Kapitel 1
Heftig knallte die Tür hinter mir ins Schloss. Meine lauten und hektischen Schritte waren auf den Treppenstufen zu hören, die ich hastig hinabstieg. Mein Atem verlief unregelmäßig und schon jetzt bekam ich Seitenstiche. Wann hatte ich das letzte Mal Sport getrieben? Dazu kam noch, dass ich vor einiger Zeit noch geraucht hatte.
Er
trieb mich dazu. In meiner Verzweiflung wusste ich nicht, was ich hätte machen sollen. Das Rauchen beruhigte mich irgendwie, aber es schadete auch meiner Gesundheit. Wie ich jetzt feststellte, war es gut aufgehört zu haben. Ich war gerade erst im vierten Stock angelangt und ich wusste, dass ich es nicht mehr aus dem Treppenhaus schaffte. Er war viel zu schnell und stärker, als ich. Jeder meiner einzelnen Fluchtversuche endeten so. Ich lief weg und er fing mich wieder ein, wie ein Straßenhund und der Hundefänger. Das war jetzt mein fünfter Fluchtversuch von innerhalb drei Wochen. Und bisher endete es jedes Mal so, dass er mich fast tot prügelte. Auf meinem Körper lohnte es sich nicht mehr, die einzelnen Blutergüsse zu zählen, da es unendlich viele waren. Heute musste ich es unbedingt aus seiner verfluchten Gefangenschaft schaffen. Länger würde ich es bei ihm nicht aushalten. Ich war mal gerade erst zwanzig Jahre und mein bevorstehendes Leben wollte ich nicht so weiterführen. Mein jämmerlicher erster Fluchtversuch war spontan gewesen und nicht nachgedacht. Es war ein leichtes für ihn gewesen mich wieder einzufangen.
Von da an wurde es immer schwieriger überhaupt aus der Wohnung zukommen, um das Sonnenlicht genießen zu können. Jeden verfluchten Tag, jede vereinzelte Stunde und sogar Minuten ließ er mich nicht mehr aus den Augen.
Beim zweiten Mal hatte ich ihn k.o. geschlagen, aber sein dämlicher bester Freund war sofort zur Stelle, um mich wieder zurück zu bringen. Da ich ihn auf der Straße am helllichten Tag begegnete. Die Leute scherten sich nicht um einen und ignorierten hilflose Menschen, die entführt wurden. Sie gingen lieber ihren eigenen Problemen nach.
Den ganzen gottverdammten Tag durfte ich in der Wohnung hocken und Däumchen drehen. Aber das Haus durfte ich nur verlassen, wenn ich zur Arbeit musste. Fünfmal in der Woche brachte er mich zur Praxis und fünfmal in der Woche holte er mich auch wieder ab. Ich besaß überhaupt keine Freizeit mehr. Mit der Zeit wurde ich auch immer verschlossener und sprach nur noch, wenn es nötig war. Selbst mit meinen Freundinnen durfte ich mich nicht mehr treffen, die sich schon Sorgen um mich machten. Aber er hatte überall seine Spione, sodass ich aufpassen musste, was ich in der Öffentlichkeit sagte.
Einmal hatte ich versucht meiner besten Freundin einen Hilferufzettel unter zu schmuggeln, aber irgendwie hatte er davon erfahren und die nächste Trachtprügel stand schon vor der Tür.
Zweiter Stock. Nein, ich würde es schon wieder nicht schaffen. Die Tränen bahnten sich schon einen Weg aus meinen Augen. Jetzt durfte ich nicht die Fassung verlieren, aber die Hoffnung hatte mich schon längst verlassen. Ich spürte meine Beine schon nicht mehr, es war irgendwie selbstverständlich geworden blindlings die Treppenstufen hinunter zu rennen. Manchmal nahm ich zwei oder drei Stufen auf einmal. Aber trotzdem war ich zu langsam. Seine Schritte hallten im Treppenhaus wie ein großes Echo. Wenn ich den Fahrstuhl genommen hätte, wäre das mal wieder ein erbärmlicher Fluchtversuch gewesen.
Und dann endlich erreichte ich den ersten Stock und riss die Tür weit auf, um dann wieder am Kragen gepackt zu werden. Erschrocken wehrte ich mich verzweifelt, so gut es ging. Aber seine Stärke übertrumpfte mich jedes Mal. Ich verabscheute mich, dass ich mich ausgerechnet in ihn verliebt habe. Damals war ich aber so ein verliebter Teenie gewesen und da war er auch noch Normal.
Ein ganz vernünftiger Mensch. Es war nicht vorherzusehen, dass aus ihm so ein Monster wurde.
Reflexartig hob ich mein Knie und rammte es ihm in seine Weichteile. Lächelnd sah ich zu, wie er sich vor Schmerzen krümmte. Es war sehr sadistisch von mir, jetzt in diesem Moment zu lächeln, während er Schmerzen hatte. Aber was kümmerte es mich? Er tat es auch immer, wenn er mich verprügelte und ich mich vor Schmerzen kaum noch bewegen konnte. Es war wenigstens eine Genugtuung ihn einmal hilflos zu sehen. Gerade wollte ich mich wieder der Tür zu wenden, da packte er meinen Arm mit einem eisernen Griff.
„Lass mich los“, schrie ich mit zittriger Stimme und einige Tränen rannen meine Wange hinab.
Er krümmte sich immer noch, aber dann holte er plötzlich ein Messer aus seiner Hosentasche. Erschrocken wollte ich zurückweichen, doch da war nur diese dämliche Tür, die in das Treppenhaus führte. Es gab keinen Ausweg mehr. Mein fünfter Fluchtversuch war, wie die letzten Versuche, fehlgeschlagen. Niedergeschlagen versuchte ich mich trotzdem zu wehren. Aber er fuchtelte hemmungslos mit dem scharfen Messer vor meinen Augen rum.
Ich versuchte ihm den Gegenstand aus der Hand zu schlagen, aber dann passierte es. Er schnitt meinen rechten Unterarm entlang. Ein so plötzlicher Schmerz ließ mich taumeln. Schmerzen. Blut. Überall Blut.
Unter Höllenqualen unterdrückte ich einen hilflosen Schrei. Es würde eh nichts nützen, wenn mir jemand zur Hilfe käme. Er würde es wieder so darstellen, dass ich die Dumme war.
Ich nahm meine letzte Kraft zusammen und rammte ihm noch mal mein Knie in seine Weichteile. Mein Angriff kam so überraschend, dass er nach hinten kippte, über eine Treppenstufe stolperte und sich seinen Kopf daran stieß. Meine linke Hand fasste automatisch an meinen Unterarm, um die Blutung zu stillen.
Er lag bewusstlos vor mir und ich wusste, dass war meine Chance zu fliehen.
Aber warum zögerte ich?
Vielleicht glaubte ich, dass er sich noch verändern würde. Ein Teil von mir liebte ihn immer noch. Aber ich musste jetzt einen Schlussstrich ziehen, ehe er aufwachte und mich wieder in unsere Wohnung schleppte. Und ich spürte, dass ich schwächer wurde, da ich schon ziemlich viel Blut verloren hatte.
Das Messer in seiner verkrampften Hand, löste sich und fiel scheppernd die letzte Stufe hinunter.
Einige Sekunden beobachtete ich ihn noch. Wie er da so bewusstlos lag, ließ mich erinnern, wie sehr ich ihn geliebt habe. Ja, geliebt habe! Das war Vergangenheit und ich durfte nicht mehr zurückblicken. Jetzt nach so einer langen Zeit konnte ich endlich wieder ein normales Leben führen.
Aber, ob ich jemals den Männern wieder mein Vertrauen schenken konnte, dass blieb unwahrscheinlich!
Wie in Trance öffnete ich die Stahltür und rannte aus dem Mehrfamilienhaus. Aber die Apartments konnten sich nur reiche Leute mieten, sowie mein Ex-Freund. Als mich die herrliche, kühle Luft umfing, atmete ich einmal tief durch. Ex-Freund. Jetzt war ich endlich frei!!
Aber mir blieb nicht viel Zeit. Ich musste hier weg, bevor er aufwachte. Hoffentlich nahm mich meine Schwester auf. Wenn nicht, dann wusste ich nicht, wohin. Dann würden mich wahrscheinlich die Obdachlosen herzlich begrüßen. Momentan stand ich finanziell am Ende. All meine Sachen lagen noch in der Wohnung, außer der Tasche, die an meinem linken Arm baumelte. Im letzten Moment konnte ich noch nach ihr greifen und das war vielleicht mein Vorteil. Schließlich war da auch noch mein Personalausweis drin. Aber er würde bestimmt mein Konto schließen lassen, sodass ich wirklich kein Geld mehr hätte und vor dem Nichts stände. Meine einzige Chance war, dass meine Schwester, zu der ich eigentlich kein besonders gutes Verhältnis mehr hatte, aufnahm. Aber eigentlich war sie ein liebenswürdiger Mensch. Sie würde mich bestimmt nicht in diesem Zustand abweisen. Ich hoffte es, obwohl ich schon lange nicht mehr zu hoffen wagte. Wegen ihm habe ich das gute Verhältnis zu meiner Schwester verdorben. Er war an allem Schuld. Und ich hätte damals wirklich auf sie hören sollen, doch ich hatte ihr vor Verliebtheit nicht mehr zu gehört. Ja, ich war blind vor Liebe gewesen. Aber er war wirklich nicht immer so. Die ersten zwei Jahre unserer Beziehung war er noch ein normaler Mensch mit Verstand. Manchmal hatten wir uns gestritten, aber auch wieder vertragen. Doch im letzten Jahr, unser drittes, gemeinsames Jahr, fand ich heraus, dass er mich mit einer Blondine betrogen hatte, die meine zweitbeste Freundin gewesen war. Ich hatte schon immer gewusst, dass sie hinter ihm her war. Aber dass sie ihn verführt hatte und er es auch noch zuließ, da zerbrach meine heile Welt. Wir stritten uns nur noch und insgeheim fühlte ich, wie er sich zum Negativen veränderte. Und dann fing er an mich zu schlagen und in der Wohnung einzuschließen. Tagelang konnte ich nicht zur Arbeit gehen, da ich ein blaues Auge besaß. Was würden denn die Leute denken, wenn ich mit einem blauen Auge in der Öffentlichkeit erschien?
Er sorgte natürlich dafür und rief auf der Arbeit an, um mich zu entschuldigen, da ich mir die Grippe eingefangen hatte. Mein Leben bestand nur noch aus Lügen. Und das Schlimme war auch noch, dass ich jedem misstrauen musste, da er einen ziemlich großen Bekanntenkreis hatte. Besonders vor seinem besten Freund musste ich mich in Acht nehmen.
Ich spürte, wie allmählich mich die Kraft verließ. Meine Beine wurden schwerer, meine Sehkraft schwand und ich verlor weiterhin zu viel Blut. Wahrscheinlich hinterließ ich für ihn eine Blutspur.
Und dazu kam noch, dass ich mich verlief und auf den ersten Blick das Haus meiner Schwester nicht fand. Nach einigen Umwegen stand ich vor dem Gartentor und überlegte, ob ich es wirklich wagen sollte. Zwei Jahre lang, seit dem ich volljährig war, hatten wir keinen Kontakt mehr gehabt und jetzt kreuzte ich hier einfach auf und brauchte ihre Hilfe. Ich wusste jetzt schon, dass sie mir einen Vortrag halten würde, dass sie schon immer wusste, dass er ein schlechter Umgang war. Und sie hatte Recht gehabt, was mir missfiel.
Aber ich musste jetzt meinen Stolz überwinden und sie um Hilfe bitten. Ich würde auch nicht lange bleiben, nur so lange, bis ich wieder auf eigenen Beinen stand.
Zögernd und mit einem sehr schlechten Gewissen öffnete ich das Gartentor. Sie musste sich ein schönes Leben aufgebaut haben. Der Garten sah sehr gepflegt aus. Meine Schwester liebte Blumen über alles. Sie machte eine Ausbildung zur Floristin. Rosen, Tulpen, all die wunderschönen Blumen wuchsen in diesem kleinen Vorgarten zu ihrer vollen Pracht heran. Mit schweren Gliedern stieg ich die Veranda hoch und musste mich einige Sekunden an der Säule festhalten, da mir kurz schwindelig wurde. Ein paar Mal blinzelte ich, um wieder klar sehen zu können.
Mit zittrigen Fingern drückte ich ungeduldig auf die Klingel.
Von drinnen konnte ich Geräusche hören und dann wurde die Tür auf gemacht.
„Lucy“, seufzte ich und blickte ihr schwer atmend ins Gesicht. Ihr Ausdruck spiegelte jedes Gefühl wieder. Wut, Trauer, Schmerz, Freude, Glück.
„Oh, Gott! Sarah!“, rief sie entsetzt und fing mich auf, da ich mich nicht mehr auf meinen Beinen halten konnte. „Ethan!“
Jemand kam herbei geeilt und nahm mein Gewicht auf dessen Arme. Ich bekam alles nur nebenbei mit.
„Wir legen sie am besten auf das Sofa, hol ein paar Decken und den erste Hilfe-Kasten“, hörte ich eine männliche Stimme, die anscheinend diesem Ethan gehörte, sagen. Wer war das?
Wenn ich jetzt so daran dachte, wusste ich eigentlich fast gar nichts über meine eigene Schwester. In den letzten Jahren waren wir uns aus dem Weg gegangen und haben unser eigenes Leben gelebt.
Auf Familienfeiern trafen wir uns nur selten an. Mal erschien sie nicht, oder ich nicht.
Ich spürte, wir man mir etwas um meinem Arm bandagierte, um die Blutung zu stillen.
„Sarah, kannst du mich hören?“, rief die besorgte Stimme meiner Schwester nach mir.
Schwach nickte ich und öffnete meine Augen halb. Verschwommene Gestalten beugten sich über mich. Kurz zuckte ich zusammen, als ich die männliche Person neben Lucy stehen sah. Er hatte denselben Körperbau wie mein Ex-Freund. Und für einen Moment habe ich echt gedacht, er hätte mich gefunden.
„Kannst du uns sagen, was passiert ist?“, versuchte Lucy es weiter.
Ich schüttelte mit meinen Kopf. Als Erstes musste ich die ganze Sache verdauen und irgendwann mal würde ich die ganze Geschichte ihr anvertrauen. Aber bis es soweit war, musste ich wieder Vertrauen lernen.
Kapitel 2
Ich konnte mich noch gut erinnern, wie ich ihn kennen lernte. Damals war ich Siebzehn. Jung und unerfahren. Damals hatte ich noch ein sehr gutes Verhältnis zu Lucy.
Als ich ihn kennen lernte, sah ich die Welt durch eine rosarote Brille. Ich war blind vor Liebe gewesen. Aber, wenn ich so an die Vergangenheit dachte, war es auch eine schöne Zeit, bis er sich verändert hatte. Zu dem Zeitpunkt war ich mit meiner besten Freundin verabredet gewesen. Wir waren Eis essen gegangen, denn an diesem Tag hatten wir Hochsommer. Fast 40 Grad. Eigentlich war diese hohe Temperatur überhaupt nicht ungewöhnlich. Der Sommer wurde immer so warm, besonders wenn man am Strand lebte. Meine Eltern besaßen ein Strandhaus, dort verbrachten wir immer den ganzen Sommer. Meine ganzen siebzehn Jahre lebte ich in einem sehr abgelegenen Haus.
Jedenfalls, als Cathy und ich uns gerade verabschiedete, lief ich die Straße entlang. Plötzlich wurde mir meine Handtasche aus der Hand gerissen und ich wurde zur Seite geschubst. Entrüstet stand ich schnell auf und wollte dem Dieb folgen, doch ich konnte von weitem sehen, wie ein Typ ihn verprügelte und mir lächelnd meine Tasche überreichte. Ich lud ihn auf ein Eis ein. Zwar war ich gerade Eis essen gewesen, aber Eis konnte man immer vertragen. Besonders, wenn es so warm war wie jetzt. Erst wollte er ablehnen, doch ich überredete ihn.
Ich bedankte mich tausend Mal bei ihm und wurde immer total verlegen, wenn er mich anlächelte. Dabei kamen seine Grübchen zum Vorschein, die ihn jünger wirken ließen.
„Ich bin Sarah“, stellte ich mich vor und strich mir verlegen eine Haarsträhne hinter mein Ohr.
„David“, antwortete er charmant mit diesem bezaubernden Lächeln, dass jedes Herz eines Mädchens höher schlagen ließ. Das war der Augenblick, als ich mich in ihn verliebte. Im Eiscafé erzählten wir uns gegenseitig etwas über unsere Familie. Von da an trafen wir uns öfters. Er lud mich ins Kino ein, führte mich zum Essen aus, aber seine Familie lernte ich nie kennen. Sie lebten in einer anderen Stadt, weit von ihm entfernt. Da er zu der Zeit schon Neunzehn war, konnte er tun und lassen, was er wollte. Als er mich zum zweiten Mal ins Kino einlud, bekam ich meinen ersten Kuss. Von da an war es um mich geschehen. Ich hatte mich in David Curtis verliebt gegen den Willen meiner Schwester, da sie ihm nicht über den Weg traute. Wir stritten uns öfters, als ich nach Hause kam und verkündete, dass David und ich ein Paar wären. Sie tickte förmlich aus. Ich wusste nicht, was sie gegen ihn hatte. Sie wollte mir auch nie den Grund der Feindseligkeit, den sie gegen ihn hegte, erzählen. Ich brach dann einfach den Kontakt zu ihr ab, als ich Achtzehn wurde. David bot mir an bei ihm einzuziehen. Natürlich schlug ich das Angebot nicht ab. Ich liebte ihn und wollte auch mit ihm zusammen wohnen. Ich entfernte mich mehr und mehr von meiner Familie. Aber insgeheim fehlte sie mir immer. Und ich besaß auch Schuldgefühle. David sagte immer, es sei eine gute Entscheidung gewesen. Irgendwann mal muss man das, was man liebte, loslassen. Ich wusste nie, was zwischen ihm und seiner Familie geschehen war und ich konnte auch seine Einstellung nicht verstehen, aber ich liebte ihn. Und das war wichtiger, als darüber nachzudenken, was um mich herum passierte. David und ich verbrachten zwei wunderschöne gemeinsame Jahre miteinander. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich nur noch den Kontakt zu meiner Mutter aufrecht. Mein Vater war schon längst tot. Aber das war auch wieder eine andere Geschichte. Und mir fiel auf, dass David immer aggressiver und gereizt war, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Manchmal hatte er sogar eine Alkoholfahne. Ich wusste nicht, was sein negatives Verhalten ausgelöst hatte. Doch nach einer Woche fand ich heraus, dass er eine Affäre mit meiner zweitbesten Freundin Luisa hatte. Meine heile, perfekte Welt brach zusammen. Zuerst wollte ich es nicht glauben und verleugnete es. Ich redete mir ein, dass Luisa einfach auf mein perfektes Leben eifersüchtig sei, denn sie war schon immer vom Neid zerfressen. Sie wollte immer das haben, was sie nicht besaß. Ich konnte damit nicht leben und wollte von ihm die Wahrheit erfahren. Als ich ihn darauf ansprach, hatte er schon wieder eine Alkoholfahne. Aber wann sollte ich ihn ansprechen, wenn ich ihn immer nur nach der Arbeit zu Gesicht bekam? Nie hatte ich die Gelegenheit ihn nüchtern anzutreffen. Morgens, wenn ich aufstand, war er schon längst aus dem Haus. Mich wunderte es auch, woher er das viele Geld hatte. Erst nach zwei Jahren bekam ich Zweifel, ob er überhaupt der Junge war, der er zu sein schien.
„David, jetzt warte doch mal“, rief ich ihm hinterher, doch er verschanzte sich im Bad. „David!“ Einige Male hämmerte ich noch gegen die Badezimmertür und gerade, als ich mich abwenden wollte, wurde die Tür aufgerissen und er packte mich grob am Arm. Er drängte mich gegen die Wand und nagelte mich dort mit seinem Körper fest.
„Was ist los? Ich erkenne dich nicht mehr wieder“, flüsterte ich hilflos und versuchte seinen bohrenden Blicken auszuweichen.
„Du nervst mich einfach“, zischte er. Verständnislos blickte ich ihn an. Ich nervte ihn? Aber, wieso? „Das verstehe ich nicht. Was ist mit dir passiert?“, hakte ich weiter nach, aber er antwortete nicht mehr. „Bin ich dir nicht gut genug? War es doch besser mit Luisa, als mit mir?“
Die Worte waren mir rausgerutscht, ohne, dass ich nachdachte und ich handelte mir eine Ohrfeige ein. Das war das erste Mal, dass er mich schlug. Von da an schlug er mich immer wieder.
Die Ohrfeige war eine Antwort genug gewesen. „Du hast eine Affäre mit ihr.“ Es war eine traurige Feststellung gewesen. Aber was ich nicht verstand, wenn ich ihn nervte, warum hielt er mich ein Jahr lang bei ihm gefangen? Anscheinend brauchte er jemanden, der seine Wohnung säuberte.
Ich war schwach und hilflos. Niemand würde mir zur Hilfe eilen. Und ich hatte auch nicht den Mut gehabt zu gehen. Schließlich liebte ich ihn doch. Er war ein Bestandteil meines Lebens. Immer wieder hatte ich mit den Gedanken gespielt abzuhauen, es aber auch gleich wieder aus meinem Kopf verbannt. Und wenn man von Sex sprach, sprach man eigentlich in den meisten Fällen nicht von einer Vergewaltigung. Wenn er sich mit Luisa bei seiner Arbeit ausgetobt hatte, kam ich abends dran. Allerdings versuchte ich mich zu wehren, so gut es ging, aber er war um einiges stärker als ich. Einmal hatte er mich sogar bewusstlos geschlagen und mich dann vergewaltigt.
Von meinem Leben war nichts mehr übrig geblieben. Er hatte es zerstört.
Zu meiner Arbeit ging ich nur noch, wenn mein Gesicht wieder einigermaßen verheilt war. Am Ende passte er sogar auf, wo er mich schlug. Da ich seiner Meinung nach noch arbeiten sollte, konnte er mein Gesicht nicht mehr verletzen. Ich fühlte mich von meinen Freunden im Stich gelassen, aber zum Teil war ich auch selber Schuld dran. Ich verschloss mich und hing meinen Gedanken nach. Aber Luisa war der andere Teil, der schuld daran war, dass meine Freunde mich in Ruhe ließen. Luisa hatte jetzt alles, was sie wollte. David tanzte nach ihrer Nase. Doch irgendwie wollte er mich nicht loslassen. Ich habe ihn einmal gefragt, ob er mich überhaupt noch lieben würde. Und er bejahte, was mich erstaunte. Das war der Grund, warum er mich nicht gehen ließ, als ich das Thema ansprach. Am nächsten Tag fing mich Luisa bei der Pause ab und beschimpfte mich, da David die Affäre beendet hätte. Ich konnte wieder hoffen, dass alles wieder normal werden würde. An dem Tag war ich so glücklich, aber dieses Glück wurde am Abend wieder zerstört. Es ging wieder von vorne los, nur dass er anfing mich zu kontrollieren. Er passte haargenau auf, was ich bei der Arbeit trieb, mit wem ich sprach und was ich sonst noch tat. Wenn etwas nicht nach ihm ging, schlug er mich sofort. Wenn ich mit einem anderen Mann sprach, der in meinem oder seinem Alter war, schlug er mich. Aber als Arzthelferin kam man in den Kontakt mit Menschen. Er kontrollierte mich und es war schrecklich. Ich durfte die Wohnung ohne ihn gar nicht mehr verlassen. David begleitete mich überall hin. Nachts schloss er sogar die Tür ab und verriegelte alle Fenster. Ich wusste wirklich nicht, was mit ihm los war. Und als ich es überhaupt nicht mehr aushielt, packte ich meine Tasche, als er im Bad war. Ich hatte nur fünf Minuten Zeit, aber gerade als ich zur Haustür ging und sie aufschloss, um zu fliehen, kam er aus dem Bad und was tat er, er verprügelte mich. Er schrie mich an, wenn ich das noch einmal versuchen würde, dann Gnade mir Gott. Nach dem Tag verging ein halbes Jahr. Ich wusste selbst nicht, wie ich es noch mit ihm aushielt. Aber irgendwie kam ich über die Runden, aber mein Verstand sagte mir, dass ich das nicht für immer mit machen konnte. Ich verschanzte mich jede Minute in meinen Gedanken. Wenn ich sprach, dann nur, wenn es nötig war. Und dann versuchte ich innerhalb von drei Wochen zu fliehen.
Ich sollte glücklich sein, dass meine Schwester mich einfach in ihrem Haus wohnen ließ. Aber wann konnte ich je wieder glücklich sein mit dieser Vergangenheit. Aber ich sollte nicht mehr zurückblicken. Es galt nur noch das, was vor mir lag. David war Geschichte. Und ich hoffte inständig, dass er mich nicht fand. Aber das würde er. Er war wie besessen von mir. Ich würde zu gerne den Grund erfahren, wieso er so geworden ist. Als ich ihn kennen lernte, war er so liebenswürdig, nett, hilfsbereit und es gab noch mehr Eigenschaften mit denen man ihn beschreiben konnte. Doch ich könnte mich glücklich schätzen, endlich in Sicherheit zu sein. Aber es war eine Frage der Zeit, wann er mich finden würde. Schließlich hatte er Geld und mit Geld konnte man im Leben viel erreichen. Mich interessierte immer noch, woher er dieses viele Geld hatte. Hatte er im Lotto gewonnen? Oder zahlten ihm seine Eltern jeden Monat ein paar Tausende Euros auf sein Konto? Oder war er ein Killer? - Das könnte ich ihm zutrauen. Ein Auftragskiller.
Im Moment sollte ich mich auskurieren und David vergessen. Mich geht es nichts mehr an, was mit ihm geschah, wie er sein Leben aufgebaut hatte. David war Geschichte. Ich wollte nie wieder etwas mit ihm zu tun haben. Aber ein kleines bisschen liebte ich ihn noch, wofür ich mich hasste. Er war meine erste, große Liebe. Da war es klar, dass ich ihm noch ein paar Tage oder Wochen hinterher trauern würde, aber ich würde eisern bleiben. Er brauchte nicht hoffen, dass ich zu ihm zurückkehrte!
Ab heute würde für mich ein neues Leben beginnen und ich hatte mir auch schon einiges vorgenommen für meine Freiheit. Freiheit. Was so ein Wort auslösen konnte. Es war allerdings schön endlich frei zu sein. Ich konnte wieder nach meinen Entscheidungen leben.
Aber ob ich den Männern jemals wieder vertrauen könnte, dass wusste ich noch nicht.
Auf jeden Fall wollte ich mich bei meiner Schwester entschuldigen. Ich hätte von Anfang an auf sie hören sollen. Sie hatte schließlich mit David recht gehabt, dass er nicht gut sei.
Aber man hörte bekanntlich nie auf die ältere Schwester.
Ich war nicht in Ohnmacht gefallen bei dem hohen Blutverlust. Nachdem ich ein wenig geschlafen, gegessen und getrunken hatte, fühlte ich mich wieder ein bisschen besser. Lucy leistete mir die ganze Zeit Gesellschaft. Nur, die Anwesenheit von diesem Ethan machte mich nervös. Ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn er sich bewegte. Was hatte David nur mit mir gemacht? Ich war ein totales Wrack. Ich hatte eine Phobie gegen Männer!
„Wie geht es dir?“, erkundigte sich Lucy besorgt und setzte sich auf die Kante des Sofas.
„Besser“, antwortete knapp und eintönig.
Ich drehte mich zur Seite und legte meine Hände unter mein Gesicht. Es war schön warm im Wohnzimmer. Das Haus müsste sehr geräumig sein, sonst würde wohl kaum das Wohnzimmer so riesig sein. Es war auch sehr modern – wahrscheinlich nach Lucys Geschmack – eingerichtet.
„Was ist passiert?“, fragte mich meine Schwester nach einer Weile Stille.
„Nichts“, antwortete ich schnell – zu schnell, sodass sie misstrauisch wurde. Und mein Arm sah auch nicht nach Nichts aus.
„Sarah, du kannst mich nicht veräppeln. Ich sehe, dass dir etwas Schreckliches zugestoßen ist. Die vielen Blutergüsse und der Blutverlust. Was ist passiert? Hat David was damit zu tun?“ Der Ausraster von ihr konnte ich sehr gut verstehen, doch ich war noch nicht bereit ihr zu erzählen, was passiert war. Ich war auch noch nicht in der Verfassung es ihr zu schildern.
Es würde eine Zeit lang dauern, bis ich mich mit der Situation abgefunden habe, vielleicht war ich dann bereit.
„Sarah, ich mache mir doch nur Sorgen um dich. Du bist meine Schwester“, versuchte sie mich verzweifelt zu überreden.“
„Ich kann nicht“, brachte ich nur hervor und schloss meine Augen.
„Du tauchst mitten in der Nacht schwer verletzt auf und du willst mir den Grund nicht erzählen?“
Sie war enttäuscht von mir, wie immer. Aber ich konnte nicht. Es war schrecklich darüber zu reden.
Vielleicht fiel es mir morgen nicht so schwer, wenn es mir besser ging. Aber ich bezweifelte es.
Ich möchte aber erst damit selbst klar kommen und mich dann irgendwann ihr anvertrauen.
„Schatz, lass sie. Sie braucht jetzt Ruhe“, mischte sich jetzt dieser Ethan ein und stand auf.
Sofort überflutete mich die Angst. Er erinnerte mich zu stark an David. Waren sie Zwillinge?
Er war sein Doppelgänger. Oh, Gott, jetzt durfte ich bloß nicht austicken. Dieser Ethan war bestimmt nicht mit ihm verwandt, sonst würde sich Lucy wohl kaum auf ihn einlassen. Aber wieso hatte sie mir nie erzählt, dass sie ein Freund hatte?
Ethan nahm ihre Hand und zog sie vom Sofa hoch.
„Gute Nacht, Sarah“, wünschten sie mir noch und verschwanden im oberen Stockwerk.
Erleichtert atmete ich aus. Allein. Ich war das erste Mal nach einem Jahr richtig allein. Und es fühlte sich gut an. Zwar war die Einsamkeit für andere Menschen nicht wohltuend, aber bei mir schon.
Endlich war ich frei und konnte mein Leben wieder leben. Aber ich war reif für die Klapse.
Wenn ich jetzt schon dachte, Ethan könnte mit David unter einer Decke stecken, dann konnte ich mich ja schon von alleine dort einweisen lassen.
