Ich kann es noch immer kaum fassen. Meine Mutter will wirklich noch einmal heiraten! Dad ist erst seit zwei Jahren tot und sie krallt sich so einen schmierigen reichen Arsch, der noch dazu einen richtig arroganten Sohn in meinem Alter hat, den ich so gar nicht ausstehen kann.
Ich helfe meiner Mom gerade beim beladen des Umzugswagens und seufze traurig, als ich noch einmal durch das jetzt leere Haus gehe.
An der Tür zu meinem Zimmer bleibe ich stehen. Das einzige, was noch übrig ist, ist eine kleine Duftkerze in der Mitte des Raumes, die für die Käufer unseres Hauses bereit steht. Heimlich kullert mir eine Träne über die Wange und mein Hals ist zugeschnürt. An dem Haus hängen meine ganzen Erinnerungen. Es kann doch nicht sein, dass, nur weil meine Mom nen stinkend reichen Penner heiratet, wir unser Haus verkaufen müssen, in dem ich aufgewachsen bin, und Hals über Kopf zu ihm ziehen.
Als kleines Kind habe ich mit Dad draußen Sandkuchen gebacken, er hat mich auf der Schaukel im großen Garten angeschubst oder wir haben Ball gespielt. Und was ist jetzt? Ich bin 16, mein Dad ist vor zwei Jahren bei einem schrecklichen Flugzeugabsturz gestorben und mein Leben ist ein Trümmerhaufen. Das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen kann, ist ein Schulwechsel, ein Umzug in ein 200 km weit entferntes Dorf, was den Verlust meiner letzten Freunde bedeutet, und ein absolutes Arschloch als Stiefbruder.
Meine Mutter meint, dass ich mich großartig mit ihm verstehen werde, wenn ich es denn zulassen würde. Wir seien wie Zwillinge. Ironie des Schicksals, wir sind am selben Tag geboren, um ein Jahr verschoben und man glaubt es kaum, ja auch im selben Krankenhaus. Ich hasse meine Mom dafür, dass sie mich in diese Rolle der netten, lieben Stieftochter/-schwester zwängt. Gleichzeitig meint sie auch noch, dass mir der Schulwechsel gut tun würde und mir das sicher helfen wird. Von wegen. Ich würde ohne Freunde da stehen.
Seit mein Vater gestorben ist, habe ich irgendwie die Fähigkeit verloren, mir etwas aus der Gesellschaft zu machen, weshalb sich mein Freundeskreis auch hier mittlerweile nur noch auf eine Freundin beschränkte, die aber wenigstens zu mir hält.
Seit Dad tot ist, ist sowieso alles anders. Als er noch gelebt hat, war ich gut in der Schule, um nicht zu sagen richtig gut. Ich war Klassenbeste und Jahrgangsbeste, war Klassensprecherin und hatte einen ausgewogenen, engen Freundeskreis. Als er starb stürzten meine Noten auf den Durchschnitt und ich verlor mein Amt als Klassensprecherin. Ich saß meistens allein in der Hintersten Bank am Fenster und sah hinaus, ganz in Gedanken versunken.
Jetzt wende ich mich seufzend von meinem Zimmer und meinem früheren Leben ab, gehe wie in Trance nach unten und steige in den verdammten Umzugswagen. Mom sitzt schon auf dem Fahrersitz und wartet bis ich eingestiegen bin. „Alles klar Schätzchen? Hast du alles?“
Ich murre etwas, dass wohl ja heißen könnte und lehne meine Stirn ans Fenster. Die Fahrt könnte anstrengend und lang werden, da wir in irgendein Dorf in der norddeutschen Hügellandschaft ziehen. Mom nennt es eine traumhafte Idylle, ich sage dazu scheiß Kaff.
Das einzige Gute, was ich darin sehe, ist, dass Mom mir nebenbei mal versprochen hat, dass ich vielleicht wieder reiten darf. Ja ich kann reiten, sehr gut sogar, denn Dad hatte zwei wunderschöne Friesen Stuten, die Mom, sobald Dad tot war, aus Frust verkaufte. Nach dieser Aktion schloss ich mich drei Tage in meinem Zimmer ein, wollte nichts Essen und reagierte nicht, wenn sie mit mir sprach.
Dad hat mir damals, als ich acht war, das reiten beigebracht. Er meinte, dass ich Talent habe. Wieder kullert mir eine Träne über die Wange, die meine Mutter zum Glück nicht bemerkt.
Während der Fahrt in die mecklenburgische Schweiz ziehen Wolken auf und es beginnt leicht zu regnen. Sobald wir aus der trauten Umgebung, des Berliner Außenbezirks, auf die Autobahn fahren, ziehe ich mein Handy raus, stecke das Headset an, drehe die Musik voll auf und schalte die Welt um mich herum aus.
Ich bemerke gar nicht, dass wir halten, bis meine Mom mich am Arm rüttelt und ganz aufgeregt verkündet: „Wir sind da Kleines!“
Im nächsten Moment ist sie schon aus dem Wagen gesprungen und rennt auf eine Gestalt im Regen, der sich mittlerweile zu einem richtigen Unwetter gewandelt hat, zu. Wie sie sich verhält muss das Roger sein. Ich weiß, bescheuerter Name, wie wenn einer Fragt „Alles Roger Leute“. Angewidert sehe ich wieder auf mein Handy, als die beiden sich wild küssen.
Bei dem Unwetter können wir unsere Sachen nicht rein bringen, also verschwende ich keine Zeit mit warten und reiße die Tür auf. Ich bereue, dass ich heute morgen nicht mit Regen gerechnet habe. Hätte ich es gewusst, wäre ich nie in Jeans-Hotpants und lockerem Sommertop bekleidet los. Wer rechnet denn auch schon im Hochsommer mit so einem ekligen scheiß Wetter. Genervt stopfe ich das Handy in meine Hosentasche, das Headset in meine Handtasche und renne zu dem Haus, einfach an Mom und Roger vorbei, unter das kleine Vordach.
Die Tür steht offen und von drinnen kommt der Geruch von frischem Kuchen, Apfel um genau zu sein. Selbst bei dem Regen und dem kurzen Moment habe ich erkannt, dass das Haus riesig ist. Inbrünstig hoffe ich, dass ich mein eigenes Zimmer, mit eigenem Bad habe, sodass ich möglichst den Kontakt mit den anderen verhindern kann.
Mom hat sich wenigstens den besten Zeitpunkt für den Umzug ausgesucht. Anfang der Sommerferien. So kann mich wenigstens Lenny bald besuchen. Lenny ist meine letzte, beste Freundin und sie hält immer zu mir. Eigentlich heißt sie Leonie, aber sie hasst den Namen, weshalb ich sie Lenny nenne. Dafür nennt sie mich immer Sammy, da auch ich meinen richtigen Namen, Samantha, nicht unbedingt liebe.
Noch immer stehe ich vor der Tür und zittere in der Kälte. Es muss wohl um einige Grad abgekühlt sein, denn heute morgen habe ich beim Verladen noch geschwitzt. Da fällt mir auch ein. Duschen! Das erste was ich machen werde, ist eine heiße Dusche nehmen und mich dann ins Bett schmeißen. Mom würde mich wieder anmaulen und zuletzt anflehen, dass ich etwas essen müsse, aber das kann ich einfach nicht. Nichtmehr. Seit zwei Jahren kann ich abends einfach nichts mehr essen ohne es zehn Minuten später wieder hoch zu würgen. Ab 17 Uhr nachmittags geht bei mir nichts mehr.
Endlich kommen Mom und Roger auch zur Tür gerannt. Mom sieht mich fragend an und meint, wieso ich denn noch nicht rein gegangen sei. Ich kann es selbst nicht sagen, also zucke ich die Schultern. Roger sieht mich mit seinem hässlich schiefen Lächeln an und sagt: „Herzlich willkommen bei uns Samantha. Du wirst dich sicher bald einleben und dich wundervoll mit Jaden verstehen.“
Abfällig murre ich und kassiere dafür einen drohenden Blick von Mom, den ich geflissentlich ignoriere.
Ausgelaugt stapfe ich hinter den beiden trief nassen Menschen, die sich Verlobte nennen, in das Haus. Roger schiebt mich sofort ein Stück zurück in den Eingangsbereich, als ich keine Anstalten mache, die Schuhe aus zu ziehen. Lustlos murre ich, ziehe mir jedoch meine Ballerinas aus und schmeiße sie in eine Ecke. Ein abfälliger Blick von Roger, mir egal. Er zieht Mom mit in die Küche und schwärmt von seinem Apfelkuchen. Ich sollte ihnen vielleicht folgen, habe aber nicht die geringste Lust dazu. Viel lieber erkunde ich das Haus selbstständig. Es ist unglaublich. Ganze vier Etagen zählt dieses Traumhaus, plus einen Keller und einen Swimmingpool im Garten, oder soll ich sagen in der Parkanlage. Im Erdgeschoss finde ich nichts allzu interessantes. Ein großes gemütliches Wohnzimmer, ein Esszimmer, in dem für vier Leute gedeckt ist, er kann sich ganz schnell hinter die Ohren schmieren, dass ich heute noch mit den anderen an einem Tisch sitze, die Küche, in der sich Mom und Mr. Reich gegenseitig die Zunge in den Hals stecken und ein geräumiges Büro, sowie ein kleiner Vorraum, der durch eine Tür mit dem Garten verbunden ist. In den beiden nächsten Etagen befindet sich auch nichts Besonderes, was ich erspähe, ist ein großes Schlafzimmer mit Doppelbett, welches wohl Mom und Roger gehört. Bisher noch keine Spur von meinem Zimmer oder dem eines 17 jährigen Jungen. Neugierig gehe ich die Treppe ins letzte Stockwerk hoch, wobei ich schon laute Musik vernehmen kann, die, gedämpft durch Türen und Wände, an mein Ohr dringt. Es hört sich ganz nach No doubt an, wenn ich mich nicht täusche, das Lied Settle down. Das muss dann wohl Jaden sein, der die Musik voll aufgedreht hört.
Vorsichtig linse ich in jedes Zimmer an dem ich vorbei komme, bis ich zu der Tür komme, hinter der die Musik dröhnt. Abstellkammer, Kleiderschrank, Gästezimmer, ein kleines, helles Wohnzimmer, eine Toilette, ein Büro oder Arbeitszimmer, die Tür mit der Musik. Ob ich klopfen soll? Besser nicht. Jaden ist ein arrogantes Arschloch, das sich mir gegenüber bisher immer wie ein solches aufgeführt hat, obwohl wir uns erst zweimal flüchtig begegnet sind, wobei wir erst zwei bis drei Sätze gewechselt haben. Mit einem Seufzer wende ich mich wider den nächsten Türen zu. Direkt die nächste, die ich öffne, führt mich in ein riesiges, in dezenten Farben eingerichtetes Zimmer. Es ist direkt neben Jadens. Eine Wand ist komplett verglast und bietet einen wundervollen Blick in den riesen Garten und dahinter auf die, von Regenschwaden überzogene, Hügellandschaft. Das Bett steht gegenüber von dieser Fensterfront und ist mit einer flauschigen, roten Kuscheldecke bedeckt. Weiße Flauschkissen häufen sich am Kopfende und sofort weiß ich, dass das mein Zimmer ist. Mom weiß eben doch, dass ich mein Bett kuschelig am allerliebsten hab. Mit einem Tiefen Seufzer setze ich mich auf das Bett und begutachte den Rest des Zimmers. Ein kleiner Schminktisch, wobei ich mich kaum schminke, ein geräumiger Schreibtisch, ein großer Spiegel, direkt neben einer offenen Tür, die in einen circa acht Quadratmeter großen Kleiderschrank führt.
Ich staune nicht schlecht und streiche mit den Händen über die unzähligen Regale, die bis unter die Decke reichen. Eine ganze Wand ist nur für Schuhe und eine andere als große Kleiderstange. Wie soll ich denn verdammt noch mal diesen Kleiderschrank mit meinem bescheidenen Kleidungsbestand befüllen? Wir hatten nun mal nicht so viel Geld nach Dad’s tot.
„Na? Gefällt er dir?“, erklingt hinter mir eine belustigte Stimme. Ruckartig drehe ich mich um und pralle an einer muskulösen Brust ab. Jaden steht in voller Größe vor mir. Er ist gut 1,85 Meter, während ich gerade mal bescheidene 1,70 messe. Seine Haare sind mittel lang, hellbraun und meistens etwas verwuschelt, was jedoch gut aussieht. Seine Augen sind hellgrün und seine Haut gut gebräunt. Er ist muskulös und breitschultrig. Ich geb’s ja zu, er sieht gut aus. Okay, er sieht verdammt heiß aus! Aber was soll’s? Für mich war wie gesagt schon immer der Charakter das Wichtigste und wie ich ja schon erwähnt habe: ich hasse ihn!
„Sollte er?“, maule ich ihn an und zwänge mich an ihm vorbei, zurück in das Zimmer. Er grinst dümmlich und mustert mich von Kopf bis Fuß.
„Noch nie ein Mädchen in Sommerkleidung gesehen?“, fahre ich ihn an und verschränke die Arme vor der Brust. „Was suchst du in meinem Zimmer?“
Sein überheblicher Blick bringt mich zur Weißglut.
„Ich wollte dich nur hier willkommen heißen, aber anscheinend bist du gerade etwas zickig, also bye.“, sagt er gleichgültig und verschwindet zur Tür hinaus. Endlich! Jetzt nur noch meine heiße Dusche und dann nichts wie ins Land der Träume.
Im Gang öffne ich die letzte noch verbleibende Tür und stoße auf das Badezimmer. Auch dieses ist von bemerkenswerter Größe, beinhaltet eine große Dusche mit Massage Funktion, eine übergroße Massagewanne, eine Toilette und zwei große Waschbecken, alles ist sauber und wirkt fast unbenutzt. Doch erst jetzt dämmert mir, dass ich auf dieser Etage nur ein Badezimmer gefunden habe. Das heißt doch nicht ernsthaft, dass ich mir mit Jaden ein Badezimmer teilen muss, oder? Ich stürme den Gang entlang, die Treppen hinunter und ins Esszimmer, wo Jaden sich gerade hinsetzt. Von Mom und Roger keine Spur. Ich stürme weiter in die Küche, ignoriere dabei den belustigten Blick, den mir Jaden zu wirft und schreie wütend Mom und Roger an, die noch immer in der Küche hantieren, jedoch jetzt mit dem Kuchen: „Ihr könnt doch nicht ernsthaft verlangen, dass ich mir ein Badezimmer mit Jaden teile! Seid ihr beide total bescheuert? Und überhaupt, konntet ihr vorhin mit eurem Versuch, euch gegenseitig die Zunge aus dem Mund zu beißen, nicht wenigstens warten, bis ich euch nicht mehr sehe?“
Mom starrt mir wütend in die Augen und schreit: „Junge Dame, du hast dich hier nicht zu beschweren! Bedanken solltest du dich, dafür, dass du so viel bekommst! Geh auf dein Zimmer und überleg, was du falsch gemacht hast!“
„Du kannst mich mal Mom!“, brülle ich unter Tränen, reiße die Schlüssel vom Umzugswagen von der Theke und renne in den regen nach draußen. Barfuss renne ich über den Kiesplatz und bin schon klitschnass, als ich am Wagen ankomme. Sofort springe ich hinein und wühle mich durch die Kartons, die im vorderen Bereich gestapelt sind. Ich suche nur meine zwei Kartons mit Kleidung und den ganzen Hygieneartikeln, sowie meinen wenigen Schminksachen. Schnell sind sie gefunden und ich kann die Ladefläche wieder schließen.
Mit den Beiden Kartons bepackt, renne ich, so schnell es eben geht, zurück ins Haus. Die Schlüssel werfe ich achtlos Richtung Küche, die Tür knalle ich mit einem Fuß hinter mir zu und kümmere mich nicht weiter darum, dass ich überall nasse Fußabdrücke hinterlasse, während ich nach oben renne. Unter Tränen schlage ich auch meine Zimmertür zu, stelle die Kartons ab und rutsche mit dem Rücken an der Tür hinunter. Jetzt kann ich die Tränen nicht mehr halten und sie rinnen mir in Strömen über die Wangen.
Nach einer Weile, in der ich lautlos geweint habe, klopft es an der Tür. Mit erstickter Stimme schreie ich den an, der vor meiner Tür steht, wer auch immer es ist: „Was verdammt? Als hättet ihr mich heute nicht schon genug Erniedrigt!“
Ich vermute schwer, dass es Mom ist, dir mich zur Rede stellen will. So oder so, ich würde die Tür keinem der drei öffnen.
Auf der anderen Seite bleibt es still. Vorsichtig rapple ich mich hoch, wische mir die letzten Tränen weg und atme Tief durch. Irgendwie will ich wissen, wer da vor der Tür steht oder ob überhaupt noch wer da steht, weshalb ich auch vorsichtig durch das Schlüsselloch linse. Nichts. Vorsichtig drehe ich den Schlüssel im Loch und öffne die Tür einen Spalt breit, um hinaus spähen zu können. Der Gang ist leer. War es Jaden? Oder doch Mom, der es zu blöd geworden ist.
Nur zufällig entdecke ich, beim Schließen der Tür, dass am Boden ein Brief liegt. Verwundert hebe ich ihn auf und schließe die Tür schnell. Auf dem Umschlag steht kein Absender, nur mein Name und die neue Adresse. Von wem der wohl ist. In Gedanken gehe ich zu dem Schreibtisch, nehme mir eine Schere und reiße damit den Umschlag auf. Heraus ziehe ich eine kleine Faltkarte. Okay, jetzt bin ich wirklich verwirrt. Vorne ist ein Bild drauf, von einem großen Gebäude, das sich weich zwischen zwei Hügel bettet. In verschnörkelter Schrift steht an der Unterseite: Privatschule Mecklenburg Vorpommern, herzlich willkommen.
Angewidert werfe ich den Flyer auf den Tisch. Danke Mom! Kann ja nur von ihr kommen, dass sie mich schon am Anfang der Sommerferien mit der Schule nervt. Ich will nicht auf ne andere Schule, schon gar nicht auf diese verdammte Privatschule für reiche Ärsche.
Entnervt reiße ich einen der Kartons auf. In den ganzen Klamotten wühle ich meinen Shorty Pyjama im Giraffen Style raus, die Hose mit Giraffenmuster und auf dem Top eine Giraffe auf braunem Hintergrund, ein Paar Kuschelsocken und meine rote Spitzenunterwäsche. Aus dem zweiten Karton nehme ich mein Shampoo und das Balsam. Aus der Tür raus, gehe ich mit schnellen Schritten zum Badezimmer. In dem Moment, wo ich die Tür auf machen will, erklingt hinter mir Jadens Stimme: „Willst du duschen?“
„Was geht dich das an, Arsch?“, zische ich und fahre herum.
„Reg dich ab. Ich wollte es nur wissen, dass ich nicht rein platze während du unter der Dusche stehst. Das Schloss ist seit einiger Zeit kaputt und das Ersatzteil ist noch nicht da, deshalb kann man nicht absperren.“, meint er lachend und mustert mich belustigt, wie ich so angriffslustig da stehe.
„Auch das noch.“ Murre ich wütend und versuche ihn mit meinen Blicken zu töten. Okay, immerhin will er mich vorwarnen, aber wenn er doch ins Badezimmer kommt, während ich drinnen bin, dann ist er so gut wie tot.
Lachend dreht er sich wieder in seinem Türrahmen um und verschwindet wieder in dem lauten Zimmer. Wieder allein öffne ich die Tür und schlage diese hinter mir wieder zu. Einen Moment lang spiele ich mit dem Gedanken, in die Massagewanne zu steigen, lasse diesen aber schnell wieder fallen. Würde Jaden da rein kommen, könnte ich absolut gar nichts machen.
Mit einem misstrauischen Blick zur Tür schlüpfe ich aus meinem T-Shirt, schmeiße es in eines der Waschbecken und mache mich an den Reißverschluss meiner Hotpants zu schaffen. Die Hotpants lege ich auf die Wanne, da ich die noch mal anziehen kann. Gerade während ich an dem Verschluss meines weinroten BHs herummache, um ihn zu öffnen, geht die Tür auf. Mein erster Gedanke ist, aufzuschreien und Jaden eine zu boxen. Doch als ich mich, mit den Armen über der Brust verschränkt, zu ihm umdrehe, steht Roger mit offenem Mund in der Tür und ich sehe, wie er rot wird.
„Raus!“, brülle ich ihn an und schmeiße mit dem nächst Besten Gegenstand. Eine Zahnbürste, die wahrscheinlich Jaden gehört. Sie verfehlt ihn und landet draußen im Flur.
Roger starrt mich wie gebannt an und beginnt zu stottern: „T-tut mir L-l-leid Samantha. Jaden m-meinte, d-das du im Bad bist, aber ich d-dachte, dass d-du dir nur die Z-Zähne putzt.“
Langsam koche ich vor Wut. Ein normaler Mensch würde die Tür schnell wieder zu machen, aber er ist wie versteinert. Ich bin bereits kurz davor zu schreien, als Jaden ebenfalls im Türrahmen auftaucht.
„Was machst du hier Dad?“, fragt der diesen mit einem undefinierbaren Ton.
Mittlerweile kann das ganze kaum noch peinlicher werden. Endlich erwacht Roger aus der Starre und weicht zurück, wobei er auf Jaden prallt, der mich ausgiebig mustert. Ich werfe ihm einen bitterbösen Blick zu und schlage ihm die Tür vor der Nase zu.
Vor der Tür höre ich Roger Jaden anschreien, dass er ihm auch sagen hätte können, dass ich duschen will. Jetzt brauche ich die heiße Dusche wirklich.
Sobald draußen nichts mehr zu hören ist, ziehe ich auch noch die Unterwäsche aus und steige schnell in die Dusche.
Mit nassen Haaren und in meinem Pyjama, mit meinen Klamotten in der Hand, gehe ich zurück in mein Zimmer. In Jadens Zimmer ist die Musik endlich aus. Endlich Ruhe! Unten höre ich irgendwo eine Tür knallen und jemanden die Treppe nach oben rennen. Schnell verziehe ich mich in mein Zimmer und stecke das T-Shirt in den Wäschekorb. Müde schmeiße ich mich aufs Bett, nehme das Handy vom Nachttisch und schaue, ob eine Nachricht angekommen ist. Eine neue Nachricht, zeigt mein Display an. Ich schiebe die Verriegelung auf und öffne die Nachricht. Lenny, von wem denn sonst.
Na? Gut angekommen Sammy?
Ich hätte ja schon angerufen, war mir aber nicht sicher, ob du nicht gerade anderweitig beschäftigt bist. Ruf mich bitte an, sobald du Zeit hast. Ich vermisse dich jetzt schon!
Lenny
Schnell tippe ich eine Antwort.
Ich vermisse dich auch schon. Bin gut angekommen, aber hättest ruhig anrufen können. Ich hätte dich schon nicht umgebracht, wenn du mich vor dem keifenden Monster namens Mom bewahrt hättest. :( Ich ruf dich morgen Mittag an.
Damit drücke ich auf senden, schmeiße das Handy aufs Kopfkissen, wo es in dem Flausch liegen bleibt. Plötzlich spüre ich mit jeder Faser meines Körpers die Müdigkeit, die schon seit Tagen an mir nagt. Erschöpft lasse ich mich in die Kissen sinken und seufze wohlig. Schon nach wenigen Sekunden bin ich eingeschlafen.
Ich wache wegen dem laut spielenden Lied neben meinem Kopf auf. In ohrenbetäubender Lautstärke gibt mein Handy das Lied „Same Mistake“ von James Blunt von sich. Verschlafen taste ich nach dem nervigen Handy und sehe auf das Display. Drei Uhr früh. Wer ruft mich um drei Uhr morgens bitte an!
Mit einem tiefen Gähnen hebe ich ab und melde mich: „Ja? Hallo?“
Auf einen Schlag bin ich hell wach, als ich Lenny am anderen Ende weinen höre.
„Lenny?“, frage ich sie aufgebracht und klinge auch schon hellwach und besorgt. „Was ist denn los?“
Am anderen Ende der Leitung höre ich sie schluchzend hervor zwängen, dass sie mit Ben, ihrem Freund, Schluss gemacht habe. Ben und sie waren das Traumpaar schlecht hin gewesen. Doch anscheinend hat es eben nicht halten sollen.
Ich versuche meine beste Freundin zu beruhigen und schaffe es, dass sie nach einer halben Stunde aufhört zu weinen, was mich sehr beruhigt.
Sie erzählt mir, dass Ben sie schon seit einem Monat mit einem anderen Mädchen betrügt. Heute habe sie ihn erwischt, wie er wild mit dieser Schlampe geknutscht habe. Natürlich hat sie sofort Schluss gemacht. Nachdem sie mittlerweile schon 4 Stunden alleine in ihrem Zimmer saß und heulte, hatte sie sich dazu entschieden, mich anzurufen. Deshalb ist ihre Stimme auch so angeschlagen. Um sie abzulenken erzähle ich ihr, was bei mir gestern passiert ist und beginne selbst fast zu weinen. Wir reden und reden, darüber, dass sie bald einmal zu besuch kommen will, über Jason, Roger, Mom, meine zukünftige Schule, nur nicht über Ben. Ich höre aus ihrer Stimme, dass sie physisch und psychisch Schmerzen hat, wegen des Betrugs.
Wir merken gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht, denn als ich jetzt auf meinen Wecker sehe, ist es schon halb sechs. Geschockt starre ich das Ziffernblatt an und meine zu Lenny: „Lenny, ich glaube wir sollten Schluss machen. Wir können ja später noch telefonieren, aber ich glaube wir beide brauchen noch etwas Schlaf.“ Aus meinem Handy schallt ihr herzliches Lachen. „Du hast ja recht Sammy. Und um ehrlich zu sein, bin ich tot müde. Danke, dass du für mich da bist.“ Mit ehrlicher Stimme erwidere ich: „Danke, dass DU für MICH da bist!“ Ich schmunzle, was sie nicht sieht. „Ohne dich würde ich das hier alles niemals durch stehen.“
Ich kann das Lächeln in ihrer Stimme hören, als sie nur noch meint: „Gute Nacht Sammy.“
Mein gemurmeltes „gute Nacht“ kommt bei ihr nicht mehr so ganz an, denn als ich das Handy vom Ohr nehme, hat sie schon aufgelegt.
Dummerweise bin ich hell wach und habe nicht die Hoffnung, noch mal schlafen zu können. Mit einem Gähnen stehe ich auf und tapse aus meinem Zimmer in den Flur. Von unten dringt komischerweise bereits Licht herauf. Eigentlich habe ich keine Lust darauf, auf jemanden zu treffen, weshalb ich wieder in mein Zimmer zurück schleiche. Mein Herz bleibt für eine Sekunde stehen, als die Tür neben mir aufgerissen wird und Jaden nur in Boxern und zerwühlten Haaren raus kommt. Er rennt fast in mich hinein, als er auf den Flur tritt. Verwirrt sieht er mich aus verschlafenen Augen an und fährt sich mit der Hand zuerst über die Augen, dann durch die Haare.
„Was machst du denn schon so früh auf?“, fragt er verschlafen, während er sich an dem Türrahmen anlehnt.
„Geht dich nen feuchten Dreck an!“, patze ich ihn an und gehe schnell auf mein Zimmer zu.
„’tschuldige, dass ich gefragt hab. Ist ja schließlich schon halb sechs.“, meint er genervt und ich höre, wie er über den Flur ins Badezimmer stapft.
Wieso Gott? Wieso tust du mir nur so was an! Es kann ja auch nur ich so viel Pech haben. So nen Arsch als Stiefbruder, nen schnöseligen Arsch, was noch schlimmer ist, als Stiefvater und einen leiblichen Vater, der mich zu früh verlassen hat, gerade, als ich ihn am meisten gebraucht hätte. Mit einem tiefen Seufzer werfe ich mich aufs Bett und bleibe eine halbe Ewigkeit so liegen. Ich sehe ein, dass ich nicht mehr müde werde, stehe genervt auf und betätige den Lichtschalter. Schnell kneife ich die Augen zu, als das Licht hell aufleuchtet und fluche leise. Im Schneckentempo mache ich mich daran, meine Kartons auszuräumen.
Als alles im Schrank ist, ist es immer noch erst sechs Uhr. Na toll! Und was jetzt?
Im Zimmer sammle ich meine Hotpants ein und nehme ein Top aus dem Regal im Kleiderschrank, ziehe meinen Pyjama aus und schlüpfe in frische Spitzenunterwäsche, darüber in die Hotpants, sowie das T-Shirt. Leise, um ja nicht Jaden noch mal zu wecken, gehe ich den Flur entlang und steige die Treppe nach unten. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen und wirft nun ihre ersten kühlen Strahlen durch die Fenster. Im ganzen Haus ist alles leise. Das Licht, dass um halb sechs hier unten an war, musste Jason ausgemacht haben oder Roger war schon los zur Arbeit, was mich nicht gerade enttäuschen würde.
In der Küche nehme ich mir aus dem Kühlschrank ein Himbeeryoghurt und aus der Schublade der Kücheninsel einen kleinen Löffel. Die Kaffeemaschine ist an, also muss schon jemand gefrühstückt haben. Da sie sowieso schon an ist, mache ich mir einen Karamell Macchiato und gehe mit meinem Frühstück nach draußen, wo ich mich in einen absolut geilen riesen Hängesitz, aus geflochtener Weide, setze und den Macchiato auf dem kleinen Tischchen vor mir abstelle. In dem Stuhl befindet sich ein angenehmes Sitzkissen, worin ich mich sofort einkuschle.
Es geht ein lauer Wind, der mir das Haar zerzaust, als ich mich mit meinem gemütlichen Sitz in Richtung Felder drehe. Entspannt beginne ich mein Yoghurt zu essen und nehme hin und wieder einen Schluck Kaffee. Ich glaube ich könnte ewig so hier Sitzen, einfach auf die Felder starren und für einen Moment alle meine Sorgen vergessen. Zum Beispiel, dass ich diesen Sommer sehr einsam sein werde.
„Na, schon ausgeschlafen Kleine?“, erklingt die Stimme von Jaden hinter mir und ich wirble herum.
„Mach. Das. Nie. Mehr!“, bringe ich böse heraus, während ich mir die Hand auf mein rasendes Herz presse.
„Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Sein dämliches, überhebliches Grinsen passt mir gar nicht, sodass ich mich einfach wegdrehe und mit Ruhe weiter esse.
„Nicht gut geschlafen, hm?“
Ich verschlucke mich an meinem Frühstück und beginne zu husten. Was ist denn bitte in den gefahren? So habe ich ihn ja noch nie erlebt.
„Ich wüsste nicht, was dich das interessiert.“, meine ich nur schroff und schiebe mir erneut einen vollen Löffel in den Mund.
„Darf man denn nicht mal nett sein?“, fragt er mich schelmisch und steht immer noch so da.
„Ich wüsste nicht, wann du schon mal nett zu mir warst.“, murre ich vor mich hin, drehe mich aber nicht zu ihm um. Hinter mir höre ich ihn schnauben und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Er hat es verdient. Arrogantes Arschloch!
Ohne ein weiteres Wort verschwindet er von der Terrasse und lässt mich endlich allein. Erleichterung kommt in mir auf, sowie der Gedanke an den einsamen Sommer. Traurigkeit macht sich in meinem Herz breit und lässt kaum noch Platz für Optimismus.
Ich weiß nicht, wie lange, dass ich nur so da sitze, in die Landschaft schaue und hin und wieder am Kaffee nippe, aber als ich aufstehe, ist die Sonne bereits ganz aufgegangen und strahlt warm auf die Felder. Wie in Trance schlurfe ich in die Küche und verräume die Sachen, die von meinem Frühstück übrig geblieben sind.
Gerade als ich die Treppe nach oben gehen will, kommt meine Mom aus ihrem Zimmer. Sie sieht müde und geschafft aus.
Als sie näher kommt, bestätigt sich meine Annahme, dass sie letzte Nacht wohl noch etwas mehr getrieben hatten, als nur rum zu machen, da sie leicht angeschlagen einen Fuß vor den anderen setzt. Angewidert sprinte ich die Treppe nach oben, versuche das Bild zu verdrängen, dass sich in meinen Kopf bohrt.
„Schätzchen?“, höre ich meine Mutter mir hinterher rufen, aber ich ignoriere es. Grässlich, dass sie und Roger es sogar dann miteinander treiben müssen, wenn ich mich im selben Haus befinde.
Außer Atem komme ich in meinem und Jadens Stockwerk an. Anscheinend hat er sich dazu entschieden, mir nicht noch mal eine Chance zu geben, einschlafen zu können, denn aus seinem Zimmer dröhnt schon wieder Musik. Genervt stürme ich ins Badezimmer und mache mich fertig. Sobald ich die Haare gekämmt und die Zähne geputzt habe, gehe ich in mein Zimmer und suche mein Handy, sowie meine Geldtasche zusammen. Angeblich soll hier in der Nähe eine kleine Stadt sein, wo sich auch die Schule befindet, aber man auch shoppen könne. Mom hat mir das erzählt, als sie mir vom Umzug erzählt hatte, dass ich nicht zu sehr ausraste.
