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Besuch in Halle

Die verrückteste Geschichte der Welt

 

Dringend müsste ich zum Zahnarzt! Nein, Angst habe ich nicht, aber starke Schmerzen am Backenzahn. Zu wem soll ich bloß gehen in der Einöde von Ferch, wo wir wohnen? Mein Nachbar rät mir: „Lasse dir einen Termin beim jungen Phil Mo im Nachbarort Caputh geben, der soll recht gut sein.“ Gesagt, getan. Und nun sitze ich neben ihm. Phil Mo sieht nicht nur gut aus, er ist auch sehr nett.

 

„Er müsse den Backenzahn ziehen, sofort,“ meint er. Während der Zeit bis die Spritze wirkt, unterhalten wir uns. Und so erfahre ich von ihm, dass er in dieser Praxis in Caputh sein Praktikum absolviert, bis er mit seiner Doktorarbeit fertig ist. Dann wird er die Zahnarztpraxis seines Vaters übernehmen. Interessiert höre ich zu und möchte gern wissen, wo das ist. „In Halle,“ meint Phil Mo. „Und wo in Halle,“ frage ich gespannt weiter. Seine Antwort: „Im Mühlweg, Nummer ...“Mich haut es bald vom Behandlungsstuhl ! Das ist total verrückt!

 

„Mund auf,“ sagt da der junge angehende Zahnarzt zu mir. Mit geübtem Griff zieht er mir den Zahn. Nun kann ich nicht mehr reden, um weitere Fragen zu stellen. Muss mich gedulden, aber die Geschichte um die Praxis seines Vaters interessiert mich schon sehr!

 

Den nächsten Untersuchungstermin kann ich kaum erwarten. Und wieder frage ich Phil Mo, wo denn die Praxis in Halle ist. Und wieder höre ich: „Im Mühlweg, Nummer ...“ „Und in welcher Etage,“ bohre ich weiter. „Im Erdgeschoss,“ lautet die Antwort. „Aber warum wollen Sie das wissen,“ hakt mein Vis-a-vis nach. – „Genau dort haben wir gewohnt!“ Wir müssen beide lachen. Und nun habe ich ihm viel zu erzählen.

 

Wir bekamen die damals ausbaufähige Wohnung 1965 nur, weil wir über Handwerker die Sanierung übernahmen. Bis aufs Kellergewölbe mussten die Fußböden vom Schwamm beseitigt werden. Und so unterhielten wir uns noch lange an diesem Tag. Es passte, da ich der letzte Patient war. In mir wuchs der Wunsch, „unsere“ Wohnung in Halle im jetzigen Zustand zu sehen. Und ich hielt damit auch nicht hinter´m Berg.

 

Als Phil Mo an einem Wochenende in seinem zu Hause im Mühlweg in Halle war, bekam ich eine Einladung, ihn dort zu besuchen. Diesen Ruf folgte ich nur allzu gern – in die Praxisräume seines Vaters, Dr. Mo. Ich war erstaunt, was durch eine weitere Modernisierung aus unserer ehemaligen Wohnung geworden war. Im Bad saß jetzt die Annahme. Der Wohnbereich beherbergte das Wartezimmer. Und wo einst mein Bett gestanden hatte und ich in Morpheus Armen lag, stand jetzt ein Behandlungsstuhl , daneben Bohrer und diverse Instrumente. Nur den großen Kachelofen in dem Raum mit der Tür zum schmalen Balkon, den gab es nicht mehr!

 

Mit diesem Kachelofen hatte es eine ganz besondere Bewandtnis. Damals ging es nur um paar Sekunden, dass meine beiden Töchter und ich gestorben wären.

 

Nach der Schwammbeseitigung und Vorrichtung konnten wir damals in diese Wohnung im Mühlweg einziehen. Wir – das waren die beiden Töchter, Sylvia und Cornelia, mein Mann sowie ich. Es kam der Winter. Da über den riesigen Kachelofen unsere Wohnung beheizt werden sollte, wurde der Schornsteinfeger gebeten, die Reinigung und Durchsicht zu übernehmen. Das tat er auch. Doch er beachtete nicht, dass der Kamin zwei Züge hatte. Er reinigte nur einen. Abends nahmen wir den Ofen in Betrieb. Zuerst mit Papier und Holz. Die hellen Flammen sehe ich noch heute vor mir. Dann legten wir Briketts auf. Ein Spalt blieb der Rost geöffnet. Am Morgen war ein gleichmäßig glimmendes Glutbett zu sehen.

Mein Mann fuhr zur Arbeit. Nach und nach wachten die beiden kleinen Töchter auf. Cornelia war damals zehn Monate alt, konnte aber schon laufen. Als es mir schlecht und schwindlig wurde, sagte ich zu den beiden Kindern: "Ganz kurz lege ich aufs Sofa neben dem Kachelofen. Bitte spielt etwas mit euren Püppchen. Mir geht es gleich wieder besser." Da sehe ich aus dem Augenwinkel, wie die Kleine taumelte und die Ärmchen hochriss. Und Sylvia, die vier Jahre alt war, rief zu mir: „Mir wird es schlecht!“ Mit letzter Kraft antwortete ich ihr: „Geh raus auf die Toilette,“ nahm Cornelia auf den Arm, ging ans Telefon und ohne zu wissen, was ich tat, rief ich meinen Mann an. Durch Zufall erreichte ich ihn, und wie sowie was ich sprach, merkte er, dass etwas nicht in Ordnung sein musste. Durch Zufall bekam er sofort ein Dienst-Auto, um sofort in den Mühlweg zu fahren. Dort traf er Cornelia und mich ohnmächtig auf dem Boden liegend an und eine total verstörte Sylvia, die zu Tode erschrocken war , als sie ins Zimmer zurückkam und diesen Anblick sah.

 

Der sofort von meinem Mann gerufene Rettungsdienst diagnostizierte CO-Vergiftung höchsten Grades. Es folgte ein langer Aufenthalt im Krankenhaus für uns drei. Vor allem ich war völlig gelähmt. Aber ganz liebevoll hätte sich ein junger Feuerwehrmann um mein Nesthäkchen gekümmert, es in Decken gepackt und als Ersatzmama gekuschelt – so sagten später Hausbewohner. So viele Details gäbe es dazu noch zu erzählen. Das Wichtigste, was wir doch für ganz riesengroßes Glück gehabt hatten! Wir waren dem Tod von der Schippe gesprungen, sagt man.

 

Und nun stehe ich in „unserer“ Wohnung von damals, der heutigen Zahnarztpraxis von Dr. Mo. Cornelia, meine Begleiterin und jetzt junge Frau, meinte: „Eigentlich hätte die Überschrift über diese Geschichte heißen müssen „Die Welt ist ein Dorf“. Da ich durch Phil Mo in Caputh nach Halle in den Mühlweg fand. Doch das wäre viel zu alltäglich, denn es ist für mich die verrückteste Geschichte der Welt!

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Publication Date: 09-18-2016

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