Wahrscheinlich kannten die beiden sich nicht einmal. Ich machte mir einfach zu viele Sorgen und Gedanken darüber, dass er mich finden würde. Eigentlich müsste ich ihn anzeigen, für das, was er mir angetan hatte. Aber ich habe nicht den Mumm dazu. Er hatte mich schwach gemacht. Doch ich musste irgendetwas gegen ihn unternehmen! Nur was? Ich hatte einfach nicht den Mut dazu ihn anzuzeigen und ihn vor Gericht zu bringen. Ich konnte ja noch nicht einmal meiner eigenen Schwester erzählen, was passiert war! Vielleicht sollte ich abwarten. Aber David durfte nicht ohne Bestrafung davon kommen. Und wenn ich nichts gegen ihn unternahm, dann würde er mich finden und wieder einsperren. Auf Lucy konnte ich zählen. Sie würde das nicht zulassen. Besonders nicht, wenn es um David ging. David war der Grund gewesen, warum wir ein schlechtes Verhältnis zu einander haben, aber er würde auch der Grund sein, dass Lucy und ich uns wieder gut verstehen werden! Mein Leben war echt erbärmlich. Eventuell sollte ich mir doch mal eine Auszeit gönnen. Meine Mutter im Zuhause besuchen und dort eine Weile bleiben, bis ich mein Leben wieder geregelt habe. Aber David wusste, wo Mom wohnte. Er könnte mich dort aufsuchen und alles würde wieder von vorn beginnen. Was blieb mir denn anderes möglich, als mich vor ihm zu verstecken? Es war eine Frage der Zeit, wann er hier auftauchte! Aber meine Freiheit ließ ich mir von nichts und niemanden mehr wegnehmen.
Seufzend setzte ich mich auf. Früher, bevor ich David kennenlernte, hatten Lucy und ich uns geschworen uns niemals zu streiten, wenn es um Jungs ging! Aber aus diesem Schwur wurde wohl nichts. Mit steifen Gliedern stand ich auf und suchte das Badezimmer. Leise tapste ich auf dem Laminat und öffnete jede einzelne Tür. Allerdings fand ich nur die Küche, die Abstellkammer, die Tür, die in den Keller führte, das Esszimmer und das Wohnzimmer. Langsam stieg ich die Treppen hoch und öffnete die erste Tür rechts und stand schon im Badezimmer. Ein Glück. Es wäre ziemlich peinlich gewesen, wenn ich in das Schlafzimmer von Ethan und Lucy geplatzt wäre. Nicht auszudenken, was sie da wahrscheinlich gerade taten. Ich schaltete das Licht ein und lief zu dem Waschbecken hinüber. Als ich mich im Spiegel erblickte, erschrak ich beinahe. In meinem Gesicht prangte mal wieder ein blaues Auge. Es war leicht angeschwollen und schimmerte lila. Meine Haut war aschfahl bleich. Seufzend wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Um meinen Arm befand ich sich ein weißer Verband, der sich schon an einer Stelle rot färbte. Gedankenverloren strich ich darüber und dachte mal wieder an ihn. Ich musste mir es verbieten, nicht mehr an ihn zu denken, oder seinen Namen auszusprechen. Wie konnte ich ihn am besten vergessen?
Nach weiteren zehn Minuten stummen Anstarren im Spiegel verließ ich das Bad und legte mich wieder auf das Sofa. Doch ich konnte überhaupt nicht einschlafen. Aber mit der Zeit wurde ich immer schläfriger und meine Lider immer schwerer, bis ich doch noch meinen Schlaf fand. Es war die erste Nacht, die ich eigentlich ganz gut überstand. Keine Albträume. Kein David. Freiheit!
Das war der erste Morgen meiner Freiheit. Es fühlte sich wirklich wunderbar an. Nur das einzige Problem war: mein Arm. Langsam aber sicher taten die Schmerzen höllisch weh. Die Strahlen der Sonne fielen durch die vorgezogenen Vorhänge der Fenster auf mein Gesicht und erwärmten meine Haut. Seufzend streckte ich mich gen Sonne. Heute war ein herrlicher Tag. Endlich keine Sorgen oder Probleme mehr. Der herrliche Kaffeeduft lockte mich zum Aufstehen und führte mich in die Küche. Dort stand Lucy am Herd und lächelte mich an, als ich den Raum betrat.
„Guten Morgen“, sagte sie fröhlich und bereitete gerade Rührei zu.
„Morgen“, nuschelte ich und ließ mich auf einen der Stühle fallen und stützte mein Kopf mit dem linken Arm ab.
„Wie geht es deinem Arm?“, erkundigte sie sich.
„Tut ein wenig weh“, antwortete ich knapp und schloss meine Augen. Es tat unheimlich gut hier zu sein.
„Möchtest du Kaffee und ein wenig Rührei?“, fragte sie mich höflich und ich nickte. Sie stellte mir einen Teller und eine Tasse vor die Nase. Die herrlichen Düfte ließen meinen Magen knurren. Lucy setzte sich zu mir an den Tisch und aß ihr Rührei.
„Du möchtest nicht darüber reden, was passiert ist, oder?“, fragte sie mich und trank einen Schluck von ihrem Kaffee.
„Noch nicht.“
„Du kannst immer zu mir kommen, Sarah. Ich hoffe, du weißt das!“
„Danke, für alles.“
„Wenn du möchtest, kannst du hier einziehen? Das ist hier sowieso eine Art WG, nur unser dritter Mitbewohner ist mit seinen Kumpels unterwegs“, erzählte sie mir.
„Danke für das Angebot. Aber, ich weiß nicht so recht. Ich möchte euch keine Umstände machen.“
„Sarah, du bist meine Schwester. Was dir auch immer passiert ist, ich halte zu dir“, entgegnete sie und nahm mitfühlend meine Hand in ihre. Kurz zuckte ich zusammen, aber ich ließ sie gewähren.
Dieses Gefühl der Vertrautheit war wie Balsam für mein Herz.
„Haben die anderen kein Problem damit?“, fragte ich verlegen nach. Ich stand vor dem Nichts und jetzt nistete ich mich hier einfach ein.
„Natürlich nicht, Ethan nicht und Kyles Meinung ist mir regelrecht egal.“
„Du magst diesen Kyle nicht?“, stellte ich sofort fest und schmunzelte. Ich bemerkte es an ihrem angespannten Tonfall.
„Ich kenne kein Mädchen, dessen Herz er noch nicht gebrochen hat.“
Als die Tür aufging, unterbrachen wir unser Gespräch. Ethan küsste Lucy zur Begrüßung auf die Wange und mir nickte er nur zu.
„Wie geht es deinem Arm?“, erkundigte auch er sich jetzt nach meinem Wohlbefinden.
„Tut ein wenig weh“, wiederholte ich.
Er nickte und nippte an seinem Kaffee. Danach suchte er etwas im Schrank. Als er das Gesuchte gefunden hatte, legte er mir eine Packung neben meinen Teller. Schmerztabletten.
„Danke“, sagte ich aufrichtig und nahm mit zittrigen Händen eine Tablette. Ethan stellte mir noch ein Glas mit Wasser vor die Nase, damit ich die Tablette auch einnehmen konnte.
Als ich mit dem Frühstück fertig war, stellte ich das dreckige Geschirr in die Spülmaschine.
„Wo ist das Telefon?“, fragte ich und knabberte an meiner Unterlippe.
„Im Flur“, antwortete Lucy mir und trank ihren Kaffee aus.
Ich nickte und verließ schnell die Küche, um die beiden alleine zu lassen. Im Flur fand ich das Telefon in dessen Ladestation auf einem Schränkchen stehen. Ich musste mich auf der Arbeit für einige Tage entschuldigen. Und außerdem spielte ich mit dem Gedanken, dort zu kündigen. Schließlich kannte David meine Arbeitszeiten. Es wäre echt besser, wenn ich mich, woanders bewerben würde. Ich musste ihm dringend aus dem Weg gehen. Als ich den Anruf betätigt hatte, ging ich zurück in die Küche, doch ich trat nicht ein, sondern lauschte. Der Lauscher an der Wand.
Ich lauschte nur, da der Name David fiel. Leise presste ich mein Ohr gegen die Holztür.
„David muss ihr das angetan haben“, sagte Lucy eindringlich. „Er muss dahinter stecken.“
„Er hat sie wahrscheinlich häufiger geschlagen, sowie ihr Körper aussah“, bestätigte Ethan.
„Ich habe ihr von Anfang an gesagt, dass er kein guter Umgang ist.“
„Du kennst ihn?“
„Ja, er war mit meiner besten Freundin Tess zusammen. Sie hat das Selbe durchgemacht, wie Sarah jetzt. Und ich kann dir auch sagen, warum Sarah immer zusammen zuckt, wenn du in ihrer Nähe bist.“
„Warum?“
„Sie hat das Vertrauen zu Männern verloren. Und du siehst ihm vom Körperbau ziemlich ähnlich.“
„Oh.“
„Und ich muss Kyle eintrichtern, wenn er wieder kommt, dass er Sarah nicht anfasst.“
Die beiden konnten sich also denken, was passiert ist. Aber ich war noch nicht bereit, es ihnen zu bestätigen. Ich konnte einfach noch nicht darüber reden. Und das, was ich gehört habe, reichte mir, um wieder ins Wohnzimmer zu gehen. Ich wollte mich auch nicht beim Lauschen erwischen lassen. Daher kannte also meine Schwester David. Wieso hatte sie mir damals das nicht erzählt?
Oh, sie hatte es versucht mir zu erklären, aber ich war so von ihm geblendet, dass ich ihr gar nicht zuhörte. Ich war echt so strohdoof. Wenn ich auf Lucy gehört hätte, dann wäre das alles nicht passiert. Niedergeschlagen ließ ich mich auf das Sofa fallen und heulte stumm vor mich hin.
Ich war so blind vor Liebe
Kapitel 3
Den lieben langen Tag verbrachte ich mit Heulen. Natürlich, wenn ich alleine war. Ich wollte nicht, dass Lucy oder Ethan sahen, wie es mich auffraß, was David mit mir gemacht hatte. Unbedingt musste ich stark bleiben, keine Schwächen zeigen. Meine Schwester hatte sich extra für mich den ganzen Tag frei genommen. Sie wollte mich nicht in meinem Zustand alleine lassen. Irgendwie konnte ich das verstehen.
Wer wusste schon, was ich in meinem kranken Zustand versuchen würde? – Selbstmord? Vielleicht ging sie vom Schlimmsten aus?
Wahrscheinlich dachte sie sogar, ich würde damit nicht klar kommen, was er mir angetan hatte.
Und damit hatte ihre Vermutung auch Recht. Ich kam nicht wirklich damit klar.
Vergewaltigt, verprügelt und gefangen gehalten, das wünschte sich niemand. Er hatte mich nur bei sich behalten, damit ich seine Lust stillen konnte, anstatt, dass er mich wirklich liebte. Aber wer wusste das schon? David war krank. Und ich musste etwas gegen ihn unternehmen!
Unter diesem verdammten Verband fing es an zu jucken. Na, toll.
Lucy hatte mir auch das ganze Haus gezeigt. Sie erzählte mir, dass es schwer sei mit zwei Jungs unter einem Dach zu leben. Besonders da dieser Kyle immer nur Party, Alkohol und Sex im Kopf hatte.
Mein Zimmer war ganz am Ende des Flures und direkt neben das von Kyle. Sie entschuldigte sich schon mal im Voraus, dass ich eventuell durch die Wände Geräusche hören könnte.
Aber wozu gab es nicht Ipods? Doch leider besaß ich keinen mehr. Meine ganzen Sachen lagen immer noch im Apartment bei David.
Außer die Kleidung, die ich an hatte und meine Handtasche besaß ich gar nichts mehr. Das Gute war, Lucy und ich besaßen dieselbe Kleidergröße, sodass ich mir etwas von ihr leihen konnte.
Die meiste Zeit verbrachte ich im Gästezimmer und weinte stumm vor mich rum. Ich wollte allein sein, aber Lucy wollte mich ungern alleine lassen. Als ich noch bei ihm lebte, war ich nie allein. Mir folgten Kameras oder er folgte mir. Es war überhaupt ein Wunder gewesen, dass ich ganz alleine aufs Klo durfte. Vielleicht waren selbst im Badezimmer Videokameras angebracht worden?!
Ich saß auf dem weichen Bett und starrte gedankenverloren zu Boden. Dabei fielen mir meine Haare ins Gesicht, da ich sie nicht zusammen gebunden hatte. Sie waren braun und gingen mir bis zur Schulter mit einem Stufenschnitt. Meine Schwester war auch braunhaarig. Ihre Haare waren zu einem Bob geschnitten worden. Wenn wir dieselbe Haarlänge besäßen, würden wir wirklich wie Zwillinge aussehen. Sie in der älteren und ich in der jüngeren Version. Unsere Gesichtskonturen waren überhaupt nicht unterschiedlich, wie unser Körperbau.
Lucy war ein Stück größer, als ich. Ich reichte ihr nur bis zur Schulter. Schon ein bisschen ätzend, so klein zu sein. Ethan passte perfekt zu ihr. Seinen etwas längeren, braunen Haaren gelte er perfekt zu einer ordentlichen Frisur. Die Haare passten sich perfekt zu seinen markanten Zügen an. Seine Haselnussbraunen Augen blickten einen liebevoll und warm entgegen. Und er war sogar noch ein Stückchen größer, als Lucy. Sein Körperbau glich dem wirklich wie dem von David. Zum Glück besaßen sie nicht dieselbe Haarfarbe, sonst könnte ich auf den Gedanken kommen, dass sie Zwillinge seien. David war Blondhaarig und hatte stechend blaue Augen. Sie waren so klar wie das Meer.
Das war einer der Gründe, wieso ich mich in ihn verliebt habe. Blaue Augen. Aber jetzt dachte ich schon wieder über ihn nach. Eigentlich sollte ich mich unter die Leute mischen und mich ablenken. Doch, ich konnte ja kaum eine Berührung aushalten.
Und jetzt vertrug ich es auf einmal nicht mehr alleine zu sein. Entschlossen stand ich auf, um nach unten zu Lucy zu gehen, um ihr Gesellschaft zu leisten.
Ich stürmte zu schnell die Treppe hinunter, als ob mich jemand verfolgen würde. Bei der letzten Stufe angekommen, rannte ich nach rechts und prallte mit voller Wucht gegen jemanden. Gemeinsam fielen wir zu Boden und ich keuchte erschrocken auf. Unter mir lag ein Typ, der David ziemlich ähnlich sah. Heute sahen für mich alle Jungs wie David aus.
„Nicht so hastig“, lachte er und musterte mich aufmerksam.
„‘Tschuldigung“, nuschelte ich und stieg schnell von ihm runter, sonst hätte ich mir fast die Seele aus dem Leib geschrien. Und mein Körper kribbelte überall.
Normalerweise reichte man dem Gegenüber die Hand, um ihm aufzuhelfen, doch ich tat es nicht. Die Berührung von eben war ausschlaggebend gewesen.
„Ich bin Kyle und wer bist du?“, fragte er mich charmant und er erinnerte mich sofort an David. Geschockt starrte ich ihn an. Dieselbe Frisur und der Körperbau, aber ein Unterschied. Braune Augen zu blonden Haare.
„Sarah“, gab ich gepresst zurück und rauschte an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Verwirrt blickte er mir nach und folgte mir. Das war also dieser Kyle. Wenn er ein hübsches Mädchen sah, wirkte er anscheinend immer charmant und cool.
„Kyle!“, rief Lucy überrascht aus. „Du bist ja schon wieder da.“
„Schön, dich auch zusehen und haben wir eine neue Mitbewohnerin?“
„Das ist meine Schwester Sarah. Sie wird für einige Zeit lang hier wohnen und du lässt sie in Frieden!“, fing Lucy auch schon an ihm zu drohen.
Ich sagte zu all dem nichts und schaute auf den Boden.
Einige Minuten verstrichen und wir schwiegen uns an.
„Woher kommen die vielen Blutergüsse?“, hörte ich ihn plötzlich fragen. Die Luft schien vor Anspannung zu vibrieren. Ich schluckte den großen Kloß hart hinunter.
„Kyle, frag nicht“, forderte Lucy ihn auf.
„Ich mache Mittagessen“, sagte ich schnell und verließ eilig das Zimmer. Eigentlich konnte ich nicht immer davonlaufen.
In der Küche machte ich mich auf die Suche nach etwas Essbarem. Aber irgendwie schien nichts da zu sein. Merkwürdig. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Lucy einkaufen gehen würde. Denn früher hatte sie das auch immer erledigt, da unsere Mutter schwer am Arbeiten war. Während meine Schwester immer für das Essen zuständig war, erledigte ich immer den Haushalt. Bei uns war alles geregelt, doch hier schien das reinste Chaos zu herrschen. Im Kühlschrank fand ich nichts Brauchbares. Es lagen nur zwei, drei Joghurts, Butter, ein wenig Aufschnitt und mehr nicht dort drin.
Dazu noch ein paar Getränke, aber nichts zum Mittagessen. In den Schränken fand ich nur Geschirr, Pfannen und all die Sachen. Aber in einem Schrank fand ich noch zwei Packungen Spaghetti. Lebten die Drei nur vom Pizza-Service? Wahrscheinlich haben sie sogar heute Morgen die letzten Eier aufgebraucht. Seufzend machte ich mich an die Arbeit. Ich füllte die Spaghetti in einen Kochtopf und stellte diesen auf den Herd. Danach bereitete ich die Soße zu. Während das Essen vor sich hin köchelte, deckte ich den Tisch.
Ab und zu kam Lucy vorbei, um nach dem Rechten zu schauen. Als die Nudeln fertig zu sein schien, drehte ich den Herd ab, füllte die Nudeln in einen Sieb und legte ihn über den Topf, damit das Wasser ablaufen konnte. Ich nahm immer wieder einen Teller vom Tisch und schaufelte die Nudeln auf das Porzellan. Zum Schluss goss ich noch ein wenig von der Tomatensoße darüber und voilà, das Essen war fertig. Ethan würde nicht mitessen, da dieser auf der Arbeit war. Ich holte Lucy und Kyle schließlich zum Essen.
„Wow, endlich richtiges Essen“, rief Kyle freudig und ich guckte Lucy verwirrt an.
„Abends rufen wir immer den Pizza-Service“, gab Lucy kleinlaut zu und setzte sich zu Kyle an den Tisch. Kyle schaufelte sich das Essen regelrecht in den Mund, als wäre er tagelang ausgehungert worden. Während Lucy und ich immer noch bei der ersten Portion waren, nahm er sich die ganzen restlichen Nudeln.
Okay?
„Willst du Ethan nichts übrig lassen?“, fragte ich verwirrt nach und rollte gerade einige Nudeln auf die Gabel.
„Pizza-Service“, antwortete er knapp und aß hektisch weiter. Gleich würde er Bauchschmerzen bekommen, wenn er weiter so schnell aß. Als wir mit dem Essen fertig waren, waren wir alle satt. Kyle streichelte sich über seinen vollen Bauch und…rülpste.
„Kannst du dich eigentlich überhaupt nicht benehmen?“, fuhr ihn Lucy böse an.
„Nö, wieso auch? Sieht mich doch keiner“, entgegnete dieser gelassen und trank sein Bier.
„Wir sind auch noch anwesend?“, entgegnete sie.
Kyle guckte zuerst mich und dann Lucy an und trank sein Bier weiter aus.
„Du wirst heute den Tisch abräumen“, befahl meine Schwester ihm und verließ die Küche. Oh, die beiden konnten sich überhaupt nicht ausstehen.
„Ja, ja. Mama“, seufzte dieser und gammelte weiterhin auf dem Stuhl rum.
Seufzend erhob ich mich, da ich ahnte, dass Kyle sich überhaupt nicht mehr von dem Stuhl fortbewegte. Die einzelnen, dreckigen Teller stapelte ich auf einander und plötzlich war Kyle zur Stelle und brachte sie zur Spülmaschine.
„Wie ist das mit deinem Arm passiert?“, fragte er mich und versuchte anscheinend ein Gespräch aufzubauen.
„Ich möchte darüber nicht reden“, sagte ich stattdessen und warf seine leere Bierflasche in den Mülleimer.
„Okay“, antwortete er und wir schwiegen uns an, während wir die Küche säuberten. Plötzlich fasste Kyle um mich herum, und ich zuckte zusammen.
„Was ist los? Habe ich dir weh getan?“, fragte er sofort und zog seinen Arm mit dem Gegenstand in der Hand weg.
„Nein, schon gut. Es ist nichts“, antwortete ich schnell und atmete dabei hektisch. Er musste mich jetzt bestimmt für psychisch krank halten. Ich legte das Handtuch beiseite und verließ die Küche. Es war schwerer, als ich gedacht habe mit den Berührungen.
Am Abend kam Ethan nach Hause und wir bestellten uns – wie zu erwarten war – Pizza. Das Abendessen verlief ruhig und von meiner Seite aus etwas angespannt. Ethan wusste über meine Lage wahrscheinlich Bescheid, sowie Lucy. Jedenfalls konnten die beiden es sich denken. Aber Kyle, er hatte es bestimmt nicht verstanden. Zum Glück fragte er nicht weiter nach, woher die ganzen Prellungen, Blutergüsse und der verletzte Arm stammten. Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass es ihn interessierte. Mein erster Eindruck von ihm war, dass er ein Macho war. Nachdem ich nur eine halbe Pizza schaffte, gab ich sie den anderen und stand auf. Den Karton warf ich in den Mülleimer und verließ die Küche. Ich benutzte den Hintereingang, der auch zum Garten führte und setzte mich dort auf die Steine. Lucy kümmerte sich perfekt um den Garten. Dabei schien sie wohl das Einkaufen völlig vergessen zu haben. Es war schon wieder dunkel und die Sterne, sowie der Mond strahlten am Himmel in ihrer vollen Pracht. Heute war Vollmond und mein erster Tag, den ich in Freiheit leben konnte. Ich genoss die kühle Nachtluft und zog meine Strickjacke enger um meinen Körper. Eigentlich hatte ich mir geschworen, meine Vergangenheit in den hintersten Teil meines Kopfes zu verbannen, doch die Vergangenheit war ein Teil von mir, den ich nicht vergessen konnte oder durfte. Eine halbe Stunde musste bestimmt schon vergangen sein, seitdem ich hier saß.
Hinter mir knarrte die Tür und jemand setzte sich zu mir auf die Veranda.
Im Blickwinkel erkannte ich Kyle, der stumm neben mir saß. Gemeinsam genossen wir die Nacht hier draußen.
„Gerade hat jemand angerufen“, informierte er mich. „Er hieß David.“ Als er seinen Namen aussprach, zuckte ich zusammen und verkrampfte meine Hände.
„Er wollte dich sprechen“, erzählte er weiter. „Doch Lucy sagte, dass du nicht hier seist.“
Je länger er weiter sprach, desto verkrampfte wurde ich.
„Er hat ihr gedroht.“ David bedrohte meine Schwester. Verängstigt schloss ich meine Augen und ich wollte nichts mehr von alldem hören. Es war falsch gewesen hierher zu kommen. Ich brachte nur meine Schwester und die Leute, die sie liebte in Gefahr. Es war nicht gut. Ich musste hier weg.
„Hat er dir diese Blessuren beschert?“, hakte er weiter nach. Konnte er nicht einfach aufhören? Das Thema auf sich beruhen lassen?!
Ich gab ihm keine Antwort.
„Sarah? Hat er dir weh getan?“ Meine Augen füllten sich mit Tränen. Es ging ihm nichts an. Das war mein Leben. Schwer atmete ich zittrig aus und öffnete meine Augen. Dabei liefen mir einige Tränen über die Wangen und meine Augen brannten. Ich durfte sie alle nicht in meine Lage hineinziehen. Ich durfte sie nicht in Gefahr bringen. Wer wusste schon, was David als nächstes vor hatte? Wie weit ging er? Ging er auch über Leichen? Verdammt, was wollte er nur von mir? Er hatte doch alles! Wenn er wollte, konnte er jede mit seinem Aussehen bekommen!
„Sarah, bitte rede mit mir!“, flehte er mich an. Wieso war er so fürsorglich zu mir? Eigentlich sollte ich ihm total egal sein! „Sarah?“, flüsterte er leise meinen Namen. So leise, dass es kaum zu verstehen war. Er rückte näher zu mir heran und legte seinen Finger um mein Kinn und drehte es zu ihm. Mitfühlend wischte er mir meine Tränen von der Wange. Bei seinen Berührungen zuckte ich jedes Mal zusammen und wollte ihm mein Gesicht schon entwinden, da packte er mich einfach und umarmte mich. Geschockt blieb ich stocksteif in der Haltung sitzen, doch irgendwann erwiderte ich seine Umarmung und fing an zu weinen. Beruhigend sanft strich er mir über meinen Rücken und flüsterte wohltuende Worte, die wie Balsam für mein gebrochenes Herz war. Nie hätte ich gedacht, dass er so sein konnte. Aber in manche Menschen konnte man sich eben täuschen, sowie bei David.
Seufzend versteckte ich mein Gesicht in seiner Halsbeuge und atmete seinen wunderbaren Duft ein. Er war ganz anders als David. Wie konnte ich die Männer bloß mit ihm vergleichen?!
„Er wird dir nichts mehr tun, versprochen“, flüsterte er mir in mein Ohr und gab mich frei. Widerwillig ließ ich ihn los und schämte mich für meine Heulattacke. Beschämt senkte ich den Kopf.
„Hey, Kopf hoch. Es wird alles wieder gut“, munterte er mich auf und stand auf, dabei reichte er mir seine Hand. Einige Augenblick starrte ich auf seine Hand, doch ohne sie anzunehmen, stand ich auf und ging an ihm vorbei. Hinter mir hörte ich ihn seufzen.
„Lucy?“, rief ich nach ihr und fand sie im Wohnzimmer.
„Kyle hat es dir erzählt?“, fragte sie traurig.
„Ja, und es wäre besser, wenn ich gehen würde“, sagte ich.
„Was? Nein!“, rief Lucy und stand auf, um mich ins Wohnzimmer zu zerren. „Du gehst nirgendwo hin. Hier bist du in Sicherheit!“
„Kyle und ich werden auch auf dich aufpassen“, entgegnete Ethan, doch ich schüttelte nur den Kopf
„Ich mache euch zu viele Umstände…“
„Überhaupt nicht“, mischte sich Kyle jetzt ein. „Jetzt kommt mal wieder Leben in die Bude.“ Für diesen Satz wurde er von Ethan und Lucy wütend angeguckt.
„Was denn? Ist doch so“, entgegnete er schnippisch und ließ sich in einen der Sessel fallen, wie ein nasser Sack.
„Ihr seid so großzügig“, seufzte ich. „Und ich mache euch wirklich keine Probleme?“
„Nein“, sagten alle gleichzeitig und ich lachte. Das erste Mal seit einem Jahr, dass ich wieder lachte.
Kapitel 4
Sonntag. Heute sind nur Lucy und Ethan arbeiten gegangen. Kyle hatte momentan noch Urlaub für zwei Wochen und gammelte vor dem Fernseher herum. Er und ich hatten das Haus für uns.
Ich lebte jetzt seit über einen Tag hier und ich fühlte mich so wohl, wie noch nie.
Doch immer wieder gelangten meine Gedanken zu ihm – David. Seufzend fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare. Ihn würde ich wohl nie wieder vergessen. Und gestern hatte er auch noch meiner Schwester am Telefon gedroht. Ich wusste zwar nicht was, er alles gesagt hatte, aber es beunruhigte mich zu tiefst. Kyle nahm alles total gelassen. Ethan ließ sich nichts anmerken, aber dafür Lucy. Sie blickte mich immer mit einem ihrer besorgten Blicke an. Und durch mich litt sie. Sie konnte es nicht ertragen, wie ihre eigene Schwester misshandelt wurde vom Äußeren her. Wenn sie wüsste, dass David mich auch des Öfteren vergewaltigt hatte, würde sie ihn glatt unter die Erde befördern.
Mit schweren Gliedern stand ich auf und tapste barfuß ins Bad. Meine Verletzung am Arm wollte einfach nicht heilen. Sie platzte immer wieder beim Verbandwechseln auf. Ethan war Krankenpfleger und er meinte, ich bräuchte nicht ins Krankenhaus. Es würde bald verheilen, aber danach sah es nicht aus. Doch ich vertraute ihm, da er sogar ziemlich professionell den Verband anlegen konnte. Sehr beeindruckend. Im Bad duschte ich mich erst einmal ausführlich. Bei mir entstanden immer nur Katastrophen. Ich war auch einfach nur unfähig dazu – überhaupt kein Geschick. Mindestens eine Viertelstunde stand ich unter der Dusche und ließ das Wasser über meinen Rücken prasseln. Es tat unheimlich gut. Schon lange habe ich mich nicht mehr so gut entspannt und wohlgefühlt.
Es war wie ein wunderschöner Traum, indem ich einfach nicht mehr aufwachen wollte. Und den Albtraum hatte ich schon längst hinter mir gelassen.
Die ganze Zeit über dachte ich nach, wie mein Leben weiter gehen sollte.
Ich brauchte eine neue Arbeitsstelle – am besten wäre es doch gleich von hier fortzuziehen.
Aber hier lebte meine Familie und ich hatte ihre Unterstützung. In einer anderen Stadt stände ich finanziell vor dem Nichts.
Seufzend stellte ich das Wasser ab und schlang ein großes Handtuch um meinen Körper.
Um aber auch gleich darauf zu merken, dass ich die Anziehsachen von Lucy vergessen hatte mit ins Bad zu nehmen. Shit. Barfuß tapste ich zur Tür. Draußen war Kyle weit und breit nicht zu sehen. Als ich um die Ecke bog, prallte ich schon wieder gegen eine harte, warme Brust. Dieses Mal fielen wir nicht zu Boden, sondern Kyle hielt mich an den Armen fest und machte große Augen, als er mich fast halbnackt nur im Handtuch bekleidet vor ihm stehen sah.
Ich schluckte und befreite mich von seinem Griff. Sein Blick war unangenehm, aber seine Berührung war angenehm kribbelnd gewesen. Doch ich zuckte immer noch zusammen, wenn man mich berührte. Ich konnte einfach nichts dafür. Jedes Mal dachte ich, man würde mich wieder schlagen. Alles Davids Schuld.
„Irgendwie rennen wir uns immer gegenseitig um, oder?“, lachte er und versuchte locker zu bleiben.
Bei so einem Anblick wie bei mir, da brannten wahrscheinlich bei allen Männern die Glühbirnen durch. Ein Mädchen nur mit einem Handtuch bekleidet.
Innerlich schüttelte ich verständnislos meinen Kopf und wollte an ihm vorbei gehen, doch dann packte er meinen Arm und zog mich zu sich.
„Lass…lass mich los, bitte“, reagierte ich sofort panisch und er folgte verwirrt meiner verzweifelten Bitte. Hektisch atmend sah ich ihn fassungslos an. „Fass mich nie wieder so an.“
Diese Berührung hatte besonders schlimme Erinnerungen in mir wieder hervorgerufen, die ich auf jeden Fall vergessen wollte.
Fast heulend flüchtete ich in mein Zimmer und zog mich schnell an.
Gerade als es klopfte, knöpfte ich mir schnell meine Hose zu und trocknete meine Haare ab.
Ein zweites Mal klopfte es, doch ich ignorierte es.
„Sarah, es tut mir Leid“, hörte ich seine Stimme gedämpft durch die Holztür und dann kam er ohne Erlaubnis herein. „Sarah?“
„Es tut mir Leid. Ich habe überreagiert“, sagte ich und trocknete weiterhin, ohne ihn zu beachten, meine Haare mit dem Handtuch.
„Hat er dich angefasst?“, hakte er weiter nach.
„Kyle, bitte. Lass es sein!“, entgegnete ich.
„Du würdest wohl kaum so reagieren, wenn er dich nicht angefasst hätte, oder?“
„Es geht dich nichts an.“
„Du wohnst hier, dann geht es mich wohl sehr etwas an.“
Darauf erwiderte ich nichts mehr, da es nichts mehr zu sagen gab.