Jetzt, da wir keine großen Geldsorgen mehr haben, kann ich meinen Kleiderschrank ja füllen, denke ich mir und nehme meine Tasche vom Schreibtischstuhl.
„Jaden?“, schreie ich, schon bevor ich seine Zimmertür aufreiße. „Wann fährt der nächste Bus in die Stadt?“
Sein verdutzter Blick befriedigt mich ein Stück weit und ich sehe herablassend zu ihm hinunter. Er sitzt auf seinem Bet, das zugegeben beachtlich groß ist, und wühlt in etwas, das aussieht, wie alte Fotos. Als er meinen Blick sieht, reißt er schnell ein Kissen an sich und legt es darüber, während er mich anfährt: „Weißt du nicht, dass man anklopft, bevor man in das Zimmer eines anderen gerannt kommt?“
Genervt verdrehe ich die Augen und schreie über die laute Musik: „Und weißt du nicht, dass es unhöflich ist, jemandem seine Frage nicht zu beantworten?“
Seine Augen verschmälern sich und er sieht mich wütend an, drückt dann aber doch bei der Fernbedienung des Radios auf den Aus-Knopf und meint: „Es fährt kein Bus in den Ferien.“
Geschockt starre ich ihn an und muss mich am Türrahmen festklammern, um nicht an Ort und Stelle zusammen zu brechen.
„Das ist nicht dein Ernst!“, hauche ich und starre ihn entgeistert an.
Jetzt grinst er feindselig und es kommt einem Zähnefletschen näher, als man meinen könnte. „Mein voller Ernst.“
Für einen Moment presse ich die Augen zusammen und sammle mich. „Und wie soll ich dann verdammt noch mal die Ferien überleben, wenn ich nicht mal aus diesem scheiß Kaff weg komme?“ Eigentlich erwarte ich keine Antwort, aber er gibt mir eine: „Gar nicht. Außer du findest dich damit ab, dass du mit mir mit dem Motorrad mit fährst.“
„Sag mal, tickst du noch ganz richtig! Du spinnst doch, wenn du denkst, dass ich mich mit dir auf ein Motorrad setze, geschweige denn damit irgendwohin mitfahre. Davon träumst du wohl. Oder eher davon, dass ich mich an dir festklammere und dich anhimmle oder wie?“, wutentbrannt brülle ich ihn an und höre nebenbei, wie meine Mutter schon die Treppe nach oben geeilt kommt, weil sie mich wahrscheinlich gehört hat. Mir egal.
Jaden lacht nur und steht auf. „Du kleines freches Biest. Du wirst dich noch wundern, wie froh du darüber gewesen wärst, wenn du das akzeptiert hättest. Ich hätte dich heute Nachmittag mitgenommen, weil ich mich sowieso mit einem Kumpel treffen wollte. Aber so. Vielleicht änderst du deine Meinung bis heute Mittag noch und himmelst mich doch noch an, dann lässt sich vielleicht mit mir reden.“
Mit diesen Worten kommt er langsam auf mich zu, was mich vor ihm zurückweichen lässt. Als er nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt ist, piekt er mir mit seinem Zeigefinger auf meine Brust und meint zuckersüß, aber gefährlich: „Bis da hin, verpiss dich gefälligst aus meinem Zimmer!“
Somit schlägt er mir die Tür vor der Nase zu und ich höre, wie die Musik wieder an geht, diesmal jedoch etwas lauter. Noch immer starre ich die Tür an, als meine Mom den Treppenabsatz erreicht und mich fragend, gleichzeitig aber auch wütend, anschaut. Wutschnaubend drehe ich mich auf dem Absatz um und stürme in mein Zimmer, wo ich die Tür hinter mir ins Schloss werfe, dass das ganze Haus zu vibrieren scheint. Mom ist so hinterlistig und unfair! Sie hat behauptet, dass ich auch selbst in die Stadt fahren kann. Aber was ist! Der verdammte Bus fährt nicht! Am liebsten hätte ich wieder angefangen zu weinen, aber ich habe in den letzten Jahren zu oft geweint und langsam habe ich das Gefühl, dass ich keine Tränen mehr übrig habe. Um ehrlich zu sein, es beschleicht mich immer mehr das Gefühl, dass meine Mom es nicht wert ist, ihretwegen so viele Tränen zu vergießen.
Es hämmert an meiner Tür und die kühle Stimme meiner Mutter erklingt: „Samantha! Was war hier verdammt noch mal los? Wieso hat Jaden die Tür so zu geknallt?“
„Verpiss dich!“, brülle ich erstickt und setze mich auf mein Bett. „Du kannst ja deinen ach so geliebten Jaden selbst fragen!“
Sogar durch die Tür, kann ich ihren entgeisterten Blick erahnen.
Noch nie, bin ich so zu ihr gewesen, aber langsam ist das Maß meiner Geduld endgültig voll!
Nach einer unendlichen Stille, die die Hoffnung in mir keimen lässt, dass Mom schon weg ist, schnaubt sie laut und presst zwischen ihren Zähnen hervor: „Junge Dame! Wenn du nicht sofort die Tür aufmachst, dich bei mir entschuldigst und mir dann erklärst, was hier verdammt noch mal los ist, dann knallt es!“
„Aha.“, erwidere ich trocken „Und wie soll der Knall deiner Meinung nach ausfallen?“
„Du wagst es… Gut. Den Besuch von Leonie, diesen Sommer, kannst du dir schon mal abschminken, bis du dich besser zu benehmen weißt!“
Vollkommen unerwartet trifft mich diese Aussage und ich kann nichts anderes tun als die Tür anzustarren. Dass sie so herzlos sein kann, habe ich bisher noch nie erlebt. Mom stürmt den Gang entlang und sobald ihre Schritte auf der Treppe verklingen, werfe ich mich bäuchlings auf mein Bett und beginne zu weinen. Anscheinend habe ich doch noch Tränen übrig, denn ich kann kaum noch aufhören zu weinen. Erst als mein Handy vibriert, versiegen die Tränen und ich nehme das Handy schluchzend an mich. Eine SMS von einer unbekannten Nummer blinkt auf dem Bildschirm auf. Neugierig runzle ich die Stirn und öffne sie.
Hey Sammy,
ich weiß, dass du schon von Lenny erfahren hast, dass wir uns getrennt haben. Ich wollte mich gestern eigentlich auch noch von dir verabschieden, aber als ich bei euch zuhause angekommen bin, da wart ihr wohl gerade weg und Lenny saß weinend da. Irgendwie hat sie das ganze in den falschen Hals bekommen, dass ich mich auch verabschieden wollte. Sie hat mich angeschrieen und alles und dir sicher erzählt, dass sie mich mit einem anderen Mädchen gesehen hat. Ich brauche deine Hilfe Sammy. Hilf mir bitte, dass sie mich zurück nimmt. Ich liebe sie noch immer und das mit Becca war nur ein Ausrutscher, weil Lenny mich so behandelt hat. Bitte Sammy, sie ist die Liebe meines Lebens!
Ben
Kopfschüttelnd lese ich die SMS und starre immer ungläubiger auf mein Handy. Der Junge spinnt ja total! Er betrügt meine beste Freundin und versucht sich dann, über mich wieder an sie ran zu machen. Arsch!
Fick dich, Arschloch!, ist das einzige, was ich ihm zurück schreibe, womit ich mein Handy in das nächste Kissen pfeffere und mich meinem Schminktisch zuwende.
Wenn ich schon hier festsitze, dann will ich meine Zeit auch sinnvoll verbringen. Zum Beispiel, indem ich mich ein wenig in die wundervolle Sonne lege und einfach die Wärme auf meiner Haut spüre, während ich Musik höre. Mit schnellen und routinierten Handbewegungen schminke ich mich ab, sodass verlaufene Wimperntusche und verschmierter Lipgloss aus meinem Gesicht verschwinden. Schnell bin ich wieder dezent geschminkt, was nicht heißt, dass es nicht gut aussieht.
Das erledigt, gehe ich in meinen Kleiderschrank, ziehe meinen knappen roten Bikini an, der perfekt zu meinen langen, braunen Haaren passt und sich perfekt an meinen Körper schmiegt. Es ist mein Lieblingsbikini, den ich mir letzten Sommer gekauft habe, jedoch noch nicht so oft getragen habe. Lenny meinte immer, dass es verschwenderisch sei, so ein „Heißes Teil“ einfach im Schrank herum liegen zu lassen. Für diesen Kommentar habe ich sie einmal in den Schwitzkasten genommen und ihr die Haare zerwühlt. Schnell, um nicht wieder weinen zu müssen, gehe ich in mein Zimmer, schnappe das Handy und meine Kopfhörer, sowie ein großes Badetuch.
Als ich aus meinem Zimmer trete, schließe ich die Tür hinter mir mit dem Schlüssel zu und lege diesen oben auf den Türrahmen, wo keiner hinschauen würde.
Schnell, aber so leise wie möglich, renne ich den Gang entlang und die Treppen nach unten. Jaden muss mich ja nicht unbedingt im Bikini durchs Haus laufen sehen.
Mom schien in ihrem Zimmer zu sein und ihre Sachen auszupacken, also war es nicht schwer, unbemerkt aus der Terrassentür in der Küche zu schlüpfen.
Im Garten suche ich mir irgendwo mitten auf der großen Rasenfläche vor der Terrasse einen sonnigen Platz, wo ich mein Badetuch ausbreite und mich hinlege. So auf dem Bauch liegend, stütze ich mein Kinn auf meine Hände, die Ohrstöpsel in den Ohren und Musik laut aufgedreht. Wie man so schön sagt, Musik an, Welt aus.
Mit geschlossenen Augen höre ich gerade von Imagine Dragons das Lied It’s time, als ein Schatten auf mich fällt. Sofort schrecke ich hoch und knalle mit dem Rücken gegen irgendetwas. Vor mir steht Jaden und grinst. Unauffällig linse ich nach Oben, um zu erkennen, gegen was ich geknallt bin. Hinter mir steht ein wildfremder Typ, der mich mit einem hungrigen Funkeln in den Augen mustert. Ekliges Schwein!
Mit zusammengekniffenen Augen sehe ich zu Jaden und zische: „Was willst du Jaden?!“
Total genervt, dass er mich einfach nicht in Ruhe lassen kann, setze ich mich so hin, dass ich diesen gierigen Typen nicht mehr im Rücken hab und die beiden sehen kann.
„Dan und ich wollten dich zum Essen rufen. Deine Mutter meinte, dass wir dich suchen sollen, weil sie nicht wisse, wo du bist.“, sagt er trocken.
„Dan?“, frage ich und sehe ihn etwas verwirrt an. Der komische Typ nickt mir zu und sagt mit tiefer, rauer Stimme: „Hey, ich bin Dan. Ein Kollege von Jaden. Eigentlich heiße ich ja Daniel, aber nenn mich Dan.“
„Pass auf, sonst rutschst du noch auf deinem Schleim aus.“, erwidere ich abfällig und sehe wieder angepisst du Jaden. „Würdet ihr euch jetzt bitte verziehen und mich in Ruhe lassen? Ich habe keinen Hunger.“
„Es ist kurz nach eins und du hast noch keinen Hunger? Wenn ich bedenke, wie früh du gefrühstückt hast und kein Abendbrot hattest…“ Jaden sieht mich verwundert an, schüttelt aber den Kopf und sieht sofort wieder nach dem arroganten Arsch aus. „Komm Dan, ich glaub wir lassen die kleine mal besser in Ruhe. Sie ist giftiger als eine Kobra.“
Lachend ziehen die beiden ab. Anscheinend merkt dieser Daniel nicht mal, dass ich seine Blicke auf meine Brüste und meinen Arsch realisiere und ihn wütend anstarre. Der ist bei mir auch unten durch, denke ich und lege mich wieder hin, diesmal auf den Rücken.
Als ich die Kopfhörer wieder in die Ohren stecke läuft gerade Beneath your Beautiful und ich schließe die Augen, während ich mir vorstelle, wie schön es jetzt wäre, irgendwo auf einer großen Wiese zwischen grasenden Pferden zu liegen. Ich träumt einige Zeit so vor mich hin, entscheide mich dann aber doch dazu, rein zu gehen, da ich lange genug in der Sonne gelegen habe und keinen Sonnenbrand riskieren sollte. Ich war noch nie anfällig dafür, doch will ich mein Glück nach 5 Stunden Dauersonne nicht überstrapazieren. Mit einem frustrierten Seufzer stehe ich auf und nehme das Badetuch vom Boden, nur um es auf der Terrasse wieder in eine Ecke zu pfeffern. Die Musik noch immer laut aufgedreht, gehe ich rein, einfach am Esstisch vorbei, wo noch alle vier sitzen und die letzten Reste von den Tellern gabeln. Die Lippen meiner Mutter bewegen sich und ihr Blick ist streng auf mich gerichtet, doch verstehe ich über die Musik kein Wort und es interessiert mich auch kein Stück.
Alles um mich herum ignorierend gehe ich die Treppe nach oben und in mein Zimmer, wo ich mir erst mal ein knappes, weißes Sommerkleid überwerfe.
Waren hier nicht angeblich überall Seen in der Nähe, wo man schwimmen gehen konnte? Ach scheiß drauf.
Mies gelaunt gehe ich wieder nach unten. In der Küche klappert Geschirr, was ich schon im oberen Flur hören kann. Gerade als ich die letzte Treppe in angriff nehmen will, biegen Jaden und Dan um die Ecke und kommen die Treppe lachend hoch. Als mich Jaden sieht, verstummt er und sieht mich mit schief gelegtem Kopf an.
In diesem Moment bereue ich es, dass ich die Musik ausgeschaltet habe, da ich mir das, was jetzt aus Jadens Mund kommt, auch sparen hätte können.
„Hast du dich etwa doch umentschieden und willst dich jetzt an mich ran schmeißen, dass du in die Stadt kommst?“ Sein schelmisches, schmieriges Grinsen kann er sich sonst wo hin stecken! Ich atme tief durch, dass ich mich nicht sofort auf ihn stürze und ihm eine in die Fresse haue. Er würde noch sein blaues Wunder erleben! Mit mir ist nicht zu spaßen. Ich lasse mir doch so einen Bockmist nicht gefallen!
„Wenn du kleiner Wixxer, auch nur noch einmal so einen Bullshit über die Lippen bringst, dann schwöre ich dir, wirst du es bereuen!“, schnaube ich und versuche ihn mit Blicken zu töten. Sein schockierter Blick befriedigt mich etwas und ein bitterböses Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Jeder noch so kleine Kratzer in seinem Ego würde ihm gut tun.
„Okay, jetzt glaube ich dir.“, lachte Dan und boxte Jaden leicht auf die Schulter, welcher somit aus seiner Schockstarre erwachte und jetzt hochrot anlief.
„Sollte ich jetzt etwa Angst vor dir haben?“, frage ich verächtlich und will mich an den beiden vorbei schieben. Falsch gedacht. Jadens Hand schnellt vor, gerade in dem Moment, als ich mich an ihm vorbei quetsche, und packt meinen Arm. Er reißt mich zurück, ganz dicht an sich und knurrt mir feindselig ins Ohr: „Wage es nicht noch einmal, mich vor einem meiner Jungs zum Deppen zu machen. Kapiert.“
Zur Verdeutlichung seiner Worte, verstärkt er den Griff um meinen Oberarm noch einmal, dass es bereits etwas schmerzt, bevor er mich los lässt und die Treppe weiter nach oben geht. Ich reibe mir verstohlen den schmerzenden Arm und will auch wider weiter gehen.
„Warte mal Jaden!“, meint Dan plötzlich und dreht sich zu mir um. Ich will die beiden eigentlich ignorieren, doch als ich höre, was Dan sagt, bleibe ich wie angewurzelt stehen.
„Wieso willst du sie denn nicht mit in die Stadt nehmen? Was hat sie dir denn angetan, dass du ihr nicht mal den Gefallen tun kannst?“, an mich gewendet sagt er: „Wenn er dich nicht mit nimmt, dann fährst du eben auf meinem Motorrad mit.“
Zuerst will ich ablehnen, doch als mir der tödliche Blick auffällt, den Jaden Dan zuwirft, sage ich: „Wenn es die einzige Möglichkeit ist, in die Stadt zu kommen…“ Jetzt bedenkt Jaden mich mit diesem Blick und murrt: „Na wenn es denn unbedingt sein muss. Wir fahren in fünf Minuten los.“
Ich nicke fröhlich und sprinte an ihnen vorbei die Treppe wieder hinauf. Der bitterböse Blick, den Jaden Dan gegenüber aufgesetzt hat, hat mich irgendwie befriedigt, weshalb ich auch erst zugestimmt habe.
Ich fege durch mein Zimmer und sammle alles ein, was ich brauche und stelle fest, als ich alles habe, dass ich mit dem Kleid nichts anfangen muss. Es ist zwar schön, doch eher für einen entspannten Tag zuhause im Garten, nicht einen warmen Sommertag in der Stadt. Nach kurzem hin und her überlegen schlüpfe ich aus dem weißen Sommerkleid heraus und in ein knapp über den Hintern reichendes, türkises Strickkleid, bei dem mein roter Bikini durch schimmert. Mit einem prüfenden Blick in den Spiegel nicke ich zufrieden und lächle das 16-jährige Mädchen im Spiegel an. Ja ich lächle. Zwar sieht es eher erbärmlich aus, dieses Erheben eines Mundwinkels um ein kaum sichtbares Stück, aber es ist immerhin etwas.
Gerade als ich meine kleine weiße Tasche plus Handy vom Schminktisch nehme, wird die Tür aufgerissen und Jaden knurrt genervt: „Hast du’s bald?!“
Wie vom Donnerschlag getroffen bleibt er stehen und sieht mich ungläubig und wütend an. „Du willst nicht im Ernst so auf ein Motorrad sitzen?!“
Ihn ignorierend werfe ich die Haare zurück und stolziere an ihm vorbei, während ich etwas in mein Handy eintippe, nur um beschäftigt auszusehen. Im Flur wartet Dan bereits und grinst wieder so bescheuert, während er mich genüsslich von Oben bis Unten mustert. Wenn ich es mir recht überlege, will ich zu ihm erst recht nicht aufs Motorrad steigen, dann schon lieber zu Jaden. Bei Jaden kann ich mir wenigstens sicher sein, dass er mich nicht entführen und vergewaltigen würde.
Ich bleibe stehen, womit sofort Jaden von hinten in mich rennt. „Pass doch besser auf!“, maule ich ihn an und reibe mir die Schulter. Hinter mir murrt er nur unwillig und geht an mir vorbei den Flur entlang, Dan wie einen Hund an seine Seite pfeifend. Arsch! Die beiden gehen so schnell, dass ich fast rennen muss, um ihnen hinterher zu kommen. Sie warten nicht mal, bis ich in meine Ballerinas geschlüpft bin, sondern gehen schon zu ihren Motorrädern. Ich verdrehe die Augen über ihre Rücksichtslosigkeit. Jungs sind eben Arschlöcher!, denke ich für mich und stapfe ihnen hinterher. Die beiden haben sich sogar schon auf die Motorräder gesetzt. Keine Helme, nichts! Langsam bin ich so richtig angepisst. Wobei es für die Frisur auch nicht förderlich ist, wenn ich mir so einen Helm über den Kopf quetschen müsste. Okay, Mom würde sagen dass Sicherheit vorgehe, aber seit wann höre ich bitte auf meine Mom?
„Dann mal los!“, sage ich und schmunzle, während ich langsam auf Jadens Motorrad zusteuere. Dies löst bei ihm einen ungläubigen, aber zugleich triumphierenden Blick aus. Wieder mit voller Arroganz und vollem Selbstbewusstsein sagt er: „Also doch lieber mich?“
Ich erdolche ihn mit Blicken und setze mich einfach hinter ihn. Auf keinen Fall, würde ich meine Arme um ihn schließen, also halte ich mich hinter mir am Sitz fest. Trotz allem bin ich gezwungenermaßen an ihn gepresst. Mir läuft ein kalter Schauder den Rücken hinunter, als meine Brüste über seinen Rücken streifen, als ich mich kurz umdrehe, um zu überprüfen, wie Dan darauf reagiert, dass ich bei Jaden aufgestiegen bin. Er sieht nicht gerade beigeistert aus, eher etwas eifersüchtig.
Die Muskeln in Jadens Rücken spannen sich an und er startet das Motorrad.
„Gut festhalten!“, schreit er über das Röhren des Motors. Er schaut sich nicht mehr um, ob Dan auch schon fertig ist und fährt einfach los. Erst als wir schon ein gutes Stück die Straße entlang gerast sind, höre ich hinter uns etwas aufröhren. Er ist anscheinend nicht der Schnellste, ganz im Gegensatz zu Jaden. Als ich in einer Kurve, in der er kaum abbremst, etwas zur Seite rutsche, klammere ich mich schnell an ihn, da der Sitz plötzlich zu wenig Halt bietet. Der Arsch! Das hat er sicher mit Absicht gemacht! Dieses Wissen nützt mir jetzt auch nichts, da ich mich an ihm festklammern muss, egal was ich denke. Sein Körper bebt, woraus ich schließe, dass er leise lacht. Ich gebe ihm einen vorsichtigen Knuff in die Schulter und murre an seinem Ohr: „Idiot!“, was bei ihm nur einen erneuten Lachanfall auslöst. Hilflos ergebe ich mich meinem Schicksal und sinke gegen seinen Rücken. Es ist mir unangenehm, dass ich so dicht an ihn gedrückt bin und meine Arme um ihn geschlungen habe, erst recht, als wir langsam Richtung Stadt kommen und sich immer mehr Leute auf der Straße befinden, auch in unserem Alter. Was sollen die sich wohl denken. Wahrscheinlich denken sowieso alle, dass ich Jadens neues Bunny bin. Na toll, das würde mir gerade noch fehlen, wenn ich am Ende der Sommerferien in die Schule komme und ich schon den Ruf als sein Spielzeug hätte. Entweder würde ich dann als Spielzeug abgestempelt und die Jungs würden mich nur als ein solches sehen, oder ich würde Respekt bekommen, weil ich mit so jemandem wie Jaden zusammen bin. Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich mir vorstelle, dass wir wirklich zusammen sind und ich in der Schule so schneller Anschluss finden würde. Sofort verbanne ich diesen Gedanken aus meinem Kopf und konzentriere mich auf die vorbeirasenden Häuser. Wir sind anscheinend in einem Vorort oder so. Die Häuser, die hier stehen, lassen das zumindest vermuten. Überraschenderweise hält Jaden bei einem kleinen Kopfstein gepflasterten Platz und stellt den Motor ab. „Da wären wir. Das Stadtzentrum.“, meint er nüchtern und sieht zur Seite, als Dan mit seinem Motorrad neben uns auf dem Parkplatz hält. Langsam löse ich meine verkrampften Arme, entspanne sie etwas, steige ab und sehe mich mit großen, entsetzten Augen um.
„Das ist jetzt nicht euer Ernst oder?!“, rufe ich fassungslos, drehe mich zu den beiden Jungs und bin bereits nahe einer Panikattacke. Meine Mutter hat mich wieder angelogen. Erst das mit dem Bus, jetzt das mit der Stadt. Ach was, das ist ebenfalls nur so ein scheiß Dorf! Dieser Marktplatz umfasst drei Cafés, einen Friseur, zwei Banken, ne Apotheke und ein Nagelstudio.
„Sagt bitte, dass hier irgendwo noch ein riesen Einkaufszentrum oder wenigstens ein H&M ist!“, flehe ich verzweifelt und sehe die beiden Hilfe suchend an.
Dan schüttelt perplex den Kopf und Jaden grinst nur dümmlich. Lach du nur!, denke ich wütend, aber nicht auf ihn, sondern meine Mutter. Wie kann sie nur so hinterhältig sein?! Sie hat mir versprochen, dass ich in der Stadt shoppen könnte und vielleicht etwas unternehmen. Sie hat mir sogar hoch und heilig versprochen, dass es ein Kino gibt.
„Gibt es denn hier wenigstens ein Kino?“, frage ich und kann jetzt die Wut nicht mehr aus der Stimme halten und will es ehrlich gesagt auch nicht. Na das kann ja mal ein toller Tag werden!
„Tut mit leid, dich enttäuschen zu müssen wegen dem Shoppingtrip, aber um dich mal zu besänftigen: Ja es gibt ein Kino. Es ist zwar verdammt klein, mit seinen zwei Sälen, aber immerhin etwas. Sie bringen wenigstens die guten Filme.“, Jaden klang sogar mal mitfühlend und er sah mich sogar so an, als würde er mich verstehen. „Eigentlich wollte ich das ja nicht machen, aber würdest du gerne mit uns hin? Wir hatten sowieso vor, uns mit ein paar anderen im Kino zu treffen.“
Ungläubig starre ich ihn an. Sein Ernst? Er lädt mich gerade wirklich dazu ein mit ihm und seinen Freunden ins Kino zu gehen? Ich bin ihm also nicht peinlich oder so? Oder macht er es nur, weil er sieht, wie verloren, alleine und verlassen ich mich gerade fühle? Aber das wäre für seine Verhältnisse ja schon fast übertrieben freundlich.
Jaden beginnt schon nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten, weil ich nichts sage. Findet er mich unberechenbar oder ist es ihm unangenehm, dass ich nur nicht sofort antworte und mich freue, dass er mich einlädt? So oder so, es freut mich auf jeden Fall, dass sein Selbstbewusstsein nicht mehr so stark ist.
„Klar, was soll ich auch sonst in so ’nem scheiß Kaff machen.“, sage ich nüchtern und zucke mit den Schultern. Niemals würde ich ihm zeigen, wie froh ich bin, dass er mich hier nicht einfach Mutterseelen allein stehen lässt.
„Na dann.“, murrt Dan, der anscheinend nicht gerade erfreut darüber ist, wie ich über die Stadt rede und dann auch noch mit ihnen mitgehe. „Jaden, ich dachte das wird ein Kinoabend unter Jungs?“, quengelt er, wie ein kleines Kind, als wir zu einem kleinen Café gehen und uns dort an einen Tisch mit acht Plätzen setzen, ich mich neben Jaden, Dan sich uns gegenüber. Wie viele kommen bitte?! Und Abend unter Jungs! Bitte?! Heißt das ich bin das einzige Mädchen? Ach du scheiße! Na das kann ja heiter werden!
„Fresse!“, mault Jaden genervt und nimmt sein Handy aus der Hosentasche, um etwas darauf rum zu tippen. „Die anderen sind auf dem Weg, in fünf Minuten hier, wir sollen schon mal bestellen.“
Dan nimmt sich schmollend die Eiskarte und versteckt sich dahinter. Schnell werfe ich Jaden einen fragenden Blick zu. War Dan immer schon so? Wenn ja, da muss ich das nicht haben. Jaden versteht und nickt, während er die Augen verdreht und eine andere Eiskarte nimmt. Ich beobachte die beiden, wie sie sich die Karte durchlesen und schaue mich auf dem kleinen Marktplatz um. Ich entdecke noch ein kleines Restaurant, das mir zuvor noch nicht aufgefallen ist, bei dem sich aber mittlerweile viele Leute an den Tischen tummeln. Okay, zugegeben, das ganze hat einen ruhigen Urlabsflair und ist eigentlich schon ganz okay.
„Sag nicht, dass du noch immer nichts essen willst!“, flüstert mir Jaden ins Ohr und ich zucke erschreckt zusammen und presse mir eine Hand auf die Brust.
„Jaden!“, keuche ich „Mann! Wenn du mich noch mal so erschreckst…“
Sein Lachen steckt mich an und wir kichern beide, bis Dan uns über den Rand seiner Karte kritisch mustert. Sofort verstumme ich und spiele mit einer Haarsträhne. Stopp! Ich spiele mit einer Haarsträhne? Verdammt. Schnell verschränke ich meine Hände auf dem Tisch ineinander.
„Und? Komm schon. Wenn du jetzt nichts isst, dann, ich schwöre, ich bring dich zum nächsten Arzt!“, droht Jaden scherzhaft. Er kann also auch anders, als das arrogante Arschloch. Jetzt spielt er das fürsorgliche, arrogante Arschloch.
„Okay, ich ergebe mich ja. Ich nehm nen Eiskaffee. Zufrieden?“, sage ich und werfe die Arme hilflos in die Luft.
„Noch nicht ganz, aber immerhin etwas. Ich sollte es wohl nicht übertreiben.“
„Genau!“, stimme ich ihm zu und lehne mich zurück, was ich sofort wieder bereue. Hinter mir erklingen mehrere tiefe Stimmen, die Jadens und Dans Namen rufen und lachen. Vor Schreck kippe ich mit dem Stuhl rückwärts und lande auf meinem Arsch.
„Fuck!“, fluche ich, während ich aufstehe und mir den Hintern reibe. Um mich höre ich schallendes Gelächter. Mir steigt das Blut in den Kopf und ich starre wütend die fünfköpfige Gruppe von Jungs an, die zu uns gestoßen ist und sich mittlerweile an den Tisch gesellt. Jaden grinst ebenfalls, doch hilft mir wenigstens, den Stuhl wieder richtig hin zu stellen.
„Danke.“, murre ich und setze mich wieder neben ihn. Mein Arsch tut immer noch weh, doch ich verberge es und sehe jetzt einfach hochnäsig in die Runde. Neben mir sitzt ein großer, vielleicht etwas kleiner als Jaden, blonder Typ, mit einer etwas krummen Nase, als hätte er sie sich schon mal gebrochen. Er grinst mich schmierig an und sieht Jaden mit fragendem, stolzem Blick an. Ekelhaft. Immer dieses Verhalten der Jungs, wenn es um die „Eroberungen“ geht, die sie gemacht haben. Ich ignoriere ihn einfach und sehe mir die anderen an. Mir gegenüber, neben Dan, sitzt ein Junge, der mich aus kleinen grünen Augen mustert. Er ist sicher nur 1,60 groß. Seine kurzen Haare sind etwas nach hinten gestylt und er trägt eine Bikerjacke. Absolut nicht mein Geschmack. Des Weiteren haben sich noch ein Schwarzhaariger Typ, mit blauen Augen, etwa meine Größe und noch zwei Blonde, einer grüne, einer braune Augen, die beide etwa 10 cm größer sind als ich, dazu gesellt. Irgendwie sind alle Blicke erwartungsvoll auf mich gerichtet. Als ich mich Hilfe suchend zu Jaden wende, grinst der und sagt ruhig zu den Jungs: „Das ist Samantha, meine neue Schwester, wenn man es so nimmt. Sie sind gestern hier angekommen. Ach ja, und sie ist 16.“
„Sammy!“, rufe ich gleich protestierend „Mein Name ist zwar Samantha, aber ich hasse ihn. Also nennt mich Sammy.“ Alle grinsen und schauen mich prüfend an, als Jaden mein Alter erwähnt.
„Sieht älter aus.“, meint der, der mir gegenüber sitzt.
„Stimmt, ich hätte auch auf 18 getippt.“, stimmt der Schwarzhaarige zu.
Das habe ich schon oft gehört. Alle halten mich für älter, immer schon. Da ich ja jetzt vorgestellt wurde, will ich auch langsam wissen, wie die ganzen Typen um mich herum heißen. Anscheinend werde ich ja den ganzen Tag mit der Clique verbringen, da muss ich ja bescheid wissen, mit wem ich gerade rede oder so.
„Jaden…“, sage ich mit einem viel sagenden Blick.
„Oh, ja stimmt. Sorry.“, lacht er und zeigt auf den Blondi neben mir „Das ist Dustin.“, er deutet auf den mir gegenüber „Luca.“, den Schwarzhaarigen „Damien.“, den braunäugigen Blondi „Nick“ und auf den letzten, den mit den grünen Augen und den Blonden Haaren „und Ronny.“
„Alles klar.“, sage ich lächelnd und da kommt zum Glück auch schon die Bedienung. Sie scheint die Jungs zu kennen, da sie sie freundschaftlich begrüßt und lachend fragt, was sie bestellen wollen. Sie ist mindestens 30, woraus ich schließe, dass das einfach das Stammcafé der Clique ist.
Die Frau geht alle durch und als sie bei mir angelangt ist, sieht sie mich skeptisch an, als wäre ich ein Parasit oder ein unerwünschtes Tier. Am liebsten würde ich sie anmaulen, wieso sie so bescheuert schaue, aber ich lass es doch lieber und bestelle nur nüchtern meinen Eiskaffee. Sie wirft mir noch mal einen unmissverständlichen Blick zu, der signalisiert, dass ich hier nicht erwünscht bin, dann verschwindet sie.
„Also ganz ehrlich, ist das nur mir gerade aufgefallen oder hat Shila was gegen dich Sammy?“, fragt Damien verwundert in die Runde. Ich zucke mit den Schultern, höre aber, wie die anderen etwas zur Bestätigung murmeln.
