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Nächtlicher Besuch

Nelly stürmte mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Zorn die Treppe zum Dachboden hoch. Oben angekommen schlüpfte sie schnell in den düsteren Raum, warf die massive Tür aus Eichenholz zu und schloss ab. Das leichte Tappen einer schlanken Person mit kleinen Füßen kam näher, die Treppe herauf. Dazu gesellte sich das Poltern schwerer Schritte.

Heftig atmend ließ sich Nelly mit dem Rücken zur Wand zu Boden sinken. Sie strich das kinnlange braune Haar zurück, fuhr sich über das tränennasse Gesicht und schlang die Arme um ihre Knie. Die Geräusche aus dem Treppenhaus verstummten. Das trübe Zwielicht der Abenddämmerung erzeugte in den Winkeln ihres Zufluchtsortes tiefe Schatten.

»Mensch Cornelia, du kannst dich nicht immer im Dachboden einschließen«, schallte es vom Treppenaufgang her durch die Tür. Der anklagende Tonfall ihrer Mutter schürte ihren Zorn. Zudem hasste sie es, wenn man sie Cornelia nannte.

»Ihr habt doch keine Ahnung!«, schrie die 16-Jährige trotzig. Sie hörte selbst, wie dünn und zerbrechlich ihre Stimme klang. »Ihr wollt mich von hier wegzerren. Von meinen Freunden, von … Mich braucht man ja nicht zu fragen.« Nur mühsam unterdrückte sie ein Schniefen.

»Nelly, bitte … «, setzte ihr Vater an. Bestimmt schloss er dabei wie üblich die Augen, um dem gebieterischen Ausdruck im Gesicht seiner perfekt gestylten Frau zu entgehen. Nelly konnte förmlich sehen, wie die ehemalige Schönheitskönigin ihre aufwendig lackierten Fingernägel betrachtete, ehe sie sich mit den Fingern durch die blonde Wallemähne fuhr und ihren Mann missmutig anguckte. Er ergänzte: »Das haben wir doch schon besprochen.« In seinem tiefen Bass schwang kein Tadel mit, nur Resignation.

Nelly schnaubte und verschränkte die Arme. »In der Stadt ist es hektisch und laut und es stinkt. Man kann nicht auf einen Baum klettern und in Ruhe lesen. Dort gibt es noch nicht mal ansatzweise sowas wie eine Wiese! Da wohnen Millionen Menschen und die meisten davon sind bis an die Zähne bewaffnet.« Sie fixierte das Fenster am anderen Ende des Raumes mit fest zusammengekniffenen Augen. »Laut Statistik ist die Wahrscheinlichkeit, dort erschossen zu werden, zehn Mal höher als hier.«

»Kann sie statt Statistiken nicht einfach mal Schminktipps googeln, wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter?«, ertönte die gereizte Stimme von Nellys Mutter. Ihr Mann antwortete nicht. Er wollte wohl keinen Streit vom Zaun brechen, der mit Gekreische und den Worten »Musst du mir in den Rücken fallen?« und knallenden Türen endete. Nelly ärgerte sich darüber, dass er nie seine Meinung sagte und immer nachgab. Nie ergriff er Partei für sie.

»Komm jetzt sofort raus!«, forderte ihre Mutter.

»Geht weg!«

»Lass sie«, beschwichtigte ihr Vater. »Sie wird schon kommen.« Seine Schritte entfernten sich langsam.

»Cornelia! Argh!« Der schrille Ton ließ Nelly zusammenzucken. Endlich gab auch ihre Mutter nach und schlurfte die Treppe hinab.

Nelly kannte das alles zur Genüge. Ihre Mutter wollte einfach nicht begreifen, dass sie Bücher nun mal liebte und ihre Schätze am liebsten unter freiem Himmel las. Und immer dieses abfällige Gerede von wegen vermasselter Zukunft – als wäre es eine Schande, wenn man Bibliothekarin in einem kleinen Ort wie Greenlake Hill werden wollte. Nicht jeder war zu Größerem geboren. In der Stadt wäre alles anders. Tränen bahnten sich ihren Weg und verschleierten ihren Blick.

Um sich abzulenken, stand sie auf und krabbelte im schwindenden Licht in den dick gepolsterten Ohrensessel, der früher ihrer Oma gehört hatte. Über der Lehne hing eine alte rosafarbene

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 09-13-2023
ISBN: 978-3-7554-5296-6

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