Dies ist die heiligste aller Stunden. Ich verbringe sie traditionell allein.Gesellschaft würde der erhabenen Dunkelheit den Glanz nehmen.
Nur der mächtige Nachtwind und die zärtlich kitzelnde Kälte dürfen mich begleiten. Das würden sich die Beiden aber auch sowieso nicht verbieten lassen. Doch selbst sie berühren nur die Oberfläche. Innen ist es warm und leicht. Hier draußen gibt es keine Pflichten, Verantwortung, keinen Druck oder so’n Mist. Hier gibt es nichts zu beweisen. Hier braucht es kein Ziel. Automatisch gesetzte Schritte tragen mich fort... ferngesteuert? Nein. Der Steuermann hat Pause.
Dahinten auf der weiten Weide schält sich schemenhaft das winterliche Skelett einer uralten Eiche aus dem versöhnlichen Duster. Der echteste aller Bäume. Urvater und Urmutter. Bewahrer. Wie schon im Kinderbuch.
Wie so häufig umarme ich den gewaltigen Stamm, lege vorsichtig und still fragend mein Gesicht an die knorrig furchige Haut. Und werde liebevoll empfangen, aufgenommen, aufgesogen. Spüre den kraftvollen Puls. So erschütternd viel Leben. Viel mehr als in der gesamten geliebten Stadt hinter mir. Trostspender. Kraftspender. Weiser Chronist alles Zeitlichen. Wie ein kleines Kind genehmige ich mir eine Extraportion Geborgenheit, verabschiede mich dankbar und setze meine Reise fort, beinahe körperlos. Beinahe frei.
Publication Date: 11-07-2011
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