Unruhig wälzte sich Prinz Saidon auf dem viel zu weichen Bett. Die Luft im Palast war aufgeladen wie vor einem Gewitter, aus dem Garten drang schwerer Duft von Rosen und Jasmin. Obwohl es schon sehr spät war, huschten immer noch Diener durch die Gänge, um alles für das große Ereignis am morgigen Tag vorzubereiten: seine Vermählung mit einer ihm unbekannten Braut – und er war noch keine siebzehn Jahre alt.
Als er endlich in einen unruhigen Schlaf sank, träumte er, dass sich eine tiefverschleierte Gestalt seinem Bett näherte. Sie ließ sich neben ihm nieder, und er wusste, dass er jetzt ihren Schleier lüften musste, doch sein Arm blieb einfach liegen wie das Schwert eines Feiglings. Schließlich packte das Wesen mit herrischem Griff seine Hand und führte sie an den Schleier – da erwachte Saidon schweißgebadet.
Die Stille war vollkommen, ebenso der Mond, der durchs Fenster schien – und die Frau, die in seinem Schein badete. Nie und nimmer ein irdisches Wesen. So viel Schönheit war keinem Menschenweib gegeben. Außerdem hatte sie keine feste Gestalt, sondern schien aus Licht und Nebel geformt und schwebte mehr, als dass sie stand. Für einen kurzen Moment vergaß Saidon die Lehren des Propheten und wollte sich auf den Boden werfen, um die Mondgöttin anzubeten. Doch er besann sich gleich wieder. Ganz gewiss handelte es sich um eine Dschinniya, ein Wesen aus der Geisterwelt – umso mehr ein Grund, sie mit Respekt zu behandeln. Er stand artig auf, verbeugte sich etwas linkisch in seinem Nachtgewand und sprach mit zitternder Stimme: „O Dschinniya, Blume des verborgenen Reiches, welch glückliche Fügung bringt dich zu mir?“
Die zauberhafte Schöne legte einen Finger auf seinen Mund, es war, als würden seine Lippen mit Rosenwasser benetzt.
„Schweig, Prinz, du weckst deine Wächter noch auf. Komm, ich will dir etwas zeigen!“
Dann legte sie ihre substanzlosen Arme um ihn, und sofort ergriff ihn ein Schwindel, nicht nur vor Wonne, sondern auch, weil er wirklich durch die Luft getragen wurde. Sanft landete er auf einem Teppich, der sogleich nach oben schoss und Drehungen wie ein tanzender Derwisch vollführte. Dem Prinzen wurde flau im Magen, er klammerte sich an die Kante des fliegenden Geisterteppichs und gab sich Mühe, nicht zu schreien, denn die schöne Dschinniya sollte ihn auf keinen Fall für einen Feigling halten. Wie froh war er, als sie langsamer wurden und über der Kuppel des prächtigen Palastes anhielten, in dem Saidon aufgewachsen war und den er noch nie verlassen hatte. Hier regierte seine Mutter, die Sultanin Furaya.
„Aber Dschinniya, wir haben uns ja gar nicht fortbewegt.“
„Nicht im Raum, junger Prinz, aber in der Zeit. Sieh, alles ist geschmückt für eine Hochzeit, doch es ist nicht deine!“
Der Teppich senkte sich ein wenig und hielt vor dem Fenster zu einem festlich geschmückten Gemach. Mehrere Dienerinnen richteten die Braut gerade für die Hochzeitsnacht her, kämmten ihr Haar, salbten ihre Haut mit edlen Düften und hüllten ihren Körper in ein seidenes Nachtgewand. Doch während aus den anderen Räumen des Palastes Lachen und Musik ertönten, herrschte in diesem eisiges Schweigen. Schließlich schickte die Braut mit ungeduldiger Geste alle Dienerinnen bis auf eine weg und wandte sich dem Fenster zu.
Saidon konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken, denn es war seine Mutter Furaya, die ihn natürlich weder hören noch sehen konnte. Nie hätte er geglaubt, dass diese strenge, herrische Frau einmal so mädchenhaft ausgesehen hatte, dass ihre Züge so weich und verletzlich, voller Angst und Trauer sein konnten. Doch die Entschlossenheit, die die spätere Herrscherin auszeichnete, war bereits zu erkennen.
