zog und er ihnen irgendwann Sean als Lebensgefährten vorstellte. Er besaß ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern, die ihm allerdings nicht verzeihen konnten, dass er sie eine Schwiegertochter gekostet hatte.
„Hey!“, erkannte er plötzlich eine bekannte Stimme, die gegen den Lärm in dem Geschäft anschrie. Leons Kopf fuhr hoch und begegnete geradewegs dem von Sean, der plötzlich und unversehens im Laden stand. „Wusste gar nicht, dass ihr ein neues Mitglied in der Band habt.“
Sein Lächeln war breit und aufrichtig. Und wie immer, wenn Sean in Leons Nähe kam, begann es in ihm zu ziehen und zu pulsieren.
Er schob sich hinter dem Jungen hervor und überließ ihm die Drums und die Becken, worauf dieser mit frischem Mut noch ein paar Schläge ausprobierte und begab sich zu Sean, um ihn mit einem Kuss zu begrüßen
In Anbetracht ihrer noch ziemlich jungen Zuschauer, fiel ihr Begrüßungskuss relativ dürftig und flüchtig aus. „Was machst du hier? Hast du schon Feierabend?“
Sean wackelte mit dem Kopf. „In gewissem Maße. Ich habe um drei einen Zahnarzttermin und du hast versprochen, mich zu begleiten.“
Sofort fiel es Leon wieder ein. Seans Phobie vor Zahnklempnern hieß für Leon stets, dass er während der Behandlung dessen Händchen halten musste. Er hatte den Termin tatsächlich vergessen und nickte.
„Okay, Kinder“, rief er und brachte damit den scheppernden Rhythmus des Jungen zum verstummen. „Ich muss euch jetzt leider rausschmeißen.“ Da er den Termin vergessen hatte, hatte er auch verschwitzt, eine Vertretung einzuteilen, so dass er den Laden unerwartet schließen musste. Für Seans Nöte würde er auf die Einnahmen eines Nachmittags verzichten. An diesem heißen Nachmittag, war ohnehin nicht viel los. Er nahm die Sticks entgegen, die ihm der Junge artig und gehorsam entgegenhielt und lächelte ihn freundlich an. „Vielleicht kommt ihr ja irgendwann mit eurer Mami her.“
In diesem Moment ging die Eingangstüre ein weiteres Mal auf und eine junge Frau stürmte herein. Ihr blondes langes Haar wehte wie ein goldener Schleier hinter ihr her. Ihre schlanke Gestalt steckte in engen Jeans und einer hüftlangen schwarzen Lederjacke. Die dünnen Absätze ihrer roten Pumps verursachten klickende Geräusche auf dem Marmorboden des Ladens. Ihr Blick glitt zuerst hektisch und suchend durch den Raum, bis sie gefunden hatte, was sie suchte und sich ihr Gesicht entspannte.
Unweigerlich entdeckte sie Leon und der Ausdruck in ihrem Gesicht gefror augenblicklich zu Eis. Sie blieb abrupt stehen und starrte ihn entgeistert an. Ihre Augen wechselten einige Male hektisch zwischen Leon und Sean hin und her und schien auch den Arm nicht zu übersehen, den Sean besitzergreifend auf Leons Hüfte gelegt hatte.
Leon starrte ebenso entgeistert die Frau an. So als sähe er sich einem leibhaftigen Geist gegenüber.
Einige quälend lang gezogene Augenblicke, starrten sich die beiden nur an, ehe durch die Frau ein Ruck ging und sie die beiden Kinder wütend anfunkelte.
„Hab ich euch nicht verboten, hier rein zu kommen?“ Ihre Stimme klang schrill und hallte in dem großen Raum wieder. Die Kinder trotteten verlegen und schuldbewusst heran, mit leicht gesenkten Köpfen. De Junge warf noch einen letzten sehnsüchtigen Blick zum Schlagzeug, ehe er von seiner Mutter aus dem Laden geschoben wurde.
Dann waren die beiden Männer allein und Leon stand noch immer wie zur Salzsäule erstarrt da.
„Was war denn das?“, brach Sean die Stille.
Leon riss sich aus seiner Umnachtung und schüttelte leicht den Kopf.
„Das war meine Ex“, erklärte er murmelnd.
Sean riss die Augen auf und starrte seinen Freund an.
„Das war Melanie?“
Leon nickte nur. Natürlich hatte Leon ihm von seiner kurzen Ehe erzählt und auch davon, was passiert war. Sie besaßen keine Geheimnisse voreinander.
„Ach du Scheiße! Was macht sie hier?“
Leon schüttelte abermals den Kopf. „Ich habe keine Ahnung. Zufall womöglich.“
„Zufall?“ Sean schien nicht so recht daran glauben zu wollen.
Das letzte, was Leon von seiner frisch geschiedenen Ex-Frau wusste, war, dass sie für einen neuen Job nach Frankfurt zog. Das war kurz nach dem Scheidungsurteil gewesen. Seit dem hatte er weder etwas von Melanie gehört noch gesehen.
Leon stand noch immer vollkommen verdattert im Laden. Diese unerwartete Begegnung hatte ihn vollkommen aus dem Konzept gebracht. Erst als er einen Rempler in den Oberarm bekam, erinnerte er sich daran, dass er nicht allein war.
„Äh … ich würde den Termin ja gerne sausen lassen, aber dann bringen mich meine Zahnschmerzen um“, gab Sean mit leichtem Zittern in der Stimme von sich. Leon wusste, dass er diesen Termin nur zu gerne absagen oder einfach ignorieren würde. Doch da ihm die seit Tagen andauerten Schmerzen offensichtlich als größeres Übel vorkamen, drängte er notgedrungen zu einem Besuch bei dem Zahnklempner. Leon nickte und befand sich wenig später in der sterilen Praxis eines Zahnarztes wieder.

Er hatte den Vorfall mit den Kindern und Melanie beinahe schon vergessen, als ein gutes halbes Jahr später die Eingangstüre des Ladengeschäftes ging und ein leises Klicken näher kam.
Leon, der eben dabei war, eine Auswahl an Klarinetten in ihre zugehörige Verpackung zu verstauen, drehte sich langsam um und erstarrte.
