Die erste Leiche vergisst man nicht
Vor einigen Tagen war es endlich wieder soweit. Praktikumszeit! Das letzte Praktikum vor dem Ende meines Studiums hat begonnen und ich habe mich richtig drauf gefreut. Dieses Praktikum verbringe ich größtenteils auf der Kriminalwache und nehme Einbrüche auf oder führe Leichenschauen durch.
Die ersten beiden Praktikumstage sind ruhig verlaufen und es gab keine besonderen Einsätze. Lediglich Kellereinbrüche oder Wohnungseinbrüche wurden gemeldet.
Mein Tutor, ein Kollege vom Erkennungsdienst und ich sind dann zu dritt zum Tatort gefahren und haben dort Spuren gesichert, den Geschädigten befragt und im Anschluss eine Anzeige mit Tatortbefundbericht geschrieben.
Heute beginnt mein dritter Praktikumstag mit Frühdienst. Um 04:30 Uhr schellt der Wecker und ich fühle mich, als hätte mich ein Pferd getreten. Diese Uhrzeit hat es in sich. Irgendwie habe ich heute ein komisches Gefühl im Bauch, als würde etwas passieren.
Die Frühschicht beginnt ruhig mit einem Friedhofseinbruch. Mittlerweile hat sich bei mir schon eine richtige Routine entwickelt. Der Kollege vom Erkennungsdienst ist für die Spuren zuständig und ich für die Zeugenbefragung. Mein Tutor unterstützt mich, wenn ich nicht weiterweiß. Nach nur zwei Tagen sind wir ein eingespieltes Team.
Wieder zurück in der Wache bin ich gerade dabei eine Anzeige aufzunehmen, als mein Tutor zur Tür hineinkommt.
„Brauchst du noch lange? Wir müssen schnell raus. Ein Arbeitsunfall.“ Schnell nehme ich die Anzeige zu Ende auf, bringe die Geschädigte eines Handydiebstahls nach draußen und mache mich fertig.
Zwei Minuten später sitze ich bewaffnet mit Schreibunterlagen, Digitalkamera und anderen Notwendigen Dingen auf dem Beifahrersitz.
Ich bin nervös und mir schwirren Bilder durch den Kopf. Mein Tutor klärt mich über den Sachverhalt auf. Ein LKW-Fahrer hat versucht seinen Anhänger an den LKW anzukoppeln. Das hat nicht funktioniert und aufgrund des leichten Gefälles ist der Anhänger auf den LKW aufgerollt. Der LKW-Fahrer befand sich genau dazwischen und hatte keine Chance.
Super, das Kopfkino beginnt wieder.
Jetzt sehe ich einen blutüberströmten, zerquetschten Mann vor meinem inneren Auge.
Die Nervosität steigt.
Natürlich habe ich in meinen vorangegangenen Praktika schon Leichen gesehen, aber ich habe damals lediglich den Tatort abgesichert und auf die Kollegen von der Kriminalwache gewartet.
Jetzt bin ich selber die Kriminalwache und löse die Kollegen vom Wach- und Wechseldienst ab.
Am Einsatzort eingetroffen schlägt uns sofort das Chaos, die Hektik und eine gedrückte Stimmung entgegen. Überall Blaulicht, Polizisten, Sanitäter und Ärzte.
Mein Tutor stoppt den Wagen und ich öffne die Beifahrertür. Langsam steige ich aus und verschaffe mir einen Überblick über die Situation. I
ch entdecke bekannte Gesichter, meinen alten Dienstgruppenleiter aus dem Wach- und Wechseldienst und einige Kollegen meiner alten Dienstgruppe.
Mein Tutor und ich lassen uns von den Kollegen den Sachverhalt schildern. Ich lasse meinen Blick schweifen und sehe eine leblose Person, abgedeckt mit einer Plane vor einem LKW liegen.
Um die Person herum Blut, nichts als Blut.