Nick lacht und meint mit strahlenden Augen: „Sie denkt sicher, dass du ein totales Flittchen bist, wenn du als einziges Mädchen unter so vielen Jungs bist.“ Die anderen stimmen in sein Gelächter ein, doch ich finde das alles andere als lustig und verschränke die Arme vor der Brust. Desinteressiert zupfe ich an meinem Kleid und nehme mein Handy aus der Tasche, um zu schauen, ob ich ne neue Nachricht habe. Nichts. Ein wenig enttäuscht, dass Lenny mir noch nicht geschrieben hat, stecke ich es zurück in die Tasche und sehe auf, als ein großes Glas vor mir auf den Tisch geknallt wird.
Ach du scheiße, das ist ja sicher ein halber Liter Kaffee mit Eis und Sahne. Ich bin mir doch sicher, dass ich einen Kleinen bestellt habe. „Bitteschön, lassen sie es sich schmecken.“, mein diese Shila zuckersüß. Die meint wohl, dass sie mir ein paar extra Kalorien hinpacken muss, dass ich ja fett werde und unattraktiv. Ich gebe ein abfälliges Schnauben von mir und nehme den Löffel, um etwas von dem Eis zu probieren.
Es schmeckt besser als erwartet und ich verrühre alles vorsichtig, um dann den Strohhalm hinein zu stecken. Die anderen haben größtenteils einen Eisbecher zu einem Kaffee bestellt und löffeln das Eis jetzt gierig in sich hinein.
Während ich bedächtig an meinem Eiskaffee nippe und den Jungs dabei zuhöre, wie sie sich über kommende Partys, Motorräder und Mädchen unterhalten. Schon nach der hälfte des riesen Glases kapituliere ich und schiebe es von mir weg. Ich fühle mich so, als würde ich gleich platzen. Es lachen gerade alle über einen Witz, den Luca eben gerissen hat, den ich jedoch nicht so lustig finde. Männerhumor eben. Jaden entdeckt, dass ich den Eiskaffee bereits aufgegeben habe und sieht mich kritisch an.
„Nicht dein Ernst jetzt oder?“, sein Blick sagt schon alles über seine Ungläubigkeit aus „Du hattest gestern kein Abendessen, heute nur ein Joghurt zum Frühstück und kein Mittag, also erzähl mir jetzt nicht, dass du keinen Hunger mehr hast!“
Gleichgültig zucke ich mit den Schultern und schmunzle. Überraschenderweise schiebt mir Jaden den Rest seines Eisbechers hin und sagt: „Iss schon. Mir ist klar, wenn du keinen Eiskaffee schaffst, aber was zu essen brauchst du auf jeden Fall!“
„Danke, ich bin pappsatt.“, wehre ich ab und schiebe ihm den Eisbecher wieder hin, um dann aus meiner Tasche das Geld für meinen Eiskaffee zu kramen, da schon Shila mit der Rechnung daher kommt.
Jaden schüttelt den Kopf, lässt mich aber in ruhe. Shila kassiert bei jedem mit einem strahlenden Lächeln, während sie bei mir wieder diesen gehässigen Blick aufsetzt und mir das Geld regelrecht aus der Hand reißt.
Mit einem frustrierten Seufzer lasse ich mich im Stuhl zurück sinken und warte, bis die Jungs alle ihr Eis fertig gegessen haben.
„Kommst du nachdem wir am See waren auch mit ins Kino?“, fragt mich Dustin und lächelt mich von der Seite freundlich an.
„See?“, frage ich verwundert und sehe zu Jaden, der gerade mit Damien ein angeregtes Gespräch führt.
„Ich weiß nichts vom See, aber ins Kino komme ich mit.“
„Na du hast ja sowieso einen Bikini an, wie ich sehe.“, sein schelmisches Grinsen und der erneute Blick zu meinen Brüsten lässt mich die Augen verdrehen. Typisch!
„Was wollen wir eigentlich im Kino schauen?“, frage ich, um seine Aufmerksamkeit wieder etwas auf mein Gesicht zu lenken.
„So nen Action-Streifen. Wir hatten ja auch nicht damit gerechnet, dass ein Mädchen dabei sein wird.“, erklärt er und sieht mir dabei wenigstens wieder in die Augen.
„Ich bin nicht so eine versteifte Tussi, die sich nur diese bescheuerten Romanzen rein zieht.“, erwidere ich nur trocken und stehe auf, als sich die anderen auch erheben.
„Ab zum See!“, ruft Ronny und die ganze Truppe bewegt sich auf die Motorräder zu, die sich jetzt alle um das von Jaden drängen.
Ich gehe ganz hinten und sehe zu, wie alle aufsteigen. Ich merke erst, dass Jaden neben mir geht, als er den anderen zuruft, sie sollen schon mal voraus fahren. Ich bleibe stehen und sehe ihn fragend an. Sobald alle losgefahren sind, sieht er mich mit ernstem Blick an und hält mich an den Oberarmen fest, um mir tief in die Augen sehen zu können.
„Was?“, frage ich und beiße mir auf die Unterlippe, da es mir etwas unangenehm ist, dass er so dicht vor mir steht und mir so tief in die Augen schaut. Schüchtern sehe ich zum Boden. Schüchtern? Oh Gott! Ich bin doch sonst nicht so!
„Du… du bist auf einmal so… so, na ja… nicht mehr so ablehnend. Ich sehe doch, dass du sonst nicht so bist, dass das nicht deine wahre Natur ist. Warum bist du so?“, seine Stimme klingt nachdenklich und er scheint wirklich den Grund dafür zu suchen, wieso ich mich manchmal wie eine Oberzicke verhalte. Vorsichtig befreie ich mich aus seinem Griff und mache einen Schritt zurück. In meinen Augen kommen Tränen auf und ich sage erstickt: „D-das geht dich gar nichts an!“ Schnell wische ich mir mit dem Handrücken über die Augen, um die ungewollten Tränen weg zu wischen und sehe ihn dann mit verschleiertem Blick an. Mit einemmal sehe ich ein, dass es nichts nützt, wenn ich sofort abblocke, dass ich endlich mit jemandem reden muss, aber nicht jetzt. Noch nicht. Vielleicht kann ich es bald.
„Sorry.“, entschuldige ich mich und lasse den Kopf hängen. Es stiehlt sich noch eine Träne aus meinen Augen. Mein Kinn wird angehoben und ich sehe in mitfühlende Augen. Wunderschöne, unglaublich grüne, vertrauensvolle Augen. „Bitte bedräng mich nicht. Irgendwann kann ich es dir sagen. Bis dahin, bitte, versteh mich und dass ich manchmal Tage habe, wo ich nichts ertrage, wie gestern.“
Unglaublich aber wahr, dieser Typ, der mir gegenüber bisher immer nur ein Arschloch gewesen ist, sieht mir jetzt mitfühlend in die Augen und wischt mir mit dem Daumen die Träne von der Wange.
„Okay.“, ist das einzige, was er flüstert, womit er sich lächelnd von mir abwendet und zu seinem Motorrad geht.
„Zum See runter?“, wechselt er jetzt das Thema, wofür ich ihm über alles dankbar bin.
„Klar.“, erwidere ich und bringe sogar ein ehrliches Lächeln zustande. Sobald ich sitze und mich an ihm fest halte, fährt er los. Wir fahren wieder ganz aus der Stadt hinaus, einen unendlich langen Feldweg entlang, bis wir an einem kleinen Badestrand ankommen, wo es sogar einen Steg und ein paar Ruderbote gibt.
Der See ist groß und etwas unförmig, dass man nicht genau sieht, bis wo hin er noch geht. Auf beiden Seiten scheinen noch Ausläufer hinter dem Ufer zu verschwinden und einen ruhigen Platz abzugeben. Ich beschließe, mich vielleicht nachher mal da hin auf den Weg zu machen, falls es mir zwischen den Jungs zu viel wird. Wir steigen vom Motorrad ab und ich zieh als erstes mein Kleid wieder ein Stück runter.
„Haben wir überhaupt Badetücher dabei?“, frage ich und sehe fragend zu Jaden, der am Sitz herum hantiert. „Oh.“, sage ich, als er zwei große Badetücher aus dem Stauraum des Motorrads nimmt. Sein Grinsen sieht wundervoll aus, es passt viel besser zu ihm, als die arroganten Grimassen.
„Komm.“, sagt er freundlich lächelnd und ich hake mich bei ihm unter. Unglaublich, wie schnell sich Menschen verändern können. Okay, nicht aufregen, ich hab ihn vorher lediglich schlecht behandelt und hatte Vorurteile wegen seines Vaters.
„Sorry.“, sage ich, womit ich mir einen fragenden Blick von Jaden einkassiere.
„Wofür denn?“
„Ach, nicht so wichtig.“, murmle ich und sehe schnell weg, dass er nicht sieht, wie ich rot werde.
„Hey ihr habt ja ewig gebraucht. Was habt ihr denn noch so lange gemacht?“, begrüßt uns Nick, der gerade auf uns zu kommt.
„Ach, wir haben noch ne Runde gedreht. Ich wollte ihr noch kurz die Stadt zeigen.“, erklärt Jaden und zwinkert mir heimlich zu. Meine Lippen zucken und ich kann das Lächeln nicht verbergen.
„Dann jetzt ab ins Wasser!“, schreit Damien aus der Gruppe, die uns bereits erwartet.
„Ja los!“, rufen auch die anderen und springen auf. „Oder hast du Angst, dass wir dich auffressen Sammy?“, scherzt Luca und dieses Mal lache selbst ich mit. „Niemals!“, rufe ich lachend und schmeiße meine Tasche auf die Badetücher, die schon ausgebreitet sind, während Jaden sich sein T-Shirt schon über den Kopf zieht. Die anderen warten sogar, bis wir auch fertig sind. Natürlich weiß ich, dass sie das auch nur machen, weil ich einen verdammt knappen, sexy Bikini trage und eine sagen wir so: für Männer perfekte Figur habe. Als ich aus dem Kleid heraus schlüpfe, spüre ich regelrecht die Blicke der Jungs auf meinem Körper und komischerweise gefällt es mir sogar, dass ich mal im Mittelpunkt stehe. Ich muss den Jungs allerdings zugute halten, dass sie alle ebenfalls verdammt gut aussehen. Alle bis auf Luca haben ein unglaubliches sixpack. Am liebsten würde ich alle samt mit meinen Blicken verschlingen, doch gelingt es mir gut, nicht hin zu sehen.
„Pass auf, sonst fressen sie dich wirklich noch!“, murmelt mir Jaden mit einem unterdrückten Lachen ins Ohr, als wir zum Wasser gehen.
„Idiot!“, flüstere ich, stoße ihn mit der Hüfte etwas weg und lache über sein doofes Gesicht.
„Du…“, fängt er an, aber anscheinend fällt ihm nichts ein, also packt er mich einfach von Hinten, umschlingt meine Taille, hebt mich hoch und läuft auf das Wasser zu. Ich versuche mich schreiend und zappelnd zu befreien, während ich gleichzeitig einen derartigen Lachanfall habe, wie schon seit zwei Jahren nicht mehr.
„Jaden!“, kreische ich, als er mit mir, mich noch immer so in die Höhe haltend, in das kalte Wasser rennt und ich nass gespritzt werde. Er lacht nur und läuft immer weiter. Nach Hilfe suchend, sehe ich zu den anderen, die uns hinterher stürmen und mit wenigen Metern abstand durchs Wasser laufen. Sie lachen auch nur und schubsen sich gegenseitig.
„Ah!“, entfährt mir noch, als ich mich plötzlich in freiem Fall befinde und in der nächsten Sekunde im kalten Wasser lande, welches vom gestrigen Regen ausgekühlt ist. Prustend tauche ich wieder auf und merke, dass mich Jaden gut zwei Meter von sich weg „geworfen“ hat. Jetzt steht er da, hinter ihm die anderen und lacht sich halb tot über meinen schockierten Gesichtsausdruck.
„Du bist so…“, weiter weiß ich nicht.
„Was? Klug, stark, schlau, hübsch, heiß.“, lacht er und die Jungs stimmen mit ein. Ihnen scheint das kalte Wasser anscheinend kein bisschen etwas auszumachen. Probieren kann man es ja, denke ich und spritze einen großen Schwall Wasser auf die Truppe vor mir.
„Na warte! Das bekommst du zurück“, rufen Nick, Dustin und Damien gleichzeitig. Flink drehe ich mich um und tauche unter, um so schnell wie möglich von ihnen weg zu kommen. Es steht sieben zu eins, da stehen meine Chancen wohl nicht so gut, dass ich ungeschoren davon komme. Nach einigen Metern tauche ich wieder auf, werfe einen Schnellen Blick zurück, um zu sehen, wie die drei mir dicht auf den Fersen sind. So schnell wie noch nie, beginne ich zu Schwimmen und versuche von den dreien weg zu kommen, doch hindern mich meine Kicheranfälle etwas daran. Schon nach wenigen Metern spüre ich, wie mich etwas am Knöchel packt und zurück zieht.
Ich kreische, bekomme aber sofort wieder einen Kicheranfall. Von hinten schließen sich feste Arme um mich und ich werde an eine muskulöse Brust gepresst. Vor mir taucht Damien auf und hält meine strampelnden Füße fest, während direkt neben mir Dustin auftaucht.
„Lass mich los!“, schreie ich Nick an, lache jedoch immer noch und versuche meine Beine zu befreien. Meine Arme sind nutzlos an meinen Körper gepresst, durch Nicks starke Arme.
„Rache ist süß!“, meint Dustin und zieht mein Gesicht einfach zu sich und drückt mir einen kurzen Kuss auf die Lippen. Ich reiße erschrocken die Augen auf und versuche mich noch stärker los zu reißen. Nick und Damien lachen und sagen beide: „Also nächstes mal hältst du sie fest Dustin und wir übernehmen den anderen Part.“
Wütend starre ich Damien und Dustin an, da ich leider keine Augen im Rücken habe. „Blödmann!“, murre ich in Dustins Richtung und reibe mir die Arme, als mich Nick endlich frei gibt. Die drei lachen nur wieder und schwimmen mir hinterher zum seichteren Wasser, von wo aus uns die anderen beobachtet haben. Jaden sieht etwas missmutig aus und starrt Dustin gereizt an. Daniel schlägt bei Dustin ein und murmelt: „Gut gemacht alter.“ Ich ignoriere es einfach. Als Ronny und Damien dann auch noch tuscheln, dass sie es, wenn es so leicht war, auch versuchen konnten, ignoriere ich es nicht mehr.
„Ist auch wieder gut!“, knurre ich und zeige warnend auf mich. „Wer es auch nur versucht, der fängt sich eine! Verstanden oder muss ich mich noch klarer ausdrücken?“
„Gib’s ihnen Schwester!“, feuert mich Jaden überraschenderweise an und ich kann ihn nur dümmlich anglotzen, während er fröhlich grinst. Was ist wirklich mit ihm los? Es kann doch nicht sein, dass er sich von einer Stunde auf die andere so sehr verändert hat. Liegt es etwa zuletzt daran, dass wir mit seiner Clique unterwegs sind und nicht zuhause? Will er sich nicht vor seinen Freunden so aufspielen oder ist er zuletzt eifersüchtig?
Da wird es mir plötzlich klar und ich würde mir am liebsten gegen den Kopf schlagen und laut schreien, dass ich doch so blöd sei. Natürlich. Hat meine Mutter nicht irgendwann mal erzählt, dass Jadens Mutter auch schon lange tot war. Vielleicht ging es ihm genau wie mir und es kotzte ihn an, dass sein Vater plötzlich eine Neue hatte und die auch noch ihre Tochter mit anschleppte, mit der er sich alles teilen muss. Und was, wenn es doch nur Eifersucht ist? Auf was kann er denn eifersüchtig sein? Darauf, dass seine Freunde mir mehr Aufmerksamkeit schenken? Dass ich mich nicht auf ihn konzentriere? Dass er mich nicht für sich alleine haben kann? Eifersucht würde zumindest seinen missmutigen und gereizten Blick vorhin erklären.
Zumindest zeigt meine Ansage Wirkung, da die anderen nicken und Entschuldigungen murmeln.
„Ach Mensch! Ich hätte mich jetzt mehr über einen Catfight gefreut.“, sagt Jaden grinsend in meine Richtung. Ich strecke ihm nur die Zunge raus und sage: „Also ich geh jetzt ne Runde schwimmen. Wem von euch Weicheiern jetzt schon kalt ist, der soll raus, wer hart genug ist, schwimmt mit oder hält die Klappe.“ Da ich nicht beabsichtige, ab zu warten, wer alles mitschwimmt, drehe ich mich schon um und schwimme langsam los. Hinter mir höre ich Dan kapitulieren und zurück zu unserem Platz gehen. Also wenn er es gerade mal bis zum Arsch aushält, dann ist er wohl eine richtige Lusche. Anscheinend der Schwächste der Gruppe, denn der ganze Rest holt mich ein und wir schwimmen in einer siebenköpfigen Gruppe eine große Runde in dem See. Wir schaffen es sogar um eine der Kurven und ich sehe, dass es wirklich ein wunderschöner, ruhiger Ort ist. Die Sonne scheint sommerlich heiß vom Himmel und wärmt das Wasser langsam auf.
Die Jungs reden über etwas, doch blende ich ihre Gespräche aus, da ich sowieso nicht weiß, um wen es geht. Das einzige was ich mitbekomme, ist, dass es um einen Typen geht, der wohl auch in die gleiche Schule geht. Ich genieße einfach die Sonne auf meiner Haut und das Wasser, in dem ich schwimme, die Geräusche der Vögel und das Rauschen des Windes in den Bäumen. Die Jungs habe ich so sehr ausgeblendet, dass ich nicht mal mitbekomme, dass sie mich ansprechen, erst als Nick mich in die Seite kneift und meinen Namen ruft.
„Oh, sorry. Ich war in Gedanken.“, sage ich und werde rot.
„Das haben wir auch gemerkt.“, lacht Damien, der vor mir auf dem Rücken schwimmt und mich beobachtet. Macht er das schon die ganze Zeit? Toll, zu viel Aufmerksamkeit muss ja auch nicht sein.
„Was wolltet ihr denn?“, frage ich jetzt und weiß gar nicht, wen ich anschauen soll, bis Ronny anfängt zu reden und ich ihn ansehe.
„Eigentlich hatte ich die anderen gefragt, ob wir eigentlich bescheuert sind, dass wir dich vorhin nicht eingeladen haben. Ich meine, du bist doch ein Mädchen und na ja, neu hier und so eben.“, anscheinend weiß er nicht so ganz, was er sagen soll.
„Er will damit eigentlich sagen, dass wir dich gerne ins Kino einladen würden.“, erklärt Jaden kurz und lächelt.
Überrascht sehe ich in die Runde. Wie sind sie auf die Idee gekommen? Bisher haben mich noch nie Jungs ins Kino eingeladen, zumindest nicht einfach so, da sie meistens etwas wollten und DAS wollte ich dann nicht. Es war einmal, da bin ich noch lieb und nett gewesen.
„Cool, danke!“, sage ich fröhlich und setze ein dickes Grinsen auf, dass eigentlich nicht mal so aufgesetzt ist. Sie geben sich damit zufrieden und fahren mit ihrem fröhlichen Gespräch fort, was mich sofort wieder aussteigen lässt. Ich muss mir ja keine Geschichten über bereits geknallte Schlampen anhören, bekomme jedoch mit, dass Jaden wohl der größte Checker der Gruppe ist. War ja klar! Mein Bruder der Bad boy.
Vielleicht werden die Sommerferien ja doch nicht ganz so schlimm, wenn ich mit Jaden besser klar komme und auch etwas mit ihm und seiner Clique unternehmen kann. Das Shoppen fällt ja schließlich weg.
Als wir wieder zum Badestrand kommen und ich aus dem Wasser steige, merke ich erst, wie ausgekühlt ich bin und beginne sofort zu schlottern.
„Oh man, das war arschkalt.“, murre ich und umschlinge mich selbst mit den Armen, um mich etwas zu wärmen.
„So schlimm?“, fragt Damien grinsend, berührt kurz mit seinen Fingern meine Lippen und schnappt sich dann schnell eines der Badetücher, um sich trocken zu rubbeln.
„Pass auf, sonst beißt er dir die Blaubeeren, die du Lippen nennst, noch ab!“, lacht Nick und wirft mir einen viel sagenden Blick zu.
„Ihr seid doch alle Hormon gesteuert.“, brumme ich und verschränke trotzig die Arme. Da fliegt mir schon ein großes rotes Badetuch ins Gesicht und ich stolpere einen Schritt zurück. Sobald ich wieder sicher stehe, ziehe ich das Badetuch vom Kopf, womit ich meine Haare total zerwühle.
„Jaden!“, schreie ich mit einem sauren Unterton, beginne mich dann aber, Augen verdrehend, abzutrocknen. Die Sonne prallt vom Himmel und lässt mich nicht lange frieren. Mit einem tiefen Seufzen lasse ich mich auf eine Decke fallen und lege mich auf den Bauch, mit dem Kinn auf meine Arme aufgestützt. Noch während ich mein Handy aus meiner Tasche ziehe, spüre ich, wie sich jemand neben mir auf die Decke setzt und die anderen ebenfalls.
„Stört es euch, wenn ich mal kurz telefoniere?“, wende ich mich an die Jungs, die sich so praktisch hin gesetzt haben, dass ich jeden im Blick habe. Rechts neben mir sitzt Jaden und links Damien, sodass ich, wenn ich aufstehen wollte, so oder so gegen einen stoßen würde. Damiens Hand liegt gefährlich nahe neben meinem Körper und ich spüre sehr wohl, dass die Blicke der Jungs immer wieder auf meinen Arsch und meine Titten fallen, aber es ist mir komischerweise egal, wenn nicht sogar angenehm, so begehrenswert für einen Jungen zu sein. Mir geht es besser. Ich kann nicht genau sagen wieso, aber es geht mir besser. Mein Selbstbewusstsein ist gestärkt und ich bin anscheinend wieder fähig, soziale Kontakte zu knüpfen. Seit dem Tod meines Vaters kann und konnte mich nichts so richtig aufheitern. Selbst Lenny hat oft nicht viel erreicht. Wenn ich daran zurück denke, wie es war, als mein Vater noch gelebt hat, dann werde ich immer trübsinnig, doch jetzt kommt eine gute Erinnerung auf. Eine, an einen solchen Tag, an dem wir am Meer waren und zusammen im Sand nach Muscheln gesucht haben und miteinander lachten. Ohne es zu bemerken, hat sich mir ein Lächeln auf die Lippen gestohlen, welches wohl gedenkt, nicht mehr zu weichen. Gut, mir soll’s recht sein. Es ist schon zu lange überfällig, dass ich wirklich mal fröhlich, zufrieden und ausgelassen sein kann.
„Wieso sollte uns das stören?“, fragt Luca freundlich und zwinkert mir zu.
„’kay. Wollte nur sicher gehen.“
Jaden stupst mich von der Seite an und murmelt so leise, dass die anderen es nicht hören können, in mein Ohr: „Wen willst du denn anrufen? Passt dir irgendwas nicht?“
Lächelnd schüttle ich den Kopf: „Nein, alles in Ordnung. Ach was sag ich denn. Es ist alles super. Ich will nur mal meine beste Freundin anrufen. Sie hatte einige Probleme und ich wollte wissen, wie es ihr geht.“
Er versteht und nickt, dann klinkt er sich in das Gespräch der anderen mit ein. Unglaublich, dass das mal dieser Arsch war, den ich zuerst kennen gelernt habe. Jetzt wirkt er einfach nur freundlich, besorgt und cool. Mit einem weiteren Seufzen stütze ich mich auf meine Ellenbogen auf und tippe die Nummer von Lenny ins Handy ein. Ich habe sie seit dem Tod von Dad so oft gewählt, dass ich sie in- und auswendig kann. Ich glaube, ich könnte sie sogar blind eingeben.
Noch einmal atme ich tief durch, drücke dann auf wählen und halte mir das Handy ans Ohr. Es klingelt dreimal, bis Lenny abnimmt und sich mit zittriger Stimme meldet: „Hey Sammy.“
„Hey Süße. Was ist denn los?“, frage ich aufs äußerste besorgt, da sie so klingt, als hätte sie Stunden lang geweint, und ignoriere dabei die Blicke der Jungs. „Was hat dieses Arschloch getan?“, frage ich sofort wütend, da mich das Gefühl beschleicht, dass es mehr als nur die Trennung ist, was sie deprimiert und zum Weinen bringt.
Am andern Ende der Leitung höre ich sie Schluchzen und irgendetwas unverständliches Stammeln, was sich nach „Moment mal“ anhört. Im Hintergrund vernehme ich eine andere Stimme, kann aber auch nicht verstehen, was diese sagt. Lenny redet kurz mit dieser Person, meldet sich dann wieder mit belegter Stimme zurück: „Oh man Sammy! Seit du weggezogen bist, geht in meinem Leben alles schief. Wirklich alles!“ Sie wird von einem Schluchzanfall unterbrochen und ich versuche sie etwas mit Worten zu beruhigen. Wäre ich jetzt bei ihr, dann würde ich sie in den Arm nehmen und so lange fest halten, bis sie aufhört zu weinen, wie sie es bei mir gemacht hat, als ich immer geweint habe, doch ich bin es nicht. Ich kann nicht für sie da sein, wenn sie mich braucht!
„Schätzchen, es wird alles gut. Ich wollte eigentlich nur anrufen und fragen wie es dir geht. Ich bin gerade mit ein paar Leuten unterwegs. Willst du mir nachher erzählen was passiert ist? Es ist schließlich nicht so schön, wenn jeder deine privaten Sachen mitbekommen kann. Schaffst du es noch? Oh man, tut mir verdammt leid. Ich vermisse dich schon jetzt so sehr.“ Meine Stimme ist voller Reue. Ich will ihr helfen, will etwas für sie tun, ihr helfen, doch kann ich es hier und jetzt nicht.
„Klar. Heute Abend?“, schnieft Lenny und ich sehe sie schon fast vor mir, wie sie total zusammengesunken mit einer Packung Taschentücher im Bett sitzt und sich die Seele aus dem Leib weint.
„Na klar. Ich ruf dich dann noch mal an. Mach dich nicht zu fertig. Ich bin immer für dich da, das weißt du.“
„Ja, ich weiß. Hey mit wem bist du denn unterwegs?“, wechselt sie das Thema und versucht sich etwas zusammen zu reißen. Bisher ist immer sie die starke von uns beiden gewesen, die mich aufgefangen hat, wenn etwas war und jetzt ist es umgekehrt und noch dazu ist jetzt zusätzlich noch alles schwerer, weil ich weggezogen bin. Diese Wunde ist noch so frisch, dazu kommt die Trennung mit ihrem Freund und wer weiß was jetzt noch. Womit haben wir beide so was überhaupt verdient. Mein Leben war schon so voller Schicksalsschläge, dass ich wusste, wie schlecht es jemandem gehen konnte und das wünsche ich Lenny niemals. Sie sollte niemals solche Dinge durchleiden müssen, wie ich es musste.
„Ach nur mit Jaden und ein paar seiner Kumpels.“, meine ich mit ruhiger Stimme und Ahne ihre Reaktion schon voraus.
„Nur ich und meine Jungs?“, beschwert sich Jaden neben mir und kassiert dafür einen Rammer mit dem Ellenbogen.
„Ahhh!“, ruft er schmerzerfüllt und reibt sich das Bein.
„Oh mein Gott! Dein Ernst Sammy? Ich dachte er ist so ein Arsch. War er das gerade?“, sie kann es kaum erwarten, dass ich ihr antworte.
„Beruhige dich!“, lache ich „ Es ist mein Ernst ja und so schlimm wie ich dachte ist es gar nicht. Vorurteile eben. Und ja, das war er.“
Das selbstgefällige Grinsen von Jaden und das Prusten der anderen verrät mir, dass sie die ganze Zeit gelauscht haben, was ich sage. Und Jaden freut sich natürlich, dass wir uns über ihn unterhalten.
„OH Gott! Du musst mir heute Abend unbedingt erzählen, was ihr gemacht habt und wie es verdammt noch mal dazu gekommen ist, dass ihr euch jetzt doch vertragt! Ich wünsche euch noch viel Spaß, bei was auch immer und bis heute Abend.“ Ihre Stimme klingt jetzt wenigstens etwas fester und fröhlicher. Ich bin glücklich, dass ich sie wenigstens für den Moment etwas aufheitern konnte. „Jep, bis heute Abend. Hab dich lieb.“, sage ich und nehme das Handy vom Ohr, nach dem sie aufgelegt hat.
„Sagt mal, seid ihr eigentlich alle total bescheuert?“, fahre ich die ganze Runde an und schüttle genervt den Kopf. Jungs eben.
„Was haben wir denn nun schon wieder falsch gemacht?“, fragt Nick grinsend und hebt fragend die Augenbrauen.
„Ihr Prustet hier alle los und ich versuch mich normal zu unterhalten.“, erwidere ich und setze mich auf, wobei ich mich auf Jaden lehnen muss. „Hat einer von euch was zu trinken dabei?“
Sofort fangen alle an in ihren Sporttaschen zu kramen. Luca, Damien und Ronny strecken mir irgendwelche Energy Drinks entgegen, doch ich lehne ab. Ich hasse diesen ganzen mist und finde das Zeug schmeckt alles gleich, nach Pisse.
„Danke.“, sage ich zu Nick, der mir eine große Flasche Wasser mit Apfelgeschmack gibt, und nehme ein paar Schlücke, bevor ich sie ihm wieder reiche.
„Gibt’s Stress?“, fragt Dustin und sieht mir dabei tief in die Augen. Man was haben die bitte alle für Probleme? Haben sie es wirklich so nötig mich anzubaggern oder hat Jaden ihnen etwas erzählt? Oder seh ich für sie wirklich so heiß aus, wie sie sich mir gegenüber benehmen?
„Es ist im Moment nur alles nicht ganz so einfach und der Umzug macht das nicht gerade besser.“, antworte ich nur trocken, doch kann ich das leichte zittern in meiner Stimme nicht unterdrücken. Jaden muss es bemerkt haben, da er mir, zu meiner Überraschung, einen Arm um die Schultern legt und sagt: „Aber das geht auch vorbei und ihr werdet euch daran gewöhnen. Wir werden uns daran gewöhnen.“
Ich sehe ihn aus riesigen Augen an und kann noch kaum glauben, dass das wirklich er gesagt hat. Er, der sich mir gegenüber wie ein mega Arsch verhalten hat, soll das gerade gesagt haben. Um mich zu vergewissern, lehne ich mich zu Damien und frage, Jadens Arm noch immer auf der Schulter: „Hat er das gerade wirklich gesagt?“
Damien nickt und grinst, während mich Jaden wieder an sich zieht und mir durch die Haare wuschelt. „Ja das habe ich gesagt! Was denkst du denn von mir, dass ich das nicht sagen sollte?“ In seiner Stimme schwingt ein Lachen mit und ich spüre die Vibration in seiner Brust, da er mich so an sich drückt. Vorsichtig befreie ich mich von seinem Arm und verdrehe die Augen, verdecke so meine Unsicherheit.
„Es kam nur so überraschen, dass gerade du das gesagt hast.“, erkläre ich schlicht und fahre mir nervös mit der Hand durch die Haare.
Um von dem Thema abzulenken, frage ich in die runde, wie die Schule hier sei.
„Eigentlich ganz entspannt.“, „Der Mathe-Drache hat nicht umsonst seinen Spitznamen“, „Den ganzen Tag chillen.“ und ähnliche Kommentare kamen sofort. Ein Grinsen stahl sich auf meine Lippen. Mathe, ein Fach in dem ich immer schon die Beste war. Vor mein Dad starb, hatten meine Lehrer sogar darüber nachgedacht, mich in den Matheunterricht der 10. Klasse zu stecken, weil ich mich in dem der damals 9. langweilte. Jetzt, wenn ich daran zurück denke, dann ist es wohl gut, dass sie es nicht getan haben, vor allem, weil wenig später das ganze mit Dad war und ich die Schule so zu vernachlässigen begann.
Zu spät bemerke ich, dass ich Tränen in den Augen habe, denn Damen hat es schon gesehen, Jaden anscheinend auch, denn er stupst mich an und flüstert mir ins Ohr: „Was ist denn los? Tut dir etwas weh?“, dabei streifen seine Lippen mein Ohr, was mir eine Gänsehaut über den rücken jagt, und sein Atem kitzelt mich.
Ich schlucke gegen den Kloß in meinem Hals an und flüstere zurück: „Geht gleich wieder.“
Er nickt, doch seine Augen zeigen, dass er sich Sorgen macht, was den Kloß wieder anschwellen lässt. Aus diesem Grund bin ich absolut erleichtert, als Nick verkündet, dass wir los müssen, um zum Kino zu kommen. Wie auf Kommando stehen alle auf und packen die Sachen zusammen. Jaden hilft mir auf, während ich gedankenverloren die glitzernde Wasseroberfläche mustere und in einer Erinnerung schwelge.