„Ich mache mir nur Sorgen um dich“, gab er verlegen zu und kratzte sich am Kopf.
„Lass mir einfach Zeit“, sagte ich ruhig und lief an ihm vorbei ins Badezimmer. Natürlich folgte er mir.
„Wenn wir wüssten, was passiert ist, dann können wir dir helfen!“, versuchte er es weiter irgendeine Information rauszubekommen.
„Ich brauche keine Hilfe“, zischte ich und föhnte meine Haare trocken.
Während ich beschäftigt war, lehnte Kyle sich an die geschlossene Tür und beobachtete mich.
Mir war ein wenig mulmig zu Mute, da es mich wieder daran erinnerte, dass ich entweder von David oder den Kameras verfolgt wurde.
Nachdem ich fertig war, wollte ich aus dem Bad raus, doch Kyle ging einfach nicht zur Seite.
„Was soll das jetzt werden?“, fragte ich ein wenig genervt und verschränkte meine Arme vor der Brust. Lucy hatte eigentlich ein falsches Bild von ihm. Es kam mir gar nicht so vor, als ob er nur an das Eine dachte. Er sorgte sich um mich, obwohl wir uns gar nicht so wirklich kannten. Oder war das seine Taktik mich ins Bett zu kriegen? Na, das konnte er sich abschneiden, denn dann hatte ich ihn durchschaut.
„Du wirst mir jetzt alles erzählen, was passiert ist“, forderte er.
„Und wenn nicht?“, fragte ich belustigt.
„Hm, dann muss ich wohl handgreiflich werden“, überlegte er und blickte mich amüsiert an.
Erschrocken japste ich nach Luft.
„Das tust du nicht“, flüsterte ich atemlos.
„Das wirst du dann ja wohl merken, oder nicht?“
Jetzt war wirklich der Moment gekommen, Angst vor ihm zu haben. Und Lucy hatte doch irgendwie Recht. Er machte nichts ohne Grund.
„Du kannst mich nicht erpressen“, versuchte ich es verzweifelt und war schon wieder den Tränen nahe. Wieso konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Ich brauchte einfach meine Zeit. Und wenn ich soweit war, wäre er nicht der Erste, dem ich es erzählen würde, was passiert war. Lucy wäre die Erste. Schließlich war sie meine Schwester.
„Bitte, lass mich hier raus!“, flehte ich weiter und schon rannen die Tränen meine Wange hinab. In den letzten Tagen hatte ich ziemlich viel geweint, wie ich gerade bemerkte.
„Oh, Shit“, fluchte er und kam langsam auf mich zu gelaufen. Sein Arm war zu mir ausgestreckt. „Hey, Süße. Das wollte ich nicht. Ich habe nicht nachgedacht. Tut mir Leid!“
Schnell wischte ich mir mit dem Handrücken die Tränenspur von meinen Wangen weg.
„Schon gut, aber bitte, lass mir Zeit“, bat ich ihn noch einmal darum.
„Okay“, flüsterte er.
Es war gerade erst Mittagszeit und nichts befand sich im Kühlschrank. Kyle und ich ließen das Thema außen vor, was mit mir passiert war. Anscheinend konnte er es nicht ertragen, wenn Mädchen weinten. Ratlos standen wir gemeinsam vorm Kühlschrank und uns knurrte auch schon der Magen.
„Na, dann ruf ich mal wieder beim Pizza-Service an“, lachte er und griff nach dem Telefon.
Also, eigentlich müsste den Dreien das schon peinlich sein, tagtäglich dort anzurufen. Aber die Pizzamacher freuten sich über das Geld.
Als der Anruf getätigt war, zogen wir uns beide in unsere eigene Zimmer zurück.
Gedankenverloren lag ich auf dem Bett und lauschte der Musik, die durch die Wand dröhnte. Kyle hatte einen sehr gewöhnungsbedürftigen Musikgeschmack. Aber irgendwie lenkte es mich von meinen Problemen ab.
Nach ungefähr einer halben Stunde klingelte es an der Tür. Der Pizza-Service lieferte heute ja ziemlich schnell. Das man die Klingel trotz der lauten Musik hören konnte, war schon fast unmöglich.
Da Kyle wohl kaum seinen Hintern zur Tür schwingen konnte, musste ich anscheinend aufmachen.
Ich rannte die Treppe hinunter, öffnete die Tür und wollte sie auch gleich darauf wieder zuschlagen, doch er stellte seinen Fuß dazwischen.
„Was willst du?“, fragte ich schon beinahe panisch. „Ich rufe die Polizei, wenn du nicht sofort verschwindest!“
Anstatt den Fuß von der Tür wegzunehmen, fing er an zulachen und dann stieß er die Tür mit so einer Leichtigkeit auf, dass ich zurücktaumelte.
„Kyle!“, schrie ich so laut, wie ich konnte, damit er David aus dem Haus werfen konnte.
„Wer ist Kyle?“, fragte David sofort eifersüchtig.
„Ein Freund“, antwortete ich knapp und versuchte ihn irgendwie rauszuschieben, doch er bewegte sich keinen einzigen Zentimeter. Ich hätte auch gut gegen eine Wand rennen können und diese hätte sich trotzdem nicht bewegt. Aber irgendwie bezweifelte ich, dass Kyle mich überhaupt gehört hatte, denn die Musik war immer noch an.
David packte meinen gesunden Arm und wollte mich aus dem Haus zerren, doch ich wehrte und schrie so gut ich konnte. Ich wollte nicht mehr zurück. Überhaupt eine Nacht bei ihm zu verbringen, könnte ich nicht einmal aushalten. Er hatte mir zu viel angetan.
„Sarah?“, hörte ich plötzlich Kyles Stimme auf der Treppe. „Hey! Lass sie los.“
Erleichtert atmete ich auf, als Kyle endlich da war. Jetzt hatte ich wieder die Hoffnung nicht entführt werden zu müssen.
Er drängte sich zwischen David und mich. Als mein Blick auf seinen nackten Oberkörper fiel, dachte ich nur noch, dass David jetzt ausrasten würde.
„Hast du was mit Sarah?“, hörte ich auch schon seine wütende Stimme und Kyle drängte mich hinter seinen Rücken.
„Das geht dich gar nichts an“, sagte Kyle mit einem drohenden Unterton und schubste ihn in Richtung Ausgang.
„Lass deine dreckigen Finger von ihr“, meinte David plötzlich.
„Was?“, entwich es mir und am liebsten hätte ich die Klappe gehalten, aber dieser Idiot meinte Kyle zu befehlen mich nicht anzufassen. Er war doch Schuld daran, dass ich mich in die Klapse einweisen lassen konnte.
„Wenn du hier noch einmal auftauchst, dann wirst du noch dein blaues Wunder erleben“, drohte Kyle ihm mit erhobenem Finger.
Doch mein Ex-Freund fing darauf hin nur an zu lachen. Er war total krank. Psychisch krank.
Irgendwie schaffte es Kyle David aus der Wohnung zu schubsen. Die beiden standen jetzt im Vorgarten auf dem Gehweg und starrten sich angriffslustig an.
Wie ich David am besten kannte, würde er sich bestimmt keine Prügelei entgehen lassen.
Und mit meiner Vermutung lag ich leider goldrichtig. Denn plötzlich stürzte sich mein Ex-Freund auf Kyle. Aber im letzten Moment konnte er ausweichen und verpasste David einen Kinnhaken.
Obwohl die beiden vom Körperbau her gleich stark sein müssten, war Kyle irgendwie stärker.
Er erteilte David so viele Schläge und ermüdete dabei nicht einmal.
Staunend und auch ein wenig geschockt stand ich auf der Türschwelle und machte mir Sorgen um beide. Ja, eigentlich sollte ich mir überhaupt keine Sorgen um David machen, denn er hatte es verdient auch mal geschlagen zu werden. Jetzt konnte er selber mal fühlen, wie es sich angefühlt hatte, wenn er mich schlug. Ich war Kyle unendlich dankbar. Er hatte ihm eine Lektion erteilt und ich hoffte inständig, David tauchte hier nicht noch einmal auf.
„Sarah, wir werden uns noch wiedersehen!“, rief David laut und drohend zu mir.
„Ach, komm“, winkte Kyle ab und schloss hinter uns die Tür.
„Bist du verletzt?“, fragte ich ihn besorgt.
„Ja.“
Als ich ihn genauer musterte, fiel es mir auch schon auf. Aus seiner Nase lief Blut raus. Aber ansonsten schien er nirgendswo verletzt zu sein.
„Komm“, forderte ich ihn auf und bugsierte ihn ins Wohnzimmer.
Irgendwie war das alles meine Schuld. Wenn ich hier nicht aufgetaucht wäre, dann wäre das nicht passiert. Ich schleifte Kyle zum Sofa und befahl ihm, sich dort hinzusetzen.
Aus der Küche holte ich einen Kühl-Pack und aus dem Badezimmer Desinfizierungsmittel.
„Es tut mir Leid“, entschuldigte ich mich bei ihm.
„Wofür?“ Verständnislos blickte Kyle mich an.
„Du bist wegen mir verletzt.“
„Ach, komm. Das ist nur ein Kratzer. Außerdem war das nicht der Rede wert.“
Besorgt tupfte ich weiterhin sein Blut weg.
„Hey, du brauchst dir echt keine Sorgen um mich zu machen. Es geht mir blendend.“
Kurz nickte ich und warf die schmutzigen Arzneimittel weg.
Währenddessen hatte Kyle sich das Kühl-Pack auf seine Nase gelegt und schaute fern.
„Wenn er dich wieder bedroht, kannst du mich gerne anrufen“, sagte er fürsorglich. „Gib mir mal dein Handy.“
Zögernd überreichte ich es ihm. Schnell tippte er etwas ein und gab es mir auch schon sofort wieder.
„Ich habe meine Nummer auf Schnellwahl gestellt. Du kannst mich zu jeder Zeit anrufen, wenn du Probleme hast.“
„Danke, das ist echt nett von dir.“
„Keine große Sache“, winkte er wieder und unser Gespräch wurde durch die Klingel gestört. „Hoffentlich ist das jetzt auch wirklich der Pizza-Service.“
Schnell stand er mit dem Kühl-Pack auf und lief zur Haustür. Mit einem großen Abstand folgte ich ihm und bewunderte seine muskulöse Rückenmuskulatur.
Und dieses Mal war es wirklich der Pizzalieferant.
Kapitel 5
Ich konnte es echt nicht fassen, dass David sich hierher gewagt hatte, um mich wieder zu sich zu holen. Er hatte ja nicht mehr alle Tassen im Schrank. Jeder normale Mensch hätte genauso gehandelt wie ich. Irgendwie musste ich David hinter Gittern bringen, aber ich hatte nicht wirklich viele Beweise. Und wenn ich Beweise hätte, dann hätte er sie verleugnet. Er besaß Geld und Macht. Das war schon mal ein großer Anfang, um weit zukommen. Außer meiner Schwester hatte ich nichts. Meinen Arbeitslohn würde ich auch erst wieder nächste Woche bekommen. Das Schlimmste war ja auch noch, er hatte mir mein ganzes Konto leer geräumt. Damals hatte ich ihm die zweite Vollmacht dazu gegeben. Und ich bereute es jetzt, dass ich diesen Schritt gegangen war. Jetzt hatte er all meine Ersparnisse.
Lucy ging noch am selben Montag mit mir zur Bank, um mein altes Konto zu löschen und ein Neues wieder herstellen zu lassen. Durch David besaß ich nur Probleme, die ich vorher nie gehabt hatte. Ich fühlte mich so verarscht, hilflos und allein. Eigentlich war ich nicht allein, aber es fühlte sich danach an. Zum Glück hatte das mit meinem Konto geklappt und meine alte Bankkarte wurde zerstört.
Aber das war das nebensächlichste Problem, was ich besaß. Irgendwie musste ich es schaffen, dass ich Lucy, Ethan und Kyle nicht mehr in Gefahr brachte. David war krank und er brauchte dringend Hilfe. Aber durch mich würde ich die anderen in Gefahr bringen und das konnte ich nicht zulassen.
Nur, wenn ich von einer eigenen Wohnung anfing zu sprechen, stellte meine Schwester auf Stur. Manchmal war sie ja so ein Dickkopf. Und das Beste war, wir verstanden uns wieder. Unser Verhältnis zueinander ist noch stärker geworden, wie jemals zuvor. Jetzt konnte uns nichts und niemand mehr trennen. Ethan war dieser Typ, der sich von den Gefahren ein wenig zurückhielt. Ich glaubte sogar, ihm missfiel es, das ich der Grund war, dass Lucy vielleicht in Gefahr schwebte. Gestern Abend stimmte er mir sogar zu, dass ich mir eine eigene Wohnung suchen sollte, oder für eine Zeit lang zu unserer Mutter ziehen sollte. Damit er und Lucy ein schönes Leben führen konnten und ich um mein Leben hoffen musste.
Langsam aber sicher musste ich mein Leben wieder in den Griff bekommen. Nur, David stand mir im Weg. Ohne ihn war alles viel einfacher.
Kyle äußerte sich nicht, ob ich ausziehen sollte oder nicht. Einen Tag lang tat er so, als ob ich ihm etwas bedeuten würde und am nächsten Tag war ich ihm völlig egal. Zu gerne würde ich wissen, was in seinem Spatzenhirn vorging.
Mittlerweile lebte ich schon fast drei Tage hier und es gefiel mir. Nur, Ethan wurde von mal zu mal merkwürdiger zu mir. Ich glaubte wirklich, ihm missfiel es, dass ich ab jetzt hier wohnte. Klar, ich konnte ihn ja verstehen, ich brachte seinen geordneten Tagesablauf durcheinander. Hinzu kam, dass ich nur Probleme bereitete. Ich eigentlich eher nicht, sondern mein Ex-Freund. Dieser hatte sich heute schon wieder per Telefon gemeldet. Kyle führte dieses Mal das Gespräch und nahm mich so richtig in Schutz. Das war wieder einer dieser Momente, die mein Herz höher schlagen ließ, wenn es um Kyle ging, doch im nächsten Moment war ich wieder Luft für ihn. Jetzt verstand ich Lucy, wieso sie ihn nicht leiden konnte. Er spielte, ohne zu wissen, mit den Mädchen und brach deren Herzen.
Ja, Kyle war eigentlich ein ziemlich süßer Typ. Und wenn ich ihm über den Weg lief, dann schlug mir mein Herz bis zum Halse, aber ob ich mich ihn verliebt habe – Keine Ahnung!
Außerdem hatte ich zurzeit die Nase gestrichen voll von Männern. Aber ich machte Fortschritte. Ich zuckte nur noch ganz selten zusammen, wenn ich ausversehen mit jemand in Berührung kam. Vielleicht lag es daran, dass ich den Dreien vertrauen konnte und genau wusste, dass sie mir nichts antun würden. Aber das war wieder einer dieser springenden Punkte. Vertrauen. Und mein Vertrauen wurde oft missbraucht.
Am nächsten Morgen wachte ich schon ziemlich früh auf. Als ich auf den Wecker sah, war es gerade mal erst halb neun. Seufzend schwang ich meine Beine über den Bettrand und stand auf. Heute sollte ein wunderschöner Tag werden. Einige Lichtstrahlen fielen durch die Vorhänge und erwärmten meine nackte Haut an den Beinen.
Nur mit Shorts und einem Shirt bekleidet verließ ich mein Zimmer und ging in die Küche. Dort traf ich meine Schwester an, die eine Frühaufsteherin war.
„Morgen“, gähnte ich glücklich und setzte mich auf einen der Stühle.
„Guten Morgen, Süße. Gut geschlafen?“
„Wie man’s nimmt, und du?“
„Super“, grinste sie und ich konnte mir denken, warum sie heute Morgen so fröhlich war.
„Tolle Nacht gehabt?“, fragte ich zweideutig und sie verstand den Wink auch, denn sie lief puterrot an.
„Sag mal, ist Kyle schon wach oder schläft er noch wie ein Steinzeitmensch?“, fragte mich meine Schwester belustigt, doch ich zuckte nur mit den Schultern.
Kopfschüttelnd trank sie ihren Kaffee.
„Kannst du mir einen Gefallen tun? Weck ihn auf und schick ihn zu Ethan in die Garage“, forderte sie von mir.
„Wieso ich? Das kannst du doch auch machen!“
„Sorry, Kleines. Ich muss jetzt zur Arbeit und der Faulenzer sollte auch mal seinen Hintern bewegen. Und sag ihm von Ethan, dass es echt dringend sei“, sagte sie mir, trank ihren Kaffe aus und verließ sofort das Haus, um zur Arbeit zu fahren.
Seufzend lief ich nach oben, klopfte kurz an der Tür an, doch es kam keine Antwort, als öffnete ich einfach die Tür. Und was ich danach sah, schockte mich. Normalerweise sollte es mir total egal sein, ob er jeden Tag mit einer anderen Frau Sex hatte, denn ich liebte ihn ja nicht!
Kyle stand in Boxershorts vor mir und starrte mich auch ungläubig zurück an. Während seine liebreizende Bekanntschaft ihren Mund zu einem „Oh“ formte, gleichzeitig zog sie ihre Bettdecke höher bis zum Kinn.
„Sorry, aber Ethan braucht dich in der Garage…jetzt“, stotterte ich und brachte eine halbwegs vernünftige Entschuldigung hervor und verließ wieder sein Zimmer. Okay, normalerweise sollte es mich nichts angehen, doch leider wurde ich auf diese blonde Tussi total eifersüchtig. Was war nur mit mir los?
Seufzend fuhr ich mir durch die Haare und ging zurück in mein Zimmer. Das war eine absolute, peinliche Blamage gewesen. Dort zog ich mir erst einmal – von Lucy – die Sachen an und machte mich im Bad noch fertig. Als ich die Treppe runterging, traf ich noch Barbie, die sich mit Küsschen rechts und Küsschen links von Kyle verabschiedete. Warum küsste sie ihn nicht gleich auf den Mund?
Während die beiden sich verabschiedeten, schnappte ich mir meine Schuhe und meine Jacke und wollte gerade das Haus verlassen, da stellte sich Kyle urplötzlich in den Weg.
„Kyle?“, fragte ich verwirrt. „Lass mich bitte durch.“
„Wohin gehst du?“
„Machst du jetzt auch einen auf Kontrollfreak, oder was?“, schnaubte ich entrüstet und stemmte meine Hände an die Hüfte.
„Nein, schließlich könnte dir David auflauern“, entgegnete er gelassen.
„Ich wollte nur meine Mom mal wieder besuchen. Ich habe sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen“, seufzte ich ergeben und lehnte mich gegen das Treppengeländer.
„Weiß Lucy, dass du zu ihr willst?“, hakte er weiter nach.
„Machst du jetzt einen auf Sherlock Holmes?“
„Das ist nur für deine Sicherheit.“
„Nein“, antwortete ich knapp.
„Dann werde ich dich fahren“, sagte er, als wäre es eine beschlossene Sache.
Mir klappte der Mund auf.
„Mund zu, Fliegen kommen rein“, lachte er und ich schloss automatisch meinen Mund.
„Ethan wollte aber, dass du ihm hilfst!“, entgegnete ich schmollend. Ich hörte mich wie ein kleines Kind, das ihren Willen nicht bekam.
„Er kann warten“, winkte er ab und öffnete mir Gentleman-Like die Tür.
Ich konnte es jetzt echt nicht fassen, dass ich mit Kyle in seinem Wagen, (dass er überhaupt ein Auto besaß, wunderte mich schon), saß. Ethan war der gleichen Meinung wie Kyle gewesen, dass man mich nicht alleine in die große, weite Welt hinausschicken durfte.
Ich war Zwanzigjahre Alt und nicht Acht. Ich war kein kleines Kind mehr!
Ethan konnte sich glücklich schätzen, denn bald hatte er sein Reich wieder alleine. Eigentlich hatte ich vorgehabt meine Mutter zu fragen, ob ich nicht für ein paar Tage bei ihr wohnen konnte. Nur solange, bis ich etwas Eigenes gefunden hatte. Normalerweise müsste ich Lucy informieren, aber sie war ein Sturkopf und sie würde mich niemals gehen lassen. Wenn ich meine Entscheidung getroffen hatte, konnte Lucy mich nicht mehr zurückholen. Es war einfach das Beste.
Zwar auch wieder nicht das Beste für unsere Mom, aber David hätte erst einmal keinen Grund mehr meiner Schwester zu drohen. Und bis er heraufgefunden hat, wo ich mich befand, da hätten wir bestimmt schon längst Ostern.
Gedankenverloren starrte ich nach Draußen. Heute Morgen schien die Sonne noch und keine einzige Wolke war am Himmel zu erkennen gewesen, doch jetzt teilte das miese Wetter meine Zustimmung. Es schüttete wie aus Eimern. Ab und zu blitzte es, aber das heftige Gewitter lag hinter uns.
Eigentlich sollte man, wenn es gewittert nicht Auto fahren, aber dafür war es zu spät. Wir waren direkt da reingefahren und jetzt lag es auch schon hinter uns. Aber manchmal zuckte ich doch zusammen und Kyle musste darüber leicht lächeln. Einmal nahm er sogar meine Hand in seine und drückte sie leicht, doch ich zog sie sofort wieder zurück. Der Körperkontakt zu anderen war mir immer noch nicht ganz geheuer.
Ich merkte wohl, dass er über seine Leichtsinnigkeit sich am liebsten selber geohrfeigt hätte und darüber musste ich schmunzeln. Trotzdem verstand ich ihn nicht. Letzte Nacht schlief er mit einem mir unbekanntem Mädchen und jetzt näherte er sich mir wieder. So langsam, aber sicher war ich derselben Meinung wie meine Schwester. Er spielte nur mit den Mädchen. Wahrscheinlich war ich ihm sogar total egal. Er sorgte sich bestimmt nur um mich, damit er mich ins Bett kriegen konnte, da ich für ihn eine ganz neue Erfahrung war.
Ein weiteres Mädchen, das er von seiner Liste abhaken konnte.
Mit Bestimmtheit konnte ich das nicht sagen, nur vermuten. Schließlich wusste ich ja nicht, was mit seinen Hormonen nicht stimmte. Eigentlich sollte es mir vollkommen egal sein, ob er mich mochte oder nicht. Er sollte mir völlig egal sein, aber das war er nicht. Leider.
Und diese unangenehme Stille im Wagen ließ mich nervös werden. Konnte er nicht irgendetwas sagen? Man konnte diese unheimliche Stille diesen peinlichen Moment nennen, bei dem man nicht wusste, was man sagen sollte.
„Du magst anscheinend kein Gewitter“, stellte er eher fest, anstatt das es nach einer Frage anhörte.
„Ja“, antwortete ich nur, da ich nicht genau wusste, was ich darauf antworten sollte, anstelle nur eines gewöhnlichen „Ja“.
„Du brauchst keine Angst haben“, lächelte er und schaute mir ein paar Mal ins Gesicht, um darauf wieder auf die Straße zu achten.
„Ja, mein Held“, sagte ich ironisch und fing an zulachen, in das er einstimmte.
Von einem Moment auf den anderen wirkte die Atmosphäre sehr gelöst.
Manchmal dachte ich, man könnte sich in Kyle nicht täuschen lassen. Jetzt schien er der coole und lässige Typ von neben an zu sein. Aber wiederrum an einem Tag war er der Macho höchstpersönlich, der glaubte, er bekäme jedes Mädchen.
Doch ich genoss seine Gesellschaft.
„Hast du wirklich vor auszuziehen, deshalb der Besuch bei deiner Mutter?“, fragte er plötzlich und schaute mich merkwürdig an. In seiner Mimik spiegelten sich so viele verschiedene Gefühle. Niemals hätte ich gedacht, dass er traurig darüber sein könnte, wenn ich bei ihnen auszog.
„Ich möchte mich euch nicht aufdrängen und in Gefahr bringen“, antwortete ich, sodass seine Frage mit dieser Antwort geklärt war.
„Du machst uns keine Umstände, Sarah.“
„Ethan, er hat etwas gegen mich“, erzählte ich ihm verlegen.
„Und das ist der Grund?“ Fassungslos starrte er mich an. „Ethan ist ein Feigling. Er mag dich doch nur nicht, weil er denkt, dass du deine Schwester, die er liebt, in Gefahr bringst.“
„Und das ist ein weiterer Grund“, entgegnete ich. „Ich habe Angst euch alle in Gefahr zu bringen.“
„Dann unternimm etwas gegen David“, sagte er mit Nachdruck.
„Das ist nicht so einfach, wie du denkst. Du kennst ihn nicht.“
„Im Gegenteil! Das was er dir angetan hat, damit kann ich ihn gut einschätzen!“
„Kyle, du weißt gar nichts. Du weißt nicht einmal, was er mit mir gemacht hat, außer dass er mich geschlagen hat!“, zischte ich und versuchte ihn böse anzusehen.
„Dann sag mir endlich, was er gemacht hat!“
„Ich kann nicht“, blockte ich sofort ab.
„Dann zeig ihn wenigstens an“, verlangte er und legte etwas zu heftig den Gang ein.
„Er würde nur drüber lachen“, sagte ich. „Er nimmt es nicht ernst und würde alles verleugnen. David hat das Geld dafür auch zu manipulieren.“
„Na und?“ Kyle zuckte einfach nur mit seinen Schultern.
„Nichts, na und! David könnte es so drehen, dass ich die Schuldige sei. Mir würde eh keiner glauben!“
„Du hast uns. Wir können aussagen!“
„Das bringt auch viel, wenn er einen aus dem Gericht mit Geld bestechen würde!“, entgegnete ich ironisch und starrte wieder aus dem Fenster.
Kyle konnte es einfach nicht verstehen. Oder er wollte es nicht verstehen. Ich – Wir hatten keine Chance gegen ihn. David hatte Geld und wer bekanntlich Geld hatte, hatte auch zusätzlich Macht.
Irgendwann bog Kyle in einen Waldweg ab. Meine Mutter wohnte etwas abseits. Etwas abseits war wohl sehr untertrieben. Der steinige Weg war sehr holprig und dazu drückte Kyle auch noch weiterhin auf das Gas. So ließ er also seine Wut raus. Er war Schuld, wenn er gegen einen Baum fuhr und hier standen viele Bäume.
Nach etwa fünf Minuten verließen wir den Waldweg und vor uns erhob sich das etwas ältere Haus von meiner Mom. Ich mochte dieses altmodische Haus, das auch noch einen modernen Touch besaß.
Es war nicht alt, aber auch nicht neu. Die Veranda war frisch lackiert worden und die Fenster mussten auch neu sein. Gott, war ich lange nicht mehr hier gewesen, was in drei Jahren alles passieren konnte. Aber das Haus wirkte ein wenig düster, vielleicht lag es an dem Regen und dem Gewitter, oder an den vielen Bäumen, doch der gepflegte Garten machte diese düstere Atmosphäre wett.
Als das Auto zum Stehen kam, blieb ich noch einige Sekunden sitzen und war total aufgeregt. Kyle spürte meine Nervosität, doch er sagte nichts. Wir waren noch wütend aufeinander.
Ich zog die Kapuze über meinen Kopf, stieg schnell aus, um ins Trockene zu gelangen. Kyle hielt mit mir Schritt. Als ich ihn ansah, stockte mir der Atem. Er war ohne Kapuze durch den Regen gelaufen. Das Wasser tropfte von seinen gestylten Haaren und ließ ihn irgendwie süß aussehen.
Langsam und zögernd hob er seinen Arm und zog mir meine Kapuze vom Kopf.
Das wäre eigentlich einer dieser Momente, bei denen man sich näher kam, doch diese Momente wurden immer von irgendeinem Elternteil zerstört.
Ein Räuspern ließ uns um drehen und da stand meine Mom. Glücklich umarmte ich sie.
„Hey, Mom“, begrüßte ich sie.
„Sarah?“, fragte sie ungläubig. „Ich habe dich vermisst.“
„Ich dich auch, Mom“, flüsterte ich und ließ sie los.
Meine Mom bat uns herein und führte uns ins Wohnzimmer.
Von der Inneneinrichtung hatte sich nicht viel verändert. Es waren immer noch dieselben Tapeten an den Wänden. Die Möbel standen noch am selben Platz, nur die Dekoration und die Vorhänge wurden verändert.
„Du hast nur wegen des Jungens den Kontakt zu uns abgebrochen“, warf mir jetzt meine Mom vor.
„Es tut mir Leid“, entschuldigte ich mich bedrückt und verschränkte nervös meine Finger ineinander.
Es kam mir irgendwie falsch vor, wieder zurückzukehren, um etwas zu wollen.
„Ich bin aber froh, dass du ihn verlassen hast. Er tat dir einfach nicht gut“, fuhr meine Mom fort und Kyle stimmte ihr auch noch zu.
Da wir für die Hinfahrt einige Stunden gebraucht hatten und jetzt auch noch solange mit meiner Mom ein Gespräch geführt hatten, neigte sich der Tag langsam dem Ende zu. Draußen wurde es allmählich schon dunkel und die Gegend sah unheimlich aus. Früher fand ich es nicht so gruselig. In den letzten Jahren sind auch noch mehr Bäume gewachsen, die das Grundstück unheimlich aussehen ließen.
Meine Mom bot uns an für heute Nacht hier zu schlafen. Sie sagte, sie könnte uns nicht bei der Dunkelheit zurückfahren lassen. Schließlich konnte da alles Mögliche passieren. Vor allem, wenn David hinter mir her war. Vielleicht würde es morgen auch schon wieder ganz anders aussehen.
Lucy war nicht wirklich damit einverstanden, dass wir bei Mom übernachteten. Ihr Hauptgrund war, dass Kyle auch noch mit von der Partie war.
Am Telefon zählte sie mir erst einmal voll die peinlichen Dinge auf, worauf ich achten musste, wenn Kyle in meiner Nähe war – oder wir uns ganz alleine in einem Raum befanden.
Da das Schlafzimmer von meiner Mom im Erdgeschoss lag, hatten wir das obere Stockwerk für uns.
Allerdings mussten wir gemeinsam – Kyle und ich – in einem Bett schlafen, da Mom das Zimmer von Lucy und mir zugestellt hatte. Es war unmöglich überhaupt einen Fuß in die Räume zu setzen.
Dort befanden sich die vielen Erinnerungsstücke, die sie nicht wegwerfen wollte, besonders nicht die Sachen von Dad. Von Dad konnte ich auch eine Geschichte erzählen. Eine etwas traurigere Geschichte und nicht die mit einem Happy End.
Nur ein einziger Gedanke an meinen Vater stimmte mich schon traurig. Er verließ Mom, als ich gerade erst fünf war. Dad war das typische Abbild eines Mannes. Um es auf Deutsch zu sagen, er war wie Kyle. Die beiden hatten wirklich eine gemeinsame Schwäche. Hübsche Frauen.
Dad hatte Mom wegen einer Jüngeren, die in meinem Alter sein könnte, verlassen!