Melanie!
„Äh … Hallo!“, begrüßte sie ihn leicht verlegen und spielte mit dem Saum ihres Kunstpelzes, in den sie sich an diesem kalten vorweihnachtlichem Wintertag gehüllt hatte.
„Melanie?“ Leon hätte sie beinahe bei ihrem Spitznamen, Melli, genannt, konnte sich jedoch gerade noch zurückhalten. „Was verschafft mir die Ehre?“
„Was hast du mit Jonas gemacht?“, kam sie sogleich zur Sache, als sie sich offenbar dazu entschloss, nicht lange um den heißen Brei herum zu reden.
„Äh … nichts!“ Leon zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe nicht ...“ Jonas, das musste der Junge sein, der vor einem halben Jahr so begeistert auf den Drums herumgehämmert hatte und den sie mitsamt seiner Schwester aus dem Laden geschoben hatte. „Was soll ich gemacht haben?“
„Irgendwas hast du mit ihm gemacht“, fuhr sie ihn an. Die Verlegenheit wich gänzlich aus ihrem Gesicht und machte Wut und Anklage Platz. „Seit er mit dir zusammen war, ist er total verändert. Er ist aufmüpfig, schlägt seine Schwester und widersetzt sich allem und jedem.“
Leon zog die Augenbrauen zusammen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der artige, wohlerzogene Junge zu so etwas fähig wäre. Er hatte sich sogar ein wenig stolz gezeigt, als er sich eingestehen musste, dass Melanie ihre Kinder zu kleinen Prachtexemplaren herangezogen hatte. Etwas, was er der flippigen jungen Frau, für die er Melanie bislang gehalten hatte, niemals zugetraut hätte.
„Ich weiß nicht, was ich damit zu tun haben sollte. Sie kamen hier rein, nachdem du sie offenbar im Wagen abgestellt hast, um in Ruhe einkaufen zu können, sahen sich ein wenig um und gingen wieder.“ Dass ihm die Kinder ihr Talent offenbart hatten und einige der Gerät ausprobierten, behielt er lieber für sich. Denn eines hatte er ziemlich rasch kapiert. Keines der Kinder schien ihrer Mutter von den wahren Erlebnissen in dem Geschäft berichtet zu haben.
Sie schnaufte hart. „Du hast etwas mit ihm gemacht. Jonas ist total verändert. Seine Leistungen sacken rapide in den Keller. Er verweigert sich absolut.“
Dass sie von Leistungen sprach, machte ihn spontan wütend. Kinder zu Leistungen zu zwingen, zu denen sie nicht bereit sind, hatte er schon immer gehasst. Kinder waren keine Rennpferde, die man mit genügend Übung, Training und Zwang zu Hochleistungsmaschinen putschte.
„Vielleicht solltest du hin und wieder mal auf deinen Sohn eingehen, anstatt deine eigenen ehrgeizigen Pläne durchpeitschen zu wollen“, warf er ihr an den Kopf. Er hatte gesehen, wie gerne Jonas sich dem Schlagzeug widmen würde. Und nun wurde ihm auch schlagartig bewusst, dass es der ein und derselbe Mund ausgesprochen hatte, der dem kleinen Jungen wie auch Leon entgegen schleuderte: „Schlagzeuge sind Schrott!“
Melanie hatte ihren Unmut über Leons Fehler an ihrem kleinen Sohn ausgelassen. Diese Erkenntnis sorgte dafür, dass sich dessen Wut steigerte.
„Du hast dich überhaupt nicht einzumischen“, spuckte sie ihm verächtlich entgegen. „Ich will wissen, was du ihm gesagt hast. Sofort!“
„Nichts, hab ich ihm gesagt“, gab Leon ebenso zurück. „Ich wusste ja nicht mal, wer die beiden waren. Sie kamen hier rein, sahen sich die Instrumente an und nichts weiter.“
„Lügner!“, schalt sie außer sich. „Du bist noch immer der gleiche verfluchte Lügner. Du hast mir Jonas verdorben.“
Das ließ Leon nicht auf sich sitzen. „Tickst du nicht richtig?“ Er schnaufte entrüstet. „Nicht ich hab die Kinder im Wagen zurückgelassen, um in Ruhe shoppen zu gehen. Weißt du, wie gefährlich das ist? Autos sind keine Kindersafes. Das war verantwortungslos und egoistisch. Aber so bist du schon immer gewesen.“ Ein klein wenig ungerecht war er schon, musste er sich eingestehen. Schließlich war er es gewesen, der sich dementsprechend verhalten hatte – vor zehn Jahren. Doch Melanies Verhalten ihren eigenen Kindern gegenüber hatte es nicht anders verdient.
„Und du mit deiner Scheiß-Rock-Musik. Tingelst du noch immer durch sämtliche versiffte Bars und fickst einen dreckigen Arsch nach dem anderen?“
Jetzt wurde es ihm zu dreist. Er hielt sich jedoch zurück, sie an ihrem Kragen zu packen und aus dem Laden zu werfen, oder ihr gar noch einen Tritt in den Allerwertesten zu verpassen, auf dass sie niemals wieder zurück kam. „Mach, dass du hier raus kommst“, zischte er verhalten, sich nur mühsam beherrscht.
„War das dein Lover?“, schob sie verächtlich hinterher. „Der mit dem ich dich neulich her gesehen habe? Habt ihr beide es vor den Kindern gemacht?“
Es ging nicht anders. Leon rutschte die Hand aus und verpasste der Frau eine schallende Ohrfeige.
Entrüstet starrte sie ihn an. Ihre Augen weit aufgerissen. Leon hatte sich im letzten Moment noch zurückhalten können, seine ganze geballte Wut in den Schlag zu legen, sonst hätte er ihr womöglich die Lippe blutig geschlagen oder sie gegen irgendwas geschleudert, so dass sie sich den Kopf aufschlug und er womöglich noch wegen Körperverletzung dran kam. So war die Ohrfeige trotz allem für seinen Geschmack ziemlich linde ausgefallen, genügte jedoch, um die Frau zur Besinnung kommen zu lassen.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während ihre rot lackierten Fingernägel bedächtig über ihre leicht gerötete Wange strichen.