Mein Tutor und ich kümmern uns um die Zeugen, Rolf, der dritte Kollege der mitgefahren ist, übernimmt den Spurensicherungsteil. Er macht Fotos von dem Unfallopfer, sichert Beweise und andere Spuren. Wir lassen uns von einem Verantwortlichen zu den Zeugen führen. Die Zeugen stehen unter Schock, werden von Notfallseelsorgern betreut und können das Erlebte kaum verstehen.
Die Befragung gestaltet sich schwierig, weil die Zeugen oftmals wieder in einen Strudel von Gedanken eintauchen und sich scheinbar in einer anderen Welt befinden.
Der erste Zeuge hat den Verunfallten gefunden.
„Er lag einfach auf dem Boden, hat sich nicht bewegt. Ich bin sofort in die Firma und habe die 112 gerufen. Dann habe ich alle alarmiert, die erste Hilfe leisten können“.
Der zweite Zeuge hat gezielt erste Hilfe geleistet und versucht dem Mann zu helfen. Erfolglos.
„Ich habe ihn erst in die stabile Seitenlage gebracht und nach Lebenszeichen gesucht. Er hat geröchelt. Am Handgelenk habe ich dann einen schwachen Puls gefühlt. Als ich gemerkt habe, dass der Puls immer schwächer wird, habe ich angefangen zu schreien. Er entgleitet mir, er stirbt mir weg. Ich habe ihn dann auf den Rücken gedreht und mit der Wiederbelebung angefangen. Das ganze Blut ist aus ihm gelaufen. Die Herzdruckmassage hat nichts gebracht, der Oberkörper war so weich. Er ist mir weggestorben.“
Die vielen anderen Zeugen haben ähnliches berichtet und waren alle sehr geschockt. Die Notfallseelsorger haben sich sehr bemüht und Hilfe geleistet.
Nach der Zeugenbefragung sind wir zurück zum Tatort gegangen. Mittlerweile ist der Bestatter eingetroffen und der Verunfallte wurde zur Leichenhalle abtransportiert.
Die Hektik hat sich gelegt, nur die bedrückte Stimmung blieb. Bislang habe ich das Unfallopfer nicht gesehen, weil es mit einem Tuch abgedeckt war und später abtransportiert wurde. Bislang habe ich nur das Blut gesehen und die Zeugen befragt.
Am Ende jeder Zeugenbefragung haben wir dem Zeugen gesagt, dass er sich nicht schämen muss, wenn es ihm nicht gut geht und wenn er Hilfe braucht. Das ist eine extrem belastende Situation, welche sich zu einem Trauma entwickeln kann.
Die Feuerwehr säubert die Unfallstelle.
Wir steigen ins Auto und fahren Richtung Leichenhalle. Für die Kollegen vom Wach- und Wechseldienst ist der Einsatz schon lange beendet, für uns fängt er gerade richtig an.
Die anfängliche Nervosität hat sich gelegt, mir ist ein wenig flau im Magen, aber das legt sich. Das hat nichts mit dem Sehen einer solchen Situation zu tun, sondern mit der Situation selber.
Der Mann war keine fünfzig Jahre alt, verheiratet und hat zwei kleine Kinder im Alter von 10 und 12. Die wissen noch nicht was passiert ist und ich möchte es ihnen nicht mitteilen.
Es ist heute nicht nur einer gestorben, sondern eine ganze Familie mit ihm.
Auf dem Friedhof angekommen erwartet uns schon der Bestatter. Es geht in die Leichenhalle. Jetzt folgt die Leichenschau, wir ziehen uns Handschuhe an und beginnen den Leichnam zu untersuchen.
Natürlich fragt sich jetzt jeder, warum das kein Gerichtsmediziner macht, denn dafür sind die doch da. Die erste Leichenschau macht die Kriminalpolizei.