Langsam setzen wir uns in Bewegung. Deutlich spüre ich Jadens Hand auf meinem Arm, wodurch er mich zu seinem Motorrad bringt. Motoren heulen auf und Reifen quietschen, als die ersten los fahren. Ich nutze meine Chance und betrachte Jaden etwas genauer. Seine Augen leuchten und sein Gesichtes ist nahezu perfekt. Eine Haarsträne hängt ihm über den Augen. Mir wird mit jeder Faser meines Körpers bewusst, wie nahe wir beieinander stehen. Ich meine, sogar Formen in seinen Augen erkennen zu können. Jaden, der bisher an dem Sitz des Motorrades herumgemacht hat, scheint zu bemerken, wie ich ihn beobachte und sieht jetzt zu mir auf. Sein Blick ist forschend und er scheint zu schwanken, was er jetzt tun soll.
„Was ist?“, fragt er nach einigen Momenten zögernd und sieht sich dann um, nur um festzustellen, dass die Anderen alle schon weg sind.
Ich antworte ihm nicht, bringe irgendwie kein Wort über die Lippen. Es scheint mich eine unsichtbare Kraft dichter zu ihm zu ziehen und ich registriere, wie seine Pupillen sich kurz weiten, als er mir in die Augen sieht und es auch spürt. Zögernd verharrt er für einen Moment in dieser Position.
Mit einem vorsichtigen Schritt tritt er noch näher an mich heran, sodass wir nur noch Zentimeter voneinander entfernt stehen. Seine Hand bewegt sich nach oben und legt sich an meine Wange. Es ist, als wären meine Wange und seine Hand füreinander geschaffen. Solch eine wohltuende Wärme, die seine Hand verströmt, habe ich noch nie verspürt, also schmiege ich meine Wange instinktiv hinein.
„Jaden.“, stammle ich verwirrt und schaue ihm tief in die Augen. Im nächsten Moment liegen seine Lippen auf meinen und mein Herz scheint für einen Moment still zu stehen, bevor es, schneller als es sollte, wieder zu schlagen beginnt. Schnell, viel zu schnell, ist dieser Moment vorbei und Jaden zieht sich zurück. In seinen Augen flackert kurz etwas auf, doch es ist zu schnell wieder verschwunden, als dass ich es erkennen kann. Er räuspert sich und fährt sich mit der Hand durch die Haare, nuschelt etwas, dass sich anhört wie: „Entschuldigung“ und tritt wieder an sein Motorrad und schwingt sich auf den Sitz. Ich löse mich aus der Starre, in die ich verfallen bin. Mein Wangen glühen und ich bin froh, dass er mir den Rücken zu kehrt. Sobald ich sitze, lässt er den Motor an und wartet nur darauf, dass ich meine Arme um ihn lege, was ich auch sofort mache. Der Gedanke an seine weichen Lippen, die vorsichtig die meinen streifen, will irgendwie nicht aus meinem Kopf verschwinden, so sehr ich es auch versuche, es geht nicht. Es ist mir ebenfalls fast schmerzlich bewusst, wie nah ich ihm bin. Was zum Teufel soll das! Er ist ein Arsch und das wird sich nicht ändern, nur weil er sich einen Tag lang mal nett verhält. Er hat mich schließlich auch geküsst, ohne mein Einverständnis. Oder?
Bin ich denn einverstanden gewesen? So genau kann ich es nicht mal sagen. So ein Bockmist! Verdammt, er ist mein Stiefbruder und hat mich wie Dreck behandelt. Aus uns würde nie etwas werden, also ersticke ich aufkeimende Gefühle besser schon im Keim.
Ich schloss für einen Moment meine Augen, versuchte tief durch zu atmen und zu vergessen, dass ich mich gerade an ihn klammerte, dann begann ich langsam jegliches Gefühl für ihn aufzuspüren und auszulöschen. Es soll ein Neuanfang sein. Kein Hass, aber auch keine Zuneigung. Nur Neutralität.
„Wir sind da.“, meint eine mir bekannte Stimme irgendwo in der Ferne, zumindest kommt es mir so vor.
Fast wie in Trance steige ich ab und blinzele ein paar mal. Wir stehen auf einem großen Parkplatz, der schon ziemlich gefüllt ist, neben einigen anderen Motorrädern.
„Dann mal los.“, sagt Jaden, wendet sich Richtung Kino und geht los. Einige Sekunden stehe ich noch da, sammle mich und atme tief durch, dann folge ich ihm mit schnellen Schritten, bis ich aufgeschlossen habe.
„Wir dachten schon, dass ihr gar nicht mehr kommt.“, ruft Nick uns schon entgegen und schlägt Jaden freundschaftlich auf die Schulter, während er mir die Haare zerwuschelt, was ich mit einem Schnauben quittiere.
„Hat nun mal etwas länger gedauert. Ich musste etwas langsamer fahren, weil Sammy angst hatte.“, sagt Jaden, zuckt mit den Schultern und grinst mich schelmisch an.
„Ach sag bloß?“, ruft Damen und lacht „Also das hätte ich ehrlich nicht gedacht.“
„Ist ja auch nicht mehr, als gequirlte Scheiße.“, knurre ich vor mich hin und zwänge mich an den Jungs vorbei zur Snackbar.
„Huch, welche Laus ist der denn über die Leber gelaufen?“, fragt Dan misstrauisch und ich höre wie Jaden genervt antwortet: „So ist sie immer.“
Am liebsten würde ich mich umdrehen und ihm eine Scheuern. Was zum Teufel soll das?! Zuerst benimmt er sich mir gegenüber wie ein absolutes Riesenarschloch, dann küsst er mich und dann tut er so, als wäre nichts passiert? Also langsam kapier ich’s echt nicht mehr.
„Eine kleine Tüte Popcorn, bitte!“, antworte ich dem Mann hinter der Bar, der mich soeben gefragt hat, was es sein solle.
Geschickt füllt er die Tüte auf und streckt sie mir hin, während ich das Geld passend hin lege, mir dann die Tüte nehme und eine kleine Sitzecke ansteuere. Die Jungs sollen ruhig mal die Karten kaufen und sich auch noch mit Snacks und Getränken eindecken. Sie werden mich schon finden und zum richtigen Kinosaal schleppen.
„Ach hier hast du dich versteckt.“ Auf Nicks Lippen liegt ein freundliches Lächeln, als er sich neben mir auf das Sofa fallen lässt und sich ein Popcorn aus meiner Tüte klaut. „Ich darf doch?“, fragt er unnötigerweise, als er es sich schon längst in den Mund gesteckt hat.
„Klar.“, murmele ich und betrachte meine Nägel, die ich mal wieder neu lackieren sollte und kaue lustlos auf einem Popcorn herum.
„Schlecht gelaunt? `nen miesen Tag heute?“, hakt Nick weiter nach und die Neugierde ist kaum zu überhören. Ich wende meinen Blick zu ihm und betrachte seine Augen für einen kurzen Moment, bevor ich meinen Blick wieder schweifen lasse.
„Miese Jahre trifft’s wohl eher.“, erwidere ich bitter und erhebe mich, da die anderen Jungs zu uns stoßen und mir eine Karte in die Hand gedrückt wird. Aus den Augenwinkeln sehe ich noch, wie Nick diese Information mit einem Nicken zur Kenntnis nimmt.
„Saal 2, Reihe 8“, liest Dustin vor, was auf den Karten steht.
„’kay. Ich hab Sitz 15.“, sage ich und halte die Karte ein Stück weit in die Höhe. Sieht fast so aus wie einer dieser Reiseführer, die eine Touristengruppe leiten und die Hand hoch halten, dass alle wissen, dass sie zu dem gehören.
„14“, meint Jaden und grinst mich freundlich an.
„16“, meldet sich Damien zu Wort und hakt sich bei mir unter.
„Na dann.“, sage ich und folge der Gruppe in den Saal und die Treppenstufen hinauf. Der Reihe nach quetschen wir uns durch die Reihe und lassen uns auf unseren Plätzen nieder. Sobald ich es mir bequem gemacht und mein Popcorn in die Halterung neben mir gesteckt habe, sehe ich mich in dem Saal um. Außer uns befinden sich kaum Menschen darin. In den hintersten Reihen sitzen noch mal drei Jungs, die vielleicht zwei Jahre älter sind als ich, rechts vor uns sitzt ein Pärchen, dass sich ableckt, als würden keine anderen Menschen existieren. Neben mir machen es sich die Jungs bequem und klauen sich gegenseitig Popcorn, zielen damit in den Mund des anderen oder versuchen welche aus der Luft zu fangen. Mit einem tiefen Seufzer sinke ich tiefer in meinen Sitz und nehme die Tüte Popcorn auf meinen Schoß und beginne an einzelnen Stücken zu knabbern, auch wenn ich absolut keinen Hunger habe.
Als ich bereits die ersten Popcornstücke in den Haaren und im Ausschnitt habe, da die Jungs jetzt auf Ausschnittzielen umgestiegen sind, geht zum Glück endlich das Licht aus, bevor ich völlig ausraste. Ich wollte gerade aufstehen und Dan eine Scheuern, der mir in den Ausschnitt geschmissen hatte, lasse das jetzt doch und schnaube nur wütend.
„Als wäre man mit einer Horde Affen unterwegs.“, grummele ich vor mich hin und richte meinen Blick stur auf die Leinwand, die gerade hinter einem Vorhang erscheint und auf der es sogleich zu flimmern beginnt.
Ironischerweise ist genau der erste Werbespot einer, in dem „Safer Sex“ beworben wird, also Kondome. Ich spüre regelrecht, wie die Blicke der Jungs teilweise kurz zu mir gleiten und meine Reaktion beobachten. Wieso überhaupt?! Mensch, ich bin keine scheiß Schlampe, die nur an das eine denkt! Ich springe nicht mit jedem in die Kiste, nur weil ich gerade Bock auf Spaß habe und genau deshalb benehme ich mich so, wie wenn gerade eine Werbung zum Thema Altersheim laufen würde, also vollkommen desinteressiert. Sorry Jungs, aber ich bin nicht so notgeil, dass ich bei allem, was auch nur annähernd mit Sex zu tun hat, sofort ausraste oder ähnliches.
Beischlaf, wie es manche zu nennen pflegen, ist für mich nun mal nicht alles.
Nach einer gefühlten Ewigkeit und einer Viertelstunde sind die Werbespots endlich vorbei und die Titelmelodie der Universal Productions erklingt. Der Film geht los und wie zu erwarten, sie hatten mich ja auch schon vorgewarnt, ist es wirklich irgend so ein Actionstreifen, in dem sich die Leute gegenseitig die Köpfe wegballern. Eigentlich nicht ganz mein Ding, aber auch nicht so, dass ich es nicht aushalten würde. Leicht gelangweilt lasse ich die vorhersehbare Handlung über mich ergehen und esse ab und an ein wenig Popcorn, wenn auch sehr lustlos.
„Der Typ ballert dem gleich das Hirn raus und die Frau bringt erst ihn um, dann sich selbst. Oh bitte?! Wie langweilig und vorhersehbar kann so ein Film bitte sein?!“, rege ich mich auf, als gerade eine „spannende Stelle im Film ist.
„Pssst!“, kommt es von Luca, der mich böse ansieht und nicht sehr erfreut klingt „Du verdirbst den Film, wenn du die Handlung verrätst!“
„Ach sag bloß! Den Film kannst du gar nicht verderben, weil er so lahm ist, dass ich fast einschlafe!“, ereifere ich mich weiter und kassiere dafür einen bösen Blick von dem Pärchen vor uns, was mir herzlich egal ist.
Jaden stupst mich an und als ich mich zu ihm drehe, beugt er sich ein Stück vor. Im ersten Moment erstarre ich, denke, dass er mich wieder küssen will, entspanne mich jedoch wieder, als er mir leise ins Ohr flüstert: „Wenn dich der Film langweilt, dann können wir auch schon los. Mich langweilt es auch. Wenn du willst, können wir zuhause ja noch einen anderen Film einlegen oder so.“
Ich sehe ihm in die Augen, erkenne, dass er es ernst meint und denke kurz nach. Es wäre natürlich sehr von Vorteil, weil ich dann nicht diesen Bockmist für noch eine weitere Stunde ertragen müsste, jedoch müsste ich mit Jaden alleine los und ehrlich gesagt, habe ich etwas Angst, dass er sich wieder wie ein Arsch benimmt, sobald wir von den anderen Weg sind.
Zögernd nicke ich und drehe mich zu den anderen um, räuspere mich kurz und winke ihnen kurz zum Abschied zu, als sie mir ihre Aufmerksamkeit schenken.
„Bye.“, murmele ich noch leise, stehe dann auf und verlasse, gefolgt von Jaden, den Kinosaal.
Im Foyer herrscht Totenstille und selbst hinter der Snackbar befindet sich keiner. Wenn hier zwei Filme gleichzeitig laufen, ist wohl hier draußen im Foyer ziemlich lange nichts zu tun.
„Unglaublich, es ist wirklich schon kurz vor 19 Uhr.“, murmelt Jaden vor sich hin.
„Kein Wunder, dass ich kein Popcorn runter bekommen hab.“, murre ich und fahre mir mit der Hand einmal kurz durch die Haare, um die Reste heraus zu bekommen.
Jadens grüne Augen fixieren mich und sein Blick scheint etwas unzufrieden zu sein, doch sagt er nichts. Er zieht mich lediglich am Arm aus dem Kino, bis zu seinem Motorrad.
„Wenn wir uns beeilen, dann schaffen wir es, zuhause zu sein, bevor mein Dad und deine Mom für ihr Date losfahren.“, sagt Jaden mit einem abschätzigen Tonfall und setzt sich auf seine Maschine.
„Was, wenn ich das nicht will?“, frage ich genervt und spüre, wie der Hass auf seinen Dad schlagartig wieder auftaucht, was auch ihm nicht zu entgehen scheint.
„Ich bin auch nicht gerade begeistert davon Sammy, glaub mir! Weißt du was?“, sein Blick ruht auf mir und scheint mich bis in mein innerstes erforschen zu wollen „Wir fahren einfach zuerst noch zur Boutique. Du wolltest doch shoppen oder?“
Ungläubig starre ich ihn an und presse zwischen den Zähnen hervor „Was für eine Boutique“, weil ich darauf wetten könnte, dass er jetzt mit so was wie Kik oder so ankommt.
„Ich glaub so ne Partnerboutique von Mango und Forever 21.“, meint er Schultern zuckend und mit hochgezogenen Augenbrauen. „Dachte da seid ihr Mädchen so scharf drauf.“
Mein Herz nimmt einen Satz und ich falle ihm um den Hals.
„Oh mein Gott, du rettest mir gerade mein Leben!“, lache ich, während ich mich verlegen von ihm löse und kurz meine Schuhe mustere. Er lehnt sich auf dem Sitz zur Seite, zieht mich näher heran und bedeutet mir, auch endlich aufzusteigen.
„Komm schon du Shoppingcrack, sonst haben die zu, bevor wir in der nächsten Stadt sind.“, meint Jaden lachend und dabei bilden sich supersüße Lachfältchen an seinen Augen.
„Was meinst du mit nächste Stadt?“, frage ich verwundert, während ich hinter ihm auf das Motorrad steige. Da fällt mir auf, dass sie ja gesagt haben, dass es in diesem scheiß Kaff keine Shoppingmöglichkeit gibt, was umliegende Städte jedoch nicht ausschließt.
„Na dass wir erst mal 10 km fahren müssen, um da hin zu kommen.“, erwidert Jaden geduldig auf meine Frage und gibt Gas, sobald ich meine Arme um ihn gelegt habe. Irgendwie schmiege ich mich automatisch an die Wärme seines Rückens, da die Luft mittlerweile etwas frischer ist und die Sonne schon sehr tief steht. Bei dem Fahrtwind, der aufkommt, wenn man mit 90 über die Landstraßen rast, werden meine Haare nach hinten gewirbelt und ich bin froh darüber, dass Jaden das Motorrad so perfekt im Griff hat. Die Aleenbäume scheinen vorbei zu rasen und in meinem Kopf rattert es schon, wie lange es wohl dauern würde, bis hier ein Auto vorbei fahren würde und einer den Krankenwagen ruft.
Schnell sind wir wieder in einer etwas dichter besiedelten Gegend und Jaden drosselt das Tempo auf 50km/h, mit der Erklärung, dass wir am „Stadtrand“ angekommen und gleich da sind. Erleichtert seufze ich auf uns entspanne mich etwas mehr, sehe mich dann aber um und schüttle ungläubig den Kopf. Das kann doch kein Vorort einer Stadt sein. Das sind zehn Häuser, die, nicht gerade sehr dicht, am Straßenrand gestreut sind. Niemals ist das, was ich in etwa 300m Entfernung erkennen kann, eine Skyline. Das einzige, was man über die paar Bäume sehen kann, ist die Spitze eines Kirchturms und ein Plattenbau. Als wir dem, schändlicherweise Stadtzentrum genanten, Ort immer näher kommen atme ich erleichtert auf, als ich die Schilder einiger Ladenketten, Drogerien und Tankstellen erkenne. Ein Zeichen dafür, dass es eine nicht ganz so leblose Stadt ist, deren Stadtzentrum aus einigen Restaurants und Cafés besteht und die man in weniger als 5 Minuten durchquert hat.
Jaden manövriert uns über einige Kreuzungen, um anschließend auf einen betonierten Parkplatz zu fahren, der direkt an ein ziemlich großes Haus anschließt, auf dem der Schriftzug „Mango & Forever 21“ prangt.
Ein zufriedener Seufzer entfährt mir, als ich eine Junge Frau mit einer Einkaufstasche aus dem Laden treten sehe. Am liebsten würde ich sofort vom Motorrad springen und dort hinein sprinten, entschließe mich aber doch dazu, dies vorsichtig zu tun und auf Jaden zu warten, bis dieser die Maschine abgestellt hat.
„Beeil dich! Der Laden hat nicht ewig offen!“, dränge ich ihn und trete erwartungsvoll von einem Bein auf das andere.
„Ist ja schon gut, ich komme ja schon.“, erwidert Jaden genervt und grinst mich wissend an. Er scheint zu bemerken, dass ich es kaum erwarten kann und ihm scheint der Gedanke, mich zappeln zu lassen, zu gefallen, da er mich noch einmal am Arm zurück zieht und mit einem gespielt strengen Blick bedenkt.
„Dass du mir ja nicht in den Kleiderhaufen verloren gehst!“ Seine Stimme, mit dieser gespielten Strenge, lässt mich kurz wohlig schaudern, da sie so tief und stark klingt. Was zur?! Was ich schon wieder alles halluziniere!
„Mal sehen. Vielleicht verstecke ich mich auch extra, dann kannst du mich wenigstens nicht mehr mit zu eurem Haus schleppen!“, sage ich grinsend, drehe mich um und gehe los. Ich kümmere mich nicht darum, ob er mir folgt, oder nicht, setze nur einen Fuß vor den anderen, stelle mir im Kopf schon perfekte Outfits zusammen, bei denen ich nicht auf den Preis achten muss. Wenigstens bei diesem letzten Gedanken seufze ich wohlig auf und schwelge in den noch nicht zu erahnenden, sich jedoch langsam offenbarenden Möglichkeiten. Nie mehr Gedanken darum machen, ob noch genug Geld für diesen Monat auf dem Konto ist. Nie mehr einen Euro fünfmal umdrehen müssen. Nie mehr ein perfekt passendes Kleid hängen lassen müssen, nur weil es zu teuer ist.
Ein vorsichtiges Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen und mir fällt mal wieder auf, wie oft ich heute bereits gelächelt habe. Es ist auch lange rückständig gewesen. Es hat sich schon so angefühlt, als hätte ich das Lächeln verlernt, so lange war mir kein ehrliches Lächeln mehr auf die Lippen getreten.
„An was denkst du?“, fragt mich Jaden neugierig und unterbricht somit meine Gedankengänge.
„Ach nichts.“, winke ich ab und betrete den Laden. Sofort überkommt mich ein unglaubliches Gefühl, dass man nur als Freude bezeichnen kann, als ich die Massen an Kleidern, Tops, Hose, Schuhen und Taschen, sowie anderen Accessoires erblicke. Ich weiß nicht, ob es von der Klimaanlage des Ladens kommt, oder von dem Anblick, aber mir läuft ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Es juckt mich schon in den Fingerspitzen, irgendetwas anzuziehen. Sofort steuere ich eine Kleiderstange an, auf der verschiedenste Kleider hängen. Zielstrebig ziehe ich ein kurzes, tailliertes, schulterfreies Kleid in einem zarten Rotton heraus und betrachte es genauer. Sobald ich es als gut befinde, drücke ich es Jaden in die Hand, der neben mir steht und mich dabei beobachtet, wie ich systematisch die Kleider durchsuche.
DA! Das perfekte Kleid! Schnell reiße ich es an mich und halte es Jaden hin. Es ist ein traumhaftes Spitzen-Peplump-Kleid in einem wunderschönen Hellblau, zu dem ein schmaler Taillengürtel mit goldener Schnalle gehört.
„Also DAS muss ich auf jeden Fall haben!“, sage ich begeistert zu Jaden, der es mit einem anerkennenden Nicken in die Hand nimmt und mich dann schelmisch angrinst und meint: „Also sexy sieht es sicher aus.“
Ich strecke ihm die Zunge raus und wende mich wieder den Kleidern zu.
Als nächstes ziehe ich ein hübsches, creme farbenes Tüllkleid heraus, welches ebenfalls einen hellbraunen, schmalen Gürtel dazu hat.
„Das auch.“, sage ich zu Jaden, während ich schon weiter gehe und mir ein paar Hosen ansehe. Lachend folgt er mir und murmelt vor sich hin: „Also wenn du am Ende noch in der Umkleide stehst, wenn die schließen wollen, dann ist das nicht meine Schuld.“
„Du bist doch doof!“, meine ich, doch muss ich selbst etwas grinsen. Wäre ja mist, wenn ich dann noch nicht fertig wäre. Muss ich mich wohl beeilen, da ich nur noch eine Stunde Zeit habe, bevor sie schließen.
Schwungvoll schmeiße ich Jaden zwei paar Hosen zu, eine helle Röhrenjeans und noch mal die selbe in dunklem navy. Jaden fängt sie und trottet mir bis zu einem Regal hinterher, auf dem Hotpants schön drapiert sind. Auch hier nehme ich mir gleich drei mit, da ich einfach ein Mensch für kurze Hosen bin. Eine davon ist graumeliert und unten ausgefranst, eine andere ist highwaste geschnitten in schwarz und die letzte ist weiß mit goldenem Gürtel. Langsam ist Jaden etwas voll beladen, doch ich steuere noch nicht Richtung Umkleiden, sondern erst zu den Tops und T-Shirts.
Als ich die gesamte Abteilung mit der Kleidung durch bin und Jaden droht, jeden Moment etwas fallen zu lassen, beschließe ich mich dazu, die Sachen anzuprobieren und mir nachher noch Accessoires und Schuhe passend zu kaufen.
„Das dauert doch ewig, bis du das alles an hattest!“, beschwert sich Jaden und legt den Berg von Klamotten auf einem gemütlichen Sessel im Umkleidebereich ab.
„Beschwer dich mal nicht! Ich bin sowieso schnell, was so was angeht, also setzt dich einfach hin und benimm dich!“, weise ich ihn an und verschwinde mit einigen Sachen hinter einem der Vorhänge. Alle Kleider passen perfekt, bei den Hosen ebenfalls. Bei den T-Shirts hatte ich circa 25 Stücke mit zur Umkleide genommen, von denen passten jedoch nur 20.
„Wie lange hab ich noch?“, frage ich Jaden gehetzt, als ich , wieder in meinen normalen Klamotten, aus der Umkleide trete.
„Zehn Minuten.“, erwidert er, mit einem Blick auf sein Handy und mustert mich misstrauisch.
„Okay, das schaffe ich noch!“ Mit schnellen Schritten eile ich zu der Schuhabteilung und sehe sofort ein Paar, das ich unbedingt haben muss.
„Oh mein Gott, die sind ja geil!“, rufe ich erfreut und stürme darauf zu. Es sind ziemlich hohe, in nude satinierte Peeptoe High heels mit Stiletto Absatz.
„Und da drauf kannst du laufen?“, fragt Jaden und beäugt mich misstrauisch. „Das sind doch sicher zehn Zentimeter!“
Mit einem der Schuhe in der Hand wirble ich herum und funkle ihn herausfordernd an.
„Klar kann ich darauf gehen! Wenn du mir nicht glaubst, dann kannst du ja das Wesen fragen, das sich Mutter schimpft.“, sage ich mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen und verdrehe dann genervt die Augen. Schnell schlüpfe ich probeweise in die Schuhe, laufe ein paar Schritte, um sie gleich wieder auszuziehen und Jaden strahlend zu überreichen.
„Gekauft!“, lache ich und wende mich schon einem Paar silberner Ballerinas zu, die ich ebenfalls Probiere und als gut befinde. Schon nach fünf Minuten stapeln sich vier Paar Schuhe auf einem Stuhl neben Jaden und ich nicke zufrieden.
„Jetzt nur noch Schmuck und Taschen.“, stelle ich schmunzelnd fest, als ich den Berg an Sachen Betrachte.
Jaden stöhnt, erhebt sich jedoch und schleppt mir die Sachen hinterher.
Wenige Minuten später habe ich noch drei passende Taschen, sechs Paar Ohrringe, drei Ketten und zwei Armbänder gefunden und wir eilen zur Kasse.
Die Augen der Kassiererin werden zuerst riesig und sprühen anschließend vor Eifer fast über. Für sie ist es schließlich ein nettes Geschäft, wenn jemand so viel kauft.
„Wunderschönen guten Abend.“, grüßt sie uns und fragt an Jaden gewendet: „Haben sie und ihre Freundin alles gefunden, was sie gesucht haben?“
„Wir sind nicht zusammen!“, antworten wir synchron und ich sehe ihm für einen Moment in die Augen, bevor ich meinen Blick schnell wieder abwende und leichte Röte in meine Wangen steigt.
„Oh, tut mir leid, es hat nur gerade so ausgesehen.“, versucht sich die Verkäuferin zu erklären, was ich mit einer Handbewegung abwinke, woraufhin sie beginnt, die ganzen Codes einzuscannen.
„Dir ist klar, dass das Unsummen kosten wird?“, fragt mich Jaden belustigt und deutet auf die Berge von Sachen.
Auf meine Lippen tritt ein freches Grinsen und ich erwidere: „Was solls? Ist ja nicht mein Geld.“ Aus meiner Tasche ziehe ich eine kleine Plastikkarte, die sich als Kreditkarte herausstellt.
Jaden runzelt für einen Moment die Stirn und sieht mich dann wissend an, sagt aber nichts dazu, dass ich so viel von dem Geld seines Dads rauswerfe. Eigentlich werfe ich das Geld ja nicht zum Fenster raus. Ich verwende es nur dazu, meinen riesen Kleiderschrank etwas weniger erbärmlich leer aussehen zu lassen.
„Das macht dann 1188 Euro und 95 Cent.“, sagt die Frau vorsichtig und mustert mich prüfend, als würde sie nicht darauf vertrauen, dass ich so viel Geld habe.
„Alles klar.“, meine ich und strecke ihr die nagelneue Kreditkarte hin. Ihre Augen weiten sich erneut für einen Moment und huschen zu mir, jedoch tippt sie etwas in die Kasse ein, lässt mich meinen PIN eingeben und dann auf der Rechnung unterschreiben. Die ganze Zeit über, ruht Jadens ungläubiger Blick auf mir.
„Danke für Ihren Einkauf und schauen Sie bald wieder vorbei.“, sagt die Verkäuferin zuckersüß und falsch, als wir den Laden verlassen.
Draußen lache ich erst mal laut los, als Jaden mich zu sich herumwirbelt und böse anfunkelt. „Was zum Teufel hast du für ein Problem?!“, fährt er mich an und deutet auf die unzähligen Tüten. Für einen Moment sehe ich ihn verwirt an und habe keine Ahnung, was er mir jetzt sagen will, doch dann huscht ein Grinsen über sein Gesicht und er erklärt, mit einem unterdrückten Lachen: „Na wie sollen wie verdammt noch mal diese Ganzen Tüten auf meinem MOTORRAD bis nachhause bekommen?!“
Erleichtert atme ich auf und breche dann in einen Lachanfall aus und frage unter Tränen: „Oh Mann, daran hab ich gar nicht gedacht und was machen wir jetzt?“
Seinem nachdenklichen Blick nach zu urteilen, überlegt er sich schon, wie er mich, fünf riesige Tüten und sich selbst auf dieses Motorrad bugsieren kann und dann auch noch sicher nachhause fahren.
„Es wird etwas eng, aber irgendwie schaffen wir das.“, meint er und fährt sich mit einer Hand durch die zerwuschelten Haare.
„Wenn du dich dichter an mich setzt, dann können wir zwei Tüten hinter dir befestigen. Wenn du es dann schaffst, dich nur mit einem Arm an mir fest zu halten, dann kannst du zwei weiter in eine Hand nehmen und die letzte nehm’ ich in eine Hand.“, erklärt er mir seine Idee, die ich mit einem nachdenklichen Nicken akzeptiere.
Wie es sich herausstellt, ist es doch nicht ganz so einfach, die Tüten fest zu machen, während wir beide schon sitzen, da Jaden nichts machen kann, weil ich gezwungenermaßen an ihm klebe und ich mich auch kaum bewegen kann. Irgendwie schaffen wir es am Ende doch und fahren voll beladen los.
Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal froh darüber sein werde, dass hier so gut wie keine Autos fahren, denn unser Anblick ist sicher unglaublich peinlich. Eigentlich kann mir das auch egal sein, da mich hier sowieso noch keiner kennt, aber wenn dann die Schule anfängt und mich alle schon als die kennen, die mit Jaden auf einem Motorrad fünf riesen Tüten rumschleppt, dann würde ich wahrscheinlich im Erdboden versinken. Die würden mich doch alle für verrückt erklären und Jaden würde mich wahrscheinlich umbringen, weil ich seinen Ruf beschädigt habe. Wir kommen bis zur Villa durch, ohne von jemandem gesehen zu werden, jedoch ernüchtert der Anblick des Hauses mein Glück sofort. Wie verhasst mir dieser Anblick ist! All meine Kindheitserinnerungen musste ich mit unserem alten Haus zurück lassen und ich könnte meine Mutter immer noch dafür umbringen.
Ich schüttle meinen Kopf, um die Gedanken zu vertreiben und steige vom Motorrad, gefolgt von Jaden.
„Sie scheinen schon los zu sein.“, murmelt Jaden vor sich hin und sucht das Haus nach einem Zeichen ab, dass sie noch zuhause wären.
„Umso besser.“, sage ich und nehme noch die zwei befestigten Tüten in die Hand. „Dein Vater wird mich sowieso umbringen, wenn er hört, wie viel Geld ich ausgegeben habe.“
„Ach so schlimm wird es nicht sein. Es kommt monatlich das zehnfache wieder aufs Konto und jährlich noch ein zusätzlicher Bonus von zwanzigtausend. Ich glaub da tut ihm dieser blöde tausender nicht weh.“, schmunzelt Jaden und zieht seinen Haustürschlüssel aus seiner Hosentasche.
Mit Augen, so groß wie Untertassen, sehe ich ihn an und muss hart schlucken. Ich wusste ja, dass sie reich sind, doch nicht, dass sie so viel Geld haben. Plötzlich fühle ich mich ganz klein und unbedeutend unter Jadens Blick. Für ihn ist es nichts, wenn man mal eben so nen Tausender für Klamotten ausgibt, für uns wäre das ein komplettes Monatseinkommen meiner Mom gewesen. Für einen Moment bin ich sprachlos und versuche einfach nur meine Tränen zu unterdrücken. Die Ungerechtigkeit, die auf der Welt herrscht, kann grausam sein, das wusste ich schon immer, aber manche trifft es eben doppelt hart.
„Was ist?“, fragt Jaden und mustert mich besorgt. Sanft legt sich seine Hand auf meine Wange und ich senke schnell meinen Blick, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen und dass er nicht sieht, dass ich Tränen in den Augen habe.
„Hey“, flüstert er, legt einen Finger unter mein Kinn und hebt meinen Kopf an, sodass ich ihn ansehen muss. „Was hast du?“
Ich zwinge mich dazu, tief durch zu atmen und sehe ihm tief in die Augen, dann flüstere ich leise und traurig: „Es ist nur manchmal hart, wie sehr das Unglück manche Menschen plagt.“
Wir sind das beste Beispiel. Beide haben wir ein Elternteil viel zu früh verloren. Beide müssen sich mit einem neuen Leben herumplagen. Nur mich trifft es härter. Wie auch nicht, wenn ich alles verliere, was mir bisher wichtig war und was mich gestützt hat? Der Vorteil, den Jaden hat, ist das Geld, aber das wird unbedeutend, wenn man bedenkt, dass es kein Menschenleben ersetzen kann.
Langsam kullert mir eine Träne über die Wange und meine Lippen zittern leicht. Sanft wischt Jaden die Tränen weg, lächelt mich aufmunternd an, doch ich sehe dahinter seine eigene Traurigkeit.
„Ich weiß.“, flüstert er nur und schließt mich in seine Arme. Es ist schon lange her, seit ich das letzte mal so viel Körperliche Nähe zu anderen Menschen zugelassen habe. Selbst meine Mutter habe ich immer weggedrängt, aber jetzt spüre ich, dass mir das hier im Moment einfach gut tut und nur deshalb lasse ich es zu.
