Wettbewerbsvorgabe für die September-Runde
des Anthologie-Wettbewerbs 2016:
„Wähle in einem beliebigen Buch auf Seite 123 einen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“
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Bei diesem Beitrag wurden folgendes Buch und folgender Satz gewählt:
Stephen King - Basar der bösen Träume
„Aber jetzt ist es zu spät."
Die Dunkelheit.
Sie füllt Räume mit Leichtigkeit, leichter als jedes Gas, und einer Begierde, die jeden Funken Licht augenblicklich erdrückt. Sie macht das menschliche Auge blind. Sie legt sich so schwerelos auf uns nieder, als wäre sie eine zweite Haut. Sie verschafft uns Ruhe in der Nacht, die wir brauchen.
Und doch fürchten wir uns vor ihr. Wenn das Licht schwindet und die Dunkelheit ihre weitreichenden Fängen ausbreitet, fangen wir unwillkürlich an, uns zu fragen, was vor uns verborgen bleibt. Kurz, wir fangen an, uns Dinge vorzustellen. Schreckliche Dinge.
Dinge, die uns in Albträumen verfolgen. Dinge, die uns ohnmächtig machen, weil wir keine Kontrolle darüber haben. Dinge, die nur in der wohl behüteten Dunkelheit Sinn machen, weil die Angst sie verzerrt. Angst, weil wir blind sind.
Aber was macht man, wenn man ein Leben lang Angst hat, nachts in Bett zu gehen? Weil man von Horror-Vorstellungen geplagt wird? Wenn man sich zitternd unter Decken versteckt, in einer Art Angststarre gefangen ist und kein Auge zu machen kann?
Was für eine Ironie, schoss es ihm durch den Schädel. Dass man in der Dunkelheit kein Auge zu machen kann, weil man sich nicht ganz so blind fühlt. In der alles übertönenden Hoffnung nur ein Zeichen erkennen zu können, nichts weiter, das einen warnt. Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt.
Was macht man also, wenn die eigene Phantasie einen terrorisiert mit gnadenlosen Killern, entstellten Menschen und verfolgenden Leichen? Was macht man, wenn man sich so vor den Wesen der Nacht fürchtet, dass man bereits unter Schlafstörungen leidet? Richtig. Man wird einer von ihnen. Aber am besten, man wird noch schlimmer als sie.
Er blickte auf die Leiche zu seinen Füßen. Eigentlich hatte er das nicht gewollt. Aber jetzt ist es zu spät, zischten seine Gedanken süffisant. Als ihm eines Nachts der Geistesblitz kam, zu seinen Horror-Vorstellungen zu mutieren, hatte er gewusst, dass es genau das was, was er tun musste. Es hatte sich so richtig angefühlt wie nichts zuvor. Die Nacht hatte ihn gerufen, er hatte lediglich nur Angst davor gehabt, wozu er selbst imstande war.
Diese ständige Leere in seinem Körper war durch die Dunkelheit ersetzt worden. Sie hatte ihn voll und ganz eingenommen, seit er sie das erste Mal genüsslich inhaliert hatte. Sie war mehr als eine zweite Haut, sie lebte in seinen Lungen; in ihm. Er war sie. Er verkörperte die Dunkelheit, und das tat er mit dem größten Vergnügen.
Jedes Mal, wenn er wie ein Schatten aus der Dunkelheit gerochen kam, um wieder zuzuschlagen, erfüllte ihn das wohliges Gefühl der Befriedigung. Er lauerte wie ein ausgehungerter Tiger in der Dunkelheit, wählte seine Opfer und spielte mit ihnen. Das war es, was ihn am Leben hielt, was ihn lebendig. Die Jagd, an der Seite der Nacht.
Er dachte an die makellosen, unberührten Gesichter seiner Opfer, wie sie sich unter Qualen verzerrten, wie er ihnen jeden einzelnen Schmerz auf den Zügen ablesen konnte. Er dachte an die Hilferufe; die ewigen Schreie um Leben und Tod. Wie er ihnen jedes Mal behutsam über die Wangen strich und ihnen ins Ohr flüsterte: „Jetzt ist es zu spät. Glaub mir, hier findet uns keiner.“
Er versetzte sich einige Minuten zurück und erlebte nochmal hautnah mit, wie das Leben aus dem Körper des Mannes wich. Die eisige Klinge des Messers hatte er mit sanften Druck über weiche Haut gezogen und fasziniert zugesehen, wie Blut erst langsam davon tropfte, dann floss. Immer tiefer wurden die Schnitte, er hatte jeden Handgriff genossen. Der metallische Geruch war betörend, er liebte ihn viel zu sehr um jemals auf ihn verzichten zu können. In einen Rausch versetzt hatte er gespielt. Die Prozedur musste so weit wie möglich in die Länge gezogen werden, also sorgte er dafür, dass er sein Opfer auf dem Drahtseil zwischen Leben und Tod balancierte.
Die Schreie würde er noch heute Nacht hören, wenn er sich zum schlafen hinlegen würde. Es würde wie Musik in seinen Ohren klingen; sein ganz persönliches Gute-Nacht-Lied.
Er hatte mit der Klinge die Haut liebkost, bevor er zum finalen Zug angesetzt hatte. Während er mit einer ruckartigen, schnellen Bewegung die Hauptschlagader angeritzt hatte, sah er ihn unentwegt an. Er konnte die Augen nicht davon nehmen, wie er womöglich seine letzte Minute erlebte.
„Es ist zu spät“, hauchte er ihm entgegen. „Es ist vorbei.“
Er sah lächelnd auf den Sterbenden, wie sich allmählich ein Schleier um seine Augen legte und sie ihren Glanz verloren, bis sie schließlich glasig und leblos ins Nichts gerichtet waren. Das Letzte, was sein Opfer sehen würde, war er gewesen, wie er fast freundlich lächelte. Den letzten Atemzug des Mannes hatte er in sich aufgenommen; er würde ihm einen Teil seines eigenen Lebens wiedergeben.
Bei der Vorstellung, es wieder tun zu können, schlug sein Herz schneller. Das Verlangen pulsierte in seinen Adern. Und es wurde mit jedem Opfer größer. Die Welt würde ihm gehören, mit der Nacht an seiner Seite war er dazu fähig.
Das Töten war ihm in die Wiege gelegt worden, schon sein Vater war Serienkiller. Sein vergebliches Bemühen ihn davon fern zu halten, konnte er nur noch belächeln sowie seine Kindheit, in der er dieser Feigling war, der im Dunkeln Angst hatte.
Doch das war nur so eine Phase; in der sich sein wahres Ich entfaltet hatte, in der er darauf vorbereitet wurde. Jetzt war er soweit. Und es gab kein Zurück mehr.
Jetzt ist es zu spät.
„Du hast dein Leben nicht verstanden“, meinte sein Vater ihn gewarnt. Aber sein Vater hatte nie kapiert, dass er kein Leben hatte. Er besaß nur diese geballte Leere in sich, das unbändige Verlangen, diese Leere mit Leben zu füllen. Er würde dafür jedes Leben an sich reißen, egal wie. Sein Vater hatte ihm diesen Fluch vererbt. Und von Gott gegebenes ließ sich nicht ändern.
Publication Date: 09-09-2016
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