Wir sind ausgebildet, Anzeichen für einen Tod durch Fremdeinwirkung, für einen Suizid oder für einen Unfalltod zu erkennen. Unser Ergebnis der Leichenschau ist entscheidend für den späteren ablauf. Wird der Leichnam obduziert oder sofort freigegeben?
Ich fotografiere den Toten von allen Seiten. Jetzt sehe ich ihn zum ersten Mal. Es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Auch wenn er von einem Anhänger zerquetscht worden ist, sieht er vollkommen normal aus. Nach den ersten Fotos wird der Tote ausgezogen. Ich muss das nicht machen, sagt mein Tutor. Ich will aber wissen, ob ich das kann oder ob ich mich direkt danebenlege. Bei den Füßen fange ich an. Jede Handlung muss nun genau dokumentiert werden für den Todesermittlungsbericht. „Rechter Fuß bekleidet mit einer braunen Sandale und beigen Socken“. Langsam öffne ich die Sandale, als könnte ich ihm wehtun. Nachdem ich die Sandale ausgezogen habe, ziehe ich die Socken aus. Sie sind nass. Mit dem linken Fuß führe ich die gleichen Handlungen durch.
„Dunkelblaue Arbeitshose, durchnässt.“ Mit einer Stoffschere durchschneide ich die durchnässte Hose und lege die Beine des Toten frei. Schritt für Schritt entkleiden wir den Toten, bis er nackt auf dem Obduktionstisch liegt. Ich ziehe meine Handschuhe aus und fotografiere ihn aus jedem Winkel. Mein Tutor fordert mich auf, eine Nahaufnahme von seinem Gesicht zu machen.
Ich gehe mit der Kamera ganz nah ran, schaue durch das Objektiv und schrecke für einen Moment zurück. Seine Augen stehen weit offen und es ist so, als würde er mich anschauen.
In Gedanken gebe ich mir eine Ohrfeige. Der Mann ist tot, das ist unser Job hier, werd wieder vernünftig. Nach einem kurzen Moment geht es wieder, keiner hat was mitbekommen und ich beende meine Fotoaufnahmen souverän.
Mein Tutor fängt an den Körper des Toten zu untersuchen. Von Kopf bis Fuß, von links nach rechts, alles wird inspiziert und genau dokumentiert. „Mund, spaltbreit geöffnet. Gefüllt mit Blut“.
Auch wenn der Mann von einem LKW-Anhänger zerquetscht worden ist, weist er keinerlei äußere Verletzungen auf. Es ist unvorstellbar, was der Mensch für eine Konstruktion ist. Die Abtastung seines Oberkörpers ergibt, dass die Rippen komplett zertrümmert sind.
Es ist alles weich. Kurz vor dem Ende der Leichenschau drehen wir den Toten auf die Seite.
In diesem Moment läuft das Blut in Strömen aus seinem Mund. Uns wird klar, dass er massive innere Verletzungen haben muss. Wahrscheinlich sind seine Organe zerquetscht, geplatzt oder zerstört worden. Er hätte keine Chance gehabt.
Wir beenden die Leichenschau, bringen den Toten in den Kühlraum und fahren zurück zur Kriminalwache. Unterwegs hängt jeder seinen eigenen Gedanken nach.
1000 Mal ist es gut gegangen. 1000 Mal hat er den Anhänger so auf den LKW aufrollen lassen und es hat funktioniert.
Ein einziges Mal ist es schief gelaufen und er ist tot.
Ich erinnere mich an die Worte der Notfallseel-sorger. Jetzt wo die Situation frisch ist, steht man unter Schock und verhält sich völlig normal. Wenn zu Hause Ruhe einkehrt, dann kehren die Gedanken zurück und es kann sein, dass man Hilfe braucht.
Es kann sein, dass man ein Trauma davon trägt.
Die erste Leiche vergisst man nicht. Den Mann werde ich auch nicht vergessen, aber es ist mein Job mit der Situation umzugehen und fertig zu werden.
Text: Copyright by me!
Publication Date: 05-28-2011
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