Ich weiß nicht, wie lange wir nur so da stehen, uns im Arm halten und ich leise vor mich hin weine, aber wir lösen uns erst voneinander, als es sanft anfängt zu regnen.
„Sorry für meine Sentimentalität.“, meine ich lachend und weinend zugleich, wische mir die Tränen ab.
„Ach red’ doch keinen Mist!“, lacht Jaden und sieht mich dann bedeutungsvoll an. „Wenn es jemand verstehen kann, dann ich.“
Mit diesen Worten tritt er von mir weg, nimmt die Tüten und geht zum Haus.
Wortlos folge ich ihm und streiche meine Haare glatt, die vom Wind und dem einsetzenden Regen zerzaust sind. Im Haus ist es still und nur das Rauschen der Spülmaschine ist zu hören, fast etwas unheimlich. Jaden knipst das Licht an und sofort ist die unheimliche Atmosphäre verschwunden und es ist nur dieses große, einsame Haus, das nun in sanftes Licht getaucht wird. Mich überkommt plötzlich eine starke Müdigkeit und nur träge kann ich aus meinen Schuhen schlüpfen, ohne umzukippen. Der Tag hat mich doch ganz schön geschafft, kein Wunder, bei dem, was heute Nachmittag und Abend alles war.
„Ich glaub ich leg mich sofort ins Bett.“, sage ich mit einem herzhaften Gähnen zu Jaden und nehme ihm die Tüten ab. „Danke, dass du noch mit mir Einkaufen warst. Gute Nacht.“
Mit diesen Worten lasse ich ihn stehen und gehe langsam die Treppe nach oben. Hinter mir höre ich, wie in der Küche der Kühlschrank geöffnet und mit Pfannen geklappert wird. Jaden wird wohl noch Hunger haben, er hat ja bis auf das Popcorn im Kino noch nichts gegessen.
Da ich so müde bin, kommen mir die 4 Stockwerke vor, wie ein riesen Berg, den es zu erklimmen gilt. Als ich oben ankomme, fühle ich mich noch fertiger, als unten schon. Irgendwie, ich weiß nicht genau wie, schleppe ich mich in mein Zimmer, schaffe es, die Tüten in den Kleiderschrank zu stecken und in meinen Pyjama zu schlüpfen. Ohne die Zähne zu putzen, werfe ich mich auf ein Bett, bin sogar zu müde, um richtig unter meine Decke zu schlüpfen.
Gerade als ich eingenickt bin, so fühlt es sich zumindest an, höre ich es an meiner Tür klopfen und ich knurre missmutig: „Was ist?!“
„Schätzchen?“, erklingt die Stimme meiner Mutter, die den Kopf durch die, einen Spalt breit geöffnete, Tür steckt. „Wir sind wieder zurück. Willst du noch was essen?“
„Sag mal geht’s noch?!“, brülle ich sie an, pfeffere ein Kissen in ihre Richtung und fauche: „Erstens, du weißt genau, dass ich nach fünf nichts mehr esse, zweitens, wieso kommst du mir extra noch sagen, dass ihr zurück seid, wenn es mich keinen Dreck interessiert und drittens und das ist das Wichtigste, was fällt dir eigentlich ein“ ich werfe einen schnellen Blick auf meinen Wecker „um kurz nach zwölf noch mal in mein Zimmer zu platzen?! Kannst du dir nicht vorstellen, dass wenn kein Licht mehr an ist, ich schon schlafe?“ Wütend und dummerweise wieder hellwach, schüttle ich den Kopf und drehe mich von der Tür weg, um ihr frustriertes und gleichzeitig wütendes Gesicht nicht sehen zu müssen.
„Na schön, dann geh ich wohl besser wieder.“, murrt sie und schließt die Tür mit einem Ruck.
Na toll!, und jetzt soll ich noch mal einschlafen können? Genervt raufe ich mir die Haare und ziehe meine Decke zurecht, kuschle mich in die Kissen und schließe noch mal die Augen, um wenigstens den Versuch zu starten, einschlafen zu können. Doch irgendwie hat die Welt sich gegen mich verschworen, denn es klopft schon wieder an der Tür, dieses mal etwas sanfter, und sie wird wieder einen Spalt breit geöffnet. In der stillen Hoffnung, dass der oder diejenige schnell wieder verschwindet, bleibe ich einfach liegen und tu so, als würde ich schlafen. Falsch gedacht, denn plötzlich gibt das Bett etwas unter dem Gewicht von etwas nach und jemand räuspert sich vorsichtig.
Kurz verdrehe ich die Augen, öffne diese dann aber langsam. Mein wütendes Kommentar bleibt mir im Hals stecken, als ich sehe, dass es Jaden ist, nur in Boxershorts und mit zerwühlten Haaren. Anscheinend hat er auch schon geschlafen. Ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden. In seinen Augen liegt etwas fragendes und noch etwas, doch das kann ich in der Dunkelheit des Zimmers leider nicht erkennen. Mein Blick schweift, ohne dass ich es eigentlich will, über seinen perfekten Körper. Am See unten, hat er auch schon so wundervoll ausgesehen. Komischerweise flackert in meinem Kopf plötzlich der Begriff „Adoniskörper“ auf, was mich schnell dazu bringt, den Kopf zu schütteln, meinen Blick stur auf seine Augen zu richten und unecht zu zischen: „Was willst du?“
„Ich bin wach geworden, weil ich deine Mom und meinen Dad gehört habe.“, erklärt er, doch ich merke, dass das noch nicht erklärt, wieso er zu mir gekommen ist. Abwartend sehe ich ihn an, streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und stütze mich auf meinem Arm auf, dass ich mich nicht ganz so klein fühle. Er scheint zu überlegen, was er sagen soll und schüttelt schlussendlich den Kopf, weshalb ich aufseufze und mich wieder nach hinten fallen lasse. Ich ignoriere ihn einfach und schließe wieder die Augen, bis er sich räuspert und dann mit unsicherer Stimme anfängt zu sprechen: „Ich dachte nur, dass du vielleicht nicht allein sein willst, nach dem, was dir deine Mom gesagt hat und“
Ich fahre hoch und unterbreche ihn somit. Mein geschockter Blick sagt ihm anscheinend, dass ich nicht weiß, was er weiß. Nervös presst er seine Lippen zusammen und versucht den Blick in meine Augen zu vermeiden.
„Was ist passiert?“, frage ich zischend und verenge meine Augen zu Schlitzen. Es ist ihm sichtlich unangenehm und er macht anstallten aufzustehen, was ich jedoch verhindere, in dem ich ihm die Hand auf den Unterarm lege.
„Jaden?“, frage ich noch einmal mit mehr Schärfe in der Stimme. Langsam dreht er sich wieder zu mir um, seufzt und deutet auf mein Bett: „Hast du schon geschlafen?“
Aufstöhnend verdrehe ich die Augen, nicke aber und lasse mich wieder nach hinten fallen.
„Sag mir bitte einfach, was los ist, dass ich wieder schlafen kann!“, sage ich müde und schließe kurz die Augen, öffne sie dann aber wieder, als Jaden redet.
„Das sollte dir eigentlich deine Mutter selbst sagen.“, meint er entschuldigend und steht auf. „Schlaf gut, Sammy.“
Mit einem traurigen Lächeln verabschiedet er sich und geht zur Tür, an der er sich noch einmal kurz umdreht und sagt: „Wenn ich könnte, dann würde ich es dir sagen.“ Damit verlässt er das Zimmer und schließt leise die Tür hinter sich.
Verärgert setze ich mich im Bett auf. Wie soll ich denn nun bitte noch einschlafen können?
Da fällt mir plötzlich ein, dass ich Lenny versprochen habe, sie anzurufen. Mit einem Seufzen stehe ich auf, gehe zu meinem Schminktisch und ziehe das Handy aus der Tasche, die ich an den Stuhl gehängt habe. Schnell überprüfe ich den Akkustand, sehe verärgert, dass er fast leer ist und ziehe dann das Ladekabel aus meinem Koffer und stecke es in die Steckdose beim Schminktisch. Na ja, kann ich mich eben nicht gemütlich ins Bett legen. Meine Finger fühlen sich schläfrig an, als ich ihre Nummer eintippe, wähle und dann die Freisprechanlage einschalte und das Handy auf dem Tisch ablege.
Es klingelt fünfmal, bevor sich meine beste Freundin verschlafen meldet.
„Hey Sammy, ich dachte schon, du rufst gar nicht mehr an.“, sagt sie gähnend.
„Hey, ja tut mir leid, als ich zuhause war, war ich irgendwie so müde, dass ich ins Bett gefallen bin und sofort geschlafen hab.“, erkläre ich und nehme mir meine Bürste und beginne mir damit durch das zerzauste Haar zu fahren.
„Ach, was hast du denn noch so anstrengendes gemacht? Sag nicht, dass es was mit einem gewissen Herren und seinem Bett zu tun hat!“, meint sie plötzlich aufgeweckt und neckisch.
„Du bist doof.“, murmle ich und kann ein Lächeln nicht unterdrücken. „Wir waren noch unterwegs. Eigentlich waren wir zuerst mit seiner Clique im Kino, aber der Film war unendlich langweilig, Jaden war irgendwie der gleichen Meinung, also sind wir abgehauen, als der Film noch nicht mal zur Hälfte um war.“
„Und dann?“, drängt sie mich, weiter zu sprechen.
„Du bist absolut sensationsgeil.“, stelle ich nüchtern fest und rede dann aber schnell weiter, um mich nicht mit ihr in eine Diskussion zu steigern, ob sie sensationsgeil oder einfach nur neugierig ist, denn die würde sie gewinnen. „Dann wollten wir beide noch nicht nachhause, weil sein Dad und meine Mom noch zuhause waren und wir es nicht riskieren wollten, noch auf die beiden zu treffen, bevor sie zu ihrem Date wegfahren. Na ja, da hat mir Jaden eben angeboten, dass wir noch in eine andere Stadt fahren und ich da shoppen kann. In einer Stunde hab ich mir ein paar richtig tolle Outfits zusammengestellt. Weißt du, wie wundervoll es ist, wenn man nicht immer fünf Mal überlegen muss, ob man das eine oder das andere T-Shirt nimmt, weil beide zusammen zu teuer sind?“ Natürlich weiß sie das, sie selbst lebt nicht gerade in ärmlichen Verhältnissen. „Das einzige Problem ist, dass wir zum Schluss fünf Tüten hatten und nicht so ganz wussten, wie wir die auf seinem Motorrad nachhause bekommen.“ Ein Lächeln huscht über meine Lippen, als ich an das Gefühl von Wärme denke, das ich verspürt habe, als ich so an ihn gedrückt war. „Irgendwie haben wir es schlussendlich unbeschadet nachhause geschafft und dann war ich, wie gesagt, total fertig und wollte nur noch schlafen.“
„Okay.“, sagt Lenny lang gezogen und ich kann ihren misstrauischen, forschenden Blick regelrecht vor mir sehen. „Da war noch etwas.“, stellt sie nachdenklich fest und dann: „Los raus damit Sammy!“
Mit einem Auflachen nehme ich mir einen Haargummi und binde mir meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.
„Sammy!“, drängt Lenny und ich kann mir ein lachen nicht verkneifen, bei dem Bild das sie abgeben muss, aber ich kann ihr einfach nicht sagen, dass Jaden mich geküsst hat. Ich weiß ja selbst noch nicht, was das bedeuten sollte und will es zuerst selbst herausfinden. Vielleicht wollte er auch nur versuchen, ob ich es zulassen würde, oder will mich einfach nur ins Bett bekommen. Schnell schüttle ich den Kopf, mit so etwas kann ich mich jetzt nicht auch noch herum schlagen, also antworte ich Lenny: „Ich erzähl’s dir ein anderes mal, aber jetzt bist erst mal du wichtig. Was war denn heute Nachmittag? Was meintest du mit, alles läuft schief?“ Sorge schwingt in meiner Stimme mit und ich hoffe für sie, dass es nichts ist, was sich nicht klären lässt.
Am anderen Ende der Leitung wird es still und ich habe schon Angst, dass sie gleich wieder anfängt zu weinen, doch dann platzt sie wütend heraus: „Meine Mom und mein Dad lassen sich scheiden, weil meine Mom ein Drogenproblem hat und Dad denkt, dass das schlechten Einfluss auf mich hat. Er hat das volle Sorgerecht beantragt und will Mom aus dem Haus werfen und wie die Rechtslage aussieht, wird ihm auch Recht zugesprochen. Mom hat sich gewaltig mit ihm gezofft und wollte mich auf ihre Seite ziehen. Als wir telefoniert haben, ist sie gerade in mein Zimmer gekommen, um mich dazu zu überreden, mit ihr shoppen zu gehen, aber ich hatte keine Lust. Wenn du nur hier wärst Sammy!“ Sie wird immer leiser, bis sie am Ende nur noch flüstert und ich das zittern in ihrer Stimme erkennen kann.
„Oh, Lenny! Das tut mir so leid! Ich wäre so gerne bei dir und würde dir helfen, dich unterstützen, wenn nicht so viel Abstand zwischen uns wäre. Ich könnte meine Mom dafür umbringen, dass sie mich zu alldem gezwungen hat und deine, das sie dein Leben zerstört!“, sage ich energisch und nehme mir ein Abschminktuch aus einer Dose, wo ich diese aufbewahre. Als wir nachhause gekommen sind, habe ich absolut keine Energie dafür übrig gehabt, doch nach drei Stunden Schlaf geht es wieder.
„Mach dir keinen zu großen Kopf, Süße!“, erwidert Lenny sanft und ich höre das Lächeln in ihrer Stimme. „Du hast selbst genug Probleme, mit denen du dich rumschlagen musst. Das heißt auch, dass du dringend deinen Schlaf brauchst. Wie ich dich kenne, hast du schon seit dem Mittagessen nichts mehr zu dir genommen und glaub mir, irgendwann sind auch deine Kraftreserven aufgebraucht, also geh ins Bett. Du stehst doch sowieso wieder in aller Herrgotts Frühe auf. Also schlaf gut!“
„Okay, ist gut. Schlaf gut.“, antworte ich noch und lege dann auf, bevor ich das Abschminktuch in den Mülleimer werfe und mich wieder in mein Bett kuschele.
Das Gespräch mit Lenny hat mir geholfen, meinen Kopf etwas frei von eignen Problemen zu bekommen, doch als ich jetzt in den Schlaf sinke, träume ich davon, wie Lenny weinend vor einem Grab sitzt, auf dem der Name ihrer Mutter steht.
Schweißgebadet schrecke ich aus dem Traum hoch, nur um festzustellen, dass mir ein warmer Sonnenstrahl das Gesicht erwärmt. Mit einem Blick auf den Wecker stelle ich fest, dass es schon acht Uhr morgens ist. Ungläubig starre ich das kleine, nervig tickende Ding an. Es kann doch nicht sein, dass ich so lange geschlafen habe.
Ausgeschlafen, wie ich bin, schwinge ich meine Beine aus dem Bett, schnappe mir eine Hot pant, ein Spitzenshirt, bei dem der BH noch leicht durchscheint, und dem zu folge einen dazu passenden BH. Mit den Kleidungsstücken beladen, trete ich auf den Flur und gehe zum Badezimmer. Ohne weiter nachzudenken öffne ich die Tür und stehe wie versteinert da. Jaden steht, mir den Rücken zu gewandt unter der Dusche und scheint mich noch nicht bemerkt zu haben. Schnell löse ich mich aus meiner Starre, ziehe die Tür wieder zu und renne zurück in mein Zimmer. Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh mein Gott! Jaden hat mir doch gesagt, dass man immer klopfen soll. Und was hat er bitte für einen geilen Arsch!
Was? Moment! Das habe ich jetzt nicht wirklich gedacht, oder? Oh Mann! Na toll! Wenn Jaden mich bemerkt hat, dann bin ich schon so gut wie tot. Schnell ziehe ich mein Schlafanzug T-Shirt aus, schlüpfe in den BH und das T-Shirt, dann wechsle ich noch schnell die Hose. Genau in dem Moment, als ich den Knopf schließe, wird meine Zimmertür aufgerissen und im Türrahmen steht ein hochroter Jaden, nur mit einem großen Badetuch um die Hüften bekleidet. Wah! Ich werd noch verrückt!
„Was zum Teufel ist in deiner Erziehung falsch gelaufen?! Ich hab dir doch gesagt, dass das verdammte Schloss kaputt ist und man sich gefälligst versichern soll, dass keiner drin ist, bevor man ins Badezimmer geht! Was hättest du getan, wenn ich das bei dir getan hätte, während du unter der Dusche stehst, oder wenn mein Dad es gewesen wäre?“, sein Kopf ist rot wie ein reifer Apfel und seine Muskeln bis ans äußerste angespannt, was eindeutig gut aussieht, jedoch eine Bedrohlichkeit hat, die sich nicht abstreiten lässt.
„T-tut mir leid. Ich habe noch halb geschlafen und nicht nachgedacht.“, stottere ich und leichte Röte steigt mir ins Gesicht, währen ich mein Gesicht abwende.
Jadens Antwort darauf ist lediglich ein abfälliges Schnauben, dann knallt er die Tür wieder zu und verschwindet. Mit zitternden Händen ziehe ich das Haargummi aus meinen Haaren und schüttle kurz den Kopf, um mir dann mit der Bürste die Haare zu kämmen. Die Sommersonne wärmt meine Haut und ich atme tief durch, sauge die frische Luft ein. Das ist wahrscheinlich einer der größten Vorteile vom Landleben, die frische Luft. Den Kopf aus dem geöffneten Fenster gestreckt, kann ich die blühenden Linden riechen und die Vögel singen hören. Irgendwo in der Ferne, hinter einem der Hügel, fährt ein Traktor leise tuckernd über ein Feld und unter den Duft der Lindenblüten mischt sich der vertraute Geruch nach frischem Heu. Okay, ich gebe es zu, es widerstrebt mir nicht so sehr, hier zu wohnen, wie ich es alle glauben machen will, aber ich habe ja meine Gründe.
Noch einmal atme ich tief durch, trete dann vom Fenster zurück und verlasse mein Zimmer, um mir Frühstück zu holen. Als ich die Treppen hinunter steige, legt sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter, weshalb ich herumwirble, das Gleichgewicht verliere und nach hinten kippe. Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich, dass ich jetzt die Treppen runterfalle und mir alle Knochen breche, doch da packt mich Jaden schon an der Hand und reißt mich an sich.
„Irgendwann bringst du mich noch um.“, knurre ich und schüttle seine Hand ab, darauf bedacht, möglichst nicht wieder das Gleichgewicht zu verlieren.
„Du bist einfach zu schreckhaft.“, erklärt Jaden Schultern zuckend und geht neben mir die Treppe hinunter.
„Nicht umsonst.“, murmle ich, aber so leise, dass er es nicht versteht.
Da fällt mir das Missgeschick im Badezimmer unvermittelt wieder ein und ich werde sofort wieder rot und wende meinen Kopf ab.
„Jaden, wegen dem vorhin im Badezimmer, das tut mir wirklich leid. Ich hab einfach nicht nachgedacht, bin irgendwie auf Routine-Modus gelaufen und na ja, bin einfach ein bisschen zu doof, um zu hören, dass die Dusche rauscht.“, versuche ich irgendwie eine Entschuldigung zu formulieren, was schwerer ist, als es den Anschein hat.
„Schon vergeben.“, meint er grinsend und schubst mich vorsichtig von der Seite mit dem Arm an und zwinkert mir zu. Was soll das jetzt? „Ich mach’s das nächste mal einfach genau so, nur würde ich den Anblick länger genießen.“
„Trottel!“, lache ich und schubse ihn mit der Hüfte, wie er es eben bei mir mit dem Arm gemacht hat, und verpasse ihm zusätzlich einen Klaps auf den Oberarm.
„Schätze ich hab’s verdient.“, stellt er lachend fest, dann betreten wir die Küche und sofort ist die gute Stimmung verflogen.
„Anscheinend versteht ihr euch jetzt etwas besser.“, stellt Mom schmunzelnd fest und mustert uns über den Rand ihrer Kaffeetasse.
„Nein.“, sage ich, noch immer sauer auf sie, während Jaden gleichzeitig „Ja!“ sagt.
Für einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke und Jaden grinst mich wissend an.
„Ist das Monster schon weg?“, frage ich, während ich mir eine Tasse aus dem Schrank nehme und sie unter die Kaffeemaschine stelle.
„Samantha!“, ruft meine Mom entsetzt und verärgert zugleich.
„Ja, Dad ist schon weg.“, antwortet Jaden auf meine Frage und scheint sich köstlich über mich und meine Mutter zu amüsieren.
„Na immerhin etwas.“, murre ich, nehme den Kaffee, gieße etwas Milch hinein und werfe gleich drei Stück Zucker hinein. Das ist es, was ich jetzt dringend brauche, einen gewaltigen Zuckerschub, sonst überstehe ich den heutigen Tag wahrscheinlich nicht.
Für einen Moment herrscht betretenes Schweigen, bis meine Mutter es durchbricht in dem sie fragt: „Ist das T-Shirt neu?“
„Smalltalk, dein Ernst?“, fahre ich meine Mutter an und unterbinde so ihren kläglichen Versuch, etwas mehr von meinem Leben mit zu bekommen. Jaden neben mir zischt und tut so, als hätte er sich an etwas verbrannt und meint: „Autsch, das ist ein Schlag unter der Gürtellinie für eine Frau.“
„Halt die Klappe!“, knurre ich in seine Richtung, weil ich genug von meiner Mutter habe und es kein bisschen ab kann, wenn Jaden jetzt auch noch Scherze macht. Ich schnappe mir einen Keks aus der Schale auf dem Kückentisch, lehne mich dann aber mit diesem und meinem Kaffee in der Hand lieber an die Anrichte, als mich zu Mom an den Tisch zu setzen.
„Also gut, kein Smalltalk.“, ergibt sich meine Mutter genervt und verdreht die Augen. „Setz dich Schätzchen, dann können wir besser reden!“
„Vergiss es! Ich bleib hier stehen, wenn du mich schon quälen musst.“, erwidere ich giftig und esse den Keks.
„Na schön.“, faucht sie. Langsam verliert sie auch ihre Geduld mit mir. Mir egal. Ich habe meine Geduld mit ihr schon lange verloren.
„Also, es ist so, dass wir, also George und ich, uns“
Da unterbreche ich sie schon: „Mom, red’ nicht lange um den heißen Brei rum, sag klipp und klar, was Sache ist und gut ist.“
„Nein, nicht und gut ist, junge Dame! Ich bin vielleicht schwanger und du hörst mir gefälligst mal zu, wenn ich dir etwas sagen will und fällst mir nicht immer ins Wort!“, fährt sie mich wütend an. Für einen Moment starre ich sie geschockt an, dann werde ich erst richtig wütend.
„Ach? Und welche Gründe sollte ich haben, dich zu respektieren und dir zuzuhören? Sei ehrlich! Welche Beweggründe könnte ich noch haben, dass mich überhaupt irgendetwas interessiert, was du mir sagen willst?! Denk mal scharf nach!“ Ich bin einem totalen Kontrollverlust ziemlich nahe, lasse eine kurze, wirkungsvolle Pause, in der es so leise ist, als wäre jemand gestorben, dann schreie ich meiner Mutter zu: „Da hast du’s! Keine! Ich habe keinen Grund, dir auch nur eine Sekunde zuzuhören!“ Damit knalle ich die Tasse auf die Anrichte, dass der Kaffe überschwappt, und renne aus der Küche. So schnell wie möglich muss ich Abstand zwischen mich und dieses Ding, das denkt, meine Aufmerksamkeit und Tränen wert zu sein, bringen. So sehr ich es auch versuche, ich kann sie Tränen der Trauer, Wut und Frustration nicht zurückhalten, also strömen mir diese über die Wangen, während ich das Haus verlasse und einfach nur renne, bis ich zu einem großen Gerstefeld gelange, in dem ich einer Tracktorspur weit hinein folge, bevor ich mich schwer atmend und immer noch weinend auf meinen Hintern fallen lasse. Ungebremst beginnen nun die Tränen stärker zu kullern, rinnen in kleinen Wasserfällen über mein Gesicht. Zitternd ziehe ich meine Beine an, schlinge meine Arme darum und vergrabe meinen Kopf darin, bevor ich hemmungslos zu schluchzen beginne.
Die Welt muss mich wirklich hassen, dass sie mir nicht mal jetzt meine Ruhe gönnt, denn während ich weinend da sitze, höre ich, wie sich mir Schritte nähern und unmittelbar hinter mir verstummen. Ich versuche das Schluchzen zu unterdrücken, was mir leider nur teilweise gelingt, da meine Lippen noch immer beben und meine Augen einfach nicht genug von ihrer weinerei bekommen können.
„Geh weg!“, wimmere ich, an wen auch immer gerichtet, da ich noch immer nicht weiß, wer hinter mir steht. Sanft legt sich ein Arm um meine Schultern, ein sehr muskulöser Arm, und ich werde in eine tröstliche Umarmung gezogen. Ich sehe nicht, wer es ist, doch ich rieche es. Jaden. Sein unverfälschlicher Geruch nach Wald und Wildheit. Ein weiterer Schluchzanfall schüttelt mich und ich schlinge meine Arme um Jaden, um mich an irgendetwas festhalten zu können. Im Moment brauche ich einfach etwas, das mich in dieser Welt verankert.
Lenny weiß, was sie in solchen Momenten machen muss. Es ist nicht das erste mal, dass ich einen totalen emotionalen overload habe, aber bisher musste ich noch nie einen ohne meine beste Freundin als Anker durchstehen. Meine Tränen fließen noch stärker und ich habe das Gefühl, nie wieder aufhören zu können.
Das alles auf einmal ist einfach zu viel für mich! So viel halte ich einfach nicht aus. Irgendwo hat jeder seine Grenzen und meine sind hier. Das Gefühl, dass alles um mich herum zusammenbricht ist unerträglich und bereitet mir physische Schmerzen. Als wäre das alles mit dem Umzug, der neunen Familie, der neuen Schule, der Freudlosigkeit und den ganzen Körben, die sich meine Mutter die letzten Jahre schon geschossen hat, nicht genug, bricht die Welt um meine beste Freundin jetzt auch noch auseinander und meine Mutter erzählt mir etwas von einer eventuellen Schwangerschaft! Wie viel kann ein einziger Mensch ertragen, ohne daran kaputt zu gehen? Anscheinend sehr viel. Ich bin das beste Beispiel. Oder soll ich lieber Opfer sagen. Ich habe keine Ahnung, was meine Mutter denkt, wie viel Schmerz und Leid sie mir noch zufügen kann, bevor es zu viel ist, aber sie überschätzt die Fähigkeiten eines Menschen, einer Jugendlichen, die ihren Vater verloren hat. Unter meine Schluchzer mischt sich jetzt noch ein schrecklicher Schluckauf, der mich plagt. Mein Bauch schmerzt, als hätte ich einer Boxermannschaft als Boxsack zur Verfügung gestanden, meine Augen sind geschwollen und meine Nase läuft, während sich mein ganzer Körper so anfühlt, als kommt er Träne für Träne einer Dehydrierung näher. So schlimm, wie dieses Mal, war es noch nie und nur Jaden ist hier, um mich zu trösten und genau das macht mir wirklich Angst.
Das sollte so nicht sein! Lenny müsste hier neben mir sitzen, mich im Arm halten und mich vorsichtig hin und her wiegen, bis es mir besser geht. Doch stattdessen sitze ich hier, umarme krampfhaft einen Jungen, den ich eigentlich nicht ausstehen kann, da er mit ein Symbol für mein Unglück ist, und kann einfach nicht aufhören zu weinen.
„Wieso bist du mir nach gelaufen?“, frage ich, mit zitternder Stimme, als das Schluchzen etwas nachlässt. Ich wage es nicht, mich aus der Umarmung zu lösen und ihm in die Augen zu sehen, weil ich Angst habe, dass mich sofort wieder das Gefühl der Einsamkeit überrumpelt und alles wieder von vorne losgeht.
„Weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe.“, gibt er zu und streicht mit seiner Hand sanft über meinen Rücken, zieht kleine Kreise. „Du hast so wütend und traurig ausgesehen und irgendwie auch so, na ja, so alleine gelassen. Ich hatte ehrlich Angst um dich, dass du dir selbst etwas antust. Ich wäre ebenfalls fast ausgerastet, als deine Mom einfach selenruhig und schmollend ihren Kaffee getrunken hat.“
Ich schlucke hart, umklammere ihn nochmals fester und dränge mit aller Kraft, die noch in meinem geschwächten Körper ist, die Tränen zurück, die bereits wieder an die Oberfläche dringen wollen. Da fällt mir erst auf, dass ich es geschafft habe, mit dem Weinen aufzuhören. Vorsichtig löse ich meinen Klammergriff um Jaden und wische mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
„Ich hab von ihr nichts anderes erwartet.“, sage ich, noch immer mit unsicherer Stimme, nehme das Taschentuch entgegen, dass er mir hin hält und putze mir die Nase. „Aber wie hast du es geschafft, mich zu finden?“
„Das war etwas komplizierter. Da ich ja zuerst deiner Mutter noch mal meine Meinung gesagt habe, hattest du einen ziemlichen Vorsprung, also hab ich mich versucht irgendwie in dich hinein zu versetzen, wo du am ehesten hinrennen könntest. Du konntest nicht zu weit weg sein, weil du ja zu Fuß unterwegs warst und du kennst hier noch keinen so richtig, also konntest du auch nicht bei irgendwem sein. Meiner Meinung nach, würdest du nie an einen belebten Ort gehen, wenn es dir schlecht geht. Zugegeben, wenn es mir schlecht geht, dann gehe ich auch meistens an einen Ort, an dem ich ungestört nachdenken kann. Ich habe zwei Orte, an die ich dann gehe, entweder in die Alte Scheune am Rand unserer Felder, hinten an der Waldgrenze, oder hier her. Die Scheune kennst du nicht, also blieb logischerweise nur eines der großen Felder um unser Dorf herum. Ich bin da entlang gelaufen, wo ich laufen würde, wenn ich mich nicht auskennen würde, und habe darauf geachtet, ob bei irgendeinem Feld etwas zu sehen ist, umgeknickte Pflanzen oder dein Kopf oder so. Dann hab ich dich entdeckt und ja, ab dann weißt du ja was war.“, am ende seiner Erklärungen lächelt er und fährt sich nervös durch die Haare.
„Danke.“, ist alles was ich sage und lehne mich wieder an seine Brust.
„Nicht dafür.“, antwortet er und umfängt mich erneut mit seinen Armen.
Lange sitzen Jaden und ich nur so da, halten uns im Arm und jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Erst als mein Magen verräterisch knurrt, weil ich einen mächtigen Hunger habe, lösen wir uns voneinander und lachen beide.
„Schätze du brauchst noch Frühstück.“, stellt Jaden lachend fest und steht auf. Er wischt sich den Staub von der Hose und hält mir dann die Hand hin, um mir beim Aufstehen zu helfen, was ich dankbar annehme. Meine Beine wollen noch nicht so ganz, wie ich will. Mein rechtes Bein ist eingeschlafen und kribbelt unangenehm.
„Ja, ich hab Hunger.“, bestätige ich Jadens Feststellung und lächle.
„Dass ich das mal von dir zu hören bekomme, hätte ich auch nicht gedacht.“, murmelt mir Jaden ins Ohr und grinst.
„Du bist doof!“, schimpfe ich halbherzig und schubse ihn etwas von mir weg.
„Verdreh hier mal nicht die Sheepworld-Sätze. Wenn schon, dann ja wohl: Ohne dich ist alles doof.“, meint er frech grinsend und setzt sich, gleichzeitig wie ich, in Bewegung.
Theatralisch verdrehe ich die Augen und grinse, während ich neben ihm das Feld in Richtung Straße durchquere. Ich versuche so langsam zu gehen, wie es nur geht, doch gleichzeitig will ich nicht hinter Jaden zurückfallen, also muss ich mein Tempo an seines anpassen.
„Ich will nicht zurück zu Mom. Noch nicht.“, flüstere ich, als Jaden am Feldrand stehen bleibt und sich mit fragendem Blick zu mir umdreht, da ich einige Schritte zurückgefallen bin. Verständnis macht sich in seinem Blick breit und er bedeutet mir, ihm zu folgen. Ich habe keine Ahnung, was er vor hat, folge ihm aber still.
Wo will er nur hin?
„Es gibt im Dorf eine kleine Bäckerei, die gleichzeitig ein Café ist. Ich glaube es ist das Beste, wenn wir da hin gehen und frühstücken, dann kannst du dich ja immer noch entscheiden, ob du dann schon nachhause willst.“, beantwortet er meine Gedanken und führt mich durch die schmalen Straßen, vorbei an idyllischen Landhäusern mit gepflegten Gärten.
„Gute Idee.“, erwidere ich und verziehe die Lippen zu einem betrübten Lächeln.
