Cover

Prolog

--- 17.12. ---

 

„Du elende Schwuchtel! Mach, dass du weg kommst! Ich will dein hässliches Gesicht nicht mehr sehen!“

„Na du Steckdosenbefruchter? Findest wohl niemand zum Schwanz in den Arsch schieben?“ „Verpiss dich, Arschficker! Fass mich ja nicht an!“ „Genau! Wir wollen deine Schwuleritis nicht!“ „Homo, Homo!“

 

Mein Atem bildete weiße Wölkchen. Mit hochgezogenen Schultern, eingezogenem Kopf und Händen in den Jackentaschen lief ich durch die Stadt. Mein Blick war starr auf den Boden gerichtet. Ich wollte mich nicht erinnern. Nicht an sie. Aber trotzdem kamen die Bilder, die Beschimpfungen, immer wieder hoch.

 

„Hey, Hodengnom, du schuldest mir noch 50 Mäuse! Und wehe, du sagst es jemanden, oder ich zieh‘ dir die Eier lang!“ „Ach lass den, als Sohn einer blutbepissten Hure kann man ja kein Geld haben, oder Penisschlumpf?“

 

Manche waren echt kreativ, was solche Beleidigungen anging. Arschgeficktes Suppenhuhn, Weißtwurstwichser oder Hodenkobolt waren keine Seltenheit. Andere sind nicht so einfallsreich gewesen und haben sich mit Ausdrücken wie Fickfehler und Mietarsch zufrieden gegeben.

Eigentlich hatte ich mich damit abgefunden. Es brachte eh nichts, sich darüber aufzuregen. Ich nahm es einfach hin. Bis er kam.

Er, der Neue an der Schule. Und natürlich musste ich mich total klischeehaft in ihn verlieben. Wie dumm konnte man eigentlich sein? Denn natürlich hat er sich nicht klischeehaft in den Außenseiter verliebt, sondern in die größte Schlampe der Schule.

Und von da an wurde mein Leben zur Hölle. Am Anfang war er noch nett zu mir, unterhielt sich mit mir, verteidigte mich, wenn die Anderen mich beschimpften…. Doch dann kam sie. Sie hat ihm gesagt, dass ich schwul bin, hat ihm eingeredet, wer sich mit mir abgibt, sei uncool. Gut, dass musste sie ihm nicht einreden, es war eine Tatsache.

Und natürlich kam es, wie es kommen musste und er hat sich von mir abgewandt. Auch das hätte ich noch verkraftet, aber dass er sie noch unterstützt, hätte ich nicht gedacht. Es hat mir das Herz gebrochen, als er mit den anderen durch die Gänge zog, um mich abzufangen und dann in eine Besenkammer zu sperren, mich zu beleidigen und zu quälen.

Die einzigen beiden Leute, die trotzdem mit mir redeten, waren eine Lesbe und der größte Nerd der Schule. Was waren wir nur für Klischees?

 

Ich wollte nicht mehr. Konnte diesen Schmerz nicht mehr ertragen. Seit Wochen hatte ich mir schon überlegt, wie ich es am besten beenden konnte. Ich wollte mich umbringen. Blieb nur die Frage, wie.

Letztendlich lagen die Rasierklingen bereit. Wäre da nur nicht meine Mutter gewesen. Nicht, dass sie scharf darauf war, mich zu behalten, aber sie hatte eh schon Stress mit dem Jungendamt gehabt und wenn ich mich umgebracht hätte, hätten sie ihr alles genommen, was sie hat.

Mein Vater war nie zu Hause und manchmal fragte ich mich wirklich, warum ich eigentlich auf der Welt war. Und warum sie mich nicht weggegeben hatten.

Jetzt lebten wir nebeneinander her. Ich hatte alle Freiheiten, die ich wollte, solange ich die paar Aufgeben erledigte, die meine Mutter mir gab. Doch ich genoss es nicht, wie andere es getan hätten. Ich sehnte mich nach jemanden, der mir Halt gab, an den ich mich anlehnen konnte. Jemanden zum Reden.