Seit dem ließ er sich nicht mehr blicken. Einmal pro Jahr bekamen wir Post von ihm, aber auch nur an Weihnachten. Die Geburtstage seiner eigenen Töchter vergaß er. Nur an Weihnachten fiel ihm auf, dass er ja noch eine Familie besaß. Meine Mom trauerte ihm – glaube ich – immer noch hinterher. Jetzt sollte man sagen: „Vergiss den Mistkerl!“ Aber ich konnte meine Mutter verstehen. Dad war ihre große Liebe, die konnte man einfach nicht vergessen. Mom war mit keinem anderen Mann – soweit ich es wusste – zusammen, der nicht Dad war. Die beiden lernten sich – sehr romantisch! – auf dem Eiffelturm von Paris kennen. Als Kind liebte ich diese Geschichte. Für mich war es eine sehr romantische Liebesgeschichte gewesen. Damals hatte ich nie gewusst, dass die beiden meine Eltern waren, bis meine Mom eines Abends „So lernte ich deinen Vater kennen“ sagte.
Seufzend stocherte ich im Abendessen herum. Endlich mal keine Pizza. Meine Mom war einer der besten Köchinnen der ganzen Stadt. Sie arbeitete auch als Chefkoch in einem sehr noblen Restaurant. Aber warum sie hier immer noch auf dem Lande wohnte, weit weg von der Zivilisation, verstand ich nicht.
Kyle und meine Mom verstanden sich sehr gut. Vorhin hatte ich ihr beim Kochen geholfen und dann sagte sie doch ganz ehrlich zu mir, dass Kyle mich mochte, mehr als nur mögen. Ich wäre am liebsten in Grund und Boden versunken. Sie machte am Esstisch auch immer diese vielsagenden Blicke.
Und jedes Mal, wenn ich zu Kyle schielte – unauffällig versteht sich – dann sah ich, wie er mich zu mustern schien.
Als ich wieder zu meiner Mom blickte, lächelte sie ununterbrochen.
Kapitel 6
„Die schönste Blume für das schönste Mädchen.“ Komplimente. Charmante Komplimente von sich zu geben, konnte er schon immer gut. Sowie die Frauen um seinen Finger zu wickeln.
Es gab nichts, womit er nicht eine Frau beeindrucken konnte. Wenn man erst einmal von seinem Charme eingewickelt war, gab es kein Zurück mehr.
Verlegen schaute ich zu Boden und strich mir eine Strähne hinter mein Ohr. Es war unser erstes Date gewesen und ich wusste auch nicht, woher er die Rose hergezaubert hatte, da er mich wieder nach Hause brachte, aber es war schön gewesen. Zu schön, um wahr zu sein.
Wir standen auf der Veranda und ich konnte meine Nervosität überhaupt nicht mehr bändigen. Diese Verabschiedung bedeutete, dass der Junge das Mädchen gleich küsste.
Es hätte nicht viel schöner werden können.
David und ich, wir standen uns körperlich viel zu nah. Ich spürte seine körperliche Hitze und er schien überhaupt nicht nervös zu sein, im Gegensatz zu mir. Für mich war das alles Neuland. Er war der erste Junge, mit dem ich ausging. Er nahm meine zu kleine Hand in seine und drückte sie sanft.
Damit meinte er wohl, dass alles gut wäre. David strahlte so eine Selbstsicherheit aus. Er wusste zu gut, was er tat und wie er es tat. Zu vielen Mädchen verdrehte er die Köpfe. Und sicherlich war ich nicht die Erste, wie er es mir beteuerte. Doch ich war so verliebt in ihn, dass ich es einfach überhörte.
Ich war glücklich und dieses Glück wollte ich mir nicht zerstören lassen.
Eigentlich war ich eher blind vor Liebe gewesen. Aber damals war ich so naiv und gutgläubig.
Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut und alles kribbelte wie verrückt.
Ganz langsam beugte er sich zu mir runter, da ich nämlich ein ganzes Stück kleiner war als er und dann berührten seine sanften Lippen meine. Mein erster Kuss und es war fantastisch. Besser und romantischer hätte ich es mir nie vorgestellt. Und eigentlich wäre es jetzt der perfekte Moment, wenn meine Mom rauskäme und dies hier zerstörte, doch das passierte nicht. Und das war gut so.
Wir mussten bestimmt fünf Minuten auf dieser Veranda küssend stehen, doch ich konnte einfach nicht genug von ihm kriegen. Seine Hand lag an meinem Nacken und seine andere Hand an meiner Hüfte, die mich noch näher an ihn zog.
Das war definitiv mein bester Kuss. Eigentlich konnte ich über den besten Kuss noch nicht viel sagen, da es erst mein erster war. Aber bekanntlich waren die meisten ersten Küsse die Besten!
Doch plötzlich schien nichts mehr, wie es war. Alles um mich herum drehte sich und mir war schwindelig. Das Letzte, was ich sah, war, wie gehässig David von oben herab mich angrinste und ein Messer in meinen Bauch stieß. Die Zeit schien auf einmal still zu stehen. Es gab nur noch ihn und mich. Fassungslos und mit schmerzverzerrter Miene starrte ich ihn an. Ich stützte mich auf dem Holzboden ab, da ich zu Boden glitt und die andere Hand lag auf meiner Bauchverletzung.
Ich konnte es einfach nicht mehr fassen. Wie konnte er mir so etwas antun? Er liebte mich doch!
Ich wusste nicht mehr, ob dies die Realität war oder ein Albtraum. Ich wusste nur, was er getan hatte.
Am liebsten würde ich in sein zu perfektes Gesicht einschlagen. Mit diesem arroganten Grinsen kniete er sich vor mich und blickte mich spöttisch an, während ich nach Luft japste. Die Schmerzen fühlten sich so echt an.
Und plötzlich legten sich seine Hände um meinen Hals. Ich wollte schreien, mich wehren, doch er war zu stark. Röchelnd lag ich unter ihm und es schien kein Entkommen zu geben.
„Sarah?“ Jemand schrie verzweifelt nach meinem Namen. Das war nicht David.
Alles verschwamm vor meinen Augen. David verschwand und die Schmerzen auch.
Schreiend öffnete ich meine Augen und blickte in das besorgte Gesicht von Kyle.
Schweißüberbadet lag ich auf einmal in seinen Armen. Es war nur ein Albtraum.
„Ich habe mir Sorgen gemacht. Du hast geschrien und ich dachte schon, dieser Mistkerl sei hier“, gestand er mir und strich mir beruhigend über den Rücken.
Schnell löste ich mich aus dieser unangenehmen Umarmung. Eigentlich sollte ich es nicht unangenehm finden, aber so gut konnte ich Berührungen noch nicht ausstehen.
Aber mein Herz schlug schon ein wenig höher. Als ich ihn genauer betrachtete, fiel mir auf, dass er total süß aussah. Seine Haare standen in allen Richtungen ab und er trug nur eine Boxershort. Wow.
„Es ist alles in Ordnung, nur ein Albtraum“, seufzte ich und fuhr mir durch meine Haare.
„Sehr schlimm?“, fragte er nach und strich mir beiläufig über meine Wange. Kurz zuckte ich zurück und er verstand sofort mein Problem.
„Geht schon, du solltest dich wieder hinlegen“, beruhigte ich ihn.
Dass wir gemeinsam in einem Bett schliefen, war mir gar nicht wirklich aufgefallen. Als ich aus dem Bad kam, schlief ich auch sofort ein und dann musste er sich leise zu mir gelegt haben.
Es hörte wohl nie auf. David suchte mich jetzt sogar in meinen Träumen heim. Ich musste endlich mit dem Kapitel Ex-Freund abschließen. Aber ich glaubte, er würde nie aufgeben.
Wenn ich nicht so psychisch gestört wäre, würde ich mich am liebsten in Kyles Arme werfen, doch immer wieder kam dieser leise Verdacht in mir hoch, dass er nicht der war, der er vorgab.
Und plötzlich fühlte ich mich in dem kleinen Gästezimmer eingeengt und brauchte dringend frische Luft.
Schnell stand ich auf und wollte das Zimmer verließen, als ich bemerkte, dass Kyle mir folgen wollte.
„Ich möchte jetzt gerne alleine sein“, sagte ich zu ihm und verschwand aus dem Raum.
Für mich wäre es viel leichter, wenn ich mit jemanden reden konnte, der so ein ähnliches Problem wie ich besaß. Es wäre definitiv einfacher.
Ich konnte meinen engsten Vertrauten nicht mit meinen Sorgen belasten. Das Gefühl vergewaltigt zu werden, war kein schönes Gefühl. Ich fühlte mich beschmutzt und noch vieles mehr.
Leise tapste ich barfuß die Treppe runter und setzte mich in das Wohnzimmer.
Dort kauerte ich mich zusammengerollt auf das Sofa und schlief weinend ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, kitzelte etwas meine Nase. Irritiert öffnete ich meine Augen und blickte auch sofort in das grinsende Gesicht von Kyle, der mir eine Feder an die Nase hielt.
„Okay? Auch dir einen wunderschönen guten Morgen“, sagte ich ironisch und schob diese dämliche Feder beiseite. Ich wollte nicht wissen, woher er das schon wieder herhatte.
Kopfschüttelnd stand ich auf und lief müde in die Küche. Dort roch ich auch schon Kaffee.
„Deine Mom ist schon zur Arbeit“, informierte mich Kyle, der mir gefolgt sein musste. „Und sie hat frische Brötchen aus irgendeiner Bäckerei geholt.“
Nickend setzte ich mich an den Tisch und fing an mein Frühstück zu zubereiten.
Kyle ließ sich gegenüber von mir auf den Stuhl nieder.
„Letzte Nacht“, fing er an und ich unterbrach ihn auch sofort.
„Nein, ich möchte nicht darüber reden.“
„Aber du musst.“
„Müssen muss man gar nichts“, entgegnete ich scharf und schmierte weiterhin unbeeindruckt mein Brötchen.
„Ich sehe es dir an, wie es dich psychisch auffrisst. Was auch immer dieser Mistkerl dir angetan hat, du musst dir deine Probleme von der Seele reden. Danach wird es dir um einiges besser gehen und vielleicht kannst du dann endlich mit der Sache abschließen.“
Ich ignorierte Kyle, als ich mein Brötchen belegte und aß.
„Sarah?“
Kauend suchte ich nach der Tageszeitung und fand sie direkt neben mir auf einem anderen Stuhl.
„Sarah?“
Es gab mal wieder sehr interessante Themen in der Zeitung. Eigentlich las ich so gut wie nie die Zeitung, aber was soll’s? Kyle ging es nämlich auf die Nerven.
„Sarah?“ Je länger ich ihn ignorierte, desto drohender wurde seine Stimme. „Sarah?“
„Was?“, gab ich genervt zurück und legte die Zeitung beiseite.
„Du kannst mir vertrauen.“
„Ich bin noch nicht bereit darüber zu reden.“
„Ein Kumpel von mir dessen Freundin hatte auch etwas Schlimmes durch gemacht. Seit dem hilft sie anderen Menschen, denen dasselbe wiederfuhr. Vielleicht reicht es einfach nur, wenn du dich mit ihr unterhältst?“
„Ich werde bestimmt nicht meine Probleme einer wildfremden Frau anvertrauen, da kann ich mich ja gleich in die Klapse einweisen lassen“, regte ich mich auf und knallte etwas zu heftig die Kaffeetasse auf den Glastisch.
„Wir können uns ja mal mit ihnen treffen und dann sehen wir weiter“, schlug er einen Kompromiss vor, den ich sofort ablehnte.
Kopfschüttelnd verschränkte ich meine Arme vor die Brust. Nie, nie, nie, nie, nie und nie würde ich damit einverstanden sein. Das konnte mein lieber Freund ganz schnell vergessen.
Wie sollte ich mich einer wildfremden Person anvertrauen, wenn ich es noch nicht mal schaffte, es meiner eigenen Schwester zu erzählen?
Konnte er nicht einfach akzeptieren, dass ich noch nicht soweit war?
Oder verstand er nicht meine Gefühle?
Ich wollte einfach nur meine Ruhe und Gras über die Sache wachsen lassen. Das klappte eh nicht, aber es war ein Versuch wert. Verdrängung war eine optimale Lösung. Irgendwann später würde ich ihnen erzählen, was mir wiederfahren war. Basta!
Und er konnte mich nicht zwingen.
Wieso setzte er sich eigentlich so für mich ein?
Normalerweise sollte ich ihm völlig egal sein, oder nicht?
Solche Jungs wie er, spielten mit anderen, anstatt sich Sorgen um andere Mädchen zu machen!
Also, warum die ganze Mühe? Ich musste ihm egal sein.
Okay, das redete ich mir nur ein, um die Wahrheit zu verdrängen.
Aber trotzdem war es mein Leben!
Und keine dieser Fragen verließen meine Lippen. Keine! Ich habe mal wieder nicht den Mund aufbekommen!
Seit ungefähr zehn Minuten saßen wir schweigend am Tisch. Er schien darüber nachzudenken, wie er mich am besten zu dieser Tussi zerren konnte. Aber nicht mit mir! Niemals!
„Kannst du nicht einfach akzeptieren, wie ich mit der Sache umgehe? Außerdem geht dich der ganze Kram nichts an! Wir kennen uns erst ein paar Tage und normalerweise sollte ich dir völlig egal sein!“, warf ich ihm vor und stand auf. Nervös lief ich in der Küche auf und ab. „Mein Leben geht dich eigentlich nichts an!“
„Ich weiß, aber du tust mir so Leid“, entgegnete er verlegen und ich erstarrte.
Viel lieber hätte ich eine andere Antwort von ihm gehört. Doch diese stimmte mich nur traurig. Ich tat ihm Leid. Pah! Ich tat mir auch Leid!
„Ist das der einzige Grund?“, fragte ich mit erstickter Stimme nach. Dann war ich eine von Hunderten, die ihm wahrscheinlich Leid taten.
„Ja“, antwortete er verwirrt und runzelte dabei die Stirn.
Gut zu wissen!
„Okay.“
„Wie okay? Du stimmst also dem Treffen zu?“, hakte er plötzlich freudig nach.
„Nein!“, kreischte ich schon fast und stürmte aus der Küche.
So, ein Idiot! Was bildete er sich eigentlich ein?
Vielleicht war ich auch nur ein Mittel zum Zweck. Er hatte sich in die Freundin seines Kumpels verliebt und mit mir armes Mädchen würde er diese Tussi beeindrucken, um sie für sich zu gewinnen.
Männer konnten wirklich solche Schweine sein!
Seit dem Frühstück habe ich Kyle nicht mehr gesehen. Es schien so, als wäre vom Erdboden verschluckt worden zu sein.
Seufzend durchsuchte ich das Haus. Er war nirgends zu finden.
Aber als ich plötzlich ein Geräusch von draußen vernahm, zuckte ich sofort zusammen und holte mir einen Regenschirm. Was Besseres fand ich auf die Schnelle nicht!
Einige Sekunden stand ich mucksmäuschenstill im Flur und lauschte. Ein Klirren war zu hören. Etwas muss zu Boden gefallen sein. Wenn das ein Einbrecher war, dann war das auf jeden Fall ein Anfänger!
Einbrecher waren nicht laut – und schon wieder ertönte dieses Geräusch.
Im Haus war niemand, da ich vor ein paar Minuten alle Räume durchsucht hatte.
Merkwürdig. Als ich einige Schritte zur Küche machte, wurden die Geräusche immer lauter.
Es kam aus der Garage? Verwirrt hob ich den Regenschirm und öffnete vorsichtig die Zwischentür.
Mein Herz schlug zu hoch, nach meinem Geschmack.
Hoffentlich hörte man diesen verräterischen Laut nicht?
Als ich die Tür zur Garage öffnete und eintrat, dann hätte ich eine gewisse Person am liebsten zum Mond geschossen!
„Kyle?!“, rief ich entsetzt. „Was machst du da?“
Man, dieser Kerl raubte einem auch noch den letzten Nerv.
Überrascht drehte er sich zu mir um und ich zog erwartend eine Augenbraue hoch.
Sein Gesicht war mit schwarzen Flecken übersät.
„Deine Mom hat mich gebeten nach dem Wagen zu schauen“, antwortete dieser gelassen und rollte einen Reifen zur Seite.
„Aha“, gab ich nur von mir und verschränkte abwesend die Arme vor die Brust.
Er hatte mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Ich war wirklich psychisch am Ende.
„Und was hast du mit dem Regenschirm vor?“, fragte Kyle belustigt nach und grinste spöttisch.
„Du, ich wollte nur den angeblichen Einbrecher vermöbeln.“ Blamiert!
„Wo siehst du denn bitte schön einen Einbrecher?“
„Vor mir“, antwortete ich zu schnell. Verdammt, wieso konnte ich nicht einmal die Klappe halten?
Und da hatte ich auch schon den Salat. Er fing schallend an zu lachen.
„Ja, lach du nur“, sagte ich wütend und senkte den Regenschirm.
„Sorry, war nicht so gemeint“, entschuldigte er sich, aber daraufhin prustete er schon wieder drauf los.
Idiot.
Wütend verließ ich die Garage und knallte die Küchentür hinter mir zu.
„Komm schon, Sarah“, lachte Kyle immer noch. „Tut mir Leid.“
Er holte mich ein und packte mich mit seiner dreckigen Hand am Arm.
Von unten nach oben war er mit schwarzer Farbe - Öl? – befleckt. Ich hatte echt keine Ahnung von Autos und ich nannte jetzt einfach dieses schwarze Zeugs Öl.
„Du hast Farbe im Gesicht, sowie überall“, entgegnete ich nur und fing an zu lachen.
Er sah aber auch nur zu komisch aus. Selbst seine Haare waren davon beschmutzt. Ob er das überhaupt jemals wiederrausbekam? Na ja, nicht mein Problem!
„Kannst du mich jetzt bitte loslassen?“, sagte ich wieder mit einem kleinen Hauch von Panik in der Stimme. Sein Aussehen hatte mich abgelenkt, aber trotzdem wurde es mir ein wenig unangenehm. Sein Griff war zu fest und wieder stiegen mir schreckliche Erinnerungen hoch.
Ich hasste David!
„Oh, Sorry!“
Ich nickte nur und trat einen Schritt zurück, um mehr Freiraum zwischen uns zu bekommen.
„Was auch immer dieser Kerl mit dir getan hat, dafür wird er büßen!“, zischte Kyle und blickte mich mit verschiedenen Gefühlen ein.
„Wieso setzt du dich so für mich ein?“, fragte ich neugierig nach.
„Meine Schwester war mal mit ihm zusammen“, seufzte er und fuhr sich durch seine Haare.
Stopp.
Erstens: Seine Bewegungen sahen total heiß aus.
Zweitens: Was hatte er gerade gesagt? Seine Schwester? – Replay! Lucy hatte mal erwähnt, dass ihre Freundin mal mit David zusammen gewesen sei?!
Mit offenem Mund starrte ich ihn ungläubig an.
„Die Freundin von Lucy“, flüsterte ich unter Schock.
„Von meinem damaligen besten Freund“, beendete er meinen angefangen Satz.
„Was?“, entfuhr es mir auch sofort. Bester Freund? Nein! Nein! Nein!
Kapitel 7
Niemals, wirklich niemals hätte ich gedacht, dass Kyle mit David befreundet gewesen ist.
„Meiner Schwester hat es auch geholfen mit der Freundin meines Kumpels zu reden, deswegen wollte ich, dass du das auch machst“, seufzte er und setzte sich auf den Küchenstuhl, während ich Kaffee kochte, um meine Nerven zu beruhigen. Gerade konnte ich keinen einzigen vernünftigen Gedanken fassen. Sonst dachte ich immer zu viel!
„Habt ihr was gegen ihn unternommen?“, hakte ich nach und überreichte ihm eine dampfende Tasse voller Kaffee.
„Ich habe ihr nicht geglaubt. Er war mein bester Freund. Am Anfang fand ich es natürlich nicht so toll. Großer Brüderinstinkt und zum Schluss wollte ich gar nichts davon hören. Als sie mich am meisten gebraucht hatte, war ich nicht da.“ Er gab sich für das Desaster die Schuld dafür, was seiner Schwester wiederfahren war. „Irgendwann, als es natürlich schon zu spät war, glaubte ich ihr und ich hätte ihn beinahe verprügelt, wenn sie mich nicht davon abgehalten hätte. Wir haben wirklich alles versucht, ihn irgendwie hinter Gittern zu kriegen, aber keine Chance.“
„Und wieso versuchst du dann die ganze Zeit mich zu drängen ihn anzuzeigen?“, fragte ich vorwurfsvoll nach. War doch von Anfang an klar gewesen, diejenigen die Geld hatten, konnten sich alles erlauben.
„Meine Schwester wäre eine weitere Zeugin und dann kriegen wir ihn Hundertpro dran!“, erzählte er mir selbstsicher und ballte seine Hände zu Fäusten.
„Aber trotzdem, ich kann nicht“, seufzte ich und blickte verlegen zu Boden.
„Ich sehe, wie du leidest und deswegen will ich dir helfen!“
Immer wieder schüttelte ich meinen Kopf und knabberte an meiner Unterlippe.
„Lass uns später nochmal darüber sprechen“, versuchte ich ihm auszuweichen und verließ angespannt die Küche.
Im Gästezimmer saß ich nachdenklich auf der Fensterbank und schaute nach Draußen. Vereinzelte Regentropfen rannen an der Fensterscheibe runter. Meinen Kopf lehnte ich dagegen und seufzte tief.
Langsam hob ich meine zittrige Hand und berührte leicht die kalte Scheibe. Meine Fingerspitzen glitten hinunter und ich ballte meine Hand zu einer Faust. Mit 17 war mein Leben noch perfekt gewesen. Noch! Jetzt war es ein einziger Trümmerhaufen. Irgendwie musste ich mein Leben wieder einigermaßen auf die Reihe kriegen, aber wie?
Vielleicht sollte ich es doch versuchen und mit diesem Mädchen darüber sprechen, was mir wiederfahren war. Hin- und hergerissen starrte ich weiterhin aus dem Fenster und beobachtete die Gegend. Das Handyklingeln schreckte mich aus meinen Gedanken. Verwirrt schüttelte ich meinen Kopf und suchte nach meinem Mobiltelefon.
Ich fand es unter der Bettdecke. Merkwürdig, da hatte ich es bestimmt nicht hingelegt.
Verwirrt kräuselte sich meine Stirn und wollte über diese seltsame Situation nachdenken, doch der schrille Klingelton meines Handys holte mich wieder in die Realität.
„Lucy! Hi! Wie geht’s dir? Ja, du mir geht’s bestens. Alles-“, begrüßte ich sie euphorisch und hochübertrieben freundlich. Okay, vielleicht war es ein bisschen zu übertrieben gewesen, aber meine Gründe waren diese:
-Ich hatte keine Lust auf eine Diskussion.
-Nie, wirklich nie hatte ich meine Ruhe!
-Außerdem wollte ich ihr nicht zuhören, besonders nicht, wenn sie wütend war. Und wie sie wütend sein konnte! Furie!
-Ähm, und der letzte Grund – Keine Ahnung!
„Sarah!“, unterbrach sie meinen Redefluss befehlshaberisch.
Ach und der vierte Grund, sie teilte gerne Befehle an andere aus.
Seufzend stellte ich mich auf eine Predigt von ihr ein.
„Du wirst heute Nacht nicht bei Mutter schlafen. Vor allem nicht, wenn Kyle bei dir ist.“
„Eigentlich wollte ich ein paar Tage bei ihr bleiben…“
„Das kommt nicht in Frage! Sag mal, ihr schlaft doch sicherlich in getrennten Zimmern?!“, erkundigte sie sich hysterisch und achtete bestimmt darauf, dass ich nicht log.
„Nein, natürlich nicht!“ Doch, klar! Wir schliefen sogar in einem Bett – aber das brauchte sie nicht wissen. Sie würde uns den Kopf abreisen, wenn sie dies erfuhr.
„Sarah?“
„Lucy?“, entgegnete ich unschuldig.
„Er hat dich nicht angefasst?“, hakte sie noch einmal nach.
„Nein“, seufzte ich und ließ mich auf das Bett plumpsen.
„Und Mom – wie geht es ihr?“ Besaß sie gerade ein schlechtes Gewissen?
„Ich denke, ihr geht es bestens“, antwortete ich ehrlich und war ehrlich überrascht, dass sie nach Mom fragte.
Mom und Lucy waren nicht gerade die aller besten Freunde. Das Mutter-Tochter-Verhältnis gab’s erst gar nicht. Irgendwann hatten die beiden sich mal gestritten. Es ging wahrscheinlich um den Auszug von Lucy, aber sicher war ich mir nicht. Unsere Mutter hat die Trennung zu Dad noch nicht überwunden. Bei mir war das Alles ganz anders gewesen. Ich hatte ihr versprochen sie zu besuchen, aber bei Lucy war es endgültig.
Stille. Niemand sagte mehr etwas.
„Lucy, mach dir nicht so viele Sorgen“, versuchte ich meine Schwester ein wenig zu beruhigen. „Ich muss jetzt auch auflegen. Bye.“
Ohne, dass sie antworten konnte, legte ich auf.
„Wir sollten wirklich zurückfahren, dann beruhigt sich Lucy auch wieder“, schlug Kyle am Nachmittag vor, als er mit dem Auto meiner Mom fertig war.
„Unter einer Bedingung“, entgegnete ich und verschränkte meine Arme vor der Brust.
„Die wäre?“
„Wir fahren zuerst zu dem nächstbesten Supermarkt“, antwortete ich lächelnd.
„Na gut“, seufzte er und verdrehte genervt seine Augen.
Meiner Mom gab ich per Handy Bescheid, dass wir wieder gefahren sind. Das war zwar kein ansehnlicher Abschied, aber schließlich war das ja nicht so, als ob wir uns nie wiedersehen würden.
Um wieder in die Stadt zu gelangen, brauchten wir mit dem Auto circa zwei Stunden, da meine Mom ziemlich abgelegen wohnte. Auf der Fahrt sprach niemand ein Wort. Ich war noch ein bisschen auf Kyle sauer. Man könnte meinen, er würde mich bitten mit einer Psychologin zu sprechen. Das nagte sehr an mir. Es fühlte sich so an, als dachte er, ich wäre eine Irre.
Seufzend sah ich aus dem Fenster. Das Wetter blieb immer noch trüb, trist, regnerisch und grau. Der Tag wäre eigentlich recht gut angefangen, wenn die Sonne geblieben wäre.
Ich war froh wieder einen läufigen Kontakt zu meiner Schwester zu haben. In den letzten Jahren hat sie mir am meisten gefehlt. Ich konnte mich noch daran erinnern, als wir klein waren, spielten wir gerne zusammen im Sandkasten oder auf dem Spielplatz. Diese Zeit der Ruhe und Glückseligkeit hielt leider nicht lange an.
Aber Lucy hatte mir nie etwas davon erzählt, dass Tess dasselbe erlitt wie ich. Sie warnte mich nur vor David. Wieso hatte sie nichts gegen diese Beziehung zwischen ihm und mir unternommen?
Wenn sie einen Keil zwischen uns getrieben hätte, dann wäre es soweit erst gar nicht gekommen.
Doch in der damaligen Zeit war ich ja Blind vor Liebe. Eventuell hätte ich nie wieder ein Wort mit meiner Schwester gesprochen, wenn sie so etwas getan hätte.
Ohne dass ich es mitbekam, standen wir auch schon auf dem Parkplatz.
„Wir sind da“, teilte Kyle mir mit und steckte seinen Autoschlüssel in die Jackentasche.
Nickend öffnete ich die Tür und sofort klatschte mir der Regen ins Gesicht.
„Scheiß Wetter“, fluchte ich vor mich hin und plötzlich hatte es aufgehört zu regnen.
Als ich nach oben blickte, sah ich einen Regenschirm über meinen Kopf und lächelte Kyle verwundert an. Es gab also doch noch Gentlemans.
Gemeinsam liefen wir zum Eingang des Supermarktes. Natürlich hielt ich den Abstand zu ihm und heute war es auch das erste Mal, dass ich mich mit mehreren Menschen in einem größeren Raum aufhielt. Geheuer war mir dies nicht, aber ich schluckte meine Angst hinunter. Schließlich konnte ich mich für den Rest meines Lebens nicht vor den Menschen verstecken. Total absurd. Je eher ich mich daran gewöhnte, desto schneller war ich meine Phobie los.
Über dem Ein- und Ausgang standen grüne, dimensionale, große Buchstaben „ASDA“.
Kyle besorgte uns einen Einkaufswagen und wir mischten uns unter die Leute.
Krampfhaft versuchte ich mich den Menschen nicht zu nähern und war froh darüber, als wir in einen leeren Gang einbogen.
„Entspann dich“, beruhigte mich Kyle und packte zwei große Sixpack Wasserflaschen und eine Kiste Bier in den Einkaufswagen. Doch während er beschäftigt war, trat ich nervös von dem einen auf den anderen Fuß. Meine Hände hatte ich in der Jackentasche versteckt. Gerade wollten wir weiter gehen, da sah ich plötzlich etwas Schwarzes, Verschwommenes gesehen. Es war zu schnell passiert, sodass ich es nicht genau definieren konnte.
Ungläubig über mich selbst schüttelte ich meinen Kopf und erzählte Kyle erst einmal nichts davon. Er hielt mich ja jetzt schon verrückt. Früher hatte ich auf jeden Fall zu viele Horrorfilme gesehen und durch den ganzen Druck, den David verursacht, machte es die ganze Situation nicht leichter.
Kyle schob den Einkaufswagen in den nächsten Gang und ich lief ihm völlig in Gedanken hinterher. Ich war sowas psychisch von nicht anwesend, sodass ich in ihn reinlief, als er urplötzlich stehen blieb.
„Was ist los?“, fragte ich verwirrt und blickte mich um. Am Eingang erhaschte ich einen Blick auf einen Mann mit einer schwarzen Kapuze. Diese verbarg sein Gesicht. Bei diesem Anblick fröstelte ich und wandte meine ganze Aufmerksamkeit wieder Kyle zu.
„Ach, nichts“, antwortete Kyle abwesend und griff nach ein paar Bananen.
Irgendwie hatte ich plötzlich ein total komisches Gefühl. Je länger wir uns in diesem Supermarkt aufhielten, desto stärker wurde dieses Gefühl.
Okay, ich war jetzt auf jeden Fall paranoid!
Kurz holte ich tief Luft und verscheuchte diese Ängste, Gefühle und schreckliche Gedanken.
„Also, was brauchen wir noch?“, fragte Kyle und holte mich mal wieder in die Realität.
„Auf keinen Fall Pizza“, entgegnete ich ernst und holte Tortellini, Spaghetti, Gemüse und einiges anderes.
Eigentlich war der Einkauf ganz witzig, nur dass dieses komische Gefühl einfach nicht verschwand, war ich sehr angespannt. Kyle schien von alldem nichts mitzukriegen.
Als wir uns für einen Moment trennten, wurde das Gefühl stärker. Ich stand vor der Tiefkühltruhe – alleine! Obwohl der Supermarkt rappelvoll war, war ich die einzige Kundin bei den Tiefkühltruhen. Kyle wollte sich die neuste DVD holen, nur was es war, wollte er mir nicht verraten.
Gedankenverloren, welches Filet ich nehmen sollte, bemerkte ich am Rande eine Bewegung.
Erschrocken drehte ich mich um und erschrak mich fast zu Tode, als Kyle etwas in den Einkaufswagen legen wollte. Er sah mich fragend an und zog verwirrt eine Augenbraue hoch. Noch ein weiterer Grund mich für eine Irre zu halten.