„Verzieh dich! Und zwar ganz schnell!“, zischte Leon, drehte sich um und schickte sich an, die Klarinetten weiter in ihre Verpackungen zu stecken.
„Er ist seinem Vater so ähnlich“, hörte er es hinter sich sagen.
Die Erkenntnis schoss wie ein Blitz durch ihn hindurch und die Klarinette, die er eben in die ausgepolsterte Schachtel legen wollte, rutschte ihm aus den Fingern und fiel scheppernd zu Boden. Langsam drehte er sich um und starrte sie entgeistert an.
„Was hast du eben gesagt?“ Seine Stimme war nur noch ein Windhauch. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Adrenalin flutete seine Adern und ließ sein Herz noch schneller schlagen, beinahe rasend vor Entsetzen.
Sie schluckte, ließ ihre Hand sinken und verkrallte sich erneut im Saum ihres Pelzmantels.
„Lara und Jonas sind deine Kinder“, gestand sie. „Ich war schwanger, als wir uns scheiden ließen.“
Leon schluckte und starrte die Frau fassungslos an, unfähig auch nur einen Laut von sich zu geben.
„Ich habe es dir verschwiegen, weil ich nichts mehr mit dir zu tun haben wollte, nachdem ...“ Sie verstummte und biss sich auf die Lippen.
...nachdem sie ihn in flagranti beim heißen Analsex mit einem Mann auf einer Männertoilette erwischt hatte.
Leons Hand zuckte, bereit, ihr eine zweite Ohrfeige zu verpassen. Doch er hielt sich zurück. Er zwang sich, still zu halten, denn diesmal würde er den Schlag nicht abmildern können. Diesmal würde sie die volle Wucht seiner Wut treffen und er würde ihr vermutlich den Schädel zertrümmern. Mord oder Totschlag war nichts, worauf er jetzt unbedingt Wert legte.
Außerdem war sie es nicht wert, sein ganzes Leben hinzuwerfen und sich der Rache hinzugeben.
„Verpiss dich!“, sagte er nur beherrscht, drehte sich zu seinen Musikinstrumenten um und erinnerte sich daran, dass er das heruntergefallene Stück aufheben und nach Schäden untersuchen musste.
„Ich brauche deine Hilfe!“, gab sie hektisch von sich.
„Verpiss dich!“, wiederholte er energischer, legte die Klarinette in die Schachtel, ohne sie näher zu betrachten. Dafür besaß er jetzt keinen Nerv.
„Ich war beim Psychologen mit ihm“, fuhr sie fort. „Er riet mir, den Vater hinzu zu ziehen, nachdem er bereits auf dich getroffen war. Er meinte ...“
Sie verstummte, als Leon mit einem Zischen herumfuhr und sie wütend anfunkelte. „Du bist so ein falsches, verlogenes Miststück“, spie er ihr außer sich vor Wut entgegen. „Mach, dass du deine zwei Bälger nimmst und dich nie wieder hier blicken lässt. Ich will deine verlogene Visage hier nie wieder sehen.“
Melanie ließ sich nicht beeindrucken. „Jonas braucht deine Hilfe“, stieß sie nervös aus. „Er ist wie du. Er liebt die Musik. Er lebt für sie. Aber auf einer anderen Weise als Lara. Das kann ich ihm nicht geben.“
„Hau ab!“, schrie er sie an. „Oder ich vergesse mich!“ Er schielte nach der Klarinette und überlegte tatsächlich für einen Moment, ob er sie als Schlagwaffe benutzen oder wenigstens mit ihr drohen sollte.
„Jonas braucht dich!“, schrie sie zurück, unbeeindruckt den sichtlichen Wutausbruches, vor dem Leon nur kurz davor stand.
„Was bist du nur für eine Scheiß-Rabenmutter. Solange er brav und artig ist, ist er gerade recht. Muckt er auf, schiebst du ihn zu einem Fremden ab. Wer hat dir das Recht gegeben, überhaupt Mutter zu werden?“
„Du!“, entgegnete sie entschieden. „Wir wollten viele Kinder. Erinnerst du dich? Deswegen haben wir auf alle Schutzmaßnahmen verzichtet. Wir wollten beide, dass ich so schnell wie möglich schwanger werde. Aber dann musstest du ja mit diesem Kerl ...“ Sie verstummte und schnaufte tief, bevor sie weitersprach. „Mir geht es einzig um Jonas. Seit er mit dir zusammen war, redet er pausenlos davon, dass er Schlagzeug spielen will. Ich hab immer versucht, es von ihm fern zu halten. Es war ein Fehler. Jonas ist wie du. Klassische Musik ist nichts für ihn. Das habe ich schon länger bemerkt. Er quält sich. Aber ich war nicht bereit, ihn etwas anderes versuchen zu lassen, aus Angst, dass er dann wie du wird.“
„Dass er ein Homo wird?“, warf Leon ihr verächtlich an den Kopf.
„Nein, dass er ein Rockmusiker, ein Schlagzeuger wird. Er hat so viel von dir. Wenn ich ihn ansehe, sehe ich dich in ihm. Er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Er ist dein Sohn, ganz und gar.“
Sie wirbelte herum, ging ein paar Schritte in Richtung Ausgang und blieb dann stehen. Mit einem Seufzen drehte sie sich wieder um und begegnete seinem Blick. „Ich kann mir vorstellen, dass du jetzt sauer bist, weil ich es dir verheimlicht habe. Und im Grunde will ich immer noch nicht, dass sie von dir wissen oder dich gar kennenlernen. Denn das, was du mir angetan hast, ist unverzeihlich. Aber mir geht es einzig und allein um Jonas. Ich kann ihm nicht mehr helfen. Ich kann das einfach nicht. Jonas hat zu viel von dir und vielleicht hasst ich eines Tages dafür, dass er dir so ähnlich ist. Aber liebe ich ihn so sehr. Das hat er nicht verdient.“ Sie nahm einen weiteren Atemzug. „Ich kann ihn nicht ändern. Er ist wie er ist. Der Psychologe riet mir dazu … Es sind ja bald Ferien und ich dachte mir, vielleicht könntest du ihn über die Feiertage zu dir nehmen.“
„Ich kann nicht“, winkte Leon sofort ab. „Ich bin mit einem Mann zusammen und ich habe keine Lust, mir auch noch diesbezüglich Vorwürfe anzuhören, weil ich den Jungen womöglich noch verderbe oder was auch immer. Keine Chance.“ Er hob seine Hände und winkte ab. „Sieh zu, wie du allein klar kommst. Du hast das zehn Jahre lang geschafft, du wirst das noch weiter durchziehen.“ Damit drehte er sich wieder zu seinen Instrumenten um, stopfte die restlichen Geräte in die Schachteln und verschloss sie hastig. Dann nahm er sie auf den Arm und trug sie zu einem Regal, wo noch weitere ebensolche Schachteln auf ihre Kameraden warteten.