Es kommt mir vor, als würden wir eine Ewigkeit laufen, bis wir zu Häusern kommen, die mir etwas bekannter vorkommen. Ich muss weit gelaufen sein, aber meine Wahrnehmung war ja auch verfälscht. Jaden und ich reden kein Wort mehr, bis wir an einem kleinen, hübschen Häuschen ankommen, an dessen Gartenpforte ein Schild steht, auf dem in geschwungenen Buchstaben geschrieben ist: „Dorfcafé“ und welches an der Front ein großes Fenster hat, durch das Tische und Stühle und dahinter eine Theke mit Kuchen, Torten und Brot zu sehen sind.
„Da wären wir.“, verkündet Jaden, steckt die Hände in die Hosentaschen und betrachtet mich einen Moment, wie ich das Häuschen mustere.
Ich muss nichts erwidern, da dies mein Magen für mich erledigt, der gerade wieder protestierend Knurrt.
„Na los, bevor du mir hier noch verhungerst!“, lacht Jaden, öffnet mir die Gartenpforte und tritt nach mir ein. Als ich die Eingangstür öffne, erklingt ein helles Läuten von einem kleinen Glöckchen über der Tür, das unser Kommen ankündigt. Einen Moment später kommt aus einer Hintertür eine kleine Frau geeilt, die ihre langen, silbernen Haare zu einem Zopf geflochten hat und deren Gesicht schon vom Alter gezeichnet ist. Auf ihren Lippen liegt ein aufrichtiges Lächeln, als sie Jaden und mich erblickt und ihre Stimme klingt noch jung, als sie sagt: „Guten Tag ihr Lieben! Jaden, was kann ich für euch tun?“
Sie wendet sich an Jaden, ich nehme an, weil sie ihn schon seit längerem kennt.
„Frühstück.“, antwortet Jaden schlicht und lächelt die alte Dame herzlich an. Ich frage mich, in welcher Verbindung die beiden wohl zueinander stehen. Kann es sein, dass sie seine Großmutter ist, oder eine gute Bekannte der Familie?
„Alles klar, Schätzchen.“, sagt die Frau liebevoll und nimmt zwei Teller von einem Stapel. „Kuchen, Torte, Brötchen? Was hättet ihr gerne?“, fragt sie mit einer einladenden Geste zu der Vitrine.
„Ich nehm nen starken Kaffee und ein Stück von deinem himmlischen Apfelkuchen.“, antwortet Jaden, dann sieht sie mich abwartend an und fragt: „Und du, Liebes?“
„Hmm.“, mache ich, betrachte die Leckereien, die schön drapiert in der Auslage stehen. Mir fällt eine köstlich aussehende Schokoladen-Torte auf, auf die ich deute und sage: „Ein Stück von der, bitte. Und zu trinken eine heiße Schokolade, wenn das geht.“
„Aber klar. Setzt euch doch in der Zwischenzeit.“, sagt die nette Dame und macht sich eifrig daran, uns unser Essen zu bereiten, während wir uns einen Tisch direkt am Fenster nehmen.
„Ich habe doch aber gar kein Geld dabei!“, fällt mir plötzlich ein und ich beiße mir nervös auf die Unterlippe. Was jetzt?
„Mach dir keinen Kopf! Ich bezahle.“, beruhigt mich Jaden und streicht flüchtig mit seinen Fingern über meine Hand, die auf dem Tisch liegt.
„Oh, okay. Danke!“, murmle ich und sehe ihm kurz, verlegen in die Augen. Dieses Grün! Sein Blick fesselt mich und ich muss mich von seinen Augen losreißen, bevor es den Anschein nimmt, dass ich ihn offen anschmachte. Wie peinlich wäre das denn! Wahrscheinlich ist dieses Café der Treffpunkt des ganzen Dorfs und somit das Zentrum für Klatsch und Tratsch, auch wenn im Moment keiner, außer Jaden und mir, hier ist.
„So ihr beiden, lasst es euch schmecken. Ich hoffe es stört euch nicht all zu sehr, wenn ich wieder nach hinten gehe, falls etwas ist, dann ruft ihr einfach.“, sagt die Frau freundlich, stellt die Teller von ihrem Tablett auf den Tisch und lässt die Tassen folgen, bevor sie das Geld von Jaden kassiert und verschwindet.
Sobald sie durch die Tür verschwunden ist, wende ich mich an Jaden und sehe ihn fragend an, während er einen Schluck von seinem Kaffee nimmt und meinen Blick seelenruhig erwidert.
„Sie war früher mein Kindermädchen, als ich noch kleiner war und Mom und Dad immer arbeiten waren.“, erklärt er gleichgültig, doch ich sehe hinter die Fassade und entdecke das Gefühl der Zuneigung ihr gegenüber.
„Alles klar, das erklärt einiges.“, sage ich lächelnd und nehme meine Gabel, um einen Bissen von der lecker aussehenden Torte zu nehmen. Sie schmeckt sogar noch besser, als sie aussieht. Genüsslich schiebe ich mir noch eine Gabel in den Mund und lasse mir die Schokocreme auf der Zunge zergehen.
„Schmeckt’s?“, lacht Jaden, während er sich eine Gabel von seinem Kuchen gönnt und mich dabei beobachtet.
„Mhm.“, antworte ich nur, um einen Bissen von der Torte herum. Ehe ich mich versehe, ist mein Teller leer und ich widme mich der heißen Schokolade, die einfach nut göttlich schmeckt. Kleine Mini-marshmallows schwimmen in Schoko-Schaum, der an meiner Oberlippe einen Bart bildet, den ich schnell, verlegen ablecke. Jaden grinst nur und isst langsam seinen Kuchen, während er nebenbei immer wieder einen Schluck Kaffee trinkt.
Obwohl ich so schnell war, ist er noch vor mir fertig und lehnt sich in seinem Stuhl zurück, beobachtet mich immer noch, wie ein Kunstobjekt.
„Was ist?!“, frage ich, langsam etwas genervt und stelle meine Tasse ab, lasse meine Hände doch daran liegen, da diese so angenehm warm ist.
„Es ist nur seltsam, dich essen zu sehen.“, antwortet er, stellt seine Tasse auf den Teller und macht Anstalten aufzustehen.
„Alles klar.“, murmle ich, trinke schnell den letzten Schluck aus und stehe dann ebenfalls auf.
„Ihr könnt die Sachen stehen lassen!“, dringt die Stimme der Frau aus dem Hinterzimmer.
„Ist gut, bis dann!“, ruft Jaden zurück und wir verlassen gemeinsam das Café, gerade als ein schlankes Mädchen, mit langen blonden Haaren durch die Gartenpforte tritt.
„Jaden!“, ruft diese fröhlich und lächelt verführerisch. Auch das noch! Irgendeine von Jadens Betthäschen oder was?
„Laura.“, erwidert Jaden nüchtern und nickt ihr zu. Er scheint sie wohl nicht sehr zu mögen, also doch keine Bettgeschichte?
„Was machst du denn hier?“, fragt sie neugierig und begeistert, kommt vor uns zum Stehen und sieht ihn schmachtend an.
„Hab mit Sammy gefrühstückt.“, antwortet er, mit einem kurzen Blick zu mir und drängt sich an dieser Laura vorbei. Diese scheint mich erst jetzt zu bemerken und bedenkt mich mit einem angewiderten Blick, nachdem sie mich einer Kopf bis Fuß Musterung unterzogen hat. Anscheinend fühlt sie sich durch mich bedroht, also schätz sie mich schon mal nicht als 0815 Mädchen ein, denn zu denen gehört sie anscheinend auch nicht, mit ihrer teuren Designerhandtasche, den Stilettos und dem Designerkleid, von dem Schmuck mal ganz abgesehen. Ihr Gesicht ist rein von Pickeln und ihr selbstsicheres Auftreten verrät mir, dass sie wohl eine von diesen super beliebten Mädchen ist, die einer Schulkönigen ziemlich nahe kommen.
Schnell folge ich Jaden, dränge mich auch an ihr vorbei und schließe schnell die Gartenpforte hinter mir. Ich muss einige Schritte rennen, um wieder zu Jaden aufzuschließen, der, mit den Händen in den Hosentaschen, cool und vollkommen der Aufreißer, die Straße entlang geht.
„Wer zur Hölle war das denn?“, frage ich geschockt, als wir außer hör- und sehweite sind.
Genervt verdreht er die Augen, sieht mich an und erklärt: „Das war Miss „Ich bin die Schönste und Beste der ganzen Schule“, die sich an alles und jeden ran schmeißt.“
„Als hätte ich mir das nicht schon gedacht.“, murre ich vor mich hin und gehe neben ihm her. Ich hoffe inständig, dass nicht alle an dieser Schule so sind, denn dann werde ich es ganz sicher nicht aushalten. „Sag mir bitte, dass nicht alle an dieser verdammten Privatschule solche Zicken und Arschlöcher sind, die nichts mehr lieben, als sich selbst!“, flehe ich Jaden nahezu an und bleibe neben einem kleinen Teich, über den eine schmale Brücke führt, stehen.
„Das kann ich leider schlecht beurteilen, weil ich nicht jeden persönlich kenne.“, antwortet Jaden schmunzelnd. Toll!
Das soll ja was werden, wenn in fünf Wochen die Schule wieder los geht. Wohl oder übel muss ich die Zeit bis da hin noch genießen und Kraft tanken.
„Aber du wirst dich da schon irgendwie durch schlagen.“, muntert er mich auf und schubst mich leicht, was mir ein kleines Lächeln entlockt.
„Irgendwie wohl schon.“, murmle ich und lasse das Thema somit fallen. Schweigend laufen wir nebeneinander eine Zeit lang ziellos nur durch die Straßen, bis wir auf einen kleinen Feldweg gelangen, der hinter einer Hügelkuppe verschwindet. Ich will schon umdrehen, aber Jaden hält mich zurück und fragt: „ Willst du nachhause?“
Eigentlich ist mein Widerwillen groß, doch ich bin eigentlich nicht gerade angemessen gekleidet, um noch länger durch die Straßen zu laufen. Das Spitzen T-Shirt bedeckt nicht gerade besonders viel von meinem Oberkörper, was nur durch meinen BH noch etwas wett gemacht wird, aber für manche Leute wirkt es vielleicht etwas nuttig mit den Hot Pants dazu.
„Besser nachhause.“, sage ich mit einem gequälten Unterton in der Stimme und deute an mir hinunter. „Ich hatte ja keine Zeit mehr, mich angemessen für die Öffentlichkeit anzuziehen.“
Sein Blick folgt meiner Handbewegung und auf seinen Lippen spielt ein freches Grinsen, während er sagt: „Ach was, passt doch perfekt.“
„Hormon gesteuert, sag ich doch!“, rufe ich und werfe ergeben meine Hände in die Höhe. Er grinst nur und zieht mich den Feldweg entlang.
„Ich dachte wir gehen nachhause?“, frage ich verwirrt und sehe ihn misstrauisch an.
„Gehen wir auch, aber du hast doch gerade gesagt, dass du eigentlich nicht so angezogen unter die Leute willst und übrigens ist der Weg hier sowieso viel kürzer.“, erklärt er und zerstreut somit mein Misstrauen.
„Wo führt der Feldweg denn hin?“, frage ich jetzt neugierig und laufe etwas zügiger, sodass er meinen Arm wieder los lässt und mich nicht mehr hinter sich her schleift.
„Zu der Scheune und in den Wald. Eigentlich wird er nur von dem Bauern, der die an unser Grundstück angrenzenden Felder besitzt, dem Förster und von uns genutzt, außer, wenn ich irgendwie eine Party bei uns feiere, dann nutzen wir eine der großen Wiesen als Park- und Feierplatz.“, erzählt er und ich lausche ihm interessiert. Schon komisch. Sie haben so viel Land, aber lassen es ungenutzt. Mom hat mir etwas von mehreren Hektar erzählt, es aber nur mit einer Flüchtigen Handbewegung abgetan, weil es sie nicht interessiert hat, im Gegenteil zu mir.
Als wir die Kuppe des Hügels fast erreicht haben, drehe ich mich noch mal kurz um, um zu sehen, wie weit das Dorf zurück liegt und erschrecke mich. Es muss ein guter Kilometer sein, der zwischen uns und dem letzten Haus liegt. Beim Weitergehen versuche ich krampfhaft die Position der Villa zu bestimmen. Liegt sie vielleicht direkt hinter dem Hügel und es kommt mir nur so weit vor? Meine Frage klärt sich von selbst, als wir die Kuppe erreichen und sich mir ein wundervoller Ausblick bietet. Zu meiner rechten erstreckt sich ein überdimensionales Gerstenfeld und zu meiner Linken Wiesen mit Wildblumen, verschiedenen Kräutern und saftigem Gras. In der Ferne, auf einer Anhöhe, kann ich die Fassade der Villa und den Pool erkennen und glaube kaum, wie riesig das Gelände hinter dem Haus ist.
Die Fensterfront in meinem Zimmer zeigt nach Südosten, von wo aus ich den Blick auf die Felder habe, hier, Südwestlich liegen die weitläufigen Wiesen und ganz im Süden, weit, weit hinten sind Baumwipfel zu erkennen, vor denen sich der Umriss einer großen, wenn nicht sogar riesigen Scheune abzeichnet. Meine Kinnlade klappt herunter, als ich meinen Blick über diese Weiten schweifen lasse.
„Pass auf, sonst fliegt dir noch eine Fliege in den Mund!“, lacht Jaden und drückt sanft meinen Unterkiefer wieder hoch.
„Oh mein Gott!“, stammle ich und meine Augen sind noch immer groß, mein Kopf versucht das ganze zu erfassen.
„Das gehört wirklich alles euch?“, frage ich geschockt und schlucke schwer. Niemals hätte ich mir so etwas zu träumen erwagt und sie lassen es einfach vollkommen ungenutzt.
„Jap, gute 80 Hektar.“, antwortet Jaden ungerührt und zuckt die Schultern, dabei fallen mir die Augen fast aus dem Kopf.
„Mom hat etwas von ein paar Hektar gefaselt, als sie es mal erwähnt hat!“, rufe ich geschockt.
„Leicht untertrieben.“, stimmt mir Jaden zu, lacht und geht auf den Holzzaun zu, der die gesamte Fläche zu umschließen scheint. Er ist in einem reinen weiß gestrichen, als wäre es erst gestern aufgemalt, so neu sieht es noch aus. Jaden steigt zwischen zwei Latten durch und wartet, bis ich ihm gefolgt bin, dann schlendern wir langsam auf das Haus zu.
„Nutzt ihr denn die Fläche sonst gar nicht?“, frage ich verwundert und sehe Jaden mit abwartendem Blick an.
„Na ja, wir, Dad und ich, also eigentlich meistens ich, machen uns einen Spaß daraus, jedes Jahr Heu zu machen. Dad verkauft es dann eigentlich immer zu einem ziemlich guten Preis, da eigentlich alle wissen, dass unseres das Beste ist, weil wir kein Gift spritzen und viele Kräuter und so drin haben. Ich nehme mir dann immer welches und bringe frisches in die Scheune. Wie gesagt, es ist mein Lieblingszufluchtsort.“, erklärt Jaden schon etwas begeisterter.
„Okay.“, murmle ich lang gezogen und betrachte den Umriss der Scheune. Sie könnte ebenso gut ein großer Stall mit Heulager sein, Platz wäre genug. Wenn Mom wirklich noch mal schwanger ist, dann wird sie mit allen Mitteln versuchen, es bei mir wieder gut zu machen, was mich bisher immer angekotzt hat, wenn sie so was versucht hat, aber dieses Mal könnte ich es zu meinen Zwecken nutzen. Ich könnte wieder reiten, ein eigenes Pferd haben, vielleicht Dad’s Pferde wieder zurückkaufen.
„Hattet ihr denn früher Tiere?“, frage ich Jaden beiläufig, klettere über einen alten, umgestürzten Baum.
„Als ich noch ganz klein war, ja.“, antwortet er kurz angebunden, weshalb ich auch nicht weiter nachfrage.
Die Wildblumen duften himmlisch und ein sanfter Wind wiegt das Gras hin und her, spielt mit den Blättern der Bäume, die vereinzelt auf den Wiesen stehen.
Plötzlich vibriert mein Handy in meiner Hosentasche. Wahrscheinlich ist das eine SMS von Mom, dass ich mich nicht so haben soll und wir nachhause kommen sollen. Trotzdem ziehe ich es heraus und entsperre den Bildschirm.
Eine neue Nachricht von einer unbekannten Nummer. Meine Augenbrauen schießen in die Höhe und meine Stirn legt sich in Falten. Von wem kann die denn jetzt bitte sein? Ich habe niemandem meine Nummer gegeben, also kann es entweder nur meine Mom getan haben, oder Lenny, was ich eher weniger glaube. Mit einem genervten Stöhnen öffne ich die SMS und beginne zu lesen.
Hey Samantha
Du kennst mich wahrscheinlich nicht, ich dich ehrlich gesagt ja auch nicht, aber deine Mutter hat mir deine Nummer gegeben. Sie meinte, dass du zu uns an die Schule kommst, wenn die Ferien vorbei sind, und wahrscheinlich in meine Klasse. Ich soll dich in den Sommerferien schon ein bisschen herumfahren und dir alles ein wenig zeigen und in der Schule dann natürlich auch.
Ich würde mich freuen, wenn du zurück schreiben würdest.
In freudiger Erwartung,
Alexander Heartford
Okaaaay, das ist eindeutig komisch und verrückt von meiner Mom.
Jaden dreht sich mit fragendem Blick zu mir um und geht rückwärts weiter.
„Noch so eine lachhafte Nummer von meiner Mom.“, erkläre ich nur matt und stecke das Handy wieder weg. „Noch etwas, wegen dem ich mir Gedanken machen muss.“
„So schlimm?“, fragt Jaden mitfühlend und ich sehe ihn verwundert an.
„Na ja, wenn man bedenkt, dass sie meine Nummer wildfremden Leuten gibt, die sie selbst nicht mal kennt, und denen dann auch noch sagt, dass sie mich hier rumführen sollen, dann ja, dann ist es so schlimm.“
Entgeistert starrt er mich an. „Das hat sie nicht getan oder?!“, fragt er ungläubig.
„Oh doch.“, seufze ich. Sie hätte genauso gut Jaden fragen können, ob er das alles macht, aber vielleicht hört sie ja jetzt ausnahmsweise mal auf meine Bitte, doch zu spät, denn jetzt will ich es auch nicht mehr. Klar, ich hab ihr oft genug gesagt, dass ich Jaden nicht ausstehen kann und es ihr auch gezeigt, aber das wäre immer noch besser als ein Wildfremder. Oder? Jaden hat schließlich Momente, in denen er nicht so unausstehlich ist, jetzt zum Beispiel.
„Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag bescheid.“, bietet Jaden an. Mit diesen Worten betritt er den Garten und ich folge ihm. Nebeneinander gehen wir am Pool entlang.
„Aber zuerst gehst du baden!“, ruft er schelmisch, während wie aus dem nichts seine Hände an meiner Hüfte liegen und er mich hochhebt, schneller als ich es überhaupt richtig realisiere, oder reagieren kann, läuft er die paar schritte zum Poolrand und setzt an, mich hineinzuwerfen. Bevor er mich von sich weg wirft, bekomme ich ihn gerade noch an seiner Hand zu fassen und reiße ihn so mit ins kühle Wasser. Für einen Moment sind um mich herum Millionen kleiner Bläschen, die mir kitzelnd über die Haut wandern und zur Wasseroberfläche steigen, bis ich es ihnen gleich tue und prustend auftauche.
„Jaden!“, schreie ich den heißen Jungen an, der jetzt neben mir auftaucht. „Sag mal geht’s noch oder spinnst du jetzt vollkommen?!“
Er lacht nur und schwimmt an den Beckenrand, wo er sich aus dem Wasser stemmt und auf dem Rand sitzen bleibt. Das Wasser tropft aus seinen Haaren auf sein durchnässtes T-Shirt. Er zieht sich das nasse Ding über den Kopf und wirft es zur Seite, während er den Kopf einmal schüttelt, um das Wasser so gut es geht aus seinen Haaren zu bekommen.
Ich bin froh, dass ich keine lange Jeans trage, sonst wäre es fast unmöglich, schwimmen zu können. Wütend schwimme ich etwas weiter in Richtung Veranda und erst als ich einige Meter von Jaden weg bin, an den Rand, um mich ebenfalls aus dem Wasser zu stemmen.
„Ach komm schon Sammy!“, ruft Jaden beleidigt, wie ein kleines Kind. Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu, stehe dann auf und gehe schnellen Schrittes zur Veranda, wo ich mich meinen triefend nassen Schuhen entledige, bevor ich ins Haus stürme.
Glücklicherweise treffe ich nicht auf meine Mom, muss jedoch gewaltig aufpassen, nicht mit meinen nassen Füßen auf dem Boden auszurutschen.
„Sammy!“, höre ich Jaden hinter mir rufen, beschleunige meine Schritte und stürme die Treppe hoch. Mein T-Shirt klebt an meiner Haut und ist mittlerweile weit hoch gerutscht. Jaden stürmt jetzt ebenfalls die Treppe hoch, ich höre es an seinen Schritten.
„Sammy warte!“, erklingt seine Stimme und scheint schon etwas näher gekommen zu sein.
„Verpiss dich!“, brülle ich über meine Schulter, sehe, dass er nur wenige Treppenstufen hinter mir ist. Wie eine wilde stürme ich den Gang entlang, als ich unser Stockwerk erreiche.
„Verdammt!“, höre ich Jaden fluchen, als ich meine Zimmertür hinter mit zuwerfe und abschließe.
Schwer atmend verharre ich kurz, stelle dann aber fest, dass ich mein gesamtes Zimmer nass mache, also entschließe ich mich, einfach unter die Dusche zu gehen. Vorsichtig öffne ich die Tür, sehe nach, ob Jaden noch auf dem Flur ist, ist er aber nicht, also trete ich hinaus und laufe schnell zur Badezimmertür. Er wird jetzt sicher nicht da drin sein oder? Klopfen will ich nicht, weil er sonst hört, dass ich da bin und wenn er nicht drin ist, hat es ja auch keinen Sinn zu klopfen, also atme ich tief durch, lege meine Hand auf den Türgriff, lausche noch mal und öffne die Tür dann langsam. Der Spalt, den ich die Tür geöffnet habe, ist gerade breit genug, um die Dusche zu sehen. Kein Jaden.
Erleichtert trete ich ein und schließe die Tür hinter mir. In der Sekunde werde ich von hinten umschlungen und an etwas Warmes gepresst. Ein erstickter Aufschrei entweicht meiner Kehle und ich schlucke hart.
„Psst! Ich bin’s.“, flüstert Jaden raus an meinem Ohr und sein heißer Atem streift über meinen Hals.
„Erschreck mich nicht immer so!“, presse ich hervor uns versuche mich aus seiner Umklammerung zu lösen, da er meine Arme an meinem Körper fixiert und jede Fluchtmöglichkeit vermeidet.
„Du platzt mal wieder einfach so ins Badezimmer herein, nicht ich.“, berichtigt mich Jaden und pustet mir sanft ins Ohr. Was zum Teufel soll das werden?
„Ich wollte nur duschen.“, stammle ich verwirrt und versuche zu erahnen, was er vor hat.
„Das wollte ich auch.“, lacht Jaden und entlässt mich aus seiner Umklammerung. Schnell entferne ich mich von ihm, bis ich bei den Waschbecken stehe und mich umdrehe. Jaden steht, nur mit Handtuch um die Hüfte vor mir, sein gut gebräunter Körper ist so sportlich und muskulös, wie ich es noch nie gesehen habe. Es kommt mir so vor, als hätte er noch nie so muskulös ausgesehen, aber doch, kann er sich nicht in zwei Tagen so sehr körperlich verändern.
„Willst du mit unter die Dusche hüpfen oder was stehst du noch hier rum?“, fragt er mich jetzt neckisch und tritt wieder einen Schritt näher, was mich zurückweichen lässt, bis ich das Waschbecken im Rücken spüre.
„Nein! Geh duschen und dann klopf nachher bei mir, wenn du fertig bist!“, stammle ich, dann reiße ich die Tür auf und flüchte in die rettende Zuflucht meines Zimmers. Hinter mir höre ich Jaden lachen, ein kehliges, amüsiertes Lachen, das mir eine Gänsehaut verursacht.
Ich bin noch immer klitsch nass, also ziehe ich mich direkt hinter der Tür auf, schnappe mir ein Handtuch von einem kleinen Stapel auf meinem Schreibtischstuhl und beginne mich abzutrocknen.
Gerade als ich nackt in meinem Kleiderschrank stehe und etwas passendes anzuziehen suche, klopft es an der Tür. Ich realisiere, dass die Kleiderschranktür offen steht und man mich von der Zimmertür sehen kann, wenn man eintritt, also hechte ich zu der Tür des Kleiderschranks, schlage diese gerade rechtzeitig zu, um zu hören, wie meine Zimmertür geöffnet wird und Jaden meinen Namen ruft.
„Du Arsch! Ich hab doch gesagt klopfen und nicht rein kommen!“, schreie ich hysterisch und greife nach dem ersten Kleid, dass mir in die Finger gerät.
„Was hast du denn, überreagier mal nicht so!“, antwortet Jaden genervt und scheint näher zu kommen.
„Verdammt, was mache ich wohl in meinem Kleiderschrank?“, brülle ich weiter und ziehe mir das Kleid über den Kopf. Mist! Es ist mein halb durchsichtiges Seidenkleid, dass ich letztes Jahr zu einer Strandparty über einem Bikini anhatte. Es bleibt keine Zeit mehr, ein anderes kleid oder eine Jacke oder Ähnliches zu suchen, denn in dem Moment geht die Tür auf und Jaden steht vor mir, mit hoch rotem Kopf. Schnell verschränke ich meine Arme über der Brust, sodass er wenigstens nicht freie Sicht hat.
„Hast du in meinem Zimmer geschnüffelt?“, fährt er mich wütend an und tritt einen Schritt näher auf mich zu.
„Nein, verflucht, ich war die ganze Zeit in meinem Zimmer und übrigens, merkst du überhaupt etwas oder bist du nur zu blöd? Hallo! Ich stehe in meinem Kleiderschrank! Was macht man da wohl? Ach, umziehen vielleicht!“, fahre ich ihn an und gestikuliere wild, bis ich realisiere, dass meine Brüste so wieder unbedeckter sind und ich schnell wieder die Arme darüber lege.
Er mustert mich einen Moment, seine wütende Maske wird für einen Sekundenbruchteil durch etwas anderes ersetzt, doch es ist zu schnell wieder weg, als dass ich es erkennen könnte.
„Ach vergiss es, belügen kann ich mich auch selbst!“, fährt er mich an und rauscht davon.
Ungläubig starre ich ihm nach und versuche zu verarbeiten, was gerade passiert ist, was heute alles passiert ist. Bei allem was die letzten Tage passiert ist, sticht mir etwas ins Auge, wie ein lästiger Dorn. Immer hier – mir widerstrebt es, sogar in Gedanken diesen Ort mein zuhause zu nennen – verhält sich Jaden mir gegenüber wie das größte Riesenarschloch, also wieso soll das nicht zusammenhängen. Irgendetwas passt ihm nicht dabei, aber was. Vielleicht ist es ja der schlichte Grund, dass Mom sich einfach zwischen ihn und seinen Dad gedrängt hat und ich so ein kleiner nerviger Kollateralschaden bin.
Schnell, ziehe ich mir das Kleid wieder aus und schlüpfe in meinen Bademantel, der auf dem obersten Regalbrett liegt, dann eile ich, mit Shampoo und Duschgel bewaffnet ins Badezimmer und schlüpfe so schnell es geht unter die Dusche. Das heiße Wasser erfrischt mich etwas und ich beruhige mich, schalte einen Gang zurück und laufe auf dem Entspannungs-Modus.
Frisch geduscht und die Haare gewaschen, ziehe ich mir ein Top und einen kurzen Rock an, binde meine Haare zu einem Pferdeschwanz und werfe mich mit meinem Handy in der Hand auf mein Bett. Unter der Dusche habe ich endlich etwas Zeit gefunden, ohne Störungen nachzudenken und bin zu dem Schluss gekommen, dass es nicht schaden kann, diesen Alexander kennen zu lernen.
Mit diesem Entschluss öffne ich nun seine Nachricht und lese sie erneut durch. Seufzend drücke ich auf den Antworten-Button und beginne zu schreiben.
Hey Alexander
Zunächst war ich ehrlich gesagt nicht sehr erfreut, dass meine Mutter meine Nummer fremden Leuten gibt und diese bittet, mir die Gegend und die Schule zu zeigen, aber ich denke ich habe mich damit abgefunden. Ich hoffe es stört dich nicht, wenn es mir lieber ist, dass wir uns zunächst etwas besser kennen lernen, bevor wir uns treffen. Na ja, ich bin nun mal von Natur aus ein misstrauischer Mensch. Also wenn du Zeit und Lust hast, dass wir mal telefonieren, dann schreib einfach zurück, dann weiß ich bescheid.
Also dann, in diesem Falle auf eine, hoffentlich gute, Einlassung mit der Situation. Aber Achtung, ich muss dich warnen. Ich bin nicht so leicht zu handhaben, wie du vielleicht denkst. :)
Bis dann,
Sammy
P.S. Ich hasse den Namen Samantha ;)
Damit pfeffere ich das Handy in eines meiner Kopfkissen und stehe auf, um anzufangen, den Kleiderschrank einzuräumen. Das ganze stellt sich als schwieriger heraus, als ich dachte. Egal wie ich die Sachen drapiere, hinlege oder aufhänge, der Schrank sieht immer gleich erbärmlich leer aus. Mit einem resignierten Seufzer gebe ich es auf, verlasse den Schrank und gehe zum Bett, irgendwie neugierig, ob dieser Alexander schon geantwortet hat, nehme ich das Handy und entsperre den Bildschirm.
1 neue Nachricht, wird mir angezeigt, also öffne ich diese erwartungsvoll und beginne zu lesen, während ich mich auf mein Bett setze.
Okay, dann Sammy :)
Der Name kommt mir bekannt vor, hab glaub ich mal jemanden mit diesem Namen gekannt.
Scheint so, als würdest du mit deiner Mutter nicht sonderlich gut klar kommen, also entschuldige ich mich mal in ihrem Namen, dass sie mir deine Nummer gegeben hat.
Stört mich nicht, mit komplizierten Menschen kenne ich mich aus, glaub mir, dass muss man an unserer Schule einfach können. ;) Ich will dir ja keine Angst machen, aber leider haben wir ziemlich viele übergroße Egos und diagnostizierte kleinwüchsige Gehirne.
Hast du denn vielleicht jetzt Zeit zu telefonieren? Ich sitze in meinem Garten und langweile mich alleine zu Tode. ^^
Ruf einfach an, wenn du Lust hast, ansonsten weiß ich bescheid.
Mein Herz rast. Ich hab keine Ahnung, wieso ich auf einmal aufgeregt bin, aber ich bin es und das ist der Grund, weshalb ich kurz inne halte, mich sammle und dann auf wählen drücke.
Es klingelt nur einmal, bevor sich eine freundliche, fröhliche und mir ungewöhnlicherweise bekannte Stimme meldet.
„Hey. Hallo. Hätte nicht gedacht, dass du gleich anrufst, von wegen erst mal besser kennen lernen.“, sagt der Typ mit der verdammt vertrauten Stimme am anderen Ende der Leitung und ich höre ein Lächeln in seiner Stimme. Fieberhaft versuche ich, die Stimme irgendwie einzuordnen, doch es gelingt mir irgendwie nicht.
„Ähm, Sammy? Hey, bist du dran?“, fragt er etwas verunsichert und ich räuspere mich schnell.
„Ja klar. Sorry. Hey.“, antworte ich schnell und erkläre dann, wieso ich so lange geschwiegen habe. „Deine Stimme kommt mir nur so verdammt vertraut vor und ich hab versucht, sie irgendwo ein zu ordnen.“
„Komisch, deine kam mir eben auch so bekannt vor.“, meint er nachdenklich. „Aber ich kann sie auch gerade nicht einordnen.“
„Egal, lassen wir das. Früher oder später wird es einem von uns einfallen, oder wir bleiben unwissend.“, sage ich entschlossen und werfe mich bäuchlings in meine flauschige Decke, ziehe mir ein Kissen heran und stütze mich darauf auf. „Also, wie ist meine Mom genau auf dich gekommen?“, frage ich neugierig.
„Das ist eigentlich ganz simpel. Sie hat sich in der Schule informiert, wer in deiner zukünftigen Klasse der Klassensprecher ist und sich dann die Nummer geben lassen. Dann, Ta da, hat mein Handy geklingelt und deine Mom hat mir deine Nummer gegeben und dann eben das gesagt, was ich dir ja schon geschrieben habe. Heute, den Tag drauf, habe ich dir dann die SMS geschrieben.“, erzählt er die kleine Geschichte der verräterischen, aber doch irgendwie fürsorglichen Mutter.
„Alles klar.“, murmle ich und tippe mir nachdenklich mit dem Finger auf die Lippen. Woher kenne ich diese Stimme nur?