Ich war mit den Nerven völlig am Ende!
Zum Glück frage Kyle nicht mehr weiter, da er zu bemerken schien, dass es für mich unangenehm war.
Für einen Augenblick habe ich wirklich gedacht, dass David mich verfolgte und mich mit einem Messer abstechen wollte. Vorstellen konnte ich mir das ziemlich gut. Jetzt würde ich mich freiwillig in die Klapse einweisen lassen. Zähneknirschend nahm ich irgendeine Filetpackung und legte sie in den Einkaufswagen. David brachte mich echt im negativen Sinne um den Verstand!
Gelassen und leise pfeifend lief Kyle schräg vor mir und fühlte sich momentan total cool. Macho.
Als wir an eine Gruppe junger Mädchen vorbeikamen, drehte diese vollkommen am Rad. Aufgeregt tuschelten sie miteinander und spießten Kyle förmlich mit ihren Augen auf im perversen Sinne. Da wollte ich jetzt nicht weiter drauf eingehen. Doch Kyle, der Sunny-Boy wäre kein Macho, wenn er ihnen nicht seine Aufmerksamkeit schenken würde. Er musste eine Geste gemacht haben, denn die Mädels kreischten aufgeregt. Die würden sicherlich gleich in Ohnmacht fallen.
Abschätzig musterte ich die Gruppe.
Oh, Gott. Ich war nicht eifersüchtig. Aber wieso war ich gerade total eifersüchtig?!
Schnell unterdrückte ich diese Eifersucht.
Seufzend senkte ich meinen Blick und dieser fiel auf die DVD. Die Rückseite zeigte nach oben. Nervös knabberte ich auf meiner Lippe rum. Sollte ich schauen, was es für eine Art von DVD war?
Ich war einfach zu neugierig und drehte es um. Oh, mein Gott. Ich traute meinen Augen nicht. Er wollte sich einen Porno kaufen?
Plötzlich hörte ich hinter mir ein schnelles Klicken. Als ich mich auch noch umdrehte, sah ich einen Blitz von einer Kamera?
Verwirrt blinzelte ich in die Richtung, doch es war niemand zu sehen. Kurz schüttelte ich meinen Kopf und ging mit Kyle in die Cornflakes-Abteilung.
Dort standen wir etwas länger, da er sich nicht entscheiden konnte. Gelangweilt starrte ich Löcher in die Luft.
Dieser merkwürdige Mann mit der Kapuze und nur in Schwarz gekleidet, den ich am Eingang gesehen habe, ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Er jagte mir ein Heiden Angst ein. Und dann das Klicken einer Kamera –irgendwer machte Fotos von mir! Aber vielleicht irrte ich mich auch und ein Mitarbeiter des Supermarktes musste ein paar Regale ablichten, die zufällig in meiner Richtung standen.
Kyle war so vertieft nach der Suche nach der perfekten Cornflakes-Packung, da ließ ich ihn alleine im Gang stehen und versuchte herauszufinden, ob der Kerl hinter mir her war.
Vereinzelte Menschen schlenderten fröhlich und gelassen durch die Gänge.
Meine Panik schluckte ich hinunter und betrat eine menschenleere Abteilung. Hinter mir raschelte es und – ein Knall! Panisch drehte ich mich um und sah, dass nur eine Packung hinunter gefallen ist.
Aber wie?
Definitiv war ich ab jetzt nicht mehr alleine. Hoffentlich spielte mir Kyle keinen dämlichen Streit.
„Entschuldigung?“, krächzte jemand höflich neben mir.
Erschrocken wandte ich mich der Person zu und konnte den Schrei, der mir die Kehle hochkroch, unterdrücken. Eine etwas ältere Dame stand vor mir. Mir war gerade ein großer Stein vom Herzen gefallen. Diese Frau hatte mir eine höllische Angst eingejagt. Ich dachte schon, David wäre hier und würde mir auflauern.
„Wissen Sie, wo ich die Süßigkeiten finde kann?“, fragte sie weiter und bemerkte anscheinend mein panisches Gesicht nicht.
„Äh“, brachte ich nur zu Stande. Ich war gerade voll überfordert. „Zweiter Gang links.“
„Danke.“
„Keine Ursache“, flüsterte ich und legte mir eine Hand auf die Brust. David war nicht hier. Ich musste mir das alles eingebildet haben. Tief durchgeatmet machte ich mich auf die Suche nach Kyle, doch plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Stocksteif blieb ich stehen und atmete hektisch ein und aus. Oh, Gott. Das war’s jetzt!
„Lange nicht gesehen, Sarah“, hörte ich seine Stimme. Seine Stimme! David! Panisch versuchte ich erst einmal meine Gedanken zu ordnen und zu planen, was ich als nächstes tun sollte.
Ein Tritt in seine Weichteile würde ihn außer Gefecht setzen, aber ob das noch ein zweites Mal klappte? Bestimmt war er darauf vorbereitet. Verdammt, er hatte mich auch genau in dem Moment abgepasst, wo ich ganz alleine war. Wieso bin ich nicht einfach bei Kyle geblieben?
Er könnte sich wenigstens gegen David zur Wehr setzen. Und ich? Ich konnte gar nichts ausrichten, außer zu schreien.
Als hätte mein Ex-Freund meine Gedanken gelesen, spürte ich plötzlich in meinem Rücken etwas Spitzes. Er hatte ein Messer und wollte mich mitten in der Öffentlichkeit umbringen!
„Was willst du?“ Meine Stimme zitterte vor Angst und die Tränen traten auch schon hervor.
„Dich zurückholen“, antworte er fröhlich, als wäre nichts passiert.
„Das kannst du vergessen“, zischte ich. Daraufhin lachte er nur.
„Du kommst jetzt ohne Meckern mit. Wenn nicht-“, brach er ab und drückte die Messerspitze stärker in meinen Rücken. Etwas Flüssiges lief meine Haut hinab und ließ mich frösteln. Das war doch nicht etwa Blut? Den Schmerzensschrei musste ich unterdrücken und schluchzte leise.
Wieso kam mir denn keiner zur Hilfe? Der Supermarkt musste doch voll von Überwachungskameras sein?!
Zögernd lief ich vor, während mich David weiter drängte schneller zu laufen.
„Sarah?!“, rief jemand von weitem nach mir. Kyle!
„Kyle! Hilf mir!“, schrie ich schnell und schöpfte Hoffnungen!
Ich hörte die herbeieilenden Schritte von ihm und wurde von David durch die Gänge gezerrt. Jetzt fragte ich mich wirklich, ob es überhaupt Überwachungskameras gab!
Oder er hatte die Angestellten mit seinem Geld bestochen, damit er tun und lassen konnte, was er wollte und dazu gab es nicht einmal Zeugen!
Plötzlich ließ mich David los und ging mit seinem Messer auf Kyle los. Er schien überhaupt keine Angst zu haben, vielleicht gleich abgestochen zu werden. Dann grinste er meinen Ex-Freund auch noch so herausfordernd an, da würde selbst ich ihm einen Kinnhaken verpassen.
„Anscheinend hast du’s beim letzten Mal nicht verstanden. Soll ich dich jetzt Krankenhausreif schlagen?“, provozierte Kyle ihn auch noch und dabei grinste er auch noch ununterbrochen.
Innerlich wünschte ich mir, Kyle würde seine Klappe halten und nichts Unvernünftiges tun. Wie ich David kannte, ließ er sich ziemlich leicht provozieren und anscheinend war das für den Macho sein Ziel. Wie konnte man bloß nur so verantwortungslos handeln?
„Außerdem behandelt man so keine Mädchen“, fügte Kyle noch hinzu und trat einen Schritt näher auf David zu. Sie standen sich jetzt ziemlich nah gegenüber und wenn sie sich nicht gerade prügeln wollten, könnte man meinen, dass die beiden Schwul wären.
Macho musste noch etwas zu meinem Ex-Freund gesagt haben, was ich nicht verstand, denn David verpasste ihm plötzlich einen Kinnhaken.
Lachend stand Kyle noch auf derselben Stelle, fasste aber an seine Nase. Wie krank konnte man eigentlich sein und ich dachte schon, ich wäre psychisch krank.
Auf einmal rannte David auf ihn zu und die beiden krachten in das Regal. Die Lebensmittelpackungen zerplatzten und wichen in allen Ecken zurück.
Mein Ex behielt momentan die Oberhand. Er saß auf Kyle drauf und schlug immer wieder auf ihn ein.
Ohne zu überlegen rannte ich zu ihnen und versuchte David von ihm runter zu zerren, doch mein Ex schlug mich einfach beiseite, als wäre ich nur eine lästige Fliege und prallte auf dem Boden auf. Mein Kopf schlug ziemlich hart auf, denn auf einmal nahm ich alles nur noch verschwommen wahr.
Schnell blinzelte ich es weg und sah, wie David mit wütenden Schritten auf mich zukam. Schreiend robbte ich auf meinem Hintern Rückwerts, doch er zerrte mich auf die Beine und schlug mir ins Gesicht.
Wo waren diese verdammten Leute geblieben? Hatte er ihnen Geld gegeben, damit er hier ungestört seine Arbeit erledigen konnte?
Doch das einzige, was ich vernahm, war, das Dudeln aus den Lautsprechern.
Meine Nase pochte und das Blut lief mir über meine Lippen. Der Arm, den David mir schon verletzt hatte, schmerzte wieder.
„Hey!“, rief Kyle entrüstet und wischte sich mit dem Ärmel über seine Lippen. „So behandelt man wirklich keine Frauen!“
Wackelig stand er auf und kam auf uns zu. Er zerrte mich von David weg und stellte sich schützend vor mich.
Zitternd sah ich ihn ängstlich an.
Kyle schob ich mich immer weiter nach hinten und plötzlich stürzte er sich auf David.
„Lauf, Sarah!“, schrie er mir noch zu, doch ich konnte mich einfach nicht von der Stelle bewegen.
Momentan behielt er noch die Oberhand über meinen Ex.
Wo war eigentlich dieses verdammte Messer abgeblieben? Eigentlich war es gut, dass es verschwunden war, da ich gerade auf dumme Gedanken kam. Und mit den Lebensmitteln konnte man kaum etwas ausrichten. Oh, ja. Wenn ich mit einer Wurstpackung auf David einschlagen würde, würde er garantiert schreiend davon laufen. Wohl eher mich auslachen!
Kyle musste David so heftig zusammen geschlagen haben, da dieser sich nicht mehr rührte. Er lag tot auf dem Boden eines Supermarktes.
Ich schluckte. Eigentlich sollte ich mich mit dem Gedanken anfreunden, wenn David tot wäre. Mein Leben verlief bestimmt anders, ohne mit der Gewissheit, dass ein kranker Typ hinter mir her war.
Ohne zu überlegen, griff Kyle meine Hand und zerrte mich aus dem Supermarkt. In diesem Moment war es mir egal, ob wir uns berührten. Ich war zu geschockt. Aber mir wäre es doch liebe gewesen, wenn ich alleine laufen könnte. Man fühlte sich wie ein kleines Kind. Ob ich überhaupt in der Lage gewesen wäre zu laufen, war wieder eine ganz andere Sache.
Hektisch rannten wir über den Parkplatz zu seinem Auto. Der Parkplatz war überfüllt mit Autos, aber wo blieben die Menschen. Von einem auf dem anderen Moment konnte sich die Stadt doch nicht in eine Geisterstadt verwandeln? Als wir durch den Supermarkt gerannt sind, begegneten wir keiner einzigen Menschenseele. Ein mulmiges Gefühl machte sich bei mir breit, das bis jetzt immer noch anhielt. Kyle schubste mich förmlich auf den Beifahrersitz, um dann mit quietschenden Reifen vom Parkplatz zu fahren.
Plötzlich stand eine schwarze Gestalt auf der Straße und dieser Idiot neben mir gab noch mehr Gas. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese schwarze Person David war.
„Oh, Gott. Du kannst ihn doch nicht einfach überfahren!“, schrie ich Kyle panisch an und krallte mich in den Sitz.
Eben im Supermarkt lag David bewusstlos – fast tot – auf dem Boden zusammen geschlagen und gerade stand er gesund und munter hier vor uns und wollte sich anscheinend überfahren lassen, denn Kyle trat nicht vom Gaspedal.
„Dann sind wir ihn wenigstens los!“, entgegnete er gelassen und schaltete in einen anderen Gang.
Doch seine Gelassenheit war nur Schein. Ich sah seine Anspannung. Seine Sehnen stachen deutlich am Hals und an seinen Armen hervor. Er wollte mir keine Angst machen, deswegen zeigte er sich so gelassen. Doch es schockierte mich etwas, dass er David skrupellos überfahren wollte. Das machte mir Angst. „Verdammter Mistkerl!“
Und dann prallte auch schon Davids Körper auf die Motorhaube des Sportwagens. Einen schrillen Schrei von mir konnte ich nicht unterdrücken.
Kyle trat auf die Bremse und der Wagen kam ruckartig zum Stehen. Stille. Eine unheimliche Stille herrschte hier im Moment. Nur unser hektischer Atem war zu hören.
„Glaubst du, er ist tot?“, fragte ich mit bebender Stimme und drehte mich nach hinten um.
„Weiß ich nicht“, flüsterte er angespannt und suchte auch eine auf dem Boden liegende Person.
Plötzlich zerrte jemand an der Beifahrertür und ich schrie wie am Spieß. Zum Glück war die Tür abgeschlossen. Das Auto schloss, wenn es fuhr, die Türen automatisch ab.
„Fahr!“, schrie ich Kyle an und dieser zögerte nicht lange, sondern trat auf das Gaspedal.
Gerade als wir vom Parkplatz fuhren, blickte ich nochmal zurück und sah, wie David mir leicht zu wank. Wahrscheinlich mit einem gehässigen Grinsen im Gesicht.
Erschöpft sank ich auf den Sitz zusammen und krallte meine Finger in meine Hose.
Mein Körper zitterte wie Espenlaub und jeden Moment könnte ich heulend zusammen brechen.
Kapitel 8
„Fuck!“, fluchte Kyle und trat gegen das Sofa, auf dem Lucy und ich Platz genommen hatten.
„Jetzt beruhige dich, Kyle“, versuchte Ethan ihn zu beruhigen, was nur für einige Sekunden klappte. Deswegen bugsierte Lucys Freund ihn zu dem Sessel. Damit Kyle uns nicht alle mit seinem Gezappel nervös machte.
Den Einkaufswagen hatte er im Supermarkt stehen gelassen, da er sich auf die Suche nach mir gemacht hatte. Er erzählte auch, dass es fast unheimlich dort war, weil sich fast kein einziger Mensch mehr in dem Laden aufhielt.
David machte mir eine Heiden Angst. Sollte ich mich mein ganzes Leben vor ihm verstecken?
„Ich will ihn anzeigen“, sagte ich entschlossen und kaute nervös auf meiner Lippe.
„Bist du dir ganz sicher, Sarah“, hakte meine Schwester noch einmal nach. „Du wirst auch keinen Rückzieher machen?“
Fest entschlossen schüttelte ich meinen Kopf. Aber das war genau der springende Punkt. David war meine erste große Liebe und – wieso zögerte ich plötzlich? Ich habe ihn wirklich geliebt und das war auch der Grund, wenn ich wahrscheinlich einen Rückzieher machte mit der Anzeige. Doch ich wollte mein Leben selbst wieder in die Hand nehmen. Ich war selbstbewusst und stark. Das musste ich mir jetzt öfters einreden, damit David mich nicht klein kriegen konnte. Er musste einfach seine Strafe dafür kriegen, was er mir angetan hatte.
„Dann gehen wir morgen zur Polizei“, beendete Ethan die Diskussion und verschwand in der Küche mit Lucy zusammen.
Erschöpfte lehnte ich meinen Kopf auf die Lehne und starrte nachdenklich an die Decke.
Dieser Beschluss war richtig, doch irgendwie keimte in mir ein schlechtes Gewissen auf.
Vielleicht sollte ich nach der Anzeige mal mit ihm vernünftig reden, denn vor einem Gericht aussagen zu müssen, wollte ich nicht drauf ankommen lassen. Aber ich rechnete damit.
Es war das Richtige – basta!
„Und du willst das wirklich durchziehen?“, hörte ich Kyles skeptische Stimme. Er schien es mir nicht abzukaufen, dass ich David wirklich anzeigen wollte.
„Ja“, antwortete ich etwas unsicher, zu unsicher für seinen Geschmack.
„Das packst du nicht“, stellte er fest und verschränkte seine Arme hinter seinen Kopf und blickte mich merkwürdig an.
„Wieso sollte ich das nicht packen?“
„Du liebst ihn noch“, entgegnete er nüchtern. Seine Stimme und Antwort erschraken mich. Diese Gleichgültigkeit von ihm versetzte mir einen Stich.
„Nein“, antwortete ich stotternd. „Nein, wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Das sieht sogar ein Blinder mit Krückstock!“, entgegnete er spöttisch, stand auf und verließ das Wohnzimmer.
Verwirrt blickte ich ihm hinter her. David war meine erste, große Liebe!
Am nächsten Tag begleiteten Ethan und Lucy mich zur Polizei. Dort erzählte ich den Cops alles, was mir passiert ist. Als wir die Polizeistation betraten, besaß ich schon ein mulmiges Gefühl. Aber als ich vor dem Cop saß und die ganze Geschichte erzählte, fühlte ich mich befreiend. Es war auch ziemlich unangenehm einer fremden Person zu erzählen, dass man vergewaltigt wurde. Lucy und Ethan mussten draußen vor dem Raum warten. Irgendwann, wenn ich soweit war, würde ich es ihnen auch sagen, doch noch nicht jetzt.
Danach gingen wir noch ein Eis essen, um mich auf andere Gedanken zu bringen.
Der erste Schritt war getan in ein sorgenfreies Leben.
Lucy und Ethan unterhielten sich angeregt, während ich stumm meinen Gedanken nachhing.
Kyle wollte nicht mitkommen. Ich verstand nicht, was sein Problem war. Seit dem Vorfall im Supermarkt sprach er nicht mehr mit mir und ignorierte mich. Was hatte ich ihm nur getan?
An dieser ganzen Situation war ich überhaupt nicht Schuld – sondern David! Was war nur sein Problem?
Gedankenverloren schob ich mir immer wieder den Löffel mit dem köstlichen Eis in meinem Mund.
Später ging ich noch auf die Toilette – allein. Lucy wollte mich zwar begleiten, aber ich war kein kleines Kind mehr.
Es war schon unheimlich, alleine zu sein – mit dem Wissen, dass mir David auflauern könnte.
Als ich fertig war, wusch ich mir noch ausgiebig die Hände und trocknete sie mir ab. Danach betrachte ich mich im Spiegel. Meine Schminke war nicht verwischt, aber meine Augen drückten so viele Emotionen aus. Es fröstelte mich ein wenig meine eigenen Augen anzuschauen. Doch plötzlich sah ich etwas Schwarzes im Spiegel, aber als ich mich umdrehte, war da nichts.
„Hallo?“, rief ich ängstlich auf der Toilette. Nichts. Alles war still.
Seufzend wandte ich mich dem Ausgang zu, als auf einmal etwas in einer Kabine runterfiel.
„Ist da jemand? Hallo?!“, versuchte ich es nochmal und sah in jeder einzelnen Toilettenkabine nach. Und wie beim ersten Mal bekam ich auch jetzt keine Antwort.
Als ich in der Dritten nachgucken wollte, war diese verschlossen. Merkwürdig. Ich habe keinen ein- und ausgehen sehen. Vorhin waren auch alle Türen auf.
Um mich zu versichern, dass da auch wirklich niemand war, kniete ich mich auf den Boden und sah unter der Tür hindurch. Niemand. Es war nichts zu sehen.
Schnell stand ich auf und verließ das Klo. Mein Herz pochte mir bis zum Halse. Dort drin hatte ich so eine heftige Todesangst gespürt – man, ich fühlte mich wie in einem Horrorfilm.
„Du siehst so blass aus“, teilte mir meine Schwester mit, als ich mich etwas unschicklich auf den Stuhl setzte.
„Ja? Ich fühle mich auch nichts so gut“, log ich sie teilweise an.
Ethan bedachte mich mit einem skeptischen Blick.
„Können wir gehen?“, fragte ich hoffnungsvoll nach.
Die beiden nickten und Ethan bezahlte den Kellner.
Als wir später das Eiscafé verließen, sah ich mich in der Gegend um. Ich wurde dieses Gefühl nicht los, dass wir verfolgt wurden. Und dann sah ich ihn, versteckt in der hintersten Ecke – David!
Den restlichen Tag verbrachten wir zu Hause. Kyle war mit seinen Kumpels unterwegs, um irgendwelche Weiber abzuschleppen. Ethan mochte es nicht, wenn er immer zu viele fremde Mädchen hierher brachte.
Ich konnte mich schon mal darauf einstellen mit dem Ipod in den Ohren schlafen zu gehen.
Ethan, Lucy und ich saßen zum Abendessen gemeinsam in der Küche. Wie immer gab es Pizza, aber ich hatte mir für heute nur einen Salat bestellt.
Ziemlich spät am Abend klingelte noch das Telefon. Wir wunderten uns alle, wer noch um diese Uhrzeit anrief. Lucy hatte das Gespräch angenommen und ihr Gesichtsausdruck verriet nichts Gutes!
Nach fünf Minuten legte sie auf und kam geschockt zu uns.
„Was ist los? Wer war das?“, fragte ich angespannt und musterte sie skeptisch.
„Das war der Cop von heute morgen“, antwortete sie automatisch.
„Und was wollte er? Muss man dir immer alles aus der Nase ziehen?“, fragte ich genervt und zappelte nervös rum.
„Wir können David nicht anzeigen, weil es keinen David gibt“, sagte sie geschockt und ließ sich auf den Stuhl plumpsen.
„Bitte was?!“, riefen Ethan und ich gleichzeitig!
„Es gibt ihn nicht, als sei er nie geboren worden“, redete sie erstarrt weiter.
„Das kann nicht sein“, flüsterte ich. „Morgen gehen wir zu seinem Appartement und lassen es uns bestätigen. Dann kann ich mir auch gleich meine Sachen zurückholen.“
Fassungslos starrte ich auf die Tischplatte. Wie konnte das möglich sein?
Der Mann von der Rezeption begrüßte ihn immer mit seinen Nachnamen. Also war er gar nicht so unbekannt. Aber wie schaffte er es nirgendswo eingetragen zu sein?
Was war mit seinem besten Freund? Eventuell half er ihm auch noch Davids Identität zu vertuschen! Warum half er ihm dabei? Beide machten sich nur strafbar.
Es war so kompliziert. Von diesen Sorgen und der Druck platzte mir mein Kopf.
Stolpernd stand ich auf, verließ wie in Trance die Küche und ging in mein Zimmer.
Dort stand ich einige Minuten lange in der Mitte des Raumes. Verzweifelt blieb ich wie angewurzelt auf der Stelle stehen. Wenige Sekunden später brach ich heulend zusammen.
Heute Morgen besaß ich noch so ein Glücksgefühl endlich ein Leben ohne David führen zu können. Aber da er anscheinend nicht existiert, mich aber trotzdem noch verfolgt, war das absolut gar keine traumhafte Zukunft. Mit diesem ganzen hin und her machte er mich verrückt. Ich war ja jetzt schon psychisch labil. Es war wie ein Katz- und Mausspiel, dass er gewann.
Plötzlich vernahm ich von draußen ein Geräusch.
„Das war bestimmt nur eine Katze“, redete ich mir immer wieder ein und blickte nach Draußen.
Durch die Dunkelheit konnte man nichts erkennen, doch dann ging das Licht automatisch an. Die Lampe besaß einen Bewegungsmelder und im Schatten bemerkte ich eine etwas größere Gestalt. Das war jetzt definitiv keine Katze mehr.
Um mich von dem Umstand selbst zu überzeugen, verließ ich mein Zimmer und rannte förmlich aus dem Haus. Die Haustür lehnte ich nur ein Stück an, da ich keinen Hausschlüssel mitgenommen hatte
Nur das Knirschen meiner Schuhe war zu hören und sonst war es ganz ruhig. Ein Rascheln auf der gegenüberliegenden Seite ließ mich aufhorchen. Misstrauisch und mit einem Quäntchen Panik verließ ich langsam das Grundstück.
Als ich vor dem Gebüsch ankam und plötzlich sprang eine Katze aus dem Busch.
Den Schrei, der mir auf meiner Zunge lag, unterdrückte ich schleunigst.
Man, dieses Vieh jagte mir eine tierische Angst ein.
Und als mir dann auch noch jemand auf die Schulter tippte, gab es mir den Rest.
„David!“, kreischte ich, doch bevor meine Geschreie Alarmschlagen würde, hielt er mir den Mund zu.
„Du solltest deine Klappe halten, wenn du nicht willst, dass Jay deine Schwester und ihren Freund umbringt“, drohte er mir. „Ich nehme jetzt meine Hand von deinem Mund und ich möchte keinen Ton hören.“
Einverstanden nickte ich und ballte wütend meine Hände zu Fäusten.
Wie leichtsinnig war ich eigentlich. Wieso habe ich den beiden nicht Bescheid gegeben, dass ich draußen was gesehen habe?
Wie doof konnte man eigentlich sein?
„Du warst schon immer neugierig“, lächelte er süffisant. Er hatte mich ausgetrickst!
„Du Mistkerl“, zischte ich und war fast den Tränen nahe.
Am liebsten würde ich ihm in seine grinsende Visage schlagen.
Grob packte er mein Handgelenk und zerrte mich zu einem abgelegenen Wagen.
Vergebens versuchte ich mich ihm zur Wehr zu setzen, aber ohne Erfolg – wie immer.
Er schubste mich auf die hinteren Sitze, als wäre ich eine Fliege!
Panisch zerrte ich am Türgriff, doch die Türen waren verschlossen und schon setzte sich David zu mir nach hinten. Während sein Kumpel vorne einstieg und mit quietschenden Reifen davon fuhr.
„Lass mich gehen!“, rief ich verzweifelt und unterdrückte die Tränen. Vor ihm wollte ich stark sein und nicht schwach.
„Nein“, antwortete er amüsiert und rutschte näher zu mir. Ich wich bis zum letzten Fleck zur Tür zurück, aber er folgte mir, legte mir seinen Arm um die Schulter und mit der anderen Hand streichelte er mir die Wange.
„Du wirst nicht so leicht davon kommen!“, zischte ich und drehte meinen Kopf zur Seite, damit er meine Haut nicht mehr berührte. Diese Berührung widerte mich an und ich zitterte am ganzen Körper.
Wütend knirschte ich mit den Zähnen und sah nach draußen. Durch die Dunkelheit sah man keine genaueren Einzelheiten, wohin wir fuhren. Ich konnte nur vereinzelte Bäume erkennen, mehr aber auch nicht.
Sie brachten mich aus der Stadt, weit weg von meiner Schwester und den anderen.
„Wohin bringt ihr mich?“, fragte ich verzweifelt und versuchte mich aus der Umklammerung von David zu befreien.
„Ich habe dich so sehr vermisst“, flüsterte er mir in mein Ohr und sein Atem verursachte eine leichte Gänsehaut auf meinem Körper.
„Ich habe dich etwas gefragt!“
„Na, na, na. Nicht so zickig“, tadelte er mich und strich mir schon wieder über meine Wange.
„Lass das! Lass endlich deine dreckigen Pfoten von mir!“, schrie ich aufgebracht.
Jay schüttelte nur seinen Kopf und drückte vorne auf irgendeinen Knopf.
Plötzlich fuhr so eine Art dunkle Scheibe hoch und teilte den hinteren und vorderen Bereich.
Jetzt war ich ganz alleine mit David.
Erschrocken und angewidert blickte ich ihn an. In seinen Augen glühte dieses Verlangen – nach mir?!
Ein ziemlich dreckiges Grinsen umspielte seine Lippen.
Er hatte doch nicht jetzt vor mich… Ich konnte und wollte nicht meinen Gedanken zu Ende führen.
David nahm seinen Arm von der Lehne und mit diesem strich er über meine entblößte Haut.
Leider trug ich nur ein T-Shirt.
Bei seiner Berührung kribbelte alles und ich wollte nur noch weg.
Automatisch entzog ich ihm meinen Arm, was ihn wütend machte.
Er wollte sich auf mich stürzen, doch ich schubste ihn von mir und kratzte ihm seine Wange auf.
Geschockt, dass ich zu so etwas fähig war, blickte er mich wütend an und packte mich grob an der Hüfte und drängte mich gegen die Autotür.
„Nein!“, schrie ich immer wieder, doch was half das schon?
Jay würde amüsiert mit ansehen, wenn David mich vergewaltigte und es sogar auch noch selbst tat. Auf seine Hilfe konnte ich glatt verzichten. Und sonst gab es keine einzige Person, die mir helfen konnte. Ich war allein – wie jedes Mal. Gegen ihn, beziehungsweise gegen Jay und ihn hatte ich sowieso keine Chance.
David presste seine Lippen grob auf meine und ich verschloss sie so gut es ging.
Als plötzlich der Wagen anhielt, war dies meine Rettung vor ihm. Aber dann begann erst noch der Horror.
Kapitel 9
Ich war allein. Allein in der Dunkelheit eingesperrt. Ein kleiner Lichtstrahl des Mondes fiel in den Raum, indem ich festgehalten wurde. Viele Stunden mussten bestimmt schon vergangen sein.
Lucy und die anderen suchten wahrscheinlich schon nach mir. Seufzend blickte ich hoch zum Fenster.
Meine Tränen trockneten auf meinen Wangen.
Ich schloss meine Augen und atmete tief durch. An die vergangene Stunde durfte ich nicht denken. Die Erinnerungen widerten mich an, doch sie tauchten immer wieder vor meinem geistigen Auge auf. Jay und David widerten mich einfach nur an.
Ich fühlte mich beschmutzt und so dreckig.
Sie trugen mich dort zu dem Bett, das am anderen Ende des Raumes stand. Jay hielt meine Arme fest, während sich David mit meinen andern Körperteilen beschäftigte.
Und dann vergewaltigten sie mich. Meine ganze Haut kribbelte. Wie gerne wünschte ich mir jetzt eine Dusche. Schnell schob ich diese Erinnerung in die hinterste Ecke meines Gehirns, doch ich wusste, ich würde es nie wieder los werden.
Nachdem sie sich an mir amüsiert haben, fesselten sie mich an diesen unbequemen Stuhl. Die beiden mussten Angst haben, dass ich abhauen könnte.
Die zu festgebundenen Seile an meinen Handgelenken hinterließen rote Riemen auf meiner Haut.
Je öfter ich daran zerrte, desto stärker verwundeten die Seile meine Haut.
Meine Füße haben sie auch festgebunden und mir ein Tuch zwischen die Zähne gelegt, das an meinem Hinterkopf zugeknotet wurde.
Ich war wie in einem echten Kinostreifen entführt und als Geisel genommen worden.
Stumm fing ich wieder an zu heulen.
Der einzige Ort, zu dem ich flüchten konnte, waren meine Träume.
Und ganz langsam sank ich in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen, ich wusste nicht wie spät es war, wurde ich schmerzvoll geweckt. Meine Wange glühte und ich blinzelte David verschlafen an. Er musste mich geohrfeigt haben. Angewidert sah ich ihm ins Gesicht. Langsam fing meine Wange an schmerzvoll zu pochen. David hatte ganz schön zugeschlagen.