„Bitte Leon!“, flehte sie. „Ich habe den Kindern bereits erzählt, wer du bist.“
Die Schachteln rutschte ihm aus der Hand. Er konnte sie gerade noch auffangen.
„Jonas hat eingewilligt zu dir zu kommen.“
„Du … Schlampe!“, stieß Leon fassungslos hervor. „Du hinterhältiges, durchtriebenes Weibstück“, fügte er an, als ihn die eisige Starre entließ, in die er unversehens geraten war, als er erkannte, in welche Zwickmühle sie ihn gepresst hatte. „Wie kannst du nur ...“ Weiter kam er nicht, denn seine Wut schäumte über. Er fegte die Schachteln aus dem Regal, die er nur wenige Sekunden zuvor sorgsam eingeräumt hatte. Die teuren Klarinetten fielen aus ihren Verpackungen und purzelten wild durcheinander.
„Du verlogenes Stück Scheiße!“, schrie er sie an.
Melanie wich leicht zurück.
„Für Jonas“, raunte sie. Ihre Hand glitt wieder zu der Wange, die noch immer leicht gerötet war, dann wirbelte sie herum und eilte mit klickenden Schritten davon. An der Türe blieb sie stehen und wandte sich noch einmal zu ihm um. „Ich bringe ihn dir.“
„Nein!“, schrie Leon und kickte eine der Schachteln wütend durch die Gegend. „Verdammt nochmal, nein!“
Doch er besaß keine Chance. Den Kindern zuliebe. Melanie hatte ihm keine Wahl gelassen.
Wie erklärte er das nur Sean?
Sean mochte Kinder nicht. Für ihn waren sie nervige Kreischmonster, die ihre Daseinsberechtigung lediglich darin besaßen, für den Fortbestand der Menschheit zu sorgen. Und dann sollte Leon auch noch über Weihnachten ein Kind bei sich aufnehmen.
Das würde Zoff geben – unweigerlich.
Leon entschied sich dafür, nicht lange mit dieser Neuigkeit hinter dem Ofen auszuharren, sondern Sean sofort darüber zu informieren. Er ging sein Büro und rief ihn an.
Erwartungsgemäß war Sean nicht gerade begeistert über diese Nachricht. Er dauerte auch keine Minute, ehe sie sich am Telefon anschrien, denn Sean bestand darauf, dass Leon den Jungen nicht aufnahm und seiner Mutter zurückschickte. Weihnachten war für sie stets eine sehr besinnliche und persönliche Zeit, in der sie endlich einmal Zeit für sich hatten.
Der Streit zwischen ihnen artete aus. Als sie sich am Abend trafen, hatten sie keine heißen Küsse und leidenschaftlichen Blicke füreinander übrig. Sean begegnete ihm noch an der Wohnungstüre mit wütendem Blick und forderte vehement, dass Leon die Mutter anrief und ihr absagte.
Leon ging es um die Kinder und bat darum, es wenigstens ein paar Tage lang zu versuchen. Er wollte sie zumindest mal kennenlernen, auch wenn es mit ihnen nicht klappten sollte. Er bezweifelte nicht, dass Melanie ihn bezüglich seiner Vaterschaft angelogen hatte. Dafür sahen ihm die Zwillinge zu ähnlich. Doch Sean gab nicht nach und so packte er kurzerhand eine Tasche und verließ die gemeinsame Wohnung.
Leon rief ihm noch hinterher, Sean ließ sich jedoch nicht erweichen.
Mit Tränen in den Augen, lehnte sich Leon an die Wohnungstüre, zitternd vor Wut, Trauer und Hoffnungslosigkeit. Er hätte niemals gedacht, dass ihn einmal etwas so treffen konnte. Sean ziehen lassen zu müssen, hilflos mitansehen zu müssen, wie er mit einer dicken Reisetasche die Treppe hinunter stürmte, bohrte einen heißen, giftigen Stachel in sein Herz und zerfraß ihn. Er kannte Sean. Sein Worte waren Gesetz. Wenn er ihm ins Gesicht schrie, dass es Aus war, sobald der Junge die Schwelle übertrat, dann wäre an seiner Entscheidung nicht mehr zu rütteln.
Er würde Melanie umbringen, schwor er sich in diesem Moment. Sollte sie es tatsächlich wagen, an seiner Wohnungstüre aufzutauchen, würde er seine Daumen auf ihre Kehle drücken und so lange darauf pressen, bis alles Leben aus ihr herausgequollen war.
Melanie hatte sein Leben zerstört. Dafür würde er ihr ihres nehmen.
Heulend sank er schließlich an der Türe entlang zu Boden, ließ seinen Tränen freien Lauf, lange, bitterlich, voller Schmerz und Leid. Er hatte abgeschlossen mit dieser Welt, denn ohne Sean war ihm auch Jonas scheißegal.
Es würde auch nichts bringen, Melanie anzurufen und ihr abzusagen, denn er wusste weder ihren derzeitigen, vollständigen Namen, noch wo sie wohnte. Er könnte es vielleicht bei ihren Eltern versuchen, dachte er hoffnungsvoll, wusste jedoch sogleich, dass sie ihm nichts verraten würden, denn in ihren Augen war er ein drogenabhändiger, Aidsverseuchter Rocker ohne Herz und Verstand. Die Worte brannten noch immer in seinem Kopf, als er an den Tag zurückdachte, an dem ihm sein Schwiegervater dies an den Kopf warf. Kurz nachdem er von der heimlichen Heirat der beiden erfahren hatte und sogleich auch von seinem Ehebetrug.