„Bring mir Gift, Kaira.“
„Gebieterin, nein ...“
„Bring mir Gift! Ich hasse diesen Mann und er wird mich niemals besitzen. Er hat unser Königreich unterworfen, meinen Vater und meine Mutter getötet und zwingt mich jetzt, seine Frau zu werden. Lieber will ich sterben!“
„Edle Gebieterin, bitte besinnt Euch! Gebt acht, was ich Euch sage: Ihr müsst die Hochzeitsnacht durchstehen. Aber sobald Euer Gemahl fest schläft, träufelt ihm dieses Gift zwischen die Lippen. Er wird von einer schlimmen Krankheit befallen werden, die ihn langsam und qualvoll dahinraffen wird. So wird Eurer Rache Genüge getan. Euer Tod nützt dagegen niemandem.“
Mit diesen Worten hielt sie der Braut ein Fläschchen hin.
„Mit so viel Hass hat mein Leben begonnen?“, fragte Saidon und sah mit Grauen zu, wie Sultan Shalakman das Gemach betrat, um sich zu nehmen, was sein war. Dieser machtbesessene, lüsterne Tyrann, der sich an der Angst seiner Braut weidete, deren Familie er ermordet hatte, war sein Vater? Weinend verbarg der Prinz sein Gesicht.
„Schau hin, Prinz!“, flüsterte die Dschinniya, die den Teppich gnädigerweise ein wenig gedreht und ein oder zwei Stunden übersprungen hatte: Der Sultan schnarchte befriedigt. Furaya aber nahm das Fläschchen, das die Dienerin ihr gegeben hatte, und träufelte ihrem Gemahl eine Flüssigkeit zwischen die Lippen. Ihr Gesicht trug jetzt den harten, strengen Zug, den Saidon an ihr kannte und fürchtete.
Die Dschinniya steuerte nun den Teppich in kleinen Schritten, so dass die Zeit im Eilflug an ihnen vorbeizog.
Nach der Hochzeitsnacht wurde der Sultan von einem Fieber befallen, und stinkende Eiterbeulen bildeten sich an seinem Körper. Kein Arzt kannte diese Krankheit, und alle glaubten, er würde sicher nach ein paar Tagen dahingerafft.
Doch er blieb am Leben, hingebungsvoll von seiner Gattin gepflegt, die ihm alle seine politischen Geheimnisse entlockte und durch Ränke und Bündnisse allmählich zur wahren Herrscherin über das Land aufstieg. Unter ihrem Einfluss ließ der kranke Sultan seine männlichen Verwandten hinrichten oder ermorden, denn kein anderer als sein Sohn, mit dem Furaya schwanger war, sollte ihn beerben, und bis zu seiner Volljährigkeit im Alter von siebzehn Jahren würde seine kluge Mutter für ihn regieren.
Saidon sah sich selbst als neugeborenes Kind. Sein Vater segnete ihn und tat gleich darauf seinen letzten Atemzug, seine Mutter weinte pflichtbewusst am Totenbett, während sie innerlich jubelte, überließ ihren Sohn einer Amme und widmete sich ihren Pflichten als Interims-Sultanin, wie es ihr Gemahl verfügt hatte. Sie regierte mit eiserner Hand, schaltete politische Gegner skrupellos aus, und kein benachbarter König wagte es, um die Hand der Witwe anzuhalten. Ihre Züge verhärteten sich und bald fehlte nur noch der Bart, und jeder hätte sie für einen Mann gehalten. Ihren Sohn aber ließ sie wie ein Mädchen aufwachsen. Er verbrachte sein junges Leben auf weichen Decken in luxuriösen Gemächern und erfuhr so gut wie nichts von der Welt.
„Nach deiner Hochzeit sollst du Sultan sein, mein Prinz! Aber hat dich irgendjemand auf Regierungsgeschäfte vorbereitet?“, fragte die Dschinniya, und der Junge musste ihr beipflichten.
Er wusste nichts über seine künftigen Untertanen, hatte keine Ahnung, wie man Verhandlungen oder Kriege führte. Seine Mutter hatte ihn weltfremd aufwachsen lassen und ihm kurz vor seiner Volljährigkeit verkündet, sie hätte eine Braut für ihn ausgesucht, weil ein Sultan eben eine Gattin brauche.
„Soll ich dir zeigen, wer die Auserwählte ist?“, fragte die Dschinniya, und bevor Saidon antworten konnte, erhob sich der Teppich wieder in die Lüfte und wirbelte durch die Zeit zurück in die Nacht vor seiner Hochzeit.
„Nun, mein Prinz, sieh sie dir an, deine Braut! Auch sie kann heute Nacht nicht schlafen.“
Zuerst begriff Saidon nicht, was die Dschinniya meinte. Sie hatten vor dem Gemach seiner Mutter Halt gemacht. Diese ging ruhelos im Zimmer auf und ab und murmelte vor sich hin. Außer ihr war niemand im Raum. Doch das prächtige Brautgewand mit dem seidenen Schleier lag über einem Diwan ausgebreitet.