Abschätzend musterte er mich und lief dabei auf und ab.
Mit zusammen gekniffenen Augen beobachtete ich ihn.
Was hatte er wohl als nächstes vor? – Sex zum Frühstück?
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein dreckig grinsender Jay kam in den Raum geschlendert.
In der Nacht bin ich des Öfteren aufgewacht. Ich hatte Geräusche gehört. Hoffentlich gab es hier keine Ratten oder Spinnen. Daran zu denken ließ mich frösteln.
Ich hatte einen merkwürdigen Traum gehabt. Er handelte nur von Kyle. Für mich war der Traum schon etwas merkwürdig, da ich davon überzeugt war, dass ich nicht in ihn verliebt bin.
Doch zum Schluss, kurz bevor ich leider aufgeweckt wurde, hätten wir uns beinahe geküsst. Ein ziemlich himmlischer Traum.
„Du bist wunderschön“, hörte ich plötzlich Davids Stimme ganz dicht an meinem Ohr. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Pure Gänsehaut. Und als er mal wieder meine Wange streichelte, zuckte ich panisch zusammen.
Ich stellte mich jetzt schon auf die nächste Vergewaltigung ein. Augen zu und durch. Und jedes Mal würde ich nichts dabei empfinden, nur hoffen, dass es endgültig vorbei war.
„Wieso hast du mir verlassen?“, fragte er mich und löste das Tuch, damit ich sprechen konnte.
„Ich hasse dich“, zischte ich mit einer rauen Stimme. Mein Hals kratzte. Wann hatte ich das letzte Mal etwas getrunken?
Hinter mir hörte ich nur ein leises Lachen.
„Du bist ziemlich unverschämt, Süße“, tadelte er mich und lief um mich herum, als wäre ich sein Objekt.
„Nenn mich nicht Süße!“, entgegnete ich wütend.
„Sie ist auch noch frech“, stellte Jay mit einem süffisanten Grinsen fest. „Das mag ich.“
„Ich habe immer das Beste für dich gewollt und dann flüchtest du einfach“, sprach David unbekümmert von Jays Kommentar weiter. „Du hast mich schwer verletzt und das ist deine Dankbarkeit. Ich habe wirklich alles für dich getan!“
Empört schnaubte ich und handelte mir auch sofort wieder eine Ohrfeige ein.
Er hatte alles für mich getan? Nein, er hatte alles dafür gegeben mich fertig zu machen.
Dieser Kommentar klebte mir auf der Zunge, aber ich warf es ihm nicht an den Kopf. Er würde es nur desinteressiert aufnehmen und mir wieder eine Ohrfeige verpassen. Es lohnte sich gar nicht mit ihm zu diskutieren. Er dachte sowieso, er wäre im Recht.
„Entschuldige dich und vielleicht bin ich auch nicht mehr wütend auf dich“, forderte er von mir und blieb direkt vor mir stehen.
Ich gab ihm eine Antwort, aber eine womit er nicht gerechnet hatte. Angewidert spuckte ich ihm vor die Füße und lächelte ihn frech an. Eigentlich sollte ich es bereuen, doch ich tat es nicht. Selbst nicht, als er mich verprügelte. Jay hatte die Seile an meinen Füßen und Händen gelöst und jetzt flog ich mitten durch den Raum. David ließ mal wieder seine ganzen Aggressionen an mir aus.
Röchelnd stützte ich mich mit den Händen auf den Boden ab und gerade, als ich mich von dem Schlag gegen die Wand erholte, bekam ich den nächsten Tritt in die Magengrube.
Er konnte mich sooft wie möglich verprügeln, denn ich würde mich niemals bei ihm entschuldigen. Da sollte er lange drauf warten. Nicht mit mir. Ich war nicht mehr das schwache, ängstliche Mädchen von damals, das ihm alles von den Lippen gelesen hat. David hatte mich verändert. Ich war sogar mutig genug ihn zu demütigen und daraufhin verprügelt zu werden. Auch wenn ich ein emotionales Wrack war, konnte ich mich gegen ihn wehren.
„Hast du dir überlegt dich bei mir zu entschuldigen?“, fragte David noch einmal und sah mich erwartungsvoll oben herab an.
Lächelnd blickte ich zu ihm auf und öffnete langsam meinen Mund, da dieser ziemlich schmerzte.
„Niemals“, flüsterte ich und ein Schwall Blut folgte meiner Antwort.
„Dann nicht“, erwiderte er und trat mir noch einmal in die Magengrube ehe er mit Jay mein Gefängnis verließ.
Erschöpft sank ich zu Boden. Meine Glieder, wirklich mein ganzer Körper tat mir höllisch weh.
Wenn ich mich bewegte, schrie ich vor Schmerz beinahe auf. Diesen Schmerzensschrei unterdrückte ich so gut es ging. Ich wollte nicht, dass er hörte, wie sehr ich verletzt war. Es amüsierte ihn doch nur.
Langsam hob ich meinen Kopf und betrachtete das Fenster. Das wäre mein einziger Ausweg von hier zu verschwinden. Direkt nachdem sie den Raum verlassen hatten, schloss einer von den beiden Idioten die Tür ab. Also, der einzige Fluchtweg war dieses zu hohe Fenster. Da kam doch keiner dran.
Wohin haben sie mich nur verschleppt?
Hier fand mich doch kein einziger Mensch!
Frustriert sah ich mich hier um. Als mein Blick auf den Stuhl fiel, kam mir eine Idee, doch durch meinen geschundenen Körper musste diese Idee leider noch warten.
Ich schaffte es gerade noch soeben mich zu dem Bett zu schleppen, damit ich heute Nacht nicht auf dem kalten Boden schlafen musste.
Aber als ich dann so auf dieser Matratze lag, stieg in mir ein mulmiges Gefühl hoch. Die Erinnerung an letzter Nacht trat wieder in mein Gedächtnis und ließ mich aufschluchzen.
Das Zeitgefühl verließ mich und ich wusste nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war.
Weinend schlief ich ein.
Das Kitzeln, der leichte Lufthauch und die Berührungen weckten mich auf. Verwirrt blinzelte ich den Schlaf weg und erkannte eine schwarze Silhouette, die vor dem Bett zu mir herunter gebeugt stand.
Kreischend wich ich von der Person weg, doch diese lachte nur dreckig.
Oh, Gott. Nicht schon wieder. Wann hörte das endlich auf?
Anscheinend konnte David nicht genug kriegen.
Tränen stiegen mir in die Augen und benetzten meine Wangen.
Wie eine Furie schlug ich um mich. Ich wollte das nicht mehr. Er sollte aufhören, mich endlich in Ruhe lassen.
„Halt endlich still!“, herrschte mich David grob an, packte meine Arme und befestigte diese mit einem Seil am Bettgestell.
Ich versuchte alles, um dies zu verhindern, aber er lag schon fast mit seinem ganzen Körper auf mir und nahm mir die Luft weg.
Lächelnd stieg er von mir ab und begutachtete mich, wie ich das hasste.
Verzweifelt zog und zerrte ich an diesem verfluchten Seil, doch es scheuerte nur meine Haut auf.
„Jetzt zier dich nicht so“, sprach David jetzt etwas freundlicher. „Du bist selbst Schuld für deine jetzige Lage. Eine kleine Entschuldigung und dir würde es viel bessergehen!“
„Niemals!“, zischte ich trotzig und zerrte noch einmal an dem Seil.
„Na dann“, antwortete er mit einem gierigen Unterton in der Stimme.
Ich versuchte mich irgendwie aufzusetzen. Leider klappte dies nicht so ganz, wie ich wollte, aber dann zog ich meine Beine ganz dicht an meinen Körper.
Als er sich über mich beugen wollte, stieß ich meine Füße in seinen Bauch.
Röchelnd und mit einer Hand auf seinem Magen stützte er sich am Bett ab.
Wenn Blicke töten könnten.
„Nein“, flüsterte ich. „Nein!“
Mein Schrei hörte man bestimmt durch das ganze Haus.
Er riss mir förmlich meine Kleidung vom Leib und starrte mich noch gieriger an.
Seine Hände streichelten mich überall.
Schluchzend schloss ich meine Augen und versuchte an etwas anders zu denken, was mir wie immer nicht besonders gut gelang.
David widerte mich einfach nur an!
Nach Stunden, es fühlte sich wie Tage an, verließ er den Raum. Vorher hatte er aber noch das Seil von meinen Handgelenken befreit. Schnellstmöglich zog ich danach sofort meine Sachen an.
Ich schämte mich.
Nachdem ich mit dem Anziehen fertig war, verkroch ich mich in die hinterste Ecke und brach dort heulend zusammen.
Kapitel 10
„Schatz? Hast du meine Schwester gesehen?“, fragte ich Ethan aufgebracht. „Sie ist nicht in ihrem Zimmer und in den anderen Räumen habe ich auch schon nachgeguckt!“
„Vielleicht ist sie spazieren gegangen“, versuchte er mich wieder zu beruhigen und gab mir einen kurzen Kuss auf die Stirn. „Kaffee?“
„Gerne“, antwortete ich nachdenklich und setzte mich an den Tisch in der Küche. „Weißt du? Ich mache mir nur Sorgen um sie. Ich habe höllische Angst, dass David ihr vielleicht aufgelauert ist!“
„Süße, mache dir mal keine Sorgen. Nachdem Kyle ihn großzügig verprügelt hat, wird David sich bestimmt nicht mehr blicken lassen“, entgegnete er unbesorgt und nahm einen Schluck von seinem Kaffee und stellte mir meine Tasse vor die Nase.
„Ich bezweifle das“, antwortete ich besorgt. „Ist Kyle eigentlich schon wieder von seinem Nachttrip wieder zurück? Er hat sich schon lange nicht mehr blicken lassen!“
„Vielleicht haben Sarah und er ja was am Laufen!“
„Auch das noch“, gab ich schlecht gelaunt zurück. „Er ist nicht gut für sie.“
„So ein mieser Kerl ist Kyle jetzt auch nun wieder nicht.“
„Er ist dein bester Freund, deswegen sagst du etwas Gutes über ihn“, entgegnete ich gereizt und trank noch einen weiteren Schluck von meinem Kaffee. „Wenn die beiden was am Laufen haben, mache ich Kyle die Hölle heiß.“
„Schatz, ich glaube, Sarah kann auch gut auf sich selber aufpassen, oder?“
Grummelnd versteckte ich mich hinter der Zeitung. Ethan war immer auf Kyles Seite. Ich verstand nicht, wieso er ihn mochte. Kyle war kein guter Umgang für Sarah. Er war schon vorbestraft und hatte Glück gehabt um überhaupt wieder einen Arbeitsplatz zu kriegen.
Ethans bester Freund gehörte zu der faulen Sorte.
Seufzend stellte ich die Tasse wieder auf den Tisch. Wo war nur Sarah? Sie war nie ein Frühaufsteher, sondern eher so ein Morgenmuffel. Es war auch nie ihre Art einfach zu verschwinden, ohne mir oder den anderen zweien Bescheid zu geben.
Irgendetwas war faul und zwar ober faul. Ich hatte nicht gerade ein gutes Gefühl in der Magengegend – weibliche Intuition.
„Ich glaube, ich werde nochmal nach ihr suchen“, schlug ich vor und war schon fast aufgestanden, da hielt mich Ethan auf.
„Vielleicht braucht sie auch mal einen Moment für sich? Du bemutterst sie zu sehr, lasse ihr Freiheiten“, stimmte Ethan mich um und ich setzte mich wieder hin. Doch das ungute Gefühl blieb für den Rest des Tages.
Fünf Minuten später kam der Faulenzer in die Küche geschlendert und machte sich erst einmal einen neuen Kaffee.
Irgendwie sah er anders aus. Nachdenklich musterte ich ihn. Als er sich umdrehte, bekam ich fast einen Schlag. Jetzt sah er wirklich aus wie einer aus dem Knast.
Oh, er hatte seine Haare abgeschnitten – Raspel kurz und er besaß einen Dreitagebart.
„Was?“, fragte Kyle plötzlich genervt. Wie lange hatte ich ihn angestarrt? – Peinlich.
„Hast du Sarah gesehen?“, antwortete ich ihm mit einer Gegenfrage.
„Nö, wieso auch? Schließlich sind wir nicht zusammen. Sie kann machen, was sie will“, entgegnete er total gereizt. Was war ihm denn über die Leber gelaufen?
„Sag ich doch“, kommentierte Ethan noch und hielt mal wieder zu Kyle. „Also, mach‘ dir mal keine Sorgen, sie wird schon wieder auftauchen!“
„Euch ist es auch total egal, oder? David ist ein ziemlich großes Problem! Besonders du, Kyle müsstest es wissen!“, rief ich wütend und stürmte aus der Küche.
Das konnte doch nicht ihr ernst sein?! Ich gab zu, ihnen könnte es egal sein, was mit ihr passierte, aber Ethan war mein Freund. Er gehörte zur Familie. Und um die Familie sorgte man sich.
Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass er sie nicht mochte. Aber warum? Da hatte ich keinen blassen Schimmer.
„Lucy!“, rief mir Ethan hinterher. „Jetzt warte doch mal!“
„Was?!“, entfuhr es mir grob und ich sah ihn genervt an.
„Es tut mir Leid“, stammelte er nervös rum und konnte mir nicht in die Augen sehen. „Du scheinst dich nur noch auf sie zu konzentrieren. Was ist mit uns?“
„Ethan, ich liebe dich und daran wird sich nichts ändern. Aber solange David nicht hinter Gittern sitzt, kann ich mich im Moment auf nichts anderes konzentrieren!“
„Der Polizist meinte doch, dass dieser David gar nicht existiert. Vielleicht hat sie ihn nur erfunden?“ Verzweifelt raufte er sich seine Haare und blickte mich traurig an.
„Und die Schnittwunde hat sie sich auch ausgedacht? Und die Story beim Supermarkt. Kyle war auch da! Wie willst du das erklären?!“
„Wahrscheinlich war das irgendein Irrer-“
„Ja, ein Irrer mit dem Namen David“, zischte ich und wandte mich von Ethan ab, doch dieser hielt mich auf. Ich fasste es nicht, was Ethan da von sich gab. Sarah würde sich niemals so eine grauenhafte Geschichte ausdenken, dafür kannte ich sie zu gut. Die Ängste konnten nicht gespielt sein.
Und ihre Augen drückten auch so etwas aus, das nicht definierbar war. Sie hatte Dinge erlebt, die andere nie erleben würden. Und ich kannte David persönlich. Ich habe ihn so wie er leibt und lebt gesehen. Selbst das Erlebnis von meiner besten Freundin war echt gewesen.
Hinter Ethan tauchte Kyle auf und grinste mich amüsiert an.
„Was gibt’s da zu grinsen?“, zischte ich, ignorierte Ethan und ging direkt zu Kyle. „Du solltest dir eigentlich auch Sorgen um Sarah machen. Schließlich hast du das am Anfang getan und dich ziemlich für sie eingesetzt. Und jetzt? Anscheinend ist sie dir zu langweilig geworden. Wehe, du hast sie angefasst, dann kannst du, was erleben!“
„Jetzt mach mal halb lang“, versuchte Ethan mich zu beruhigen.
„Ganz ruhig, ich habe deine Schwester nie angefasst!“, meinte Kyle dann amüsiert. „Du solltest das hier mal lesen, dann weißt du auch warum, sie mir so egal ist!“ Während des Sprechens holte er einen Zettel aus seiner Hosentasche und überreichte ihn mir.
„Was ist das?“, fragte ich ihn verwirrt und erkannte die Handschrift von Sarah.
„Ein Abschiedsbrief“, antwortete er mit harter Miene. Man konnte deutlich seine Traurigkeit aus seiner Stimme heraushören. Er liebte sie. Egal, was er sagte. Sie war ihm nicht egal. Er war nur enttäuscht und traurig. Natürlich war er ein Mann und gab solche Gefühle nicht preis. Typisch!
Aber als ich den Brief las, verwandelte sich meine Sorge in Wut.
Kyle,
richte meiner Schwester bitte aus, dass ich wieder mit David zusammen bin. Wir haben uns ausgesprochen und ich liebe ihn immer noch. Es tut mir Leid!
Sarah
Nein, das konnte Sarah unmöglich geschrieben haben. Das war eine Lüge. Sarah besaß eine riesige Angst vor David. Und wann sollte sie sich mit ihm ausgesprochen haben? Sie hatte nie das Haus verlassen ohne uns Bescheid zu geben. An dem Brief war etwas faul.
Ich konnte mich noch genau an den Moment erinnern, als es damals an der Tür schellte.
Spät nachts tauchte sie verletzt hier vor unserem Haus auf und war verängstigt und total durch den Wind gewesen.
Wieso schrieb sie einen Brief an Kyle und nicht direkt an mich? Man sollte sich eher fragen, wieso sie sich nicht persönlich bei uns verabschiedet hatte? Das war überhaupt nicht ihre Art.
Aber wie konnte ich das beweisen? In den letzten Jahren hatte sie sich ziemlich verändert. Früher hätte sie so etwas nie gewagt, einfach abzuhauen und dann nur ein kleiner Informationszettel.
Kein richtiger Grund war in diesem verfluchten Brief vorhanden.
Wieso auf einmal dieser plötzliche Sinneswandel? Wieso?
„Komm, Lucy. Wir haben es doch Schwarz auf Weiß! Sie hatte uns nur benutzt“, versuchte mich jetzt auch noch Kyle umzustimmen und riss mir den Brief aus den Händen. Vor meinen Augen zerriss er ihn und ließ die einzelnen Papierfetzen auf den Boden fallen.
Ethan und Kyle scheinen die ganze Sache abgehakt zu haben, doch ich nicht. Ich kannte meine Schwester, wie meine Westentasche. Da steckte eine Hilferuf zwischen, da war ich mir hundertprozentig sicher!
Heute konnte ich überhaupt nicht einschlafen. Grauenvoll. Ich wälzte mich von der einen auf die andere Seite. Ethan schlief schon längst seelenruhig. Aber ich machte mir immer noch zu große Sorgen um Sarah. Sie hatte sich nicht einmal telefonisch gemeldet. Nicht einmal eine einzige SMS kam von ihr. Obwohl es diesen ‚Abschiedsbrief‘ gab, gab es keinen Grund zur Polizei zu gehen und Sarah als vermisst zu melden. Wenn es diesen Zettel nicht gegeben hätte, könnte ich jetzt eine Vermisstenanzeige aufgeben. Und die Cops würden alles auf den Kopf stellen, um sie zu finden.
Es war erst ein Uhr nachts. An Schlaf zu denken, war wohl unmöglich. Ich fühlte mich, als hätte ich viel zu viel Koffein im Blut. Seufzend schlug ich leise die Decke zurück und stand auf.
Barfuß tapste ich aus dem Raum. Als ich die Tür vorsichtig aufmachte, knarrte sie leise und Ethan drehte sich bei dem Geräusch nur auf die andere Seite.
Langsam schlich ich mich aus unserem Schlafzimmer raus und mein Weg führte mich in die Küche.
Als ich das Licht anmachte, hätte ich beinahe das ganze Haus zusammen geschrien.
Kyle saß seelenruhig und kaffeetrinkend am Tisch und lächelte mich amüsiert bei meinem Anblick an.
Doch seine Augen zeigten etwas ganz anderes, als er uns gestern weiß machen wollte. Sorge um Sarah.
„Kaffee?“, fragte er und zeigte auf die Kanne, die auf dem Küchentisch stand.
Aus dem Schrank holte ich mir noch eine Tasse, bevor ich mich hinsetzte und mir das heiße Gebräu eingoss.
„Kannst du auch nicht schlafen?“, fragte er mich und führte mit mir Smalltalk. Seit wann führten wir ein vernünftiges Gespräch? Allerdings war es etwas gezwungen.
Nickend nippte ich am Kaffee und verbrannte mir beinahe die Lippe. Anscheinend saß er auch noch nicht all zu lang hier unten.
„Sarah verschwindet nicht einfach so“, sagte ich besorgt und faltete meine Hände um die Tasse. „Das ist einfach nicht Sarahs Art und der Brief, daran ist auch irgendetwas faul. Ich habe ein ziemlich ungutes Gefühl bei der Sache!“
„Nicht nur du“, gab Kyle zu und betrachtete die angezündete Kerze, deren Wachs an ihr herunterlief.
„Du magst sie, oder?“, hakte ich vorsichtig nach und beobachtete seine Reaktion.
„Ja, sehr sogar“, flüsterte er und heute war es das erste Mal, dass er etwas über seine wahren Gefühle aussagte. Sonst kannte ich nur seine Macho-Art und die Art die Männer immer drauf haben.
Aber gerade in diesem Moment war er jemand anderes.
„Liebst du sie?“, fragte ich zögernd und wollte einen Augenkontakt herstellen, auf den er leider nicht einging.
„Nein, sie ist-“
„Das glaube ich dir nicht“, gab ich ernst zu. „Du liebst sie. Und du weißt, wenn du sie anfasst, mache ich dir die Hölle heiß. Aber gerade scheinst du ein ganz anderer Kerl zu sein, der wahre Kyle und nicht der Macho, den ich kenne.“
„Du hast ja Recht“, seufzte er und rieb sich über seine noch kurzen vorhandenen Haare.
„Wieso hast du dir die Haare fast abrasiert? Jetzt siehst du wie ein Ex-Knacki aus!“
„Haare wachsen nach.“
„Danke für die schlaue Antwort“, entgegnete ich gereizt und trank den letzten Rest meines Kaffees aus.
„Also, was denkst du? Sollen wir eine Suchaktion starten?“, wechselte er geschickt das Thema.
„Ethan wird uns bestimmt nicht helfen und wer käme noch in Frage?“
„Deine Mom?“
„Oh, nein. Sie kriegt einen Herzanfall, wenn ich ihr von dieser Vermutung erzähle und außerdem verstehe ich mich nicht besonders gut mit ihr!“Meine Mom würde mich köpfen, wenn sie erfahren würde, dass eventuell Sarah in Gefahr war! „Wir sollten erst einmal warten und vielleicht meldet sie sich ja noch“, schlug ich seufzend vor und goss mir noch etwas in die Tasse ein.
Einverstanden nickte Kyle und spielte mit dem getrockneten Wachs von der Kerze.
„Und erzähl, seit wann hast du Gefühle für meine Schwester und wie hat sie dich rumgekriegt?“, fragte ich total neugierig.
„Das ist mir jetzt echt peinlich über Gefühle und so zu reden“, entgegnete er peinlich berührt, darüber musste ich nur lächeln.
Kapitel 12
Die Tage liefen schnurstracks an mir vorbei, ohne davon wirklich etwas mitzukriegen. Jedes Mal, wenn sie mich vergewaltigten, lag ich wie in Trance auf dem Bett. Ich ließ es einfach über mich geschehen und empfand dabei nichts mehr, sondern wartete nur auf das Ende.
Sie brachten mir regelmäßig etwas zu Essen und zu Trinken in diesen abgekapselten Raum. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich beobachtet wurde. Videokameras befanden sich hier nicht, aber es könnte doch sein, dass sie mich durch eine getarnte Wand beobachteten. Unheimlich.
Vielleicht spielte mein Verstand mir nur einen Streich. Ich wusste nicht, seit wann ich mich hier befand.
Nur alle zwei Tage durfte ich duschen. Es könnte ja passieren, dass ich viel zu viel von meiner Umgebung in mein Gehirn einprägte und so einen Fluchtversuch starten könnte.
Ich hatte es immer noch nicht fertig gebracht meine Idee in die Tat umzusetzen.
Die Angst war größer erwischt zu werden. Wenn sie auf mich einschlugen, verdrängte ich den Schmerz. Ich spürte fast gar nichts mehr. Aber dafür weinte ich mich Nacht für Nacht in den Schlaf, wenn man mich überhaupt schlafen ließ. Irgendeiner von den beiden musste sich immer na mir befriedigen.
Immer zur selben Zeit kamen sie abwechselnd. Vielleicht sollte ich direkt danach den Stuhl unter das Fenster schieben, wenn einer von den beiden diesen Raum verließ. Dann hatte ich für eine gewisse Zeit Ruhe und konnte meine Idee in die Tat umsetzen.
Und schon wieder ging die Tür auf.
„Du kannst dich jetzt duschen“, teilte mir David mit und führte mich wie ein gefährlicher Häftling am Arm zu der Dusche. Zurzeit führte ich ein eher recht erbärmliches Leben.
Ich wurde in das Badezimmer geschubst und schon wurde die Tür abgeschlossen. Das Fenster hier in diesem Raum war keine sonderlich große Hilfe. Von außen war es vergittert.
Schnell entledigte ich mich von meinen Sachen und betrachtete die unzähligen Prellungen und Blutergüsse. Einige verblassten schon, aber das waren auch nur die älteren Blutergüsse. Die anderen besaßen immer noch ziemliche frische Farbe.
Plötzlich hämmerte es an der Tür. „Beeil dich“, hörte ich David genervt rufen.
Sofort drehte ich das warme Wasser auf und stellte mich schnell drunter.
Und wie jedes Mal schrubbte ich meinen Körper sauber, bis sich meine Haut rot färbte und es schon fast weh tat. Doch das Wasser tat mir schon richtig gut. Es war die einzige Erholung von alldem hier.
Als ich endgültig fertig war, stellte ich widerstrebend das Wasser ab und wickelte ein Handtuch um meinen nassen Körper.
Der Spiegel war beschlagen und so brauchte ich mein Gesicht nicht zu sehen. Und ich wollte es auch nicht sehen.
Ich trocknete mich ab und zog wieder meine dreckigen Sachen an. Seitdem ich entführt wurde, trug ich immer noch dieselben Sachen. Ab und zu war es in dem dunklen und stickigen Raum kalt, da ich nur ein T-Shirt trug.
Ohne nachzufragen, ob ich schon fertig war, öffnete sich die Tür und David packte mich grob am Arm und zerrte mich aus dem Raum.
Die einzige Privatsphäre, die sie mir gönnten, war zu duschen.
Nachdem mich David wieder in diesem kalten, emotionslosen Raum gebracht hatte, nutzte ich die Gelegenheit und schob den Stuhl unter das Fenster. Hier hatte ich das Glück, dass das Fenster nicht von außen vergittert war. Ziemlich nachlässig.
Ich stellte mich auf die Lehne und konnte gerade so eben durch das Fenster schauen.
Draußen gab es nur Bäume und Pflanzen. Überall grün. Es waren keine einzigen Häuser, außer meinem Gefängnis vorhanden.
Frustriert schmiedete ich einen neuen Plan. Ich wusste zwar nicht, wie weit wir uns hier außerhalb befanden, aber trotzdem konnte ich mich in der Umgebung verstecken. Es gab ja genug Bäume.
Neugierig betastete ich das Fenster. Ob ich das Glas mit meinem Ellenbogen zerstören konnte?
Ein Versuch war es jedenfalls wert.
Des Öfteren schlug ich mit meinem Ellenbogen gegen die Scheibe. Es war widerstandsfähiger als ich gedacht habe, denn das Fenster war schon uralt.
Doch irgendwann als mir der Schmerz Tränen in die Augen trieb, bekam die Scheibe einen kleinen Riss. Ein paar Mal zielte ich genau auf diesen Punkt und dann brachen die Scherben zusammen.
Ich hatte mir ein, zwei Scherben eingefangen, aber ich ignorierte sie, anstatt zu jammern. Schließlich wollte ich so schnellst wie möglich verschwinden.
Am Rande des Fensters steckten noch einige Glassplitter fest, die ich sofort entfernte.
Nachdem dies auch erledigt war, zog ich mich an der Mauer hoch. Meine Finger krallte ich am Fensterrahmen fest, um einen starken Halt zu finden, denn meine Füße konnten keine Ritze in der Mauer finden.
Ich hatte es schon einmal geschafft meinen Kopf durch das Fenster zu bringen, als mich plötzlich zwei Hände an meinen Beinen packten und mich wieder in Richtung Gefängnis zerrten.
Das Kaputtmachen des Fensters hatte zu viele Geräusche gemacht und dadurch habe ich ihre Aufmerksamkeit auch mich gelenkt. Shit!
„Nein!“, schrie ich und hielt mich am Fensterrahmen fest. Ich wollte nicht zurück!
Wie eine Wilde trat ich nach der Person, die mich festhielt. Anscheinend musste ich sie getroffen haben, denn der Druck an meinen Beinen war nicht mehr ganz so stark.
Mit letzter Kraft zog ich mich dort raus und stand im Freien!
Lange konnte ich die ein paar Minuten Freiheit noch nicht genießen. Erst einmal musste ich von hier fort.
„Da bist du ja“, stellte jemand amüsiert fest und kam um die Ecke geschlendert. „Du Ausreißerin!“
„David!“, flüsterte ich erschrocken und wich vor ihm zurück. Jetzt sollte ich meinen Hintern von hier fort schaffen und nicht rumtrödeln.
„Anscheinend hast gedacht, wir würden es nicht bemerken, wenn du abhaust“, fuhr er seine Rede gelassen fort.
Vor dem kaputten Fenster im Raum bewegte sich etwas, doch ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, da ich David im Auge behielt.
„Du hast den Alarm ausgelöst, als du die Scheibe zerstört hast“, informierte er mich weiterhin gelassen mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen und kam immer ein paar Schritte näher.
„Kannst du mich nicht einfach gehen lassen?“, fragte ich verzweifelt und wich immer weiter vor ihm weg.
„Nein, damit du wieder zu deinem Typen laufen kannst und ihm um Hilfe bittest“, zischte er auf einmal und seine Ruhe und Gelassenheit war wie weggepustet. „Nein, auf keinen Fall!“
Verwirrt kräuselte ich die Stirn und schüttelte meinen Kopf. „Was?“
„Von dir hatte ich es wirklich nie erwartet“, fuhr er enttäuscht fort und steckte sich eine Zigarette an.
Seit wann rauchte er? Und wovon sprach er? Welcher Typ?
„Wie lange betrügst du mich schon?“, fragte er auf einmal und zog wieder an seiner Zigarette.
Was? Verwirrt blickte ich ihn an und bekam keine Antwort raus. Wovon sprach er? Ich hätte ihn betrogen? Was für ein krankes Psychospiel spielte er hier eigentlich? Er war krank. Er war definitiv krank! David wusste nicht mehr, was die Wahrheit war. Er verdrehte sie und stellte mich mal wieder als die Blöde hin. In den letzten Jahren hatte er schließlich mich betrogen und nicht ich ihn!
„Was? Ich soll dich betrogen haben?“, wiederholte ich geistreich und starrte ihn angewidert an. „Das stimmt doch gar nicht! Du hast doch mit einer meiner Freundinnen eine Affäre gehabt!“
Plötzlich fing er total krank an zu lachen. „Sarah! Ich habe dich nie betrogen!“
Bildete ich mir das gerade ein, oder hatte er das wirklich gesagt?
„Doch!“, entgegnete ich trotzig. Was tat ich hier eigentlich noch? Ich sollte abhauen und zwar schleunigst!
„Anscheinend verwechselst du da etwas!“ David sprach mit mir, als wäre ich hier die Geisteskranke! „Gib es doch zu, dass du was mit diesem Kyle am Laufen hast.“
Verwirrt blickte ich ihn an und machte größere Schritte Rückwerts. Wie kam er denn jetzt auf Kyle?