Immerhin waren wir umgezogen, als es in der alten Schule nicht mehr ging. Das lag zwar auch nur an der Tante vom Jungendamt, die meinte, es muss sein, weil ich Morddrohungen bekommen hatte, aber immerhin.

Die war es auch, die mich zu einem Therapeuten geschickt hatte. Mit dem hatte ich das erste Mal so etwas wie einen Freund. Nachdem ich vor zwei Wochen die letzte Sitzung beendet hatte, fühlte es sich so an, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. In der gesamten Therapiezeit waren meine Gedanken nicht mehr zum Thema Selbstmord abgedriftet, ich hatte mir meine Sorgen von der Seele reden können. Die Therapie hatte mir wirklich gut getan. Doch meine Mutter war dagegen gewesen, die Behandlung zu verlängern - es würde zu viel Geld kosten. Wundern tat es mich nicht. Leider konnte ich ihn auch nicht mehr sehen, da wir ja umgezogen waren und meine Mutter den privaten Kontakt zum ihm nicht gut hieß.

 

Ich war so in meinen dunklen Gedanken versunken, dass ich das andere Paar Schuhe erst bemerkte, als es bereits zu spät war. Mit voller Wucht prallten wir zusammen. Erschrocken und leicht beschämt sah ich zu ihm hoch. Und erstarrte.

Seine Augen hatten die Farbe von flüssigem Honig. Oder Schokoladenfondue. Je nach Lichteinfall. Ich konnte nur da stehen und ihn wie ein Reh im Scheinwerferlicht anstarren. Ich schluckte. In diesen Augen konnte man nur versinken. Er war mir so nah, dass ich die kleinen Sprenkel um die Iris erkennen konnte.

Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus und seine Augen strahlten noch mehr. Mir wurde warm und ich würde ihn am liebsten nie wieder loslassen. Wollte beim ihm bleiben.

Das Bild von ihm schob sich in meine Gedanken. Plötzlich fühlte es sich so an, als wäre ich mit Eiswasser übergossen worden. Schnell wand ich den Blick ab und nuschelte ein „‘tschudigung“, als ich mich an ihm vorbeischob und eilig davon hastete. Seinen verwirrten Blick ignorierte ich. Ich konnte nicht, ich durfte nicht… Nicht jetzt, noch nicht, am besten nie mehr. Nicht nach dem, was beim letzten Mal passiert war. Nicht noch einmal.

 

Zuhause angekommen verschwand ich sofort in meinem Zimmer. Meinen Eltern hatte ich nichts zu sagen, warum ihnen also über den Weg laufen?

Ich sah in den Spiegel. Gerötete Wangen und immer noch leicht glasige Augen blickten mir entgegen. Warum nahm mich der Typ so mit? Ich kannte ihn doch überhaupt nicht. Wieso brachten mich seine Augen dann so aus dem Konzept?

Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen. Am besten, ich versuchte zur Abwechslung mal zu schlafen. Durch das Mobbing an meiner alten Schule war ich von Alpträumen geplagt worden, weshalb ich keine Ruhe mehr finden konnte. Doch jetzt, wo ich die Chance auf einen schönen Traum hatte, sollte ich die Gelegenheit nutzen. Die Augenringe sahen nämlich langsam nicht mehr gesund aus…

 

Ich hatte Glück. Ich schlief diese Nacht das erste Mal seit langer Zeit wieder durch. Mit den Gedanken immer bei einem Paar goldener Augen.

1

 --- 18.12. ---

 

Der Geruch von gebrannten Mandeln stieg mir in die Nase. Ich hätte am liebsten gewürgt und auf der Stelle kehrt gemacht.

Ich hasste Weihnachtsmärkte. Die Menschenmassen, die Lautstärke, die Fröhlichkeit. Einfach alles. Ich verstand nicht, wie man sich freiwillig herumschubsen lassen konnte und selbst drängelte, nur um irgendwelches überteuertes Zeug zu kaufen.