„Das verstehe ich nicht. Wo ist denn meine Braut?“
„In diesem Gemach, Prinz.“
„Wo? Hier ist nur meine Mutter.“
„Ganz recht, Prinz.“
Wie eine unheimliche Luftspiegelung blitzte die Wahrheit in Saidons Bewusstsein auf und verflüchtigte sich gleich wieder.
„Du meinst, nein, das ist nicht möglich, nein, nein, nein ...“
„Doch! Begreif es endlich. Die Sultanin hat beschlossen, ihren eigenen Sohn zu ehelichen, damit sie bis an ihr Lebensende an der Macht bleibt. Da du nicht gelernt hast zu regieren, wird sie für immer die Amtsgeschäfte für dich führen. Das ist ihr schändlicher Plan!“
Nun konnte Saidon nicht mehr an sich halten und stieß einen Schrei aus, wie ein Tier, das begreift, dass es zur Schlachtbank geführt wird. Die Sultanin fuhr herum, einen Moment lang sahen sich Mutter und Sohn in die Augen. Wahnsinn, Verblendung und Machtgier entstellten Furayas Gesicht, und der Prinz zweifelte nicht mehr daran, dass die Geisterfrau die Wahrheit gesprochen hatte. Dann wirbelte er wieder in tiefste Nacht, denn die Dschinniya hatte den Teppich gewendet.
Saidon öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder. Eine gleißende Helle umgab ihn und es herrschte eine Hitze wie in der tiefsten Hölle. Er blinzelte ein paar Mal, bis sich seine Augen so weit an die Helligkeit gewöhnt hatten, dass er sie offen halten konnte, und blickte sich um.
Wüste in alle Richtungen bis zum Horizont, welch ein Unterschied zu den überschaubaren, heimeligen Gemächern, die er gewöhnt war. Weit und breit keine Diener, die ihm Luft zufächelten und seinen schrecklichen Durst stillten. Auch die schöne Dschinniya war mitsamt ihrem fliegenden Teppich verschwunden und hatte ihm weder ein Amulett noch eine magische Lampe dagelassen, nichts, womit er sie hätte rufen können. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben war der verwöhnte Prinz Saidon ganz auf sich allein gestellt.
Die Enthüllungen der vergangenen Nacht kamen ihm in den Sinn und ihn schauderte, doch nur ganz kurz. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, er musste dringend Schatten finden – und vor allem Wasser. Seine Kehle war trocken wie Sand.
Saidon schickte ein Gebet zu Allah und wandte sich in eine Richtung. Seine Füße wurden immer schwerer, wie er so durch den Sand stapfte, und doch schien er nicht voranzukommen. Die Wüstenlandschaft blieb immer gleich, und bald wusste er nicht mehr, ob er eine Minute oder drei Stunden gegangen, ob er nur auf der Stelle getreten oder im Kreis gelaufen war. Auch die Hitze wurde nicht weniger und der Prinz sank mutlos in den Sand. Dort blieb er liegen und stellte sich vor, wie alles Fleisch von ihm abfiel und er zu einem ausgebleichten Skelett wurde.
Doch halt – ein Skelett konnte nicht fühlen, und er spürte ganz deutlich ein Krabbeln auf seiner Haut. Ein winziges Tierchen bewegte sich unter seinem Gewand und war schon auf seinem Hals. Saidon hatte nicht mehr die Kraft, die Hand zu heben, schaffte es gerade noch, den Kopf zu drehen, um den Störenfried vielleicht abzuschütteln, da erblickte er in kurzer Entfernung einen riesigen Skorpion.
„Auch gut“, dachte der Prinz, „jetzt wird der mich eben von meinen Qualen erlösen.“ Er war wohl ohnehin schon tot, denn wie konnte es sonst sein, dass er plötzlich die Skorpionsprache verstand?
„Mein Söhnchen ist fortgelaufen“, schnarrte das furchterregende Tier und klapperte bedrohlich mit den Scheren. „Bring es mir wieder, dann lasse ich dich am Leben.“
Nun erkannte der Jüngling, dass es eine Skorpionmutter war, die mehrere ihrer Jungen auf dem Rücken trug. Die Kleinen waren weiß und hilflos und offensichtlich noch nicht fähig, ohne ihren Schutz zu überleben.
