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Am Morgen des 24. Dezembers wachte das kleine Mädchen auf und wurde vom Sonnenlicht, das durch den Schnee im Garten vor dem Fenster reflektiert wurde, geblendet. Sie konnte es kaum erwarten mit ihren Freunden Schlittenfahren zu gehen und strampelte hastig die kuschelig-warme Daunendecke ans Fußende ihres Bettes. Aber vorher wollte sie unbedingt noch einen der Kekse, die ihre Mutter am Vorabend gebacken hatte. Schon ganz hungrig stürmte sie aus ihrem Zimmer auf die Treppe zu.

Unten öffnete sie vorsichtig die weiße Holztür mit dem schönen verzierten Türknauf. Wenn sie das tat, fühlte sie sich jedes Mal wie eine Prinzessin. Das ganze Haus war zwar alt, doch für ein kleines Mädchen glichen die schnörkeligen Gitter vor den Fenstern den Ranken vor Dornröschens Schloss und der große Garten war in ihren Augen der Zauberwald, in dem Schneewittchen lebte. Doch jetzt, im Winter, war alles wundervoll dekoriert und es roch so schön nach Weihnachten. Der riesige Tannenbaum im Wohnzimmer, den sie jedes Mal auf dem Weg zur Küche erblickte, ließ sie hüpfen vor Freude bei dem Gedanken an Geschenke, Kakao und leckere Plätzchen. Leise schlich sie in die Küche und hoffte, dass niemand wach war. Sie wusste nicht, wie spät es war. Zwar war sie schon in der ersten Klasse, doch konnte sie die Uhr noch nicht lesen. Aber an diesem Tag interessierte sie das herzlich wenig. Die Kekse schienen förmlich nach ihr zu schreien: „Linda! Hier sind wir!“
Leise schlich sie zum Tisch. Dort stand die Keksdose! Von wegen, keine Kekse zum Frühstück. Ihre Mutter musste davon ja nichts erfahren. Siegessicher grinste sie, wobei man die Zahnlücke (für die sie von der Zahnfee bereits mit einer glänzenden Münze bezahlt worden war) deutlich erkennen konnte.
Sie musste sich beeilen, denn langsam drang die Kälte der Küchenfliesen durch ihre Socken.
„Linda?“, drang die sanfte Stimme ihrer Mutter aus der Vorratskammer, neben dem Kühlschrank. Oh Nein, sie war also doch wach! Ihre Mutter steckte den Kopf durch die niedrige Tür. „Linda, du weißt doch, dass die Kekse erst für später sind. Und du trägst ja nur ein Nachthemd. Ich hab dir doch extra einen dicken Pyjama gekauft.“
„Prinzessinnen tragen aber keine Pyjamas. Oder hast du schon mal eine gesehen?“, lispelte Linda.
„Nein, aber ich bin mir sicher, dass du Weihnachten auch nicht mit einer Erkältung im Bett verbringen willst.“
Da hatte sie recht. Linda wusste, dass Wiederworte nur schaden würden und ging nach oben um sich anzuziehen. Der Stufenteppich ließ ihre Schritte dumpf klingen. Auch wenn sie noch klein und somit sehr leicht war, knarzten die Dielen im Obergeschoss unter ihrem Gewicht. In ihrem Zimmer schlängelte sie sich geübt zwischen den vielen Puppen und anderen Spielsachen am Boden hindurch und öffnete den großen weißen Holzschrank um sich durch das Durcheinander ihrer vielen Klamotten zu wühlen.
Dick eingepackt ging sie wieder nach unten in die Küche, wo ihre Mutter gerade einen Kuchen buk. Deshalb war sie so früh in der Küche! Als ihre Mutter Linda sah, lächelte sie zufrieden. Die Kleine sah in dem großem pinkfarbenen Pullover wirklich niedlich aus.
„Darf ich rausgehen?“, bat sie. „Selina wartet mit Sicherheit schon draußen auf mich.“
Ihre Mutter überlegte kurz. Warum nicht? Vom Fenster aus hatte sie die beiden im Blick und konnte trotzdem weiter backen.
„In Ordnung, aber sei vorsichtig!“, ermahnte sie Linda und strich ihr durch die roten Haare.
„Danke. Hab dich lieb!“, rief Linda und rannte aus der Küche in den Flur, um sich die dicken Schuhe und den neuen Anorak anzuziehen.
Als sie mit ihrem Holzschlitten durch den tiefen Schnee stapfte, malte sie sich schon den Abend aus. Sie konnte es kaum erwarten. Die ganze Familie würde kommen. Linda wollte unbedingt mit ihren Kusinen spielen. Und die Geschenke erst! Hoffentlich hatte der Weihnachtsmann ihren Brief bekommen...
So vieles schoss ihr durch den Kopf, als sie den kleinen Hügel, an dem Selina tatsächlich schon auf sie wartete, erreichte.