„Und, was machst du gerade?“, fragt Alexander neugierig, scheint sich aber wirklich dafür zu interessieren.
„Liege nur auf meinem Bett rum.“, antworte ich. „Also so ziemlich das gleiche wie du.“
„Klingt nicht sehr spannend.“, lacht er.
„Ist es auch nicht.“, antworte ich gleichgültig. „Aber immer noch besser, als mit meiner Mom zu streiten, auf meinen Monsterstiefvater zu treffen oder mich mit meinem Stiefbruder in die Haare zu bekommen.“
„Oder irgendwelche sozialen Kontakte pflegen.“, lacht er wieder, wird daraufhin aber wieder etwas ernster und fragt: „Wie lange seit ihr denn schon hier? Ich meine, hast du denn schon Freunde gefunden?“
„Na ja, noch nicht so lange deshalb hatte ich auch noch keine Zeit, so richtig was zu machen. Gestern hat mich mein Stiefbruder mit in die Stadt genommen und an nen See runter, aber in der Stadt wäre ich vor Langeweile fast gestorben. Ich bin mir Städte irgendwie anders gewöhnt.“, erkläre ich Schulter zuckend und drehe mich auf den Rücken.
Am anderen Ende lacht er und sagt: „Ja, es dauert ein wenig, bis man sich an die Städte hier gewöhnt, hat bei mir auch ein bisschen gedauert.“
Moment mal? Er wohnt nicht schon immer hier?
„Wo hast du denn vorher gewohnt?“, frage ich, plötzlich etwas aufgeregt.
„Berliner Außenbezirk. Wieso?“ In seiner Stimme liegt Verwirrung, was mich schmunzeln lässt, jedoch nimmt es mir gerade die Luft, denn mir fällt ein, woher ich seine Stimme kenne.
„Ich denke, ich weiß, woher wir uns kennen.“, sage ich triumphierend und scheine ihn damit zu überraschen, denn er fragt sofort: „Woher denn?“
„Ich habe davor auch in einem Berliner Außenbezirk gewohnt. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich dich nicht von da kenne. Lass mich überlegen… vor zwei Jahren oder? Da bist du weggezogen. Ich kann mich noch erinnern. Alex, aus meiner Parallelklasse.“, erläutere ich meine Erkenntnisse.
„OH mein Gott! Das kann sogar sein! Die kleine Sammy, Klassenbeste und Klassensprecherin, stimmt’s?“, ruft er jetzt aufgeregt.
„Ja, nur dass sich das über die Sommerferien geändert hat, als du weg warst.“, sage ich traurig und schlucke die schon wieder aufkeimende Verzweiflung hinunter.
„Wieso? Was ist denn passiert?“, fragt er und ich kann fast schon etwas Sorge dahinter vernehmen.
„Das ist etwas, dass man eigentlich nicht übers Telefon erzählt.“, erkläre ich mit leicht erstickter Stimme, räuspere mich dann aber und frage: „Wollen wir uns irgendwo treffen?“
„Oh okay. Aber klar, gerne. Kennen lernen ist ja jetzt überflüssig.“, lacht er und ich höre, wie er bei sich eine Tür schließt. „Wo wohnst du denn jetzt?“
Ich nenne ihm den Namen des Kaffs und erkläre, wo er hinfahren soll und lege dann auf, als wir uns für in einer Stunde verabredet haben.
Flink renne ich zum Kleiderschrank, ziehe eines der neuen Kleider und meinen Bikini heraus, dazu ein süßes Paar Ballerinas und eine kleine, zum Kleid passende Handtasche. Umgezogen und mit gekämmten, offen über die Schultern fallenden Haaren, setze ich mich an meine Schminktisch und beginne Wimperntusche, etwas Rouge, Lipgloss und Make up aufzutragen und ziehe schlussendlich noch einen leichten Lidstrich. Als ich fertig bin, betrachte ich mein Werk nochmals kurz im Spiegel. Schlicht, nicht übertrieben und doch meine Augen perfekt zur Geltung gebracht.
Mit einem leichten Seufzer stehe ich auf und sehe in den großen Spiegel an meiner Zimmerwand, um mein Gesamtbild zu betrachten. Ich bin zufrieden.
Gleich werde ich auf einen alten Bekannten treffen, der mich gekannt hat, bevor das alles mit Dad war. Wie soll ich mich verhalten? Was soll ich sagen? Wie hat er sich wohl verändert? Ich glaube ich kann das nicht! Der Blick meines Spiegelbildes verändert sich, wird panisch.
Das Pochen an meiner Tür lässt mich aufschrecken und ich reagiere etwas langsam, als ich rufe: „Ja?“
„An der Tür unten ist jemand für dich Sammy!“, höre ich Jaden sagen und seufze. Zu spät einen Rückzieher zu machen. Da musst du jetzt durch Sammy!
„Ich komme.“, antworte ich und öffne die Tür, doch versperrt mir Jaden den Weg hinaus. Er lehnt im Türrahmen und mustert mich skeptisch.
„Was hast du denn vor?“, fragt er, zupft an meinem Kleid und schenkt mir ein schiefes Grinsen.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“, antworte ich, noch immer etwas verletzt, von dem Vorwurf, den er mir vorhin an den Kopf geschmissen hat.
„Wenn du mit dem Typen ein Date hast, dann glaub mir, wenn er dich verletzt, dann bringe ich ihn um!“, droht er und sein Blick wird ernst.
„Oh Mann, Jaden!“, rufe ich und schlüpfe unter seinem Arm durch. „Du kennst Alex nicht mal und drohst schon, ihn umzubringen.“
„Oh doch ich kenne den Typen! Der geht seit zwei Jahren bei uns zur Schule und ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden. Hängt immer mit den ganzen Oberschlampen rum. Die, die mit jedem ins Bett springen. Auch die Notgeilen genannt. Du gehörst da nicht dazu, also lass dich verdammt noch mal, nicht von dem Typen um den Finger wickeln. Er schleimt, wo er kann und ist aufdringlich wie Sau.“, knurrt er wütend und hält mich am Arm fest, um seine Worte zu verdeutlichen.
„Du tust mir weh, Jaden!“, sage ich und versuche seine Hand, die sich fest geklammert hat, von meinem Arm zu lösen, was mir jedoch nicht gelingt, bis er mich loslässt. „Ich kann auf mich selbst aufpassen!“
„Na wenn du dich da mal nicht täuschst.“, murmelt er vor sich hin, lässt mich aber gehen. Schnell eile ich die Treppen hinunter und rufe schon aus dem 2. Stock: „Komme schon!“
Mit einem Satz überspringe ich die letzten Stufen und rausche zur Tür. Alex lehnt im Türrahmen und grinst mich freundlich an. Sein Blick wandert über meinen Körper, dann sieht er mich bewundernd an und sagt: „Hey Sammy! Du hast dich aber sehr verändert.“
Verlegen lächle ich und sage: „Hey, du aber auch.“ Auch er sieht besser aus als vor zwei Jahren. Er ist trainierter, hat mehr Muskeln und eine tiefere Stimme. Seine Haare sind immer noch zerwühlt und das strohige Blond leuchtet stark.
„Wollen wir?“, fragt Alex und wirft einen Blick über meine Schulter, den ich nicht entziffern kann, jedoch sieht er nicht sehr erfreut aus.
Ich drehe mich um und sehe Jaden mit warnendem Blick im Durchgang zum Vorzimmer stehen. Der Blick gilt Alex, also schiebe ich misch zwischen die beiden, sage zu Jaden: „Ja, klar.“, und an Jaden gewandt: „Bis nachher.“
Damit verlasse ich das Haus und schließe die Tür hinter mir.
„Nichts wie weg von hier.“, sage ich zu Alex und lächle ihn offen an.
„Nichts lieber als das.“, antwortet er und wir gehen lachend zu seinem Cross. Misstrauisch beäuge ich das Ding, das nicht annähernd so bequem aussieht, wie das von Jaden. Ich habe Alex früher nicht besonders gut gekannt. Eigentlich wusste ich nur seinen Namen, dass er reich ist und nicht besonders gut in der Schule. Ehrlich gesagt mache ich aber lieber etwas mit einem Bekannten aus der Vergangenheit, als mich mit meiner einsamen Gegenwart zu beschäftigen.
„Wie ich sehe, hast du nen Bikini an. Etwas geplant, dass mit schwimmen oder mit Wasser zu tun hat?“, fragt er grinsend und setzt sich auf das Cross, wartet, dass ich auch aufsteige.
„Na wenn du nichts bestimmtes vor hast, dann wäre das vielleicht ne ganz gute Idee, oder?“, meine ich Schultern zuckend und setze mich hinter ihm auf das Ding. Langsam bekomme ich wirklich Übung darin mit Kleid auf diesen Dingern zu sitzen.
„Dann an den See.“, sagt er lachend und gibt Gas.
Viel zu schnell fährt er durch das Dorf und über den Plattenweg zu dem See hinunter. In den Kurven habe ich das Gefühl, dass wir gleich umkippen und als er bremst, hebt das hintere Rad ein wenig vom Boden ab. Mein Herz rast und ich merke, dass ich mich ziemlich an ihn geklammert habe. Verlegen löse ich den Griff und steige ab. Es sind viele Leute an dem Badestrand, da das Wetter gut ist und die Temperaturen angenehm.
„Hast du Badetücher dabei?“, frage ich ihn, als mir plötzlich einfällt, wie bescheuert ich doch bin, ohne Badetücher schwimmen gehen zu wollen.
„Klar.“, antwortet er und hält triumphierend ein großes Tuch in die Höhe. Mit einem nicken nehme ich zur Kenntnis, dass es nur eines ist und gehe neben ihm her, dichter ans Wasser.
„Mir ist es hier irgendwie zu voll.“, meint er plötzlich und biegt auf einen kleinen Weg ab, der, vermute ich, um den See herum führt. „Lass uns an einer anderen Stelle rein.“
„Okay.“, sage ich nur, weil ich mir ja sowieso letztes mal schon vorgenommen habe, einen anderen Platz zu suchen, wo man in das Wasser gehen kann.
Als wir ein Stück weit gelaufen sind, entschließt Alex, dass es ganz gut ist und breitet das Badetuch aus, zieht sich das T-Shirt über den Kopf und lässt sich auf das eine Ende fallen. Ich tue es ihm gleich, ziehe das Kleid aus, schlüpfe aus den Schuhen und lege meine Tasche auf meine Sachen, dann setze ich mich neben ihn.
Eine Zeit lang reden wir einfach nur über früher, bis er mich dann irgendwann fragt, wieso wir jetzt eigentlich hier her gezogen sind. Mein Kopf rattert und sucht nach einer Möglichkeit, wie ich das ganze kurz und bündig erklären kann, ohne mich selbst wieder zu sehr aufzuwühlen, was ich jedoch schnell aufgebe und sage: „Dad ist gestorben und Mom hat sich nen Arsch angelacht.“
„Oh.“, sagt Alex geschockt und sieht mich mitleidig an, was ich über alles hasse, wenn Leute das tun, wenn sie erfahren, dass mein Vater gestorben ist. „Das tut mir leid.“
„Du kannst es auch nicht ändern, also…“, sage ich einfach und betrachte die Wasseroberfläche.
„Lass uns schwimmen gehen.“, sagt er plötzlich und steht auf, zieht mich auf die Beine.
„’kay.“, murmle ich und lasse mich von ihm zum kühlen Wasser ziehen. Ohne zu zögern, springt er hinein und taucht einige Meter weiter draußen wieder auf. Ich lache, verdrehe die Augen, als er mich schelmisch angrinst und eine Ladung Wasser auf mich spritzt, und springe ihm hinterher. Sobald ich neben ihm auftauche, drehe ich mich auf den Rücken und schwimme so, während er normal neben mir schwimmt und mich intensiv beobachtet, was ich erst merke, als ich meine Augen einen Moment öffne. Schnell schließe ich sie wieder, weil er dann vielleicht wieder weg sieht, doch plötzlich spüre ich etwas an meiner Hüfte kitzeln und reiße die Augen wieder auf.
„Du bist wunderschön geworden.“, säuselt er und seine Finger streichen über meinen Bauch, der sich sofort verkrampft. Ich höre auf zu schwimmen und richte mich im Wasser auf, sodass wir uns direkt gegenüber sind. Er sieht mir tief in die Augen und legt seine Hände auf meine Hüften, als wären wir zusammen oder so. Was wenn Jaden recht hatte? Panik kommt wieder auf. Was, wenn Alex früher auch schon ein Arsch war und sich das nur noch verschlimmert hat?
„Lass…“, stammle ich und versuche von ihm weg zu kommen, doch er zieht mich nur näher an sich und grinst frech.
„Ach komm schon Sammy. Du willst das doch auch.“, schnurrt er und zieht mich ganz an sich, umschlingt meinen Oberkörper und drückt seine Lippen auf meine.
Panisch versuche ich mich von ihm zu lösen, ihn weg zu drücken und gleichzeitig nicht unter zu gehen, wobei mir ersteres nach einer gefühlten Ewigkeit gelingt.
„Spinnst du?!“ schreie ich ihn an, hebe meine Hand und verpasse ihm eine schallende Ohrfeige, die ihn anscheinend etwas aus dem Konzept bringt, denn ich schaffe es, mich von ihm los zu reißen und schwimme schnell zurück ans Ufer, wo ich sofort aus dem Wasser steige und mir mein Handy schnappe. Er ist nicht weit hinter mir, also beeile ich mich, die SMS zu schicken.
Hattest recht. Sind am See unten, bitte hilf mir! Nebenbadestelle.
Schnell werfe ich mein Handy zurück in die Tasche, sodass es nur aussieht, als hätte ich mein Make up überprüft und werde im nächsten Moment schon von hinten gepackt. Alex wirbelt mich am Arm herum und sieht mich mit hoch rotem Kopf an.
„Sag mal spinnst du vollkommen?“, brüllt er mich an und packt fester zu.
„Lass mich sofort los, du ekliges Schwein!“, zische ich gefährlich und versuche mich frei zu bekommen.
„Das wirst du wieder gut machen!“, knurrt er und schubst mich, so dass ich auf dem Hintern lande und das Badetuch herunter fällt.
Geschockt starre ich den Typen an, der höhnisch grinst, sich jetzt über mich beugt und mich zu Boden drückt, seine schleimigen Lippen wieder auf meine Drückt. Ich versuche mich zu wehren, schlage mit meinen Händen nach ihm, bis er diese Packt und mit einer Hand festhält. Keine Chance, mich selbst zu befreien, da er mit seinem ganzen Gewicht über mir liegt, mich auf den harten Boden presst. Schreien ist unmöglich, da er mich durch seine erzwungenen Küsse zum Schweigen bringt.
Ich spüre, wie seine freie Hand langsam zum Verschluss meines Bikinis Wandert und winde mich unter ihm hin und her, versuche, ihn weg zu stoßen, von mir herunter zu rollen, doch kein Erfolg. Vollkommen verzweifelt muss ich ihn gewähren lassen, mir den Bikini zu öffnen und auszuziehen. Ich sehe nur, wie er das Oberteil einige Meter von uns weg schmeißt, wo es an einem Ast hängen bleibt. Gierig wandert seine eine Hand jetzt zu meinen Brüsten. Noch einmal stemme ich mich mit voller Macht gegen ihn, beiße ihn in die Unterlippe und nutze die Chance, um meine Hände zu befreien. Sein Gesicht wird hoch Rot und er starrt mich wütend an.
„Das ging zu weit!“, faucht er, drückt mich wieder fester auf den Boden und hakt einen Finger in meinen Bikinislip. Meine Augen weiten sich geschockt, als mir klar wird, was er vor hat und ich würde mich am liebsten selbst Schlagen, dass ich nicht auf Jaden gehört habe.
In diesem Moment brüllt, eine mir nur zu bekannte und jetzt freudig erwartete, Stimme hinter mir: „Nimm deine verdammten Finger von ihr du verdammter Mistkerl!“
Alex schreckt hoch und seine Augen weiten sich kurz, dann verzieht sich sein Gesicht zu einer Grimasse aus Wut.
„Wann hast du kleine Schlampe diesen Idioten angerufen?!“, schreit er mich an und drückt mich noch fester zu Boden. Schmerzerfüllt wimmere ich und Tränen treten mir in die Augen. Mit einer einzigen Bewegung reißt Jaden ihn von mir herunter, dreht ihn zu sich um und verpasst ihm eine. Alex’ Kopf fliegt zur Seite und er fasst sich schnell an die Nase, die bereits zu bluten beginnt.
„Verpiss dich!“, brüllt Jaden und sieht dabei aus, wie ein Racheengel, der mir zur Rettung geeilt ist. Alex’ zieht den Schwanz ein, packt das Badetuch und sein T-Shirt und rennt davon.
„Wieso habe ich dich nicht einfach zuhause ans Bett gefesselt?“, murmelt Jaden vor sich hin, als er das Bikinioberteil aus dem Baum fischt und mir zu wirft, während er umgedreht wartet, bis ich es wieder angezogen habe.
Leise rinnen mir die Tränen über die Wangen, doch als Jaden das sieht, schließt er mich in eine warme Umarmung und flüstert mir beruhigend zu: „Ich bin ja da.“
Und genau das ist der Grund, weshalb ich erst recht anfange zu weinen. Es hätte nicht so weit kommen dürfen, dass er kommen muss.
„Komm ich bring dich nachhause.“, flüstert er mir leise ins Ohr und führt mich einen kleinen Trampelpfad eine Böschung hoch. Sein Motorrad steht fahrbereit da und ich schluchze bei dem rettenden Anblick. Jaden hat mich vor einer Vergewaltigung gerettet.
Als wir endlich zuhause sind, bin ich in so schlechter Verfassung, dass mich Jaden hoch hebt und hinein trägt, alle Treppen nach oben. Mom ist nicht zuhause, George noch arbeiten, also sind wir alleine. Sanft pustet mir Jaden die Haare aus dem Gesicht und legt mich vorsichtig auf mein Bett, zieht mir die Schuhe aus und nimmt mir die Tasche ab. Nachdem er beides weg gelegt hat, kommt er wieder zu mir und legt sich neben mir aufs Bett, nimmt mich einfach nur in den Arm. Wie von selbst schmiegt mein Kopf sich in seine Halsbeuge und irgendwie werde ich an heute morgen erinnert, wo er mich aus meinem Nervenzusammenbruch gerettet hat. Jetzt tröstet er mich, wegen einer fast Vergewaltigung, nur weil ich nicht auf ihn hören konnte.
„Danke Jaden, für alles.“, flüstere ich und sehe ihn mit verschleiertem Blick an. Mein Herz rast und meine Lungen schmerzen, von dem vielen Weinen.
„Das ist selbstverständlich Schwesterchen.“, antwortet er mit einem wundervollen Lächeln auf den Lippen.
Kopfschüttelnd stemme ich mich etwas auf und schlucke die Tränen hinunter, um ihn klarer sehen zu können, bevor ich ausdrücklich sage: „Nein, ist es nicht. Nicht jeder wäre sofort angetanzt, um der kleinen, dummen Stiefschwester zu helfen, die einfach nicht auf seinen Rat hören kann. Also spiel das, was du für mich getan hast, nicht runter!“
Er nickt und zieht mich einfach wieder zu sich runter, was ich ohne weiteres geschehen lasse. Es tut mir nun mal gut, er tut mir gut, und im Moment kann ich es mir nicht leisten, etwas, das mir gut tut, nicht anzunehmen.
„Ich kann nur einfach nicht verstehen, wieso meine Mom so dumm und naiv ist und meine Nummer irgendeinem Typen gibt, den sie selbst kein bisschen kennt.“, murmle ich und schmiege mich etwas dichter an ihn, worauf hin er die Decke nimmt und sie über uns zieht, da er annimmt, dass mir kalt ist, was auch stimmt, mir aber erst jetzt auffällt. Zitternd kuschle ich mich unter der Decke an den warmen Körper, der neben mir liegt, schließe kurz die Augen.
Eigentlich bin ich selbst schuld, dass es so weit gekommen ist. Ich habe Alex einfach blind vertraut, weil ich dachte, dass ich ihn gut genug kenne, um zu wissen, dass er nett ist, doch ich wusste nichts! Wie dumm und naiv ich selbst bin! Früher habe ich ihn kaum gekannt. Ich wusste zwar, wenn man seinen Namen nannte, von wem man spricht, doch hätte ihn niemals beschreiben oder charakterisieren können. Wie habe ich mich so darauf verlassen können, dass er ungefährlich ist, nur weil er vor zwei Jahren mal in meinem Jahrgang an der gleichen Schule war?
„Ich bin schuld daran.“, stammle ich verzweifelt und sehe zu Jaden auf. „Ich bin an alledem schuld, weil ich einfach dumm und naiv bin!“
„Nein, bist du nicht!“, flüstert Jaden, streicht mir eine Strähne hinters Ohr und zieht mit der anderen hand Kreise auf meinem Rücken. Die Kälte und das Zittern sind aus meinem Körper gewichen und ich spüre nur noch die angenehme, die Jadens Körper ausstrahlt.
„Doch bin ich.“, beharre ich und unterdrücke einen frustrierten Aufschrei. „Ich habe auf meine Vergangenheit vertraut und dafür die Abrechnung bekommen.“
„Deine Vergangenheit?“, fragt Jaden verwirrt und sieht mich fragend an.
„Er ist vor zwei Jahren in meine Parallelklasse gegangen. Ich habe ihn nicht richtig gekannt, aber hab ihm jetzt trotzdem vertraut. Ich glaube ich war einfach irgendwie froh, jemanden aus meinem alten Leben zu sehen.“, erkläre ich frustriert und fahre mir mit der Hand durch die Haare.
„Mach dich nicht selbst so fertig.“, weist er mich sanft zurecht und streicht mir beruhigend über die Nase, was mich leicht kitzelt.
„’kay.“, flüstere ich atemlos, da mir plötzlich die Nähe bewusst wird. Voll und ganz liege ich an Jaden gekuschelt und er hat mich mit seinen Armen umschlossen. Sein Gesicht wirkt so nah und ich verspüre den Drang, ihn zu küssen, mehr als dass ich an etwas anderes denken kann.
Nein! Halt! Das geht nicht! Es ist Jaden! Mein Stiefbruder! Schnell versuche ich mich zusammen zu reißen und löse mich dann aus seinen Armen und aus der Decke.
„Ich geh mich duschen und schrubbe meinen Mund, bis an Stelle der Lippen nur noch blutige Striche sind.“, sage ich und gehe lächelnd zur Zimmertür.
„Die Bakterien kannst du gerne abwaschen, aber lass noch ein wenig deiner Lippen übrig!“; meint er schelmisch und verschränkt die Arme hinter dem Kopf, scheint sich in meinem Bett einzunisten. Mich überkommt ein Glücksgefühl, dass ich nicht missen will und ich will heute nicht mehr alleine sein, also sage ich noch zu ihm, als ich an der Tür erneut stehen bleibe: „Bitte bleib heute bei mir, wenigstens so lange, bis ich eingeschlafen bin!“
Zuerst sieht er mich erstaunt an, nickt dann aber verständnisvoll und steht ebenfalls auf.
„Ich geh nur die Zähne putzen und zieh mir meine Schlafsachen an.“, erklärt er mir, was ich mit einem fröhlichen und dankbaren Lächeln zur Kenntnis nehme.
„Bis gleich.“, murmle ich verlegen und verschwinde im Badezimmer. Geschickt schlüpfe ich aus meinen Sachen und steige unter die Dusche.
Erst als ich aus dem heißen Strahl heraus trete, bemerke ich, dass ich mir keine frischen Sachen mitgenommen habe. Mit einem Seufzer trockne ich mich ab und schlinge mir notdürftig ein Handtuch um den Körper. Es bedeckt nicht gerade besonders viel, aber es reicht immerhin über den Hintern und die Brüste. Nachdem ich das Fenster im Badezimmer geöffnet habe, um den Dampf hinaus zu lassen, schlüpfe ich auf den dunklen und stillen Flur.
Zu meinem Glück ist es in meinem Zimmer ebenfalls Dunkel, weshalb ich annehme, dass Jaden noch etwas zu Abend isst oder sich noch umzieht. Von dem Schreibtischstuhl ziehe ich mein bereitgelegtes Seidennachthemd und aus der Kommode fische ich einen Spitzenslip in der selben Farbe. Ja ich habe eine Vorliebe für Reizwäsche, lacht mich aus oder verurteilt mich, aber ich, das brave Mädchen, habe nun mal diese Vorliebe. Okay, zugegeben, so brav bin ich nicht mehr, aber nuttig oder billig bin ich auf keinen Fall. Nur weil ich mich aufreizend anziehe, heißt das noch lange nicht, dass ich jeden ran lasse. Um ehrlich zu sein bin ich sogar noch Jungfrau. Das heißt jedoch nicht, dass es nicht schon mit dem einen oder anderen Jungen heiß her gegangen ist.
In weichen Wellen fließt das Seidenkleid über meinen Körper und ich erschaudere unter dem wundervollen Gefühl, dann schlüpfe ich in den Slip und werfe mich auf mein Bett.
Meine Zimmertür steht einen Spalt breit offen, weshalb ich auch hören kann, wie unten die Haustüre zugeknallt wird und meine Mutter nach Jaden und mir ruft. Da ich keine Antwort hören kann, vermute ich, dass Jaden unten in der Küche ist und mit ihr redet. Hoffentlich sagt er ihr, dass ich meine Ruhe haben will von ihr. Das Letzte was ich jetzt wollen würde, ist ein Gespräch mit meiner Mutter.
„Ist gut Dad, ich werd es ihr schon sagen. Schlaft gut!“, höre ich Jaden rufen, der anscheinend gerade die Treppen herauf kommt.
„Was sollst du mir sagen?“, frage ich neugierig, als er die Tür etwas weiter auf schiebt und in das dunkle Zimmer tritt.
„Dass deine Mom dir mal wieder Infoblätter über die Schule mitgebracht hat und über die Gegend und so.“ Er macht eine kurze Pause und ich merke, dass da noch mehr kommt, also bleibe ich leise und starre abwartend seine dunkle Silhouette an. „Deine Mom will dich bei der Volleyball Mannschaft der Schule anmelden, weil sie will, dass du wieder mehr soziale Kontakte knüpfst.“
Mit offenem Mund starre ich ihn an und würde am liebsten das, was er gesagt hat, wieder in seinen Mund stopfen und es vergessen. „Nicht ihr Ernst oder?!“, frage ich ihn entgeistert und stehe auf.
„Doch mein Ernst.“, antwortet er, geht zur Tür, wo der Lichtschalter ist und knipst das Licht an. Sein Blick wirkt überrascht, als er mich wieder ansieht, und wandert einmal über meinen ganzen Körper, was mich ganz verlegen macht.
„Hast du dir das extra für mich angezogen?“, fragt er neckisch, wofür ich ihm einen Klaps auf den Arm gebe und sage: „Idiot!“
Ich drehe mich um und werfe mich wieder auf mein Bett, will nicht länger über Mom und ihre vielen Flops nachdenken.
„Soll ich wirklich bei dir bleiben?“, fragt Jaden noch mal skeptisch, da er anscheinend vermutet, dass ich ausraste, sobald er sich zu mir aufs Bett legt.
„Ja, bitte!“, sage ich und kuschle mich zur Verdeutlichung unter die Bettdecke.
„Du hast es so gewollt.“, meint er grinsend, legt sich neben mich und schlüpft, nach kurzem zögern, auch zu mir unter die Decke.
„Wie spät ist es überhaupt?“, frage ich und knipse das Licht mit dem Lichtschalter über meinem Bett aus.
„Vorhin, als ich unten in der Küche auf die Uhr geschaut habe, war es kurz nach zehn.“, meint er und legt sich ein Kissen zurecht.
„So spät schon?“, frage ich verwundert und murmle dann: „Kein Wunder, dass ich so müde bin.“
„War wieder ein anstrengender Tag für dich.“, bestätigt Jaden und lächelt vorsichtig. Für ihn ist das alles anscheinend genau so komisch, wie für mich. Vorher immer Streit und alles andere als befreundet und jetzt liegt er in meinem Bett, hat mich zweimal an nur einem Tag beschützt und wärmt mich, da mir schon wieder kalt ist. Oder hat die Gänsehaut etwa einen anderen Ursprung?
Plötzlich fällt mir der Kuss gestern am See wieder ein und ich werde neugierig, wobei auch mein Herz anfängt, etwas schneller zu pochen.
„Was war das eigentlich gestern?“, frage ich vorsichtig und weiche seinem Blick etwas aus. „Der Kuss, meine ich.“, murmle ich noch und werde rot, was er zum Glück nicht sehen kann, da es zu dunkel ist.
Eine Weile ist es ganz still und ich kann nur seinen regelmäßigen Atem und mein viel zu schnell schlagendes Herz hören.
„Ach das. Na ja… ich weiß es selbst nicht so genau.“, stammelt der sonst so selbstsichere Macho. „Ich habe irgendwie aus der Situation heraus gehandelt.“, versucht er sich weiter zu erklären, was mir ein Lächeln entlockt. „Aber ich meine, du hast dich nicht gewehrt und“ Ich lege ihm meinen Finger auf die Lippen und bringe ihn so zum Schweigen.
„Du musst dich mir nicht erklären Jaden.“, flüstere ich und kann am Ende ein Gähnen nicht unterdrücken. „Aber jetzt bin ich müde. Morgen will ich zur Polizei. Alex soll nicht einfach so davon kommen.“, murmle ich schlaftrunken, kuschle mich in meine Kissen und ziehe seinen Arm schützend über mich, wie eine zweite Decke.
„Gute Nacht.“, höre ich ihn noch murmeln, bevor ich ins Land der Träume abdrifte.
In meinen Träumen liege ich in den Armen des selben Jungens, in denen ich auch eingeschlafen bin, mit dem kleinen Unterschied, dass wir beide nur in Unterwäsche da liegen und Jadens Hände meinen Körper erforschen.
Ich kann nicht einschlafen, auch wenn ich wollte. Sammys warmer und ruhiger Atem kitzelt mich am Hals, da sie im Schlaf ihren Kopf in meine Halsbeuge gekuschelt hat und sich geradezu an mich klammert. Kurz bevor sie eingeschlafen ist, hat sie noch meinen Arm über sich gelegt.
Da sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehe ich ihre entspannten und zufriedenen Gesichtszüge und streiche sanft mit meiner Hand über ihre Wange. Sofort kuschelt sie sich hinein und seufzt wohlig im Schlaf. Ich kann ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken. Irgendwie fasziniert mich dieses Mädchen das hier in meinen Armen liegt. Im einen Moment kann sie absolut kalt, abweisend und fies sein und im nächsten Moment ist sie einfühlsam, emotional, zurückhaltend und vorsichtig. Es gibt Momente, wo ich glaube, dass sie sich ihrer Schönheit und der perfekten Figur bewusst ist, doch manchmal ist sie so unsicher und scheint mit sich und ihrem Leben uneins zu sein.
Heute hätte ich sie nicht mit diesem Arsch mitgehen lassen dürfen. Ich hatte schon so ein schlechtes Gefühl, aber habe sie trotzdem nicht zurück gehalten. Ich wusste doch, dass der Typ es bei jeder versucht. Ich hatte nur keine Ahnung, wieso Sammy nicht auf mich gehört hat und ihm mehr vertraut hat als mir. Als ich ihre SMS bekommen habe, bin ich sofort aufgesprungen, auf mein Motorrad gesprungen und bin schneller als je zuvor zum See runter gerast.
Glücklicherweise konnte ich mir schon denken, wo sie waren und habe sie so auch schnell gefunden, oder besser gesagt, den verfickten Deppen gehört. Am liebsten hätte ich ihm mehr als nur eine verpassen wollen, doch ich musste mich um Sammy kümmern.
Wenn ich jetzt an ihren Anblick denke, dann würde ich sie am liebsten sofort in meine Jacke wickeln und dort weg bringen und gleichzeitig meine Sachen vom Körper reißen und sie Küssen, wie sie es noch nie erlebt hat.
Verdammt, was macht dieses Mädchen nur mit mir. Immer wieder muss ich mich daran erinnern, dass sie meine Steifschwester ist und dass es falsch wäre wenn wir zusammen kommen, dass es falsch ist, das zu wollen, was ich will.
Neben mir murmelt Sammy etwas im Schlaf, das nicht zu verstehen ist. Das einzige, was ich verstehe, ist mein Name. Träumt sie etwa von mir? Ist es ein guter Traum oder ein schlechter? Was, wenn sie mich gar nicht hier haben will? Okay, das kann nicht sein, so sehr, wie sie mich umklammert.
Mein Handy, das ich auf ihrem Nachttisch abgelegt habe, vibriert und kündigt eine SMS an. Um diese Uhrzeit kann das nur einer der Jungs sein. Seufzend nehme ich vorsichtig meinen Arm von ihr, drehe mich nur ganz leicht, um sie nicht zu wecken und dass sie nicht von mir ablässt und greife dann das Handy.
Damen fragt mich, was ich gerade mache, also tippe ich als antwort: Schlafen!, und lege das Handy dann wieder weg. Klar, um diese Uhrzeit bin ich sonst auch noch nicht im Bett, aber für Sammy würde ich so einiges tun.