Eine verfahrene Scheiße.
Wie lange er dort vor der Wohnungstüre gelegen war, konnte er nicht sagen, denn erst ein grelles Klingeln riss ihn aus einem unruhigen Dämmerschlaf. Blinzelnd öffnete er die Augen und stellte fest, dass er vor Erschöpfung eingeschlafen war und eine ganze Nacht auf dem Boden im Flur verbracht hatte.
Die Sonne schien vom Wohnzimmer in die Wohnung und überflutete den kleinen Flur. Dort wo sich ein grelles Dreieck auf dem flauschigen Berberteppich ausbreitete, hatten Sean und er schon oft gestanden oder sich auf dem kuscheligen Teppich innig geliebt.
Ein weiteres Mal schrillte die Türglocke durch die Wohnung und er zuckte zusammen. Müde hievte er sich auf die Beine, schlurfte ins Bad und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht. Anschließend beäugte er sich im Spiegel.
Oh Mann, sah er scheiße aus. Die Augen rot, untermalt mit dicken, dunklen Ringen, beinahe blutunterlaufen, wie ein blutrünstiger Vampir. Das Gesicht ebenso bleich und leblos. Wäre nicht der deutliche Bartschatten, hätte man glatt glauben können, dass bereits sämtliches Leben aus ihm gewichen war.
Und das am Morgen des Heilig Abend.
Würde das ein scheiß Weihnachten werden.
Ein drittes Mal schrillte die Glocke.
Murrend stieß er sich vom Waschbecken ab, schlurfte zur Türe und betätigte den Knopf für die Sprechanlage.
„Ja?“
„Melanie!“, hörte er es nur.
Sofort kochte seine Wut hoch und er drückte den Knopf so fest, dass er knirschte.
„Verzieh dich!“, zischte er verächtlich, ließ den Knopf los und schnitt damit der Frau jedes weitere Wort ab.
Die Türglocke schrillte abermals.
„Ich habe gesagt, verz ...“
„Jonas ist bei mir“, fiel ihm der Lautsprecher der Türsprechanlage mit der leicht verzerrten Stimme seiner Ex-Frau ins Wort. „Bitte, Leon!“
Leon knurrte laut. Da er den Knopf noch immer gedrückt hielt, mussten das die Gäste vor der Haustüre unweigerlich mitgehört haben. Was soll's!, dachte er plötzlich bei sich. Sein Leben war ohnehin schon ein einziger Trümmerhaufen. Auf eine Scherbe mehr oder weniger kam es nicht mehr an. Er drückte den Türöffner.
Von der Haustüre zu ihm in den zweiten Stock brauchte man weniger als zwei Minuten und so klopfte es bald zaghaft an seiner Wohnungstüre. Leon fuhr sich drahtig mit der Hand über das Gesicht und öffnete.
Vor ihm standen tatsächlich Melanie und ein ziemlich bedrückt dreinsehender kleiner Junge an ihrer Seite, der sich leicht im Hintergrund hielt. Ihm schien es nicht gerade zu gefallen, an den wichtigsten Tagen des Jahres zu einem Wildfremden abgeschoben zu werden. Mit einem Seufzen öffnete Leon die Türe weiter und ließ sie ein.
Melanie zog den Jungen an der Hand hinter sich her und schob ihn leicht zur Seite, damit Leon die Türe hinter ihr schließen konnte.
„Danke!“, sagte sie leise und stellte den kleinen Rollkoffer ab, der ein weiteres Zeichen dafür war, dass sie keinen Witz machte. Jonas würde über die Feiertage bei ihm bleiben. „Ich bin dir ...“
Leon hob die Hand, worauf sie verstummte. „Erspar uns beiden das“, fuhr er ihr ins Wort. „Hat er deine Nummer, falls es mit uns beiden nicht klappen sollte?“
Sie nickte nur stumm und blickte kurz zu ihrem Sohn. „Ich … ähm ...“ Sie schluckte. „Wo ist dein …?“ Sie sah sich flüchtig um, in der Hoffnung jemanden weiteren zu finden.
„Gegangen“, gab Leon nur knapp von sich, entschied sich jedoch noch etwas nachzuschieben. „Du hast meine Beziehung zerstört.“
„Und du unsere“, hielt sie dagegen und entgegnete ebenso seinem Blick. „Dass du heute so schlecht aussiehst, geschieht dir recht ...“
„Noch ein Wort und ...“ Leon zischte warnend und schielte zur Türe. Er hielt es keine Sekunde länger mit ihr aus.
Sie nickte, kniff die Lippen zusammen. „Nehmt euch Zeit!“, gab sie sanft, beinahe aufmunternd von sich, beugte sich zu ihrem Sohn und küsste ihn liebevoll auf die Stirn. Der Junge wehrte sich leise und gab ein leises knurren von sich. Seine Mutter überging dies jedoch und strich ihm noch einmal zärtlich übers Haar. „Ruf an, wenn was ist“, sagte sie zu ihm, erhob sich und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung.
Leon war erleichtert, dass er sie so leicht wieder los wurde und schnaufte tief durch.
„Tja“, gab er abschließend von sich und betrachtete den Jungen – seinen Sohn, musste er sich bewusst in Erinnerung halten. „Was machen wir beide jetzt?“
Jonas schielte vom Flur ins Wohnzimmer. Dort stand vor dem großen Fenster ein Schlagzeug mit großen Drums und schimmernden Messingbecken. Leons ganzer Stolz. Oft hatte er an ihnen gesessen und zu Seans Lieblingsmusik den Rhythmus geschlagen. So hatten sie beide etwas davon gehabt. Sehnsüchtig folgte Leon dem Blick des Jungen und seufzte leise.
„Daran hast du wohl einen Narren gefressen“, bemerkte er, gab sich einen Ruck und ging voran ins Wohnzimmer.