Ehe er seine schwere Zunge bewegen konnte, um zu antworten, vernahm er ein Flüstern an seinem Ohr: „Bitte sag ihr nicht, dass ich hier bin. Stell dich tot.“
Der Prinz ließ den Kopf noch tiefer in den Sand sinken, um anzudeuten, er sei gerade gestorben, und viel fehlte ja wirklich nicht. Wütend klapperte die Skorpionin mit den Scheren und ging ihres Weges.
„Danke“, flüsterte der kleine Skorpion und kroch auf die Nasenspitze des Prinzen, so dass dieser ihm direkt in die Augen sehen konnte. Er war größer als seine Geschwister, nicht mehr weiß und hilflos, sondern er hatte schon einen eigenen Panzer, Scheren und – einen Stachel. Doch Saidon war zu erschöpft, um sich noch zu fürchten.
„Sie wollte mich fressen, damit sie Kraft bekommt, um meine Geschwister durchzubringen. Aber du hast mich gerettet.“ Ganz leicht, wie im Scherz, stach er ihn in die Nase, und sofort spürte Saidon seine Lebensgeister zurückkehren.
„Ich dachte, ihr Skorpione verspritzt Gift.“
„Wenn wir wollen, spenden wir auch Medizin. Bleib noch ein wenig liegen, bis die Feuerhexe da oben sich vertrollt hat, dann zeige ich dir das Paradies der Wüste.“
Als die unbarmherzige Sonne endlich verschwunden war, erhob sich der Prinz, und der kleine Skorpion auf seiner Schulter wies ihm den Weg zu einer Wasserstelle, wo sogar ein paar Gräser wuchsen, die ihm köstlicher schmeckten als die feinsten Speisen, die er je im Palast verzehrt hatte. Sein Gefährte erjagte sich ein Festmahl aus Käfern und Flöhen.
Danach erzählte der Prinz dem neuen Freund seine traurige Geschichte. Dieser kicherte nur und sagte: „Dann hast du ja das Gleiche erlebt wie ich. Auch du bist deiner Mutter vom Rücken gesprungen, weil sie dich fressen wollte. Aber wir kommen beide ganz gut allein zurecht, nicht wahr?“
„Ja, ich denke schon.“ In dieser Nacht blieb Saidon lange wach, und als der Mond aufging, erinnerte sich an die schöne Dschinniya und fühlte eine Sehnsucht, so weit wie die unermessliche Wüste.
Tage und Wochen streiften der Prinz und der Skorpion durch die Wüste. Das Tier brachte seinem Freund alles bei, was man zum Überleben wissen musste, wie man Wasserstellen fand, wohin man sich vor Sandstürmen flüchtete, wie man der Feuerhexe trotzte und auch wie man die wenigen Pflanzen der Wüste als Heilkräuter einsetzte.
Der Skorpion wurde größer und größer. Immer wieder warf er seine alte Haut ab, auf dass eine neue wachsen konnte.
Auch Saidon „häutete“ sich. Aus dem bleichen verzärtelten Palastprinzen wurde ein sonnenverbrannter junger Arzt, der durch die Dörfer zog und die Kranken heilte. Die Menschen achteten ihn und beteten für ihn, weil er sehr viel Gutes tat, sich allen gegenüber bescheiden und freundlich verhielt und nur so viel Geld annahm, wie er zum Leben brauchte. Niemand wusste von seinem achtbeinigen, scherenbesetzten Lehrmeister, den er immer in einem Korb bei sich trug und der ihn bei der Behandlung von Kranken beriet und manchmal mit Gift aus seinem Stachel unterstützte.
Seinen Bart ließ Saidon länger und länger wachsen, und so erkannte ihn niemand, als er eines Tages das Land der Sultanin Furaya erreichte.
Er hörte, dass die Herrscherin schwerkrank sei und machtgierige Höflinge sich schon um ihre Nachfolge stritten, denn seit ihr einziger Sohn vor einigen Jahren spurlos aus dem Palast verschwunden war, gab es keinen rechtmäßigen Erben mehr.
Saidon teilte dem Skorpion mit, dass er versuchen wollte, Furaya zu heilen.
„Du hast mir erzählt, sie wäre eine böse Frau. Willst du ihr wirklich helfen?“, fragte das Scherentier.