„Keine Antwort ist auch ‘ne Antwort!“, sprach er aufgebracht weiter und es bestätigte ihn anscheinend, wenn ich jetzt nicht antwortete. Sollte er doch in dem Glauben bleiben!
Er musste für eine Sekunde abgelenkt sein und ich konnte davon laufen. Dann hätte ich sogar einen kleinen Vorsprung. Doch leider fixierten seine Augen mich zu stark.
Wo war eigentlich Jay abgeblieben? Sonst kam er doch David immer gleich zur Hilfe!
Merkwürdig! Und bevor sein bester Freund auftauchte, musste ich schon längst verschwunden sein.
Da ihn einfach nichts ablenkte, drehte ich mich um und fing an um mein Leben zu rennen.
Dieser Urwald bestehend nur aus Bäumen, Wurzeln, Ästen, Laub und Matsche war der reinste Irrgarten. Wo war hier bloß der Ausweg?
Äste streiften mein Gesicht und hinterließen Schnittwunden. Die Bäume standen zu dicht nebeneinander, sodass es unmöglich war, schneller zu laufen.
David müsste gleich direkt hinter mir sein. Aber als ich mich umdrehte, übersah ich den Ast der direkt vor mir war und knallte mit der Stirn dagegen und plumpste unschicklich zu Boden.
Vor Schmerz stöhnte ich auf und rieb mir über die Beule. Verdammt! Jetzt hatte sich so ein blöder Ast mir in den Weg gestellt. Anscheinend wollte das Schicksal nicht, dass ich flüchten konnte.
Seufzend sah ich mich um. Ich befand mich mitten im Dschungel. Wenn man von oben den Wald betrachtete, waren dies bestimmt nur ein paar Quadratmeter.
Wo war David abgeblieben? Hoffentlich fand er mich nicht.
Plötzlich knackte es in den Büschen. Das waren nur Tiere, nur Tiere, kein David und kein Jay!
Inständig betete ich, dass sie mich nicht gefunden hatten. Leise blieb ich an Ort und Stelle liegen und horchte. Wieder ein Knacken. Diesmal kam es von Links.
Was spielten die hier für ein krankes Psychospiel? Sie machten mich damit noch irre.
Nur noch mein leiser Atem und das Knacken in den Büschen waren zu hören, sonst herrschte absolute Stille. Nicht einmal Vögel kreisten ihre Runden im Himmel.
Als ich dachte, dass es jetzt endgültig ruhig war und dass sie mich nicht finden würden, packte jemand mich an meinen Beinen und zog mich durch den Wald.
„Nein!“, schrie ich immer wieder und versuchte irgendwo Halt zu finden, rutschte aber ab, da alles aufgeweicht war. Heute Nacht musste es geregnet haben. Als ich ganz kurz einen Blick auf die Person erhaschte, erkannte ich David, der mich durch den Schlamm zog.
Bestimmt sah ich jetzt wie ein Schwein aus, das sich gerne im Matsch suhlte.
„Lass mich los“, kreischte ich wie verrückt. Meine Füße konnte ich nicht bewegen, um ihm eventuell in den Bauch zu treten – zu wenig Bewegungsfreiheit.
Als ich später doch noch eine große Baumwurzel fand, die aus dem Boden raus ragte, krallte ich mich an ihr fest. David zog und zog, aber ich sammelte meine ganzen Kräfte und hielt mich an dieser verdammten Wurzel fest.
Aber auf einmal ließ er mich los und ich drehte mich überrascht um, um mir aber auch gleich einen Kinnhaken einzufangen. Mein Gesicht flog heftig zur Seite und es hörte sich erschreckend an, als ich hörte, wie mein Kiefer knackte. Erschrocken fasste ich an mein Kinn.
Und David baute sich vor mir auf.
„Wieso tust du das?“, fragte ich fast den Tränen nahe.
„Ich liebe dich, Sarah“, antwortete er ehrlich und packte meinen verletzten Arm.
Geschockt blickte ich ihn an. Er war krank vor Liebe. So liebte man keinen Menschen, so wie er mich behandelte. Das ganze Leid, das er mir schon zugefügt hatte, das tat man nicht, weil man jemanden liebte. Und vor allem liebte ich ihn nicht mehr. Nicht nachdem, was er mir in den letzten Jahren zugefügt hatte.
Andere in meinem Alter besaßen kein Horrorleben sowie ich.
„Das ist keine Liebe“, entgegnete ich.
Wütend zerrte er mich auf die Beine und schleppte mich hinter sich her.
Schnell führte er mich aus dem Wald heraus und schubste mich direkt in die Arme von Jay.
„Wo hast du sie gefunden?“, fragte dieser verwirrt. Er musste wohl die falsche Hälfte im Wald abgesucht.
David knurrte irgendetwas Wütendes und verschwand in dieser riesigen Villa. Jetzt erst nahm ich dieses große Bauwerk wahr.
„Na, los. Komm schon! Lauf mal schneller“, herrschte mich Jay grob an und schubste mich förmlich in Richtung Hintertür. Wir stolperten einige Stufen im Dunkel runter, ehe er mich wieder in denselben Raum brachte. Allerdings hatte sich eine Sache verändert. Auch dieses Fenster war vergittert und eine neue Scheibe eingesetzt worden.
Und wie es seine Art war, schubste er mich zurück in mein Gefängnis.
„Nein, nein!“, flüsterte ich, stand wieder auf, rannte zu der Tür und hämmerte lautstark an das Holz.
„Lasst mich raus!“, schrie ich und schlug noch ein paar Mal dran, ehe ich heulend vor der Holztür zusammen sackte.
Es war echt aussichtslos. Ich würde wahrscheinlich nie wieder hieraus kommen!
Und in der Nacht begann wieder alles von vorne.
Kapitel 13
Das Gespräch mit Kyle letzte Nacht hatte mir die Augen geöffnet. Jetzt wusste ich, wie er wirklich war und nicht dieser Macho. Auch, wenn er jetzt schon vorbestraft war, konnte ich ihn mir gut an der Seite von meiner Schwester vorstellen, aber ich mochte ihn noch immer nicht. Er konnte mich nicht mit seinem Charme rumkriegen, wie andere junge Frauen in unserem Alter.
Auf jeden Fall, wenn die beiden zusammen kommen, würde ich ihnen nicht im Weg stehen. Zwar killte mich mein Verstand für diese Entscheidung, aber man sollte doch etwas öfters auf sein Herz hören.
Sarah hatte sich immer noch nicht gemeldet. Und im Haus herrschte eine gewisse Anspannung.
Die ganze Zeit über machte ich mir höllische Sorgen um meine kleine Schwester, aber irgendwie schien Ethan dies nicht zu verstehen. Es kotzte ihn regelrecht an, wenn ich das Thema ansprach.
Wer wusste schon, was David in Wirklichkeit mit ihr anstellte?
Wir gingen nur davon aus, dass sie freiwillig mit ihm gegangen ist. Doch Menschen verhielten sich manchmal nicht so, wie sie es sollten und ich glaubte, dass es auch so bei David war.
Ich besaß ein ganz mulmiges Gefühl und manchmal stimmte die weibliche Intuition doch!
Und ich war ziemlich empört und wütend auf Ethan. Sarah war meine Schwester und David gehörte zur Familie. Ich verstand sein Problem nicht! Wenn er damit nicht klar kam, dass Sarah meine Schwester war, dann ging unsere Beziehung den Bach runter.
Während ich die ganze Zeit arbeitete, habe ich mir überlegt zur Polizei zu gehen, um eine Vermisstenanzeige aufgeben zu lassen.
Auch, wenn Ethan endlich mit dem Thema abschließen wollte, würde ich es bestimmt nicht tun.
Sie war meine Schwester! Zwar hatten wir nicht immer goldige Zeiten gehabt, haben uns ein paar Mal heftig gestritten, aber dann haben wir uns immer wieder vertragen. Wenn er einen Bruder hätte, würde er genauso denken wie ich. Vielleicht war ich auch ein bisschen zu hart. Bei seiner Familie lief nichts rund. Eigentlich wollten seine Eltern gar keine Kinder und plötzlich kam Ethan. Und irgendwann schoben ihn seine leiblichen Eltern in ein Waisenhaus ab. Eventuell lag es auch daran, dass er nicht so gerne auf Familienglück zustrebte. Aber wie sollte das denn später mit uns werden?
Ich wollte schon Kinder bekommen mit der Person, die ich liebte und das war nun mal er.
Die Zukunft würde bestimmt kein Zuckerschlecken werden, für unsere Beziehung.
Im Waisenhaus lernte er dann auch Kyle kennen. Ich wusste jetzt auch nicht genau über Kyles Familiengeschichte Bescheid. Er hatte mal erzählt, dass sein Vater seine Mutter und ihn früh verlassen hätte. Da seine Mom keinen gut-bezahlten Job besaß, nahm dann das Jugendamt ihr Kyle weg. Als er volljährig war, machte er sich dann auf die Suche nach seiner Mutter und erfuhr auch noch, dass er eine Halbschwester hatte. Und Kyle war für Ethan wie sein eigener Bruder, den er nie hatte. Das war alles so kompliziert.
Kurz bevor ich den Laden verließ, fegte ich kurz noch den Boden und schloss alles ab.
Dann machte ich mich auf den Weg zur Polizeistation.
Dort wimmelten sie mich nur ab, als ich ihnen die ganze Geschichte erzählte.
Der angebliche Brief von Sarah sagte aus, dass es ihr gut ginge.
Sie verstanden meine Sorgen einfach nicht.
Zum Schluss stempelten sie mich als Verrückt ab.
Es war einfach nur frustrierend. Das Gefühl dieser Hilflosigkeit drohte mich zu übermannen.
„Wieso bist du heute so spät Zuhause?“, hakte Ethan neugierig nach.
Hatte ich schon mal erwähnt, dass er tierisch eifersüchtig war? Das war schon fast eine Krankheit!
„Ich war bei der Polizei“, gestand ich ihm und deckte den Tisch mit Tellern.
Verwirrt hielt er in seiner Bewegung inne und blickte mich fragend an.
„Ich wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben“, erzählte ich ihm gelassen und stellte die gekochten Spätzle auf den Tisch.
„Wieso? Deiner Schwester geht’s bestens!“, antwortete er genervt.
„Ethan! Ich habe das Gefühl, dass sie in Gefahr ist!“
„Lucy, ich glaube, du verrennst dich da zu sehr in die Sache“, versuchte er mich wieder zu beruhigen.
„Nein, kannst du mir nicht einmal glauben?“
„Schatz. Der Brief hat alles ausgesagt, dass es ihr gut geht. Du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen!“
„Kyle ist der gleichen Meinung wie ich!“, entgegnete ich schnell und sah Ethan abwartend an, welche Reaktion er zeigte.
„Wer ist der selben Meinung wie ich?“, fragte Kyle und kam in den Raum geschlendert und ließ sich seufzend auf den Stuhl fallen.
„Du warst doch der selben Meinung, dass der Brief etwas merkwürdig ist, oder?“, fragte ich ihn nochmal, um Ethan zu beweisen, dass ich mich nicht verrückt machte.
„Nicht mehr!“, antwortete Kyle plötzlich und schaufelte sich eine Menge Spätzle auf seinen Teller.
„Was?“
„Ich habe eben eine SMS von ihr bekommen“, erzählte er und nahm sich noch ein Stück Fleisch.
„Siehst du, Lucy. Deiner Schwester geht es wirklich bestens!“, sagte Ethan etwas genervt tadelnd und nahm am Tisch neben Kyle Platz.
„Was stand denn drin?“, fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen, um nicht all zu wütend zu klingen. Ich war schon etwas von Sarah enttäuscht, dass sie lieber Kyle, irgendeinem Typen informierte, anstatt ihrer eigenen Schwester. Und das mulmige Gefühl in der Magengegend wurde immer stärker. An der SMS war auch irgendetwas faul!
„Ich solle sie in Ruhe lassen, sie liebt mich nicht und will keinen Kontakt zu einem Vorbestraften halten“, erzählte er verärgert und stocherte in seinen Spätzlen rum.
„Und was hast du gemacht, dass sie so etwas schreibt?“, hakte ich etwas misstrauisch nach und setzte mich direkt gegenüber von ihm.
„Kann sein, dass ich des Öfteren auf ihrem Handy angerufen habe“, gab er verlegen zu. „Und ein paar SMS geschrieben, dass wir uns Sorgen machen und wieso sie sich nicht meldet. Ja, und dann habe ich ihr noch vorgehalten, wieso sie mit so einem Kerl wie David zusammen sein will.“
So niedergeschlagen habe ich ihn noch nie erlebt. Auf irgendeine Art und Weise tat er mir ziemlich leid.
Und das mit der SMS, so etwas Gemeines würde sie nie schreiben, oder täuschte ich mich in meiner Schwester? Hatte Ethan doch Recht, dass es ihr eventuell gut ging?
Aber dann hatte sie sich ziemlich verändert. So kannte ich sie gar nicht. Sonst war sie immer so lieb, schüchtern und total höflich zu anderen Menschen. Was hatte David bloß mit ihr angestellt?
Sie verriet es uns ja nicht. Wir wussten alle, dass sie nur von ihm verprügelt wurde, aber da geschah noch mehr! Aber was?
Früher habe ich sie immer vor den bösen Leuten beschützt, in denen sie etwas Gutes sah.
„Außerdem ist sie mir egal, wir waren halt nur befreundet. Da lief nie etwas zischen uns, also will ich auch nichts mehr mit ihr zu tun haben“, sagte Kyle ernst und brachte sein Geschirr, nachdem er aufgegessen hatte zur Spülmaschine.
Der letzte Satz von ihm schockte mich. Letzte Nacht gestand er mir, dass er Sarah liebte und jetzt das.
Geschockt blickte ich Ethan an, der wiederrum nur mit den Schultern zuckte. War ja klar! Ihn interessierte es nicht, es freute ihn höchstens, dass Sarah nicht mehr hier wohnte.
Nachdem auch Ethan und ich mit dem Abendessen fertig waren, verstauten wir alles in der Spülmaschine und verließen die Küche.
Kyle kam uns hektisch auf der Treppe entgegen. Dabei zog er sich gleichzeitig seine Jacke an.
„Wo willst du noch hin?“, fragte ich überrascht. Eigentlich ging es mir nichts an, doch ich machte mir schon Sorgen. Wer wusste schon, ob David uns nicht auch noch auflauern könnte?
Okay, ich fantasierte mal wieder zu viel und tief durchgeatmet schob ich diesen Kerl in die hinterste Ecke meines Gehirns.
„Mit meinen Kumpels noch was starten“, antwortete er abweisend und verließ das Haus. Seitdem er Sarah kannte, hatte sich sein Charakter zunehmend ins Positive stark verändert, doch seit sie weg war, war er wieder der Alte und noch schlimmer. Hoffentlich stellte er keine krummen Dinge an.
Die ganze Nacht konnte ich kein einziges Auge zu tun. Und wie in der Nacht zuvor verbrachte ich einige Stunden in der Küche und trank ein paar Tassen Kaffee.
Soweit ich es mitgekriegt habe, war Kyle an diesem Morgen immer noch nicht wieder zurück.
Ich machte mir wahrscheinlich ohne Grund sorgen, aber die Angst bestand, dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen sei.
Ethan würde nur den Kopf schütteln, wenn ich ihm von meiner Sorge berichtete.
Aber mich wunderte es schon, dass Sarah ausgerechnet Kyle eine SMS geschickt hatte und nicht mir. Und das nagte ziemlich an mir. Bedeutete ich ihr gar nichts? Ich war ihre Schwester!
Heute würde ich später zur Arbeit fahren. Eine Kollegin hatte die Frühschicht übernommen.
Ich hoffte doch noch gleich etwas schlafen zu können, wenigstens ein paar Minuten dösen. Doch die Sorge ließ mich nicht schlafen.
Plötzlich knallte die Haustür ins Schloss. Aufgeregt sprang ich vom Küchenstuhl auf, band meine dünne Strickjacke zu und eilte zur Haustür. Dort entdeckte ich einen gereizten und übernächtigten Kyle, der sich erschöpft die Jacke von der Schulter strich und die Schuhe unordentlich in die Ecke warf. Er schien keine gute Nacht verbracht zu haben.
„Wo warst du?“, fragte ich entsetzt von seinem Anblick und verschränkte meine Arme vor der Brust.
Genervt blickte er mich an und lief in die Küche, dabei schubste er mich aus dem Weg.
„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“
„Du bist nicht meine Mom“, entgegnete er desinteressiert und trank aus meiner noch vollen Kaffeetasse.
„Ich mache mir nur Sorgen!“
„Brauchst du nicht. Ich kann auf mich selber aufpassen und seit wann interessiert es dich, was ich mache?“, fragte er mich verblüfft und blickte mich dabei an, während er noch einen weiteren Schluck aus meiner Kaffeetasse tat.
„Es ist wegen David. Ich habe nur Angst, dass er uns auflauert. Schließlich hast du ihn überfahren!“
„Er ist aber nicht abgekratzt!“, fügte er noch hinzu und fuhr sich durch seine stoppelkurzen Haare.
„Das ist jetzt echt nicht witzig, Kyle!“
„Ich war auf der Polizeistation. Dort konnte mir wohl kaum etwas passieren, da ich dort für ein paar Stunden festsaß“, erzählte er mir und verdrehte die Augen dabei.
„Oh, Gott. Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“
„Du klingst wie meine Mom“, antwortete er nur genervt. „Also, ich habe nichts Schlimmes angestellt.“
„Und was ist bei dir in der Kategorie ‚Nichts Schlimmes‘ einsortiert?“
„Hey, ich bin kein Schwerverbrecher!“, verteidigte er sich empört. „Meine Kumpels und ich haben ein paar Autos geknackt und so. Den Rest kannst du dir ja denken. Aber leider wurden wir von den dummen Cops erwischt.“
„Ich dachte, du wolltest damit aufhören?“
„Ja, aber die Meinung ändert sich halt“, entgegnete er gelassen und holte eine Packung Zigaretten aus seine Hosentasche.
„Du rauchst?“, fragte ich, obwohl es eher nach einer Feststellung klingen sollte.
„Ja, was dagegen?“
„Ja, wenn du rauchen willst, dann geh nach Draußen!“
Seufzend stand er mit seiner Packung Zigaretten auf und verschwand durch die Hintertür.
Fassungslos blickte ich ihm stumm nach. An Schlaf brauchte ich jetzt nicht mehr zu denken. Hier lief irgendetwas gewaltig schief.
Kapitel 14
Der Tag fing schon recht merkwürdig an. Bevor Sarah hier aufgetaucht war, lief hier im Hause zwar nicht alles rund, aber als sie da war, hatte sich irgendetwas verändert. Und jetzt war sie weg und alles ging schief. Kyle verließ den Rest des Morgens nicht sein Zimmer.
Müde fuhr ich zur Arbeit und versuchte mich einigermaßen zu konzentrieren, aber ohne Erfolg.
Alle fünf Sekunden schweiften meine Gedanken zu Sarah. Meine Arbeitskollegin sprach ich mich auch schon darauf an, dass ich gedanklich nicht anwesend wäre. Sie schlug sogar vor, dass ich mir den Rest des Tages frei nehmen sollte. Doch Zuhause wäre ich mit meinen Gedanken ganz alleine und hier konnte ich es wenigsten versuchen mich abzulenken. Ein Versuch war es wenigstens Wert. Zuhause würde mir einfach die Decke auf den Kopf fallen.
Außerdem hatte Ethan heute seinen freien Tag und ich hatte keine Lust ihm zu begegnen.
War das schon das erste Zeichen, dass ich ihn nicht mehr liebte?
Ich hatte keine Lust meinen festen Freund zu sehen, den ich überalles liebte.
Das war nur eine kleine Beziehungskrise.
Wenn mit meiner Schwester alles geklärt ist, würde sich das bestimmt wieder ändern zwischen Ethan und mir.
Der ganze Tag verging viel zu schnell.
Wieso meldete sich meine Schwester einfach nicht bei mir?
Da musste etwas faul sein, auch wenn mir niemand glaubte.
Irgendetwas musste ich unternehmen.
Vielleicht sollte ich mal bei dem Appartement vorbei schauen. Eventuell fand ich dort irgendeine Spur, oder ich würde sofort auf die beiden treffen?
Alles war möglich. Ethan durfte davon nichts mitkriegen. Er regte sich bestimmt wieder drüber auf.
Immer wenn ich das Thema Sarah erwähnte, wurde er so komisch.
Also machte ich mich nach der Arbeit auf den Weg zu dem Appartement, indem die beiden ein paar Jahre lang gelebt haben.
Ich hoffte und betete die ganze Zeit, dass ich Sarah dort wohlerhalten vorfinde.
Aber so groß war die Hoffnung nun auch wieder nicht.
Vom ganzen Herzen wünschte ich es mir.
Das Auto parkte ich auf der gegenüberliegenden Seite des riesigen Hauses.
Wow! David musste wirklich ziemlich viel Geld besitzen, wenn er sich so ein eine Wohnung leisten konnte. Und ich wette, dieses Haus – eher gesagt Villa – besaß einen Fahrstuhl!
Entschlossen ging ich über die Straße und betrat die Eingangshalle.
Von innen sah alles so elegant aus.
Jetzt konnte ich mir einen kleinen Teil vorstellen, wie viel Einfluss David wohl hatte.
Und direkt links von mir befand sich eine unbesetzte Rezeption.
Nervös klingelte ich und wartete…
Es kam keiner.
Gelangweilt blickte ich mich um und dann kam mir eine Idee.
Unauffällig ging ich hinter dir Rezeption und suchte nach Unterlagen.
Hier musste es doch eine Namensliste geben.
Mein Herz schlug mir bis zum Halse und meine Finger zitterten. Ich hatte Angst, dass jetzt jemand käme und mich hier fand.
Als ich endlich unter einen Berg von Papieren einen Zettel fand, auf dem einige Namen aufgelistet waren, atmete ich erleichtert durch. Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass ich nichts finden würde und mich hier noch jemand bei dieser Tat erwischte, wie ich rumschnüffelte.
Plötzlich quietschte eine Tür und zwei Männerstimmen drangen an mein Ohr.
Keine von diesen Stimmen konnte ich mit einer Person identifizieren, den ich kannte. David hatte ich schon so lange nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich würde ich ihn nur vom Optischen her erkennen, aber sonst nicht.
Schnell versteckte ich mich unter dem Schreibtisch und versuchte meinen hektischen Atem unter Kontrolle zu kriegen.
Die Stimmen kamen immer näher, doch akustisch konnte ich nicht verstehen, worüber sei sprachen.
Ängstlich hielt ich das Stück Papier an meinen Körper.
Hoffentlich fanden sie mich nicht.
„Ist Joe schon wieder nicht da? Immer wenn man ihn braucht, kann man ihn nicht finden“, meckerte eine genervte Stimme und hämmerte wie verrückt auf die Klingel ein.
Wenn dieser Joe hier auftauchte und genau aus dieser Tür kam, die direkt vor mir war, würde er mich hier unten zusammen gekauert sitzen sehen!
„Lass uns gehen. Ich will die Kleine nicht all zu lange alleine lassen, sonst haut sie uns wieder ab“, entgegnete die andere Stimme.
„Sarah kann nicht abhauen“, antwortete die andere Stimme wieder. „Außerdem ist das hier erst einmal wichtiger. Wir müssen auf Joe einreden, dass er uns noch nie in seinem Leben gesehen hat!“
David! Erschrocken riss ich meine Augen weit auf und hielt mir die Hand vor den Mund, um nicht loszuschreien. Er hielt meine Schwester gefangen! Ich habe es von Anfang an gewusst!
Mein ungutes Gefühl hatte sich bestätigt!
„Außerdem glaube ich nicht, dass sie die Handschellen ohne Hilfsmittel lösen kann“, fügte David noch selbstsicher hinzu.
„Stimmt“, bestätigte sein Freund. Er hatte auch noch einen Komplizen! Was stellten sie nur mit meiner kleinen Schwester an?
„Joe!“, rief David ungeduldig und klingelte noch ein weiteres Mal.
„Ich denke nicht, dass er irgendetwas ausplappert. Wir haben es jetzt schon soweit geschafft, dass ihre Familie und Freunde sich von Sarah abwenden!“
„Eigentlich sollte ich diesem Kyle mit dem sie was angefangen hat, eine reinhauen!“, sagte David angewidert und klingelte noch ein weiteres Mal.
„Lass uns ihm Morgen nochmal einen Besuch abstatten“, schlug sein Freund vor und überredete ihn.
Einige Minuten wartete ich, als ich mich versicherte, dass die beiden wirklich die Eingangshalle verlassen hatten.
Erleichtert kroch ich unter dem Schreibtisch hervor und mein Blick fiel auf hochpolierte, schwarze Schuhe.
„Shit“, fluchte ich und sah ängstlich nach oben. Mich blickte ein durch Sorgen gefaltetes Gesicht an.
Er musste dieser Joe sein, da er sich ab und zu zur Eingangstür umschaute, ob nicht doch einer von den beiden wiederkam.
„Es tut mir Leid, dass ich in Ihren Sachen rumgeschnüffelt habe!“, entschuldigte ich mich und stand auf. „Sind Sie Joe?“
„Ja, der bin ich“, antwortete dieser nervös und trat von dem einen Bein auf das andere.
Er schien gar nicht darauf einzugehen, was ich unter seinem Schreibtisch verloren hatte, oder warum ich diesen Zettel aus seinen Unterlagen in meinen Händen hielt.
„Hier waren gerade zwei Männer, die Sie sprechen wollten. Sie kommen Morgen wieder!“, erzählte ich ihm und sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Joe wurde nervöser und noch ängstlicher.
„Kennen Sie diesen David?“, fragte ich nach und er blickte stumm an mir vorbei. „Sie brauchen mich nicht anzulügen. Ich weiß, dass Sie ihn kennen. Er hat meine Schwester entführt. Wissen sie zufällig, wo er momentan lebt?“
„Ich kann ihnen nicht helfen“, brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
„Sie müssen aber! Wenn Sie irgendetwas wissen, müssen Sie es mir sagen. Es ist wichtig!“, drängte ich weiter und blickte ihn flehend an.
Er schien mit sich zu rangen. Wahrscheinlich ging er gerade seine Möglichkeiten durch, ob er mich weiterhin anschwieg, doch etwas sagte oder sogar flüchtete.
„Bitte“, bettelte ich eindringlich weiter.
„Ich weiß wirklich nicht, wo er wohnt“, seufzte er ergeben. „Vielleicht finden Sie irgendeine Information in seinem Appartement. Sie sollten sich beeilen, ich weiß nicht, wann er seine Sachen abholen lässt.“
„Welche Wohnung?“
„6. Stock, dort ist nur ein Appartement vorhanden.“
Entschlossen wandte ich mich von ihm ab und ging zielstrebig zum Fahrstuhl.
Es gab sieben Stockwerke – beeindruckend.
Was sollte eigentlich dieser Joe ausplaudern? Er war doch nur der Portier!
Oder er durfte nichts ausplaudern, wenn man sich nach David erkundigte!
Er existierte eigentlich gar nicht!
Oh, mein Gott! Wenn dieser Joe etwas sagen würde, dann töteten sie ihn bestimmt!
Nicht auszudenken war, wenn sie mich unter dem Schreibtisch entdeckt oder gar in der Eingangshalle stehen sahen!
Mit einem ‚Ping‘ öffnete sich die Fahrstuhltür und ich betrat einen kleinen Vorraum.
Die zweite Tür führte ins Treppenhaus und die andere musste in die Wohnung führen.
Ich drückte die Klinke hinunter und sofort schwang die Tür auf. Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet, dass es offen war.
Neugierig sah ich mich um. Es war alles sehr stilvoll eingerichtet.
Ich durchsuchte alle Räume nach irgendwelchen wichtigen Informationen, aber was ich fand, war eine kleine Stelle Blut im Schlafzimmer. Hier war schon lange niemand mehr gewesen, denn das Blut war getrocknet und auf den Schränken zeichnete sich Staub ab.
Aber wenn ich gerade schon hier war, könnte ich eigentlich alle Sachen von Sarah mitnehmen!
Schnell riss ich den riesigen Schrank auf, zog eine Reisetasche unter dem Bett hervor und packte alles, was nicht nach David aussah, ein. Im Bad machte ich dasselbe und erst da fiel mir die Videokamera auf.
Etwas verdutzt blieb ich einige Minuten davor stehen.
Was für ein kranker Freak musste David eigentlich sein?
Da ich durch die Kamera im Badezimmer alarmiert war, suchte ich in den anderen Zimmern auch nach Videokameras ab. Und in allen Räumen war eine dieser technischen Geräte in der Ecke befestigt.
David hatte Sarah rund um die Uhr hinterher spioniert.
Jetzt konnte ich mir eine genauere Vorstellung davon machen, wie sich Sarah fühlen musste.
Eigentlich wollte ich jetzt erst recht nicht mehr wissen, was er ihr für schlimme Dinge angetan hatte!
Die Videokameras waren ja noch harmlos gegen körperliche Gewalt.
Und das Blut im Schlafzimmer ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
Wieso war Sarah nie zu mir gekommen? Ich hätte ihr geholfen, wenn es noch frühzeitig gewesen wäre und David davon nichts mitbekäme!
Aber anscheinend war sie nie allein gewesen!
Oh, Gott! Ich war so froh, dass Ethan nicht so ein scheußlicher Mensch wie David war.
Es tat mir in der Seele weh, einen kleinen Teil zu wissen, wie es Sarah erging.
Nachdem ich nochmal einen Rundgang in der Wohnung gemacht habe und wirklich alle Sachen von Sarah beisammen hatte, verließ ich das Appartement und konnte gerade noch schnell durch die Tür, die ins Treppenhaus führte, verschwinden. Denn da öffnete sich auch schon die Fahrstuhltür
Mein Herz schlug mir mal wieder vor Aufregung bis zum Halse.
Ich wollte hier nicht länger stehen bleiben, vielleicht schaute einer von denen auch noch nach, ob hier jemand war, wenn ihnen auffiel, dass etwas in der Wohnung fehlte.
Schnellte stieg ich die Treppen hinab. Das Treppenhaus war endlos lang. Zum Glück trug ich heute keine hochhackigen Schuhe. Das mussten bestimmt über 100 Stufen sein.
Als ich doch noch das Erdgeschoss erreichte, stürmte ich durch die Eingangshalle und fand dort Joe zusammen geschlagen auf den Boden liegen.
Erschrocken lief ich zu ihm und fühlte seinen Puls. Er lebte noch, war aber bewusstlos.
Ich sollte im Auto einen Krankenwagen rufen und nicht hier.
Erleichtert verließ ich das riesige Haus und hechtete zu meinem Wagen.
Von dort rief ich einen Krankenwagen und verstaute die Reisetasche auf dem Rücksitz.
Rechtzeitig saß ich ihm Auto und schon kamen David und sein Freund aus der Eingangshalle und schlenderten gemütlich, als wenn nichts gewesen ist, zu ihrem Wagen.
Ohne lange zu überlegen folgte ich ihnen.
Mit einem gewissen Abstand, sodass es nicht auffiel, fuhr ich ihnen nach und versuchte gleichzeitig Kyle oder Ethan zu erreichen, doch niemand ging ans Telefon.