„Es ist mein Traum“, gestand der Junge und folgte ihm. Vor dem riesigen Musikinstrument blieben sie stehen und starrten es beide mit verklärten Augen an. Doch jeder aus einem anderen Grund. Leon dachte an die Momente, in denen ihm Sean zugehört hatte, wie er im Schneidersitz vor der großen Basstrommel saß und sich den Beat direkt in den Leib wummern ließ. Und Jonas vermutlich aus Vorfreude, denn irgendwann während seines Aufenthaltes, würde er sicherlich die Gelegenheit bekommen, einmal drauf zu spielen.
„Es tut mir leid“, brach es aus Leon heraus. „Ich wusste nicht, dass ...“ Er verschluckte den Rest. Wie konnte er einem Kind erklären, dass er nichts von der Vaterschaft wusste. Er musste ihn hassen, ihn verfluchten, dafür, dass er ihn jämmerlich im Stich gelassen hatte.
Doch Jonas nickte nur verständig. „Mama hat es uns erzählt. Wir sind ganz schön sauer auf sie. Deswegen haben wir beschlossen, ihr dieses Weihnachten nichts zu schenken.“
Dafür hatte Leon ein schadenfrohes Schmunzeln übrig. „Wo ist deine Schwester?“ Leon erinnerte sich leider zu spät daran, dass es offenbar Differenzen zwischen den beiden gab, denn Melanie hatte ihm erzählt, dass Jonas seine Schwester schlug. Es war sicherlich kein guter Gesprächsanfang und er suchte händeringend nach einem anderen Thema.
„Lara hat einige Auftritte über Weihnachten“, berichtete der Junge plaudernd. „Und außerdem ist sie grad nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Ich hab sie ganz schön geärgert. Deswegen bin ich erst Mal allein hier.“
Leon sah ihn erstaunt an. „Klingt, als hättet ihr euch wieder vertragen.“
Jonas zuckte mit den Schultern. „Wir sind uns nie richtig böse. Ich war nur sauer, weil Mami sie immer bevorzugt, wenn ich Zicken mache. Das habe ich an Lara ausgelassen. Aber sie versteht es. Sie meint, hier kann ich mich wieder beruhigen und sie kann in Ruhe für die Auftritte üben.“
Leons Augenbrauen gingen noch ein Stückchen höher. Das was der Junge da so von sich gab, klang äußerst erwachsen. „Wie alt bist du denn schon?“
Jonas sah mit einem stolzen Grinsen hoch. „Zehn.“ Er beäugte den Mann eingehend, so als müsse er ein Urteil mit dem abgleichen, was er sah. „Weißt du, was Opa sagt, was du bist?“
Ein heißeres Kichern entkam Leon. Er unterdrückte es krampfhaft. Er konnte sich wahrlich denken, welcher Meinung sein Ex-Schwiegervater von ihm war. Abgesehen davon, war er nicht sonderlich scharf drauf, es zu erfahren.
„Du bist ein verfluchtes Arschgesicht“, berichtete ihm Jonas unaufgefordert frech und frei. „Sagt Opa“, fügte er schnell hinzu, als er sah, wie Leon sein Gesicht verzog. „Und er hätte dir schon längst was abgeschnitten. Ich weiß schon, was er damit meint.“ Die leichte Röte im Gesicht des Jungen war nicht zu übersehen. „Mama hat ihm gesagt, er soll seine Meinung für sich behalten.“ Er räusperte sich leise und ließ seinen Blick wieder über das Schlagzeug gleiten. „Mama sagt, du hast in einer Band gespielt.“
Leon nickte. „Immer noch. An Silvester haben wir einen Auftritt in der Stadthalle.“ Plötzlich fiel ihm siedendheiß ein, dass er nun entweder den Auftritt nicht wahrnehmen konnte, oder einen Babysitter organisieren musste. Er war jetzt ein Vater und hatte gewisse Pflichten zu erfüllen. Aber vielleicht hielten sie es gar nicht erst solange aus. Vielleicht wollte er morgen schon wieder nach Hause.
„Mama sagt auch, dass du mit einem Mann zusammenlebst“, kam es als nächstes und Leon musste sich arg zusammenreißen, um nicht vor Schmerz zusammenzuzucken. „Der Mann, den du im Laden geküsst hast?“
Leon konnte nur nicken. Die Zähne zusammenbeißen und artig nicken. Der Schmerz wütete zu sehr in ihm. Er vermisste Sean und hätte sich gewünscht, ihn nun an seiner Seite zu haben, um mit ihm gemeinsam die Hürden seines neuen Lebens zu meistern.
„Wann kommt er nach Hause?“
„Gar nicht“, presste Leon hervor, wirbelte herum und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser einzulassen. Seine Kehle war plötzlich staubtrocken und dick angeschwollen.
„Hattet ihr Streit?“ Jonas war ihm in die Küche gefolgt.
Abermals konnte Leon nur nicken und stürzte das Wasser hinunter. Danach fühlte er sich kein Stückchen besser. Noch immer hing irgendetwas in seinem Hals fest und drohte ihm die Luft abzuschnüren.
„Wie wäre es, wenn ich dir ein paar Moves auf dem Schlagzeug zeige“, gab er heißer von sich. Irgendwie musste er die Gedanken des Jungen ablenken, bevor er noch weiter in der Wunde herumstochern konnte.
„Wie heißt er?“, wollte Jonas wissen.
Leon musste sich am Türrahmen festhalten. „Sean ...“, gestand er. „Aber darüber musst du dir keine Gedanken machen. Wie ist es? Hast du Lust ein wenig Krach zu machen?“ Seine Unbekümmertheit klang aufgesetzt.
„Kommt er nie wieder?“
Seine Finger krallten sich so fest in den Türrahmen, dass er knirschte. „Können wir das Thema wechseln?“ Das war Verzweiflung pur. Er verstand die Neugier des Jungen. Es war sicherlich abenteuerlich und cool einen Vater zu haben, der Schlagzeuger war und zudem schwul. Sicherlich eine Kombination, mit der ein kleiner Junge in der Schule angeben konnte. Oder wie auch immer. Jedenfalls wollte sich Leon nicht weiter in der Wunde herum bohren lassen.