„Mein Freund, ich habe ihr immerhin mein Leben zu verdanken, und die Dschinniya ...“ – er hielt inne, weil wieder der Schmerz der Sehnsucht in ihm hochstieg, der ihn vor allem in Vollmondnächten quälte – „sie hat mir damals gezeigt, warum meine Mutter so geworden ist. Ich denke, ich kann ihr jetzt vergeben.“
Also begab sich der Heilkundige zum Palast, und weil ihm sein Ruhm vorauseilte, wurde er an das Krankenlager der Sultanin vorgelassen. Tiefes Mitleid ergriff Saidon beim Anblick seiner Mutter. Ihre frühere Schönheit war von Eiterbeulen und Ausschlag entstellt, sie dünstete einen üblen Geruch aus und jede Bewegung verursachte ihr Schmerzen. Die Sultanin litt an der gleichen Krankheit, an der ihr Gatte gestorben war. In ihren Augen aber lag nicht mehr die frühere Härte und Grausamkeit, sondern nur noch Trauer und Reue.
Als der junge Arzt ihre Hand nahm, sagte sie mit schwacher Stimme: „Ich habe so einen erbärmlichen Tod verdient, denn ich habe viel Böses getan.“
„Es ist alles vergeben, Mutter“, antwortete Saidon, und eine Träne löste sich aus seinem Auge, denn er sah, dass sie im Sterben lag. Kein Kraut der Welt war imstande, sie noch zu heilen.
„Mutter nennst du mich? Und du weinst um mich? Sieh mir in die Augen. Bei Allah, du bist es wirklich, mein Sohn!“
Die beiden umarmten sich und bemerkten in ihrer bittersüßen Freude nicht, wie der Skorpion aus dem Korb des Arztes kletterte und über die Bettdecke krabbelte. Erst als er seinen Stachel in die Hand der Sultanin stieß, schrie Saidon entsetzt auf.
„Was tust du?“
„Hast du vergessen, was ich dir damals in der Wüste gesagt habe? Unser Stachel kann Gift verspritzen, aber auch Medizin spenden. Ich gebe deiner Mutter alles, was ich in mir habe. Das wird gerade ausreichen, um sie zu heilen, aber es wird mein Tod sein.“
Mit diesen Worten starb der Skorpion, und Saidon streichelte traurig den leblosen Panzer.
„Gräme dich nicht, Prinz, ich habe mich nur ein letztes Mal gehäutet.“
Saidon blickte auf, und da stand seine Dschinniya aus jener schicksalsschweren Vollmondnacht, sie, nach der er sich in so vielen mondhellen Nächten gesehnt hatte. Aber halt, sie war ja gar kein Geist mehr, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut.
„Mein Name ist Mahirimah, ich bin die Tochter der Mondgöttin und wurde ins Geisterreich verbannt, als der Einzige Gott alle anderen Götter verdrängte. Ich sehnte mich nach der Liebe eines Mannes mit reinem Herzen, der es wert ist, dass ich für ihn meine Unsterblichkeit aufgebe. Als wir uns zum ersten Mal trafen, warst du nur aufgrund deiner Unwissenheit rein und unschuldig. Ich musste sicher sein, dass du mich auch in hässlicher Gestalt lieben würdest, und so wurde ich zum Skorpion, einem Wesen, das ihr Menschen eigentlich verabscheut und zertretet, sobald es euch unter die Augen kommt. Doch du hast mir deine Freundschaft und deinen Respekt geschenkt. Außerdem hast du der Versuchung widerstanden, ein reicher Arzt zu werden, und hast auch noch die letzte und schwierigste Prüfung gemeistert, die der Vergebung. Damit hast du bewiesen, dass du ein reines Herz hast, und deshalb stehe ich jetzt in Menschengestalt vor dir.“
Dem Prinzen fehlten die Worte, er nahm seine Geliebte in die Arme und drückte sie an sich.
Auch die Sultanin, die keine Schmerzen und kaum noch Geschwüre hatte, umarmte Saidon und Mahirimah und segnete den Bund der beiden.
Noch am gleichen Abend ließ der künftige Sultan seinen langen Bart stutzen und nahm eines jener luxuriösen Bäder, die er als verweichlichter Junge zum letzten Mal genossen hatte. So erschien er am nächsten Tag duftend zu seiner Vermählung mit der wunderschönen Mondtochter Mahirimah.
Die beiden bestiegen den Thron und regierten viele Jahre mit großer Weisheit. Die Mutter des neuen Sultans wurde in Ehren alt und widmete sich der Wohltätigkeit, um ihre früheren Sünden wiedergutzumachen.
Der Skorpion aber wurde das Wappentier des Reiches, und kein Untertan wagte mehr, einen zu zertreten.
Text: Cover: © Carsten Przygoda / pixelio.de
Publication Date: 01-02-2011
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Dedication:
Ein Märchen aus 1001 Nacht