Wo waren sie?
Wenn sie sich dafür nicht interessierten, musste ich Sarah wohl auf eigene Faust befreien.
Ein merkwürdiges Gefühl beschlich mich, als wir die Stadt verließen und aufs Land gerieten.
Wo hielten sie Sarah versteckt?
Den Abstand zu den beiden hielt ich sehr dezent.
Immer wieder fiel mein Blick auf die Uhr. Mindestens eine Stunde waren wir schon unterwegs.
Wie weit denn noch?
Irgendwann bogen sie rechts in eine Straßen ein, die viele Bäume umsäumten.
Vorsichtshalber schaltete ich das Licht aus und fuhr im Dunkeln den holprigen Weg entlang.
Bei der Hälfte fuhr ich an die Straßenseite und stieg aus.
Im Handschuhfach hatte ich eine Taschenlampe gefunden und schaltete sie ein. Allerdings hielt ich meine Hand davor, damit der Lichtstrahl mich nicht verriet.
Die Gegend war sehr unheimlich, besonders da es dunkel war. Hinter jedem Busch könnte jemand hervorspringen und mich umbringen. Auf jeden Fall hatte ich zu viele Horrorfilme gesehen. Für die Zukunft sollte ich die Anzahl an DVDs, die mit Horror zu tun haben, sehr reduzieren. Denn jetzt lagen meine Nerven blank.
Weiter vor mir hörte ich gedämpfte Autotüren, die zugeschlagen wurden.
Weit konnte es also nicht mehr sein.
Ich beschleunigte meinen Gang etwas und versuchte keine lauten Geräusche zu machen. Aber dadurch, dass hier so viele Bäume standen und der Weg so uneben war, knirschte es unter meinen Füßen. Vereinzelte Äste brachen und ließen den Wald lebendig erscheinen.
Je weiter ich ging, desto lauter wurden die Stimmen.
Am Ende des Weges versteckte ich mich hinter einem großen Baum.
David und sein Freund betraten gerade diese riesige Villa.
Ein weiteres Mal schaute ich auf mein Handy und stellte fest, dass man hier gar keinen Empfang bekam. Shit! Wenn ich Hilfe bräuchte, säße ich in der Falle.
Kein Wunder, wenn man Sarah nicht erreichte. David hatte ihr aber auch mit Sicherheit das Handy weggenommen.
Nachdem die Jungs in dem Gebäude verschwunden sind, huschte ich zur äußeren Wand und suchte jedes einzelnes Fenster ab.
Gerade sah ich durch eine Fensterscheibe, da wurde plötzlich das Licht angemacht.
Erschrocken zuckte ich zusammen und wich vom Fenster zurück.
Nachdem ich glaubte, dass sie mich nicht bemerkt hatten, sah ich noch einmal nach und beide saßen entspannt vorm Fernseher.
Irgendwann erlitt ich noch einen Herzinfarkt, denn mein Herz schlug mal wieder verräterisch laut in meiner Brust.
Tief durchgeatmet machte ich mich weiter auf die Suche und leuchtete die Taschenlampe durch die Glasscheiben.
Wie viele Fenster besaß diese Villa eigentlich? Woher hatte David das viele Geld?
Und wieso tat er dies überhaupt?
Beim fünften Kellerfenster angelangt, viel mir etwas Merkwürdiges auf. Angestrengt kniff ich die Augen zusammen und erblickte Sarah, die an einem Stuhl geknebelt war.
Geschockt hielt ich mir die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschreien.
Meine Schwester musste mich wohl bemerkt haben und drehte ihren Kopf zum Fenster.
In ihrem Gesicht konnte ich eine Spur von Hoffnung erkennen und sie lächelte mich leicht, aber auch traurig an.
„Ich hole dich hieraus! Versprochen!“, flüsterte ich, holte mein Handy raus und fotografierte Sarahs Zustand, um ein Beweis in der Hand zu halten, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag. Ich musste wenigstens Kyle umstimmen, damit er mir half!
Noch einen letzten hoffnungsvollen Blick zu Sarah und ich machte mich zurück auf den Weg zu meinem Auto.
Kapitel 15
Als David und Jay weggefahren sind, saß ich ganz alleine im Dunkeln. Dieses Mal haben sie mich so richtig an dem Stuhl angekettet. Um meine Handgelenke befand sich eine Handschelle, die sich in meine Haut schabte und darum hatten sie noch Klebeband befestigt. Doppelt hielt besser!
Bei meinen Füßen taten sie dasselbe!
Seufzend schloss ich meine Augen. Ich wusste nicht, wie spät es war. Jegliches Zeitgefühl hatte ich verloren. Nachdem dem kleinen Fluchtversuch ließen die beiden mich kaum noch aus den Augen. Deshalb wunderte es mich, als sie mich für einen längeren Zeitraum alleine ließen. Klar, niemand konnte mich finden und von alleine könnte ich mich nicht befreien, aber die Kameras beobachteten mich weiterhin. Es war wie damals, als ich noch mit David zusammen gelebt habe. Furchtbar!
Vor allem war es so demütigend. Am Anfang heulte ich viel, sehr viel sogar. Wenn sie mich vergewaltigten weinte ich, doch bei jedem Schluchzer, der mir entrang, bekam ich zum Dank eine Ohrfeige. Von da an weinte ich nur stumm vor mich hin. Ich bemerkte es kaum, die Tränen rannen einfach meine Wange hinab. Erst später, wenn meine Wange nass war, wusste ich es.
Dadurch war ich aber auch häufig müde und meine Augen geschwollen.
Plötzlich hielt ich den Atem an. Irgendetwas bewegte sich draußen. Der Mond schien immer durch das kleine Kellerfenster und warf einen merkwürdig großen Schatten an die Wand.
Entkräftet wandte ich meinen Kopf zum Fenster und kniff meine Augen zu, um etwas zu erkennen. Träumte ich jetzt, oder war ich verrückt? Was tat meine Schwester hier? Nein, absolut nicht. Das war die Realität. Lucy hatte mich gefunden!
Leicht kräuselten sich meine vertrockneten Lippen zu einem Lächeln. Endlich durfte ich wieder hoffen. Ein undefinierbares Gefühl stieg in mir hoch. Die Tränen rannen wie ein Sturzbach meine Wange hinab. Sie holte mich hieraus. Es würde nicht mehr lange dauern und ich war in Freiheit.
Ihre stumme Lippenbewegung ließ mich kurz verwirren. Leider konnte ich nicht von den Lippen lesen. Aber als sie ein Gegenstand rausholte und es auf mich richtete, verwirrte sie mich noch mehr. Einen kurzen Augenblick verweilte sie noch vor dem Fenster, ehe sie in der Dunkelheit verschwand. Fünf Minuten lang starrte ich ununterbrochen zum Kellerfenster hoch. Aber je länger ich hoffnungsvoll darauf wartete, dass Lucy wieder kam, desto schneller verging mir dieses Glücksgefühl.
Nur einen kurzen Moment dachte ich wirklich, sie würde mich sofort rausholen, aber das tat sie anscheinend nicht. Sie konnte mich nicht im Stich lassen? Vielleicht holte sie Kyle. Nur an seinen Namen zu denken, ließ mich schwärmen. Ich vermisste ihn sehnsüchtig. Und in der Zeit, die ich hier unten verbrachte, konnte ich mit Sicherheit sagen, dass ich mich in Kyle verliebt habe.
Er war so ganz anders als David. Wieso habe ich Kyle nicht vor diesem Mistkerl kennen gelernt?
Wahrscheinlich wäre alles ganz anders gelaufen! Ich wäre nicht vergewaltigt worden. Gar nichts. Ich hätte ein unbeschwertes Leben haben können.
Plötzlich ging die Tür auf. Ignorierend sah ich weiterhin hoffnungsvoll zum Fenster hoch, bis eine Gestalt sich davor stellte und meine Aufmerksamkeit bekam.
Dreckig grinste mich David an und drehte meinen Kopf wieder in die richtige Position, sonst würde ich mir noch meinen Nacken verrenken.
Angewidert versuchte ich seine Finger abzuschütteln, ohne Erfolg.
„Wie lange willst du das hier noch durchziehen?“, fragte ich mit rauer Stimme und räusperte mich erst einmal, um den Kloß los zu werden. Wie lange hatte ich nicht mehr gesprochen?
„Du gehörst mir!“, entgegnete er nur und strich mit widerlich zärtlich über meine Wange, dabei trocknete er meine Tränen.
Diese indirekte Antwort ließ mich nur erahnen, was er damit meinte. Nämlich für immer!
Hoffentlich kam Lucy ganz schnell zurück und befreite mich. Es war überhaupt ein Wunder, dass sie mich gefunden hatte. Wie sie das wohl angestellt hatte?
Ob Kyle mich eigentlich vermisste? Bestimmt nicht. Ich war ihm sicherlich egal. Schließlich waren wir ja nie zusammen und er konnte tun und machen, was er wollte. Nur, unsere gemeinsame Zeit bei meiner Mutter würde ich nie in meinem Leben vergessen. Es war zu schön um wahr zu sein.
Ich liebte seine fürsorgliche und süße Art. Und dieses Beschützer-Ding mochte ich auch sehr an ihm.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen und verwirrte Jay und David, denn diese sahen mich mit einer hochgezogenen Augenbraue misstrauisch an.
Als ich merkte, dass ich lächelte, blickte ich schnell wieder gleichgültig. Jetzt wollte ich gar nicht wissen, was für ein dreckiges Zeug die beiden dachten.
Und für heute Abend stand schon wieder ungewollter Sex auf den Plan, den ich geflissentlich zu ignorieren versuchte.
Ich beeilte mich nach Hause zu kommen. So schnell wie möglich wollte ich meine kleine Schwester daraus holen. Und ich wusste auch noch nicht, wie es mit Ethan und mir weiterging. Er unterstützte mich nicht und schenkte mir absolut kein Vertrauen.
Ich wusste auch nicht, ob ich ihn nach all dem noch lieben sollte. Unter keinen Umständen konnte ich einen Mann lieben, der mir nicht vertraute. Ethan hätte mich wenigstens etwas unterstützen können, aber anstatt das zu tun, reagierte er immer total genervt auf das Thema. Ganz mit ihm Schluss zu machen, wollte ich noch nicht. Im Moment wusste ich nicht, was ich wollte. Erst einmal Abstand. Sarah gehörte zur Familie. Und die Familie war ein wichtiger Bestandteil meines Lebens, auch wenn ich mit meiner Mutter kein gutes Verhältnis pflegte, doch ich hatte immer noch meine Schwester.
Als ich eben vor dem Kellerfenster stand, da fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich war einerseits so glücklich endlich Sarah wieder zu haben, doch ich war auch tierisch wütend auf David und mich. Wie hatte er sie entführen können?! Einerseits war ich auf mich wütend, da ich nicht schon eher auf die Idee gekommen bin, sie so richtig zu suchen. Vielleicht wäre es sogar besser gewesen einen Privatdetektiv anzuheuern, doch wenn Sarah nicht entführt gewesen wäre, dann hätte ich mir nur unnötige Kosten gemacht. Trotzdem hätte es sich in dieser Situation auf jeden Fall gelohnt! Und auf die Polizei war ich stink sauer! Sie mussten jedem einzelnen Hinweis nachgehen, den es gab. Eventuell musste ich dazu sagen, dass ich mir zu große Sorgen gemacht habe, aber mit Recht. Schließlich habe ich nicht gelogen. Die weibliche Intuition war immer noch das beste Gefühl, auf das man hören sollte. Trotzdem war die Polizei in diesem Fall faul gewesen. Sie hatten doch überhaupt keine Lust mir zu helfen.
Ich schaltete den Motor meines kleinen Pickups ab und machte mich auf den Weg zur Haustür.
Dort begegnete ich auch schon sofort Ethan, der die Tür aufgerissen hatte, um das Haus zu verlassen.
Verwundert blickte er mich an. „Du bist spät!“
„Ja!“, antwortete ich knapp und abweisend. Ich wollte ihn nicht um Hilfe bitten. Auch wenn er mit diesem Foto wahrscheinlich glauben würde, half er mir sicherlich immer noch nicht.
„Wo warst du?“, fragte er mich besorgt und packte mich an meinem Arm, als ich an ihm vorbei laufen wollte.
„Im Gegensatz zu dir versuche ich meine Schwester zu finden!“, zischte ich und riss mich los.
„Was soll das denn jetzt schon wieder heißen?“, empörte er sich und hielt mich auf.
„Nichts!“, giftete ich und rannte die Treppenstufen hoch, dicht gefolgt von Ethan. „Kyle!“
Ich schrie das ganze Haus zusammen und kurz bevor ich Kyles Zimmer erreichte, kam mir mal wieder mein lieber Freund in die Quere.
„Ich habe jetzt keine Zeit!“, zischte ich genervt und wollte an ihm vorbei nach der Türklinke greifen, was er natürlich nicht zuließ.
„Kyle hat auch keine Zeit!“, entgegnete er ernst und versuchte mich mit seinem bitter bösen Blick aufzuhalten.
„Klar, hat er eine Verabredung mit seinen Games?!“, erwiderte ich sarkastisch und verschränkte meine Arme vor der Brust.
„So ähnlich“, antwortete Ethan ausweichend. Irgendetwas war da faul. Kyle hatte bestimmt kein Date mit seiner Konsole!
Ethan wusste meine Ansicht. Ich war nicht mehr dagegen, wenn sein Freund mit meiner Schwester zusammen war. Schließlich hatte er mir vorletzte Nacht gestanden, dass er Sarah liebte. Dann sollte er auch dazu stehen und sich jetzt nicht mit anderen Frauen vergnügen.
Mit Absicht rempelte ich Ethan an und öffnete die Tür. Das erste, was mir entgegen kam, war Rauch.
Hustend wedelte ich diesen stinkenden Nebel von meiner Nase weg.
Was stank hier denn nur so furchtbar? Das war kein normaler Zigarettengeruch!
„Kyle!“, rief ich angewidert und suchte mir blind einen Weg durch das Zimmer zum Fenster. Dabei stolperte ich über all die möglichen Dinge, die ich zu ignorieren versuchte.
Als die frische Luft meine Lunge füllte, war ich um einiges zufriedener.
„Wo bist du?“, fragte ich verwirrt. In diesem Raum befanden sich eindeutig zu viele Menschen. Und irgendein Irrer blies mir Rauch ins Ohr.
„Hier“, kicherte links von mir und ich erkannte eine schemenhafte Gestalt, die sich erhob. „Was gibt’s denn heute, Mama?!“
Und die anderen stimmten in sein Kichern mit ein.
„Das ist jetzt echt nicht witzig!“, empörte ich mich und stemmte meine Hände an die Hüfte. „Es geht um Sarah!“
Seufzend ließ sich Kyle wieder auf sein Bett fallen und zog an so einem komischen Schlauch.
„Hallo! Erde an Kyle!“, rief ich wie eine bekloppte zu ihm und wedelte vor seinem und meinem Gesicht den Rauch weg, den er mir zu blies.
Etwas gestört blickte er mich an.
„Was willst du?“, fragte er genervt und übergab diesen Shisha-Schlauch einem attraktiven Mädchen weiter, das ihn wie eine Klette anfasste.
„Ich weiß, wo Sarah ist!“, fing ich das unangenehme Gespräch an und ich hoffte innerlich, dass er von seinem Trip runterkam und mir half.
„Schön, grüß sie von mir“, entgegnete er gereizt und fing mit dem Mädchen an zu knutschen.
„Geht’s noch?“, rief ich empört und riss ihn von ihr weg.
„Fass mich nicht an“, zischte er und funkelte mich böse an. „Sie ist mir egal!“
„Letztens hast du noch gesagt, dass du sie liebst!“
„Das war einmal.“
Verzweifelt hielt ich inne und die Tränen stiegen in mir hoch. „Sie braucht deine Hilfe – unsere Hilfe“, flüsterte ich gequält. „David…“
„Oh, man! Fang nicht von diesem Kerl an. Mir reicht’s! Verschwinde aus meinem Zimmer!“
Schnell holte ich mein Handy aus der Hosentasche und suchte das Foto. Gerade wollte ich es ihm zeigen, doch dann packte mich jemand meinem Arm und zog mich aus dem Zimmer.
„Hallo! Lass mich los!“, rief ich empört und schmiss mein Handy zu Kyle. „Sieh es dir an!“
Erst als ich draußen war, sah ich, wer mich aus dem Zimmer gezerrt hatte. Ethan! Konnte er sich nicht mal aus meinen Angelegenheiten raushalten? Er ging mir tierisch auf die Nerven!
Wütend riss ich mich von Ethan los und rannte die Treppe eilig hinunter. Wenn Kyle mir nicht helfen wollte, musste ich es irgendwie alleine versuchen meine Schwester daraus zu holen. Ich hingegen ließ sie nicht im Stich. Wenige Sekunden später erreichte ich die Tür, da rief auch schon jemand meinen Namen.
Hoffnungsvoll drehte ich mich zu Kyle um, der sich umständlich ein T-Shirt über den Kopf zog.
Unten angekommen gab er mir erst einmal mein Handy wieder, das ich sofort einsteckte.
„Du hast aber lange gebraucht ein schlechtes Gewissen zu kriegen!“, empörte ich mich. „Du kannst es nicht verleugnen, du liebst sie!“
„Sorry, aber jetzt kann ich davon ausgehen, dass diese SMS nicht von ihr stammt, sowie der Brief!“, entgegnete er peinlich berührt und gemeinsam verließen wir das Haus. „Am liebsten würde ich diesen Dreckskerl begraben!“
„Du weißt nicht, wie gerne ich das auch machen möchte“, bestätigte ich und schloss meinen Pickup auf.
„Lass mich fahren, dann sind wir schneller da“, schlug Kyle plötzlich vor und ich sah ihn nur noch entgeistert an.
„Natürlich nicht. Bin ich von allen guten Geistern verlassen! Dich lasse ich bestimmt nicht meinen Wagen fahren!“
„Hey! Beleidige meine Fahrkünste nicht!“, verteidigte er sich auch noch selber.
Genervt verdrehte ich die Augen und startete den Motor.
„Wer war eigentlich diese Tussi, die an dir gehangen hatte?“
„Eve, kennst du nicht, war aber eine schöne Zeitvertreibung“, entgegnete er fies lächelnd und ich bog auf die Hauptstraße ein.
„Lass das nicht Sarah hören!“, tadelte ich ihn und sah angestrengt nach vorne. Es war stockfinster. Gut, dass es die Erfindung der Scheinwerfer gab.
Hoffentlich überfuhr ich kein Reh…
„Sarah und ich sind nicht zusammen. Außerdem weiß ich ja noch nicht einmal, ob sie was für mich empfindet!“, entgegnete er ahnungslos. „Müssen wir jetzt diese Mädchengespräche führen? Das ist echt peinlich!“
Ein paar Minuten lang saßen wir schweigend in meinem Wagen. Es war nicht diese drückende peinliche Stille, bei der man nicht wusste, was man sagen sollte. Es war einfach anders. Sarah mag Kyle und zwar gerne. Das sah sogar ein Blinder mit einem Krückstock. Und bei dem Idioten, ein Platz weiter neben mir, war es derselbe Fall.
Und wenn wir erst einmal meine kleine Schwester befreit haben, dann übte das sicherlich auch einen positiven Effekt bei Kyle aus.
Seit sie – meiner Meinung nach – verschwunden war, fiel er in ein sogenanntes Tief. Sarah würde ihn sicherlich wieder auf die richtige Bahn lenken.
Eine halbe Stunde später schaltete ich die Scheinwerfer aus, bog in den kleinen Waldweg ab und stellte den Wagen nach ein paar Metern an die Seite.
Leise stiegen wir aus und drückten die Türen an das Auto. Das Knallen hätte uns bestimmt verraten.
Kyle lief kampfbereit voraus und lotste mich in die perfekten Verstecke, wenn bei uns das Gefühl hoch kam, dass wir beobachtet wurden.
Das nervöse Kribbeln in meiner Hand versteckte sich nur noch, je näher wir dem Gebäude kamen.
Dieses Gefühl David einen Kinnhaken zu verpassen, war unbändig stark. Aber ich glaubte, bei Kyle war es schlimmer. Seine ganze Körperhaltung war bis auf den letzten Zentimeter angespannt, selbst sein Kiefer. Und seine Hände ballten sich zu Fäusten und umklammerten einen schwarzen Gegenstand.
„Hey! Sag mal, was hältst du da eigentlich in der Hand?“, flüsterte ich misstrauisch und hielt die Taschenlampe auf den Gegenstand. „Bist du irre!“
„Was denn?“, giftete er genervt zurück und sah zu dem Gegenstand in seiner Hand hinab. „Krieg dich wieder ein! Das ist nur eine Pistole!“
„Nur eine Pistole!“, quietschte ich ein paar Oktaven höher, natürlich im Flüsterton. „Woher hast du dieses, dieses Ding!“ Angewidert blickte ich das Teil an. Eine falsche Bewegung und er könnte mich abknallen. Und er hatte bestimmt einen triftigen Grund mir die Knarre ins Gesicht zu halten.
„Das ist nur zu unserer Sicherheit!“, seufzte er genervt. „Euer David hat bestimmt noch hochwertigere Sachen!“
„Unser David?! Spinnst du?!“, schrie ich schon fast und schlug ihm gegen den Arm. „Pack dieses verdammte Ding weg! Meinetwegen kannst du die bei David und seinem Freund einsetzen, aber sonst entsorgst du die! Ich will keine Waffe in meinem Haus wissen!“
„Ja, Mama!“
„Idiot“, murmelte ich und blieb dicht hinter ihm. Auf keinen Fall lief ich vor ihm. Man sollte nie jemanden den Rücken zuwenden, wenn man genau wusste, dass etwas passieren könnte.
Jetzt wurde ich allmählich paranoid, aber die Sorge um meine Schwester übermannte mich einfach zu sehr.
Leise stiegen wird die Treppen der Veranda hoch und lauschten. Stille. Absolute Stille. Kein einziges Geräusch war zu hören.
„Vielleicht sollten wir mal um das Haus gehen und uns umschauen“, schlug ich achselzuckend vor.
Kopfschüttelnd hielt er mir plötzlich seine Knarre hin.
„Halt mal“, forderte er mich unfreundlich auf und drückte sie mir in die Hände.
Ich konnte mal gerade soeben einen Schrei unterdrücken. Angewidert hielt ich es mit zwei Fingern fest. Mit solchen Teile wollte ich eigentlich nie in Berührung kommen.
Über meinen komischen Gesichtsausdruck musste sich Kyle ein Lachen fast verkneifen und kniete sich hin.
„Hast du eine Spange?“, fragte er plötzlich und drückte die Klinke kurz herunter. Die Haustür war verschlossen. „Hast du oder hast du nicht?“
Eifrig holte ich eine kleine Spange aus meinem Haar und übergab diese ihm.
Flink verbog er das Metall und steckte es in das Türschloss. Für einige Sekunden vernahm man nur unseren hektischen Atem, bis auf einmal „Klick“ ertönte.
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich in Kyles Gesicht aus und überreichte mir meine verbogene Haarspange.
„Die kannst du behalten“, entgegnete ich nur grimmig und drückte ihm schnell wieder seine Waffe in die Hände.
Wenn hier nicht zwei Idioten leben würden, dann wäre das eigentlich ein sehr schönes und großes Haus, fast wie eine Villa.
Leise schlichen wir durch den Gang und ein lautes Schnarchen hallte durch die Wohnung.
Ein Knarren, das von vorne kam, weckte ihn. Kyles schnelle Reflexe retteten uns, denn sonst hätten sie uns entdeckt. David schlenderte arrogant wie eh und je zu seinem Kumpel und ließ sich erschöpft auf das Sofa fallen.
Nur eine Wand trennte mich von diesen beiden Mistkerlen. Und das Kribbeln in meinen Händen wurde stärker.
„Sarahs Schwester macht sich so lächerlich. Als ob wir nicht wüssten, dass sie uns sucht. Nur leider scheint niemand ihr zu glauben!“ Davids arrogante Stimme zu hören, ließ mich beinahe würgen.
„Connections bei der Polizei zu haben ist nur von Vorteil!“, fügte Jay noch hinzu und ließ sich seufzend weiter in den Sessel sinken.
Connections bei der Polizei – Ich hätte es wissen müssen. Der Polizist mit dem ich gesprochen habe, der steckte bestimmt mit den beiden unter einer Decke. Das Bedürfnis auf etwas einzuschlagen, wurde stärker und stärker. Ich konnte mich gerade noch so zurückhalten und uns nicht aufliegen lassen, denn wir hatten uns auf dem Hinweg einen Plan überlegt. Ich sollte Sarah suchen, befreien und flüchten. Während Kyle sich um die Mistkerle kümmerte.
„Okay, du gehst jetzt zu Sarah“, flüsterte er kaum hörbar in mein Ohr. „Ich gib dir Rückendeckung!“
Einverstanden nickte ich. Das mulmige Gefühl, das etwas schief laufen wird, stieg plötzlich in mir hoch.
Meine weibliche Intuition ließ mich bisher nicht im Stich.
Ich schluckte den riesigen Kloß im Hals hinunter und schlich mich an der offenstehenden Tür, die ins Wohnzimmer führte, vorbei. Anscheinend musste einer von den beiden eine schattenhafte Bewegung wahrgenommen haben, denn David sagte plötzlich: „Da war was!“
Panisch drehte ich mich zu Kyle um, der seinen Finger auf seine Lippen legte und die andere Hand wedelte mir entgegen, dass ich weitergehen sollte.
Tief durchgeatmet machte ich mich auf den Weg zu der Tür, aus der David vorhin rausgekommen war.
„Du siehst Gespenster“, lachte Jay und machte sich über seinen Kumpel lustig.
„Ich gehe trotzdem mal gucken. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich spüre das“, sagte David misstrauisch und verließ das Wohnzimmer.
Und genau in dem Moment begegneten sich unsere Blicke. Verärgert und etwas anderes blitzte in seinen Augen auf.
Erschrocken wich ich weiter zu der Tür und wartete darauf, dass Kyle etwas unternahm. Aber bisher tat er nichts.
„Wen haben wir denn da?“, fragte er belustigt und kam mit langsamen großen Schritten auf mich zu.
Doch bevor er irgendetwas Weiteres machen konnte, schlug Kyle mit seiner Pistole gegen Davids Kopf. Dieser fiel bewusstlos auf den Boden.
„David?“, hörten wir Jays Stimme und da stand er plötzlich im Flur.
„Los, geh!“, rief Kyle mir zu und er lief Jay entgegen.
Hastig rannte ich die Treppen hinunter in den Keller. Oben hörte man Kampfgeräusche.
Ich öffnete die erst beste Tür und fand Sarah erschöpft und verängstigt mit Tränen in den Augen an geknebelt auf dem Stuhl sitzen.
„Sarah“, flüsterte ich erleichtert und stürzte auf sie zu.
Überglücklich nahm ich sie in die Arme und wieder einmal zuckte sie unter meiner Berührung zusammen. Es war noch schlimmer, als am Anfang.
„Was hat er nur mit dir gemacht?“, fragte ich verzweifelt und unterdrückte die Tränen. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder heulen sollte. Dieser Moment war einfach nur katastrophal.
Noch nie war ich so hilflos wie jetzt. Ich wusste einfach nicht, was ich aufmunterndes sagen sollte.
Ich schluckte den riesigen Kloß runter und versuchte den Knebel um ihre Hände zu lösen.
Als ich das nach einigen Mühen schaffte, kam die Handschelle dran. Die verbogene Spange, die ich Kyle gegeben hatte, könnte ich jetzt gut gebrauchen. Aber zum Glück befand sich in meinem Haar noch eins von diesen nützlichen Gegenständen.
Ich machte es genauso wie Kyle und – bei mir dauerte es etwas länger – schaffte es doch noch.
Ihre Handgelenke sahen furchtbar aus. Blutkrusten liefen um ihren Arm entlang.
Sie besaß bestimmt furchtbare Schmerzen. Sarah sagte nichts. Sie rieb sich wortlos ihre Handgelenke, während ich mich um den Knebel kümmerte, der um ihre Füße gebunden war.
Beim Lösen der Knoten brach mir ein Fingernagel ab. Seufzend widmete ich mich meiner Aufgabe weiter.
„Hey, Süße! Es wird wieder alles gut!“, versprach ich meiner kleinen Schwester und nahm ihr Gesicht in meine Hände. Tränen rollten ihre Wange hinab und benetzten meine Fingerspitzen.
Tiefe Augenringe zierten ihr Gesicht. Ihre Augen waren rot und angeschwollen vom Weinen.
Sie musste wohl oft geschlagen worden sein, denn ihre linke Wange war knallrot.
Am liebsten würde ich David…zum Mond schießen!
Plötzlich weiteten sich Sarahs Augen und starrten an mir vorbei.
Verwirrt drehte ich mich um und bekam von David einen Schlag gegen den Hinterkopf.
Kraftlos fiel ich zu Boden und konnte mich gerade noch so an mein Bewusstsein krallen. Ich wollte nicht bewusstlos werden und Sarah im Stich lassen. Mein Kopf pochte vor Schmerz.
„Du Schwein! Was hast du mir ihr angestellt?“, rief ich wütend und stand mit wackeligen Beinen auf, doch er lachte nur dreckig und wollte zu mir kommen. Aber Sarah stellte sich ihm in den Weg. Ihr Auftreten war nicht gerade Selbstbewusst, ihre Entschlossenheit bröselte und jeden Augenblick würde sie heulend zusammen klappen.
Wieso war David überhaupt hier unten? Warum kümmerte sich Kyle nicht um ihn? Jetzt haben wir dieses Problem an der Backe.
Mit einer schnellen Bewegung schubste er Sarah aus dem Weg, die total entkräftet auf den Boden fiel. Sämtliche Knochen knackten und knirschten auf dem Boden.
Doch bevor David mir irgendetwas antun konnte, knallte es plötzlich. Erschrocken zuckte ich zusammen und sah mit geweiteten Augen David zusammen klappen.
Geschockt hielt ich mir die Hand vor meinem Mund und blickte Kyle ungläubig an, der sein Pistole auf David gerichtet hatte.
Sarah war noch viel mehr aufgelöster und verkroch sich in die hinterste Ecke.
Anscheinend erkannte sie Kyle nicht mehr wieder. Ja, er hatte sich wirklich zum Negativen hin verändert. Früher konnte ich ihm auch nicht zutrauen eine Person zu erschießen und jetzt… Mir fehlten einfach die Worte.
Ich konnte nur schätzen, wie sich Sarah in diesem Moment fühlte.
Einen Augenblick lang gönnte ich dem regungslosen David noch einen Blick, ehe ich mich zu meiner Schwester gesellte.
Ihre Augen klebten an dem regungslosen Mistkerl fest. Eigentlich sollte man niemandem dem Tod wünschen, doch bei dieser Person tat ich es.
„Hey, Süße. Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit“, versuchte ich sie zu beruhigen und wollte meinen Arm ausstrecken, um sie mitfühlend zu tätscheln, aber ich überlegte es mir doch noch. Vielleicht sollte man sie mit Berührungen nicht all zu überfordern oder erschrecken.
Sie musste sich erst einmal wieder an den normalen Tagesablauf wieder gewöhnen und das würde sicherlich schwer werden.
Publication Date: 08-16-2011
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