„Wegen mir, richtig?“ Jonas lehnte sich gegen den anderen Teil des Türrahmens und blickte seinen Vater von unten herauf an. „Das wollte ich nicht.“
„Du kannst nichts dafür“, versicherte ihm Leon und konnte sich gerade noch davon abhalten, dem Jungen besänftigend über den Kopf zu streichen. Noch war er ein Fremder für ihn, auch wenn er sich danach sehnte, den Jungen an sich zu reißen und seinen Schmerz an dessen kleiner Brust rauszuheulen. Er war erst seit wenigen Tagen Vater und hatte kaum Gelegenheit gehabt, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen, geschweige denn daran, fortan solo zu sein.
„Ich glaube, es wäre jetzt ganz praktisch, wenn wir unseren Frust an den Drums auslassen“, wagte er einen weiteren Versuch, den Jungen abzulenken. Diesmal ging er einfach ins Wohnzimmer, nahm die Sticks in die Hand und schlug auf die Trommeln ein. Sofort war er in einen groovigen Rhythmus verfallen, eine Melodie im Kopf abspielend und sich den Frust aus dem Leib schlagend, so wie er es vorhin zu Jonas gesagt hatte. Der Junge blieb erst einige Augenblicke neben ihm stehen, ehe er um das Schlagzeug herum ging, sich im Schneidersitz vor der großen Basstrommel niederließ und andächtig lauschte, leicht im Takt mitwippend.
Leon versuchte vehement das Bild zu ignorieren, schloss sogar die Augen und trommelte blind, doch lange konnte er sich nicht dagegen wehren. Er ließ die Stöcke fallen und flüchtete ins Bad, wo er neben dem Waschbecken heulend zusammenbrach.
Der Junge konnte nicht wissen, dass Sean ebenso gerne und oft vor den großen Trommeln saß und ihn mit ebensolchem aufmerksam lauschenden Gesicht zusah. Er konnte nicht wissen, dass er in diesem Moment nicht den kleinen Jonas, sondern seinen Freund Sean gesehen hatte. Verzweifelt hatte er darum gekämpft, dieses Bild aus seinen Erinnerungen zu verbannen, es zu zerschmettern, in tausend Stücke zu zerschlagen, so wie nun ihre Beziehung war.
Den Fehler, den er vor mehr als zehn Jahren begangen hatte, hatte nun auch sein jetziges Leben in Trümmern zerschellen lassen. Vor zehn Jahren hatte er sich von einem Leckerbissen Namens Greg verführen lassen, sich von ihm betören und vernaschen lassen. Nicht, dass er Greg allein die Schuld gab, denn Leon war es gewesen, der den jungen Fan anquatschte und auf eine schnelle Nummer auf dem Klo überredete.
Jetzt lag seine ganze Welt in Trümmern. Sein Leben war ein einziges Fiasko. Er war allein, seine langjährige Liebe gegangen, hatte ihn verlassen,verlassen wegen den Folgen eines Fehlers, den er vor zehn Jahren begangen hatte.
Scheiße aber auch, fluchte Leon und hämmerte den Kopf gegen die Fliesen in seinem Rücken. Warum war er auch so notgeil gewesen?
Aber wenn er es nicht gemacht hätte, wäre er niemals Sean über den Weg gelaufen und niemals mit ihm zusammen gekommen. Dann hätte er niemals fünf glückliche Jahre, die glücklichsten Jahre seines Lebens erlebend dürfen.
Er war ein Versager, ein Nichtsnutz, in Idiot, unfähig ein anständiges Leben zu führen und ein Genie darin, sein Leben und das seiner Mitmenschen in ein Drama zu verwandeln.
Er brauchte lange, ehe er sich wieder soweit unter Kontrolle besaß, um zurück ins Wohnzimmer gehen zu können. Denn immerhin hatte er einen Gast. Dazu war jede Menge eiskaltes Wasser nötig, in das er sein Gesicht steckte, bis ihm die Luft ausging. Als er wieder zurückkehrte, hatte er fast eine halbe Stunde im Badezimmer verbracht.
Jonas saß nicht mehr vor den Drums, sondern stand in der Küche am Esstisch. Als er Leon bemerkte, legte er schnell den Gegenstand hin, den er eben in der Hand gehalten hatte.
„Was machst du da?“, wollte Leon sogleich wissen.
„Cooles Telefon“, gab Jonas hastig von sich und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. „Geht es dir wieder besser?“
Leon nickte nur, nahm sein Mobiltelefon und steckte es in seine Hosentasche. Für einen Moment erwachte doch tatsächlich der Verdacht in ihm, dass der Kleine klaute und schwor sich, ein besseres Auge auf ihn zu haben.
„Mama ist auch immer so traurig, wenn ein Freund mit ihr Schluss macht.“ Jonas blickte sich leicht verlegen um. „Darf ich jetzt auch mal spielen?“ Seine Augen schielten in Richtung Schlagzeug.
Leon nickte nur. Er konnte jetzt nicht mehr spielen. Nicht solange Jonas wieder Gefahr lief, sich im Schneidersitz vor den Drums nieder zu lassen.
Entschlossenen Schrittes schritt der Junge zum Schlagzeug, schob seinen Hintern auf den Hocker und begann alsbald mit einem einfachen Rhythmus. Offenbar hatte er fleißig gelernt, musste sich Leon eingestehen und konnte den Funken Stolz nicht unterdrücken, als er ihn spielen hörte.

Es würde ein ziemlich ödes Weihnachten werden, wusste Leon, als sie gemeinsam den kleinen Baum schmückten, den Leon wenige Tage zuvor zusammen mit Sean gekauft hatte. Dabei musste er immer wieder einen Schleier vor seinen Augen wegblinzeln. Am späten Nachmittag plünderten sie seinen Kühlschrankes, um aus den kläglichen Resten ein einigermaßen annehmbares Weihnachtsessen zustande zu bringen. Es gab weder einen üppigen Braten noch Geschenke. Den beim Metzger bestellten Weihnachtsbraten hatte er vergessen abzuholen und da es ziemlich überhastet geschah, wie ihm der Junge aufgedrückt worden war, konnte er für ihn nichts unter den Baum legen. Sie machten jedoch beide gute Miene zum bösen Spiel, vergnügten sich am Schlagzeug oder vor dem Fernseher, zogen die wenigen Gesellschaftsspiele hervor, die es im Haushalt von Leon und Sean gab und erzählten sich gegenseitig aus ihrem Leben, während sie sich bei Mau Mau oder Mensch ärgere dich nicht abzockten und dabei Majonäsebrote, Essiggurken und Mandarinen futterten.