Die beiden tollten im Schnee, lachten und hatten jede Menge Spaß.
Lindas Mutter lächelte, als sie aus dem Fenster sah. Der Kuchen war fast fertig und die Mädchen kamen auf das Haus zu. Schnell bereitete sie Kakao für die beiden vor und öffnete die Hintertür im Flur. Mit nassen Hosen und geröteten Nasen und Wangen schlitterten die Mädchen über den vereisten Gehweg in den Flur. Ein schnelles „Hallo“ und schon lagen die Schuhe neben der Treppe, die Jacken wurden schnell über den Haken geworfen und Linda und Selina machten sich über den Kakao her.
Am Abend (Selina war schon lange zu Hause bei ihrer Familie), saß Linda in frischen Klamotten im Wohnzimmer und starrte aus dem Fenster. Es schneite. Die kleinen Flocken glitzerten im Schein der Laternen auf dem Bürgersteig. Sie wollte auf keinen Fall die Ankunft ihrer Kusinen verpassen! Doch wie es mit Kindern nun mal so ist, verlor sie schnell die Geduld und machte sich auf die Suche nach Papier und Buntstiften und wurde auch schnell fündig.
Der Weihnachtsbaum war so schön, dass sie ihn für ihre Eltern noch mal malen wollte. Das gedämpfte Licht der Deckenlampe spiegelte sich in den bunten Kugeln, die Geschenke waren liebevoll verpackt kunstvoll darunter drapiert worden und warteten nur darauf, geöffnet zu werden, was Linda natürlich am liebsten sofort tun würde, aber das würde ihren Eltern wohl kaum entgehen.
Aber am schönsten war der goldene Stern oben auf der Spitze. Sie hatte sich so gefreut, als ihr Vater sie hochgehoben hatte, damit sie ihn darauf setzen konnte.
Leise summte sie die Melodie von „ In der Weihnachtsbäckerei“ während sie malte, als sie vom Läuten der Türglocke aufgeschreckt wurde. Schnell sprang sie auf um die Tür zu öffnen. Ihre Eltern kamen auch schon auf den Flur, um die sehnlichst erwarteten Gäste zu begrüßen. Ihr Vater öffnete die Tür und es wurden sofort Umarmungen und Küsse verteilt. Natürlich durfte der Kniff in Lindas Wange auch nicht fehlen.
Die Stimmung beim Essen war ausgelassen und fröhlich. Die Erwachsenen unterhielten sich, tauschten Neuigkeiten aus und gaben Amüsante Anekdoten zum Besten, während Linda und ihre beiden Kusinen Vicky und Louisa auf dem Wohnzimmerteppich saßen und spielten. Die drei Kinder ignorierten die Erwachsenen weitestgehend und waren ganz in ihr Puppenspiel vertieft, bis Lindas Tante Conny aufstand und sich neben sie hockte. Ungefähr auf Augenhöhe mit den Mädchen lächelte sie: „Wollt ihr nicht so langsam wissen, was der Weihnachtsmann euch gebracht hat? Natürlich könnt ihr auch weiterspielen, dann bleibt halt mehr für mich.“
Ernsthaft erschrocken schrien die Mädchen auf. Linda war schnell auf den Beinen und eilte hinüber zum Baum. Vicky war direkt hinter ihr und die kleine Louisa, die mit ihren vier Jahren die Jüngste war, hastete hinterher. Von der vorherigen Zurückhaltung der Mädchen war nichts mehr zu sehen. Sie nahem die Geschenke entgegen und ehe sich ihre Verwandtschaft versaht, flogen die Schleifen und das Geschenkpapier in Fetzen durch die Luft. Mit Wohlwollen betrachteten sie die Mädchen wie sie sich freuten.
„Ohne die Kinder wäre Weihnachten nicht annähernd so schön“, bemerkte Lindas Großvater. Seine Frau nickte und stellte den Teller mit Plätzchen, den sie vom Esstisch mitgebracht hatte, ab. Linda, Vicky und Louisas Augen glänzten vor Freude, während sie mit den vielen Sachen die sie bekommen hatten, spielten.

Irgendwann schlief Linda mit einem großen Teddybär, den sie Krümel genannt hatte, im einen Arm und ihrem neuen Prinzessinnenkleid im anderen Arm ein. Sie verpasste zwar die Abfahrt ihrer Kusinen, aber das war nicht schlimm. Sie würde die beiden spätestens im nächsten Jahr wiedersehen.
Als ihr Vater sie ins Bett trug und ihre Mutter sie zudeckte, träumte sie von Keksen, Kakao, bunten Kugeln und Schnee.

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Publication Date: 01-07-2013

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