Bei ihr kann ich einfach nur darauf vertrauen, dass sie das weiß und mich nicht sofort so abweisend behandelt, wenn es ihr schlechter geht. Manchmal habe ich ein wenig das Gefühl, als mache sie mich und meinen Dad für all ihre Probleme verantwortlich und will sie dann nur rütteln und anschreien, dass ich nichts dafür kann.
Hätte ich sie kennen gelernt, bevor unsere Eltern sich gekannt haben, dann hätte ich mich sicher sofort an sie ran gemacht, aber jetzt geht das nicht und ich würde auch nicht wollen, dass sie eine meiner Bettgeschichten wird. Wenn zwischen uns etwas wäre, dann würde ich nur wollen, dass es ehrlich ist. Die Jungs würden mich dafür jetzt wahrscheinlich auslachen und Nick würde sagen, dass es mich so richtig erwischt habe, aber ich will jetzt nicht darüber nachdenken. Jetzt will ich einfach nur die Nähe zu Sammy genießen.
Bevor ich einschlafen kann, nehme ich mir vor, auf jeden Fall zu warten, ob sie von sich aus etwas macht, ansonsten würde ich mich eben in den Alltag einfinden und in der Schule meinem Ruf keinen Schaden zufügen. Damit gebe ich mich zufrieden und höre auf, weiter darüber nachzudenken.
Ich weiß nicht wie lange ich ihrem Atemrhythmus zuhöre, aber irgendwann überkommt auch mich eine träge Müdigkeit und zieht mich mit in einen traumlosen, glücklichen Schlaf.
Als ich aufwache, scheint die Sonne in mein Zimmer und etwas Schweres liegt auf mir. Verwundert drehe ich mich um und schrecke etwas zusammen. Ich habe schon ganz vergessen, dass Jaden bei mir geschlafen hat. Gleichzeitig fällt mir auch wieder mein Traum ein und ich werde rot. Natürlich muss Jaden genau in diesem Moment seine Augen öffnen und mich verschlafen ansehen.
„Hast du etwa von mir geträumt oder wieso bist du so rot?“, fragt er grinsend und nimmt seinen Arm von mir, um sich mit der Hand über die Augen zu fahren.
„Nein.“, antworte ich viel zu schnell, was mich natürlich verrät und ihm somit ein vergnügtes Lachen entlockt.
„Schön, dass du wenigstens Spaß hast.“, murre ich und schlage die Decke zurück.
„Hey!“, ruft Jaden und zieht die Decke wieder über uns. „Ich wollte eigentlich noch ein wenig liegen bleiben.“
„Und ich wollte aufstehen und zur Polizei fahren. Was ist wohl wichtiger?“, erwidere ich, strecke ihm die Zunge raus und schlüpfe aus dem Bett.
„Okay, du hast gewonnen.“, ergibt sich Jaden, steht ebenfalls auf und gähnt, während er sich ausgiebig streckt. „Bin schnell im Badezimmer, bis nachher beim Frühstück.“, verabschiedet er sich und schlendert auf den Flur.
„Bis nachher.“, murmle ich, als er es schon längst nicht mehr hören kann, dann gehe ich in meinen Kleiderschrank und ziehe mir Hose und T-Shirt an, um mir anschließend die Haare zu kämmen und die Schminkreste von gestern zu entfernen.
Ich will Mom und George nicht begegnen, also lausche ich auf dem letzten Treppenabsatz, ob ich die beiden irgendwo hören kann, doch außer Jaden, der eben an mir vorbei in die Küche gegangen ist, ist niemand im Haus. Mom ist wahrscheinlich einkaufen und George ist sowieso schon seit ein paar Stunden bei der Arbeit, da es schließlich schon fast Mittag ist.
„Das Haus kann so friedlich sein, wenn unsere Eltern nicht da sind.“, sage ich an Jaden gewandt, als ich die Küche betrete. Dieser nickt nur, hält mir eine dampfende Tasse hin, die ich erfreut entgegen nehme, und sagt: „Und wenn wir uns nicht streiten.“
„Stimmt.“, bestätige ich lächelnd und setze mich an den Frühstückstisch, kippe mir etwas Müsli in eine Schale und gieße Milch dazu.
„Was willst du der Polizei erzählen?“, fragt mich Jaden beiläufig, während er sich ein Brötchen beschmiert.
„Die Wahrheit.“, antworte ich schlicht und beginne zufrieden mein Müsli zu essen.
Jaden fährt mich zur Polizei und geht mit hinein, um auch eine Aussage zu machen. Mir entgeht nicht, dass ein älterer Polizist Jaden misstrauisch beäugt von seinem Platz an einem Schreibtisch aus. Wahrscheinlich kennen sie Jaden hier auf dem Revier schon etwas besser.
Sobald wir fertig sind, beschließt Jaden spontan, mich mit zum Sportplatz zu nehmen, wo er sich mit den Jungs und ein paar anderen aus der Schule für eine Runde Beach Volleyball verabredet hat. Widerwillig erkläre ich mich bereit dazu, mit zu kommen, jedoch will ich aus Protest nicht mitspielen. Die Genugtuung will ich Mom nicht tun, dass ich wirklich ins Volleyballteam der Schule gehe. Ich weiß, dass ich verdammt gut in diesem Sport bin und weiß auch, dass sie mich im Team haben wollen würden, sobald sie es wüssten. Also setze ich mich in den Sand, mache den Schiri und zähle die Punkte mit.
Nach jedem Spiel fragen sie mich, ob ich nicht doch eine Runde mitspielen will, was ich jedes mal verneine.
Anschließend fahren wir nachhause, wo ich mir ein gutes Buch schnappe und mich nach unten an den Pool verziehe, während Jaden duscht und sich dann zu mir gesellt und etwas Musik hört.
Die nächsten paar Wochen vergehen eigentlich immer im gleichen Rhythmus. Aufstehen, Frühstück, eine runde schwimmen, lesen oder Musik hören, Mittag essen, wieder schwimmen, mit Jaden und den Jungs an den See oder zum Volleyballplatz, wo ich immer den Schiri mache und mich einfach nicht weich klopfen lasse, nachhause, duschen, schlafen. Ich telefoniere jeden Abend mit Lenny, halte sie auf dem Laufenden und höre ihr zu, wenn sie es braucht. Bei ihr läuft es immer noch nicht besser. Ihre Eltern streiten sich immer noch, das Sorgerecht ist noch nicht klar und ihr Ex will sich immer noch bei ihr einschleimen. Es tut mir gut, mich nicht immer nur mit meinen eigenen Problemen herum schlagen zu müssen, die größtenteils mit Mom und George zu tun haben. Bisher habe ich es geschafft, George die ganzen Sommerferien über immer nur beim Mittagessen oder am Wochenende zu begegnen, aber dann war die Stimmung zwischen uns auch nicht gerade so prickelnd. Zwischen mir und Mom ist die Beziehung sehr angespannt, sie fühlt sich angeblich unendlich schuldig, wegen dem, was sie mit Alex angerichtet hat und versucht es um alles in der Welt wieder gut zu machen, hört jedoch gleichzeitig nicht auf, mir wegen Volleyball Druck zu machen und mich dazu zu drängen, neue Leute kennen zu lernen.
Hin und wieder stelle ich beiläufig Fragen zu der alten Scheune und zu ihrer Nutzung. Ich will wieder ein Pferd und das werde ich mir von Mom oder von George – ich kann seinen Namen nicht einmal denken, ohne zu würgen – ganz sicher nicht ausreden lassen.
Mittlerweile verstehe ich mich mit Jadens Gang schon sehr gut, kenne alle ziemlich gut und kann mich auch auf sie verlassen. Nebenbei bemerkt, hege ich bei einigen von ihnen auch den Verdacht, dass sie mich insgeheim gerne ins Bett bekommen wollen. Mich stört es nicht. Ich liebe es, die anderen beim Volleyball spielen zu beobachten und manchmal juckt es mich selbst in den Fingern, eine Runde mit zu spielen, was ich mir selbst nicht erlaube.
Zwischen mir und Jaden ist es nie besser gelaufen. Ich würde unsere Beziehung als freundschaftlich bezeichnen, wenn man mich fragen würde. Wir lachen zusammen, er tröstet mich, wenn mich sein Dad mal wieder auf 180 bringt oder meine Mom meine Nerven bis aufs äußerste strapaziert, er zeigt mir die Gegend und erzählt mir Geschichten aus seiner Kindheit und über seine Mom, während ich ihm von meinem Dad und meinem früheren Leben erzähle. Wenn ich ihm von der Schule erzähle und wie gut ich war, dann werde ich verlegen und er scherzt herum, nennt mich seinen kleinen Streber und zerwuschelt mir die Haare. Ich weiß nicht was ich von meinen Gefühlen halten soll und was ich überhaupt fühle. Also alles so wie immer.
Jetzt ist es nur noch eine Woche, bis die Schule beginnt und meine Nervosität steigert sich ins unermessliche. Jaden versucht mich immer zu beruhigen, wiederholt immer wieder die Tatsache, dass Alex der Schule verwiesen wurde und dass ich schnell Freunde in meiner Klasse finden würde. Ich will ihm ja glauben, vertraue meinem Vermögen, soziale Kontakte aufzubauen, jedoch noch nicht wieder vollkommen. Früher hatte ich keine Probleme damit, neue Leute kennen zu lernen, zwei Jahre lang ging nichts und ich habe den Kontakt zu fast allen Freunden aufgegeben und nun, nun bin ich quasi Teil von Jadens Clique und sehe einer Zukunft mit mehr Freunden, Wohlstand und leider auch Problemen entgegen.
Immerhin hat sich Mom’s Schwangerschaft als Irrtum herausgestellt, was mich derartig erleichtert hat, dass ich Jaden direkt darauf um den Hals gefallen bin und mich gewaltig bremsen musste, um ihn nicht übermütig auf den Mund zu küssen.
Ich kann zwar nicht behaupten, dass alles gut ist, aber es hat sich doch zum Besseren gewandt.
„George! Was hast du verdammt noch mal an meiner Wäsche zu suchen?!“, brülle ich den Mann an, der vor mir steht und mein Kopf läuft dabei hochrot an. Seine Hände stecken in einem Wäschekorb, in dem nur Sachen von mir sind, größtenteils nur Unterwäsche, und seine ganze Mimik und Gestik zeigt, dass er sich ertappt fühlt.
“Was ist denn hier los?“, fragt meine Mutter, die ebenfalls gerade das Wäschezimmer betritt.
„I-ich…“, stottert Georg vor sich hin, hält den Kopf beschämt gesenkt und verkreuzt die Hände ineinander. „Er hat in meiner Wäsche gewühlt.“, fauche ich, reiße den Wäschekorb an mich und stürme aus dem Raum und die Treppen nach oben.
Diese Wohngemeinschaft, die sich Familie schimpft, ist einfach unglaublich. Zum gefühlten hundertsten Mal in diesen Sommerferien habe ich einen Wutanfall. Ich habe schon Angst, dass das zur Gewohntheit wird.An meiner Zimmertür klopft es leicht, dann öffnet sie sich einen Spalt und Jaden schiebt sich herein.
„Was war denn eben schon wieder los? Es wird glaub ich langsam zur Gewohnheit für dich, auszurasten, wenn du auf meinen Vater triffst.“, meint er lachend und wirft sich auf mein Bett, starrt die Zimmerdecke an.
„Das befürchte ich leider auch.“, erwidere ich, stelle den Wäschekorb im Kleiderschrank ab und schließe ihn dann. Mit einem Lächeln setze ich mich im Schneidersitz neben ihn.
„Aber ich hab ja dich, du beruhigst mich ja sofort wieder. Pass mir ja auf, dass du mir in der Schule nicht abhanden kommst! Es kann sein, dass ich dich da auch manchmal brauchen werde, wenn alle so aufgeblasen sind, wie dein Dad.“
Jaden lacht nur, dreht sich zu mir und stupst mir auf die Nase: „Du bist stark, du wirst es schon schaffen und in den Pausen hast du ja mich und die Jungs.“Bevor ich es verhindern kann, huscht ein Lächeln über meine Lippen.
„Immerhin etwas.“, murmle ich und starre die Sachen auf meinem Schreibtisch an. In genau einer Woche, um diese Zeit, werde ich mich durch meinen ersten Schultag quälen und mir wahrscheinlich wünschen, dass es schnell wieder vorbei geht. Neben einem Stapel Schulbücher, die uns schon zugeschickt wurden, stapeln sich Blöcke und verschiedenste Lineale, daneben quillt meine alte Federtasche über und spuckt Scheren, Füller und Radiergummis aus. Ich habe noch so einiges zu tun, wenn ich Montag nicht mit totalem Durcheinander in die Schule will. Die Umhängetasche, die ich für die Schulsachen verwende, hängt, schon bereit für ihre Verwendung, an dem Schreibtischstuhl.Ich seufze gerade betrübt auf, als mein Handy aufblinkt und eine Nachricht verkündet.
„Wenn man schon von ihnen spricht.“, murmle ich und öffne die Nachricht von Damen.
Kommt ihr auch ein bisschen zum See runter? Die Jungs haben etwas Alk besorgt und wir wollen die Sommerferien noch mal auskosten.
„Sie wollen, dass du zum See runter kommst, weil sie ein bisschen Party machen wollen.“, erkläre ich Jaden, der mich mit einem fragenden Blick bedenkt.
„Das glaub ich dir nicht, weil sie dann mir schreiben würden.“, erwidert er lachend und nimmt mir flink das Handy ab. Ich versuche es wieder an mich zu reißen, doch hält er mich mit dem einen Arm von sich fern und hält das Handy weit weg, während er die Nachricht selbst noch mal liest.
„Was sag ich. Sie wollen nicht, dass ich komme, sondern wir beide.“, triumphierend grinst er mich an und reicht mir das Handy wieder.
„Ich trinke nicht.“, erinnere ich ihn nur lustlos und stecke das Handy weg.
„Ach komm schon, du musst ja nichts trinken, du kannst doch auch einfach mitkommen und ein wenig schwimmen oder so.“ Ich kann in seinen Augen erkennen, dass er sich mit einem „Nein“ nicht zufrieden geben würde, also nicke ich und seufze ergeben: „Wenn es denn sein muss.“
„Yes!“, ruft er triumphierend und grinst sein wundervolles Grinsen. „Ich geh mich schnell umziehen. In 10 Minuten unten am Motorrad. Bis gleich.“
Ich kann nicht mal antworten, da ist er schon aus meinem Zimmer geschlüpft und hat die Tür hinter sich geschlossen. Seufzend nehme ich ein Kleid und meinen Bikini aus dem Schrank und beginne mich auszuziehen. Lustlos schleudere ich meine Hose in eine Ecke und werfe meinen Slip in den Korb mit der dreckigen Wäsche. Als ich mich auch meines T-Shirts und BHs entledigt habe, werfe ich mich für einen Moment auf mein Bett und atme tief durch. Eigentlich bin ich zu müde und lustlos, um jetzt auf eine Party zu gehen, vor allem, weil ich immer im Hinterkopf den Count down habe, der mich laut anzuschreien scheint: „Bald bist du dran!“Mühevoll raffe ich mich auf und ziehe mir den Bikini an und sobald ich mir das Kleid übergeworfen habe, packe ich eine Tasche, werfe mein Handy hinein und nehme ein Handtuch unter den Arm. Jaden steht schon unten an seinem Motorrad, zu meinem Bedauern, gleichzeitig aber auch zu meinem Glück, nur in den Badeshorts, ohne T-Shirt! Mein Blick wandert über seinen tadellosen Körper und ich muss mich selbst schalten, dass ich dies auch noch so offensichtlich mache. Streng reiße ich mich zusammen und zwinge meine Lippen zu einem Lächeln.
„Da bist du ja.“, sagt Jaden freudig und setzt sich auf das Fahrzeug. „Schickes Kleid.“, meint er noch mit einem Zwinkern über die Schulter, als ich aufsteige.
„Danke.“, nuschle ich und schlinge zögernd meine Arme um seine Taille. Seine warme Haut fühlt sich an meinen kühlen Armen wundervoll an und mir läuft sofort eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Der Geruch nach reiner Männlichkeit scheint von ihm auszugehen, als ich mein Gesicht an seinen Nacken schmiege.
„Hast du es bequem?“, fragt er scherzhaft und ich schrecke auf.Mir gelingt es nicht, einen richtigen Satz zu formulieren, weshalb ich nur irgendetwas Unverständliches vor mich hin stammle.
„Schon gut, es war schön.“, flüstert mir Jaden zu und auf seine Lippen tritt ein verführerisches Grinsen, jedoch nur kurz. Vorsichtig lächle ich und schmiege meinen Kopf wieder in seinen Nacken. Die ganze Fahrt über, versuche ich jede Kontraktion seiner Muskeln nach zu verfolgen und würde mich am liebsten noch dichter an ihn pressen, halte mich aber davon ab und begnüge mich damit, mich an seinen Nacken zu schmiegen. Die Fahrt erscheint mir viel zu kurz und ich kann mich nur schweren Herzens von seinem Rücken lösen, als wir am See unten ankommen.“Jay! Sammy! Da seid ihr ja schon!“, rufen schon die ersten freudigen Stimmen und Damen kommt mit zwei Bier auf uns zu.„Nick kommt gleich mit der Musik. Das Wasser ist richtig geil warm!“Mit einem breiten Grinsen streckt er uns die Bierflaschen entgegen.
„Danke, für mich nicht.“, wehre ich sofort ab und halte meine Hände abwehrend vor mich.„Wenn du meinst.“, erwidert er Schultern zuckend und drückt Jaden seines in die Hand. Wir setzen uns zu den anderen um ein angenehm knisterndes Lagerfeuer. Es sind viele Leute da, die ich noch nicht kenne, auch nicht vom Volleyballplatz, also bin ich froh, dass Jaden sich neben mich setzt. Einige wirken schon leicht angeheitert und ein allgemeines Johlen begrüßt Nick mit der Musik. Mir kommt es so vor, als hätte er eine halbe Anlage angeschleppt, doch bin ich ihm dafür umso dankbarer, als die Musik mit wummrigem Bass beginnt laut und fröhlich zu spielen. Nick dreht die Anlage voll auf und schnappt sich dann ebenfalls ein Bier. Es scheint nicht zu übersehen, dass ich ein wenig overdressed bin, mit meinem simplen, aber doch wunderschönen Strandkleid, denn die anderen Mädchen, die ich alle nicht kenne, tragen nur Jeans und T-Shirt, oder laufen sowieso im Bikini rum. Nach einiger Zeit, wo ich einfach nur den Gesprächen der anderen gelauscht und ins Feuer geschaut habe, beuge ich mich vorsichtig zu Jaden und frage zögerlich: „Kennst du die hier alle?“Er nickt zur Bestätigung, lehnt sich auch zu mir und antwortet mir gegen die Musik: „ Die drei Mädchen da drüben gehen in meine Klasse und die Jungs da um sie rum gehören zu ihnen oder sind Bekannte.“Misstrauisch betrachte ich die drei Mädchen, die um Aufmerksamkeit zu schreien scheinen, so wie sie in diesem Haufen von Jungen sitzen, ihre Haare zurück werfen und laut Lachen. Automatisch beginne ich mich mit ihnen zu vergleichen und versuche zu erkennen, ob sie mir etwas anhaben können, ob ich überhaupt jemals mit solchen Mädchen konkurrieren könnte. Wieso sollte Jaden etwas von jemandem wie mir wollen, wenn er eine wie sie haben könnte? Sie sind in seinem Alter, sehen alle unglaublich schön aus, zumindest wenn man die beträchtliche Menge an Make-up beachtet und scheinen ziemlich beliebt zu sein. Eine von ihnen, sie hat schulterlange blonde Locken und hellbraune Augen, wirft Jaden immer wieder einen heimlichen Blick zu. Ich weiß nicht wieso, aber immer wenn ich es bemerke, wie sie ihn ansieht, versetzt es mir tief in meinem Inneren einen Stich. Nachdem wir gegrillte Würstchen und Brötchen gegessen haben und alle, außer mir, schon mehr als nur leicht angeheitert sind, stehe ich auf, um mir eine Flasche Wasser zu holen. Es dämmert langsam und das Zirpen der Grillen von den Wiesen ist über die Musik nur schwach zu hören. Die große Kühlbox steht etwas abseits bei den Motorrädern und ich nehme mir kurz die Zeit, mich an einen Baum zu lehnen und etwas die Einsamkeit und die Stimmung zu genießen. Das Wasser ist kühl und fließt mir erfrischend den Hals hinab. Es weckt meine Sinne wieder etwas, die von dem Feuer wie betäubt waren. Ich muss mir erneut klar machen, dass aus mir und Jaden nichts wird, nichts werden darf. Wenn sich dieses Blondchen wirklich an ihn ran schmeißen sollte, dann darf ich mir nichts anmerken lassen. Jaden ist mein Stiefbruder, also ein No-Go. Es tut weh, mir das vor Augen zu halten und genau das will ich nicht wahrhaben. Mit einem verzweifelten Seufzer stoße ich mich von dem Baum ab und gehe zurück zum Feuer. Jaden unterhält sich gerade aufgeregt mit Damen und wie ich sehe, hat sich die Zahl der Leute mittlerweile etwas dezimiert.
„Na, über was diskutiert ihr beiden denn so angeregt?“, frage ich fröhlich, als ich mich wieder auf meinen Platz neben Jaden setze. Dieser fährt auf und sieht mich mit großen Augen an, während er sich beeilt zu sagen: „Über nichts besonderes!“ und dies noch mit einem scharfen Blick auf Damen unterstreicht.Glaubst du doch selber nicht, denke ich mir und nicke nur wissend. Entweder sie haben sich über mich unterhalten oder über etwas, dass ich nicht wissen soll. Als sie weiter reden, scheinen sie sich über etwas anderes zu unterhalten und mich überkommt wieder ein Gefühl des allein gelassen seins. Ich sitze zwar zwischen vielen Menschen, doch bin ich trotzdem einsam. Alle kennen sich, alle können offen und fröhlich sein und was ist mit mir? Ich Wechsle hin und wieder ein Wort mit einem aus der Clique oder schaffe es, mit Jaden zu reden. Als wäre das noch nicht genug, kommt jetzt auch noch die Blondine herüber und tippt Jaden an, um ihm dann etwas ins Ohr zu flüstern. Unauffällig beobachte ich seine Reaktion, um herauszufinden, was sie ihm gesagt haben kann. Mit einem hämischen Blick wendet sie sich jetzt an mich und sagt fordernd und mit Nachdruck: „Kann ich dir mal deinen Platz streitig machen, ich wollte mich mit Jaden unterhalten.“Entgeistert starre ich sie an und kann mir eine fassungslose Erwiderung gerade noch verkneifen. Mit einem Ruck stehe ich auf und gehe mit festen Schritten so weit weg wie ich kann. Es zieht mich fast automatisch ans Wasser. Der hölzerne Steg scheint über dem vom Mond silbern glänzenden Wasser zu schweben und scheint mir genau der Richtige Ort zu sein, um alleine zu sein.Die Paneelen knarren, als ich sie betrete und bis ans Ende des Steges vor gehe, mich hinsetze und die Füße über dem Wasser baumeln lasse.Ich will gar nicht wissen, was dieses Flittchen gerade bei Jaden macht. Was fällt diesem Mädchen überhaupt ein, sich so dreist meinen Platz zu krallen. Was glaubt sie, wer sie ist, dass sie mich einfach wegschicken kann? Wieso lasse ich mir so etwas gefallen? Ich bin mir selbst nicht sicher. Wahrscheinlich, weil ich mir vorgenommen habe, Jaden seine eigene Entscheidung zu lassen. Bricht für mich jetzt alles wieder zusammen? Wie soll ich die Schule überstehen? Ich halte es nicht aus unter Leuten, die sich selbst für etwas Besseres halten und sich alles erlauben.In solchen Momenten ist die Einsamkeit erdrückend und die Trauer droht mich wieder zu überwältigen. Ich scheine den Halt wieder zu verlieren, zu fallen ohne auf zu kommen. Es ist nicht gut, wenn ich jetzt einen Nervenzusammenbruch bekomme oder einen Schwächeanfall. Ich selbst könnte mir so ein Zeichen der Schwäche, so ein Eingeständnis meiner Zerstörtheit, nicht verzeihen.Ich weiß nicht, wie lange ich so da sitze und der Verzweiflung nahe bin, aber irgendwann höre ich die Bretter hinter mir und spüre, wie sich jemand neben mir hin setzt.Ich wage es nicht, zu schauen, wer sich zu mir gesetzt hat, wäre zu enttäuscht, wenn es nicht die Person wäre, die ich mir neben mir wünschen würde. Im Moment gibt es nur zwei Menschen, die ich neben mir haben wollen würde. Meinen Dad und Jaden. Wobei ersteres wohl nie mehr der Fall sein wird. Bei diesem Gedanken kullerst mir eine heimliche Träne die Wange hinab und landet im Wasser, wo sie leichte Wellen erweckt. Ein warmer Arm legt sich um meine Schultern und mir steigt ein vertrauter Geruch in die Nase, doch mischt sich ebenfalls der Geruch von Alkohol darunter. Jaden sollte besser nicht mehr Motorrad fahren, aber das ist mir im Moment egal. Froh, dass er da ist und mir schon wieder Schutz und Geborgenheit gibt, als ich es brauche, lehne ich mich an ihn und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust.
„Hab’ ich irgendwas falsch gemacht, Sammy?“, flüstert mir Jaden ins Haar und streichelt mir über den Rücken.Mein Kopf bewegt sich nur um Millimeter, aber Jaden spürt trotzdem, dass ich den Kopf schüttle. „Was ist dann?“, fragt er jetzt vorsichtig und hebt mein Kinn an, sodass ich mich nicht vor ihm verstecken kann.
„Ich glaube es war nur mal wieder zu viel.“, erwidere ich und schlage die Augen nieder, will ihm nicht in die Augen sehen, weil es mich verraten würde. Es würde verraten, wie nahe ich schon wieder an einem Anfall war.„Was denn?“
„Alles.“, erwidere ich, weil ich nicht genauer darauf eingehen will, doch ist Jaden wohl nicht so gesinnt.
„Ist es wegen kommender Woche?“, fragt er weiter und will anscheinend nicht nachlassen.
„Auch.“, nuschle ich und wage einen flüchtigen Blick in seine Augen, die mich sorgfältig mustern.
„Und?“
„Vielleicht auch wegen diesem Mädchen.“, murmle ich beschämt und mein Blick wandert schnell zum Wasser.
„Alisha?! Oh Sammy! Dieses Schlampige Miststück hat einfach kein Herz und ist kalt, eiskalt. Du darfst sie nicht ernst nehmen. Du musst ihr einfach Paroli bieten. Ich kenne dich doch ganz anders! Wenn dir etwas nicht passt, dann sagst du das auch.“ Jadens Stimme ist eindringlich und er schüttelt sanft den Kopf als er fort fährt und sagt: „Du bist so süß, wenn du verwirrt bist.“Anscheinend ist er selbst erstaunt, dass er das gesagt hat, zumindest schließe ich das aus seinem geschockten Gesichtsausdruck.
„Ich bin verwirrt? Und süß?“, frage ich mit dem Anflug eines Lächelns und schaue ihm wieder in die Augen.Verlegen fährt er sich durch die Haare und nickt dann. Mir wird warm ums Herz und es scheint für einen Moment auszusetzen. „Wie viele Bier hattest du?“, frage ich jetzt gezwungen lachend und schubse ihn spielerisch, um die Situation aufzulockern, weil ich Angst habe, dass ich ihn sonst wieder küssen will.„Wahrscheinlich ein paar zu viel.“, antwortet er und ich glaube Enttäuschung in seiner Stimme zu hören. „Wir sollten vielleicht nachhause fahren.“
„Wohl eher nicht.“, unterbreche ich ihn sofort, bevor er noch weiter sprechen kann. „Du wirst sicher kein Motorrad mehr fahren!“
„Und wie sollen wir nachhause kommen?“
„Laufen.“Ungläubig starrt er mich an und fragt: „Du weißt schon, dass das ein Paar Kilometer sind?“
„Ja, deshalb sollten wir auch jetzt losgehen, dann sind wir vielleicht vor morgen früh zuhause.“, antworte ich, befreie mich von seinem Arm und stehe auf. Stöhnend folgt mir Jaden und wir verabschieden uns von allen, was nicht mehr viel Zeit beansprucht, weil mittlerweile schon fast alle weg sind, und gehen dann nebeneinander, das Motorrad schiebend, die Straße entlang. Lange schweigen wir beide und ich versuche einfach an etwas Belangloses zu denken, was mir nicht so recht gelingen will, da meine Gedanken immer wieder zur nächsten Woche wandern.Ich bemerke erst, dass mich Jaden beobachtet, als er grinst und sagt: „Ich seh dir an, dass du dir immer noch Sorgen machst“Ich verziehe mein Gesicht zu etwas, dass wohl ein Lächeln darstellen soll, was jedoch eher nach einer hässlichen Grimasse aussieht.„Na los, sag schon! Was bedrückt dich Schwester’chen?“, will Jaden jetzt mir mehr Nachdruck von mir wissen.„Naja, es ist nur“, setze ich an und verstumme wieder. Ich will ihm nicht sagen, dass ich noch immer Angst vor der Schule hab und kann ihm nicht sagen, was diese Angst vor allem auslöst. Ich kann ihm nicht sagen, was vor dem Tod meines Vaters die Schule für mich war und was danach. Woher soll ich wissen, wie ich dieses neue Leben in der Schule beginnen soll? Wie soll ich es ihm erklären, wenn ich es selbst nicht weiß?Jaden sieht mich immer noch wartend an, während wir nebeneinander einen Hügel nach oben gehen.
„Okay. Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst.“, meint er nach einem langen Schweigen meinerseits mit kaum merklich gekränkter Stimme und richtet seinen Blick streif in die Ferne vor uns. Es scheint ihm wirklich nahe zu gehen, dass ich ihm nicht sage, was mir auf dem Herzen liegt. Wir haben uns in diesem Sommer so schnell aufeinander eingestellt und benehmen uns sogar die meiste Zeit wie gute Freunde, auch wenn es doch noch hin und wieder kracht. So oft wie er mich diesen Sommer aufgefangen hat und mir sogar geholfen hat, meine Mutter dazu zu bringen, dass Lenny mich wenigstens diesen Herbst besuchen darf, kann ich ihn aber auch nicht einfach so im Dunkeln lassen und ihn so vor den Kopf stoßen. Mit einem Seufzen wende ich mich ihm zu und versuche es zu erklären: „Sieh mal! Es ist nicht so einfach. Mittlerweile solltest du ja auch wissen, dass es bei mir so gut wie nie einfach ist. Bitte sei einfach damit zufrieden, wenn ich dir sage, dass es etwas mit der Schule und meiner Vergangenheit zu tun hat. Okay?“Nachdenklich betrachtet er mich und es scheint ein ewig langer Moment zu sein, bis er nickt und wir den restlichen Kilometer durch das Dorf schweigend zurücklegen. Leise schließe ich die Haustür auf, während Jaden noch das Motorrad in die Garage stellt und dann mit mir gemeinsam das Haus betritt.
„Pssst!“, zische ich ihm leise zu, als er die Tür etwas unsanft schließt. „Es ist mitten in der Nacht und ich habe keine Lust, dass Mom sich morgen aufregt, wieso wir erst jetzt nachhause gekommen sind. Und außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass dein Vater sich freut, wenn du betrunken nachts um halb vier nachhause kommst.“
Jaden verdreht die Augen, stupst mir auf die Nase und meint grinsend: „Mach dir nicht immer so viele Sorgen Schwester’chen!“ Genervt verdrehe ich die Augen, behalte meine Antwort aber für mich und schleiche die Treppe nach oben. Hinter mir höre ich nur, wie Jaden sich mit Hilfe des Treppengeländers ebenfalls nach oben schleppt. Hundemüde knipse ich das Licht im Bad an, wasche meine Hände und mein Gesicht, flechte meine Haare zu einem lockeren Zopf und putze mir die Zähne. Als ich das Bad verlasse, höre ich aus Jades Zimmer bereits ein leises Schnarchen, da die Tür einen Spalt breit offen steht. Na der ist wohl richtig fertig, denke ich mir und schließe vorsichtig seine Zimmertür. Lächelnd gehe ich jetzt in mein eigenes Zimmer und entledige mich meinen Sachen. Nachdem ich mich unter die warme Decke gekuschelt habe, nehme ich mein Handy und schreibe noch schnell Lenny eine SMS.
Sorry Süße. Erst jetzt nachhause gekommen. Telefonieren morgen. :*
Ich lege gerade noch das Handy auf den Nachtschrank und schon schlafe ich ein und versinke in einem tiefen, traumlosen Schlaf.
Text: Alle Rechte liegen bei mir
Publication Date: 12-31-2012
All Rights Reserved
Dedication:
Ich widme dieses Buch allen meinen Lesern und wünsche ihnen viel Spaß dabei.