Dabei fiel Leon mehr und mehr auf, dass – je später der Abend wurde – der Junge immer öfter Richtung Flur schielte, so als wartete er auf etwas oder konnte es gar nicht mehr erwarten, von hier weg zu kommen. Dabei war Leon schon das Gefühl überkommen, sich mit dem Jungen mittlerweile ganz gut zu verstehen. Die allgemeine Verlegenheit war längst gewichen und sie gingen so unbekümmert miteinander um, als kannten sie sich bereits seit Jahren. Dennoch ertappte er den Jungen immer wieder dabei, wie er lauernd zum Flur blickte.
Am späten Abend, so gegen zehn Uhr, schreckte ein Geräusch die beiden Jungs auf. Sie hatten sich in einen alten amerikanischen Klassiker vertieft, der jedes Jahr zu Weihnachten durch alle Kanäle ratterte, als unversehens eine Person in der Türe zum Wohnzimmer stand.
Leon blieb das Herz stehen, als er Sean erkannte.
Verlegen blickte Sean zu Boden und betrachtete kurz seine Schuhspitzen.
„Ich möchte mich entschuldigen“, sagte er leise, hob den Kopf und begegnete geradewegs dem Blick des Jungen. „Ich hatte heute Nachmittag ein sehr aufschlussreiches Telefonat mit einem jungen Mann, der mir den Hintern stramm ziehen würde, wenn ich heute Abend nicht zurück käme.“
Leons Blick wanderte unversehens zu Jonas, der augenblicklich rot wie eine Tomate anlief und am liebsten in den Polstern des Sofas verschwunden wäre. Also das hatte der Junge am Nachmittag mit seinem Mobiltelefon in der Küche gemacht, während er wie das Elend selbst im Badezimmer zusammengebrochen war und ihm sogar andichten wollte, das nicht gerade billige Telefon stehlen zu wollen. Leon schämte sich für seinen Verdacht.
„Er hat mir erzählt, was du gerade machst und wie schlecht es dir geht und dass er dir gerne ein wunderschönes Weihnachten wünschte.“ Sean kam langsam näher.
Jonas sank immer tiefer in die Polster.
„Ich habe es mir lange durch den Kopf gehen lassen und war zu dem Entschloss gekommen, dass ich mich wie ein kompletter Idiot verhielt“, gestand Sean und suchte den Blick von Leon. „Anstatt dir beizustehen und dich zu unterstützen, bin ich wie ein Hasenfuß davongelaufen. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, ich meine mit … „ Er deutete mit einem Blick zu Jonas und kehrte zu Leon zurück. „Aber das, was der Junge für dich getan hat, ist wunderbar und ich hoffe, ihr könnt mir beide verzeihen. Ich kann mir keinen besseren Sohn für dich vorstellen. Er ist so unglaublich, wie sein Vater und ich ...“ Ihm versagte die Stimme. Mehr brauchte er auch nicht mehr zu sagen, denn Leon war bereits aufgesprungen und Sean um den Hals gefallen. Dieser fing ihn bereitwillig auf, schlang seine Arme um ihn und drückte ihn fest an sich.
„Es tut mir so leid“, presste Sean an Leons Hals hervor. Seine Stimme zitterte. Sein ganzer Körper bebte. Sean drückte Leon so fest an ihn, dass diesem beinahe die Luft wegblieb. Ihre Lippen fanden sich zu einem leidenschaftlichen Versöhnungskuss, verschlangen sich, fraßen sich förmlich gegenseitig auf. Erst ein dezentes Räuspern hinter ihnen, erinnerte sie daran, dass sie nicht allein waren.
Leon drehte sich um, die Tränen des Glücks kaum zu verbergen wissen. Er streckte die Hand nach seinem Sohn aus und winkte ihn zu sich.
Jonas zögerte einen Moment, sprang aber doch vom Polster herunter und kam näher. Ihm war es etwas unangenehm, sich von dem Mann zu einer Umarmung ziehen zu lassen, von dem er erst seit wenigen Tagen wusste, dass es sein Vater war.
„Danke“, hauchte Leon ergriffen und strich sanft über den Rücken des Jungen, hob ich etwas von sich weg und sah ihm direkt ins Gesicht. „Woher kanntest du seine Telefonnummer?“
Jonas schluckte hart. „Von deinem Handy“, erklärte er bereitwillig. „Ich hab absichtlich nach seinem Namen gefragt und als ich dein Telefon auf dem Tisch liegen sah, musste ich nur nach dem Namen suchen und hatte die Nummer.“ Schuldbewusst senkte er kurz den Kopf. „Es tut mir leid, aber … Es sollten schöne Weihnachten werden. Endlich lernte ich meinen Vater kennen und ich wollte nicht, dass du traurig bist.“
„Ich habe ein Genie zum Sohn“, gab Leon stolz von sich. „Das werden die schönsten Weihnachten, die du dir vorstellen kannst.“ Er richtete sich auf, hob den Jungen hoch und wirbelte ihn lachend herum. Jonas quietschte erschrocken auf, fiel aber sogleich in das Lachen ein, schlang die Arme um seinen Vater und hielt sich fest, während dieser ihn noch einige Male herumwirbelte.
Zu dritt saßen sie bis spät in die Nacht auf dem Boden vor dem Sofa, verputzten die Reste der Majonäsebrote und zockten sich im Schein des glitzernden Weihnachtsbaumes die letzten Brocken gegenseitig bei Mau Mau ab. Am nächsten Tag saßen sie nebeneinander in einen der ersten Ränge, als Lara oben auf der Bühne einige Stücke von Schubert, Schumann und Beethoven zum Besten gab, hin und wieder begleitet von einem Orchester. Leon fühlte Vaterstolz über seine beiden bemerkenswerten Kinder, vor allem Jonas, der ihm ein unvergessliches Weihnachten beschert hatte.

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Text: Ashan Delon (C) 2011
Publication Date: 12-01-2011

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