Vielleicht hatte ich den Reiz an der Sache nur noch nicht entdeckt, aber bis es soweit war, würde ich solche Menschenansammlungen weiterhin meiden. Sie erinnerten mich nur an genau das, was ich vergessen wollte. Die Sache, wegen der wir umgezogen waren. Den Grund, für monatelang schlaflose Nächte.

Ich war fertig. Körperlich und Seelisch. Fertig mit allem und jedem. Fertig mit meinem Leben. Ich sah keinen Sinn mehr. Warum auch? Wer würde mich schon vermissen? Meine Eltern bestimmt nicht, Freunde hatte ich seit dem Umzug nicht mehr. Vielleicht Fridolin, der Hund, der drei Straßen weiter wohnte.

Ich schnaubte. War das einzig wichtige Wesen in meinem Leben ein Hund? Das war erbärmlich. Ich holte tief Luft und wusste, dass ich nicht darüber nachdenken sollte, sonst würden die Selbstmordgedanken wiederkommen.

Ich hätte damit zwar wie gesagt kein Problem, was lohnte es sich weiterzuleben, wenn ich höchstens von einem Hund vermisst wurde? Und dieser würde bestimmt auch schnell Ersatz für mich finden, im Sinne von jemand Neuen, der ihn ausführt. Also vermisste mich praktisch niemand. Auch gut, dann würde ich niemanden verletzen, wenn ich in dem Abgrund des Selbsthasses und -zweifels wieder so weit nach unten rutschte, dass ich es diesmal wirklich beendete.

Aber ich hatte es meinem Therapeuten versprechen müssen. Ich musste ihm versprechen, mich nicht wieder so herunterzuziehen zu lassen. Doch was wusste der schon von meinem Leben? Von einem Leben als Ausgestoßener? Er konnte nicht wissen, wie sich das anfühlte. Wie es in mir aussah. Ich hatte es ihm zwar größtenteils erzählt, aber so wirklich nachvollziehen konnte man es erst, wenn man es selbst erlebte. Und das hatte er nicht. Zum Glück.

Erneut wurde ich angerempelt. Zur Seite geschubst, gegen einen von diesen Ständen. Ich bekam Panik. Waren sie wieder da? Wie hatten sie mich gefunden? Wir waren doch weggezogen…

Ich presste mich an das Holz des Standes, zog meinen Kopf ein. Kleine Angriffsfläche, gib ihnen nur bloß kein Gelegenheit.

Mantraartig wiederholte ich diesen Satz in meinem Kopf. Klein machen und Muskeln anspannen. Sollten sie mich doch als einen Feigling beschimpfen. Sie hielten mich ja sowieso schon für einen. Aber ich würde ihnen nicht die Genugtuung geben, mich krankenhausreif schlagen zu lassen. Nicht noch einmal.

 

„Hey, alles in Ordnung?“ Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter. Erschrocken sah ich auf und blickte direkt in zwei goldbraune Augen. Die gleichen strahlend braunen Augen wie gestern. Ich schluckte. „J...Ja“

„Du bist doch gestern schon in mich reingerannt“, stellte er fest und lächelte schüchtern. Bei der Wärme, die seine Augen ausstrahlten, wurde mir heiß. Meine Knie fühlten sich an wie Pudding und ich war froh, schon auf dem Boden zu sitzen.

„T…Tut mir l…leid.“ Unsicher sah ich zu ihm hoch. Doch er erwiderte den Blick offen und freundlich und das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, jemandem so wirklich vertrauen zu können.

„Kein Problem, ich hab ja schließlich auch nicht aufgepasst. Und jetzt komm, du kannst hier nicht sitzen bleiben, sonst holst du dir noch den Tod.“

Die Vorstellung klang verlockend. In Gesellschaft von diesem Typen friedlich einzuschlafen. Doch er hielt mir eine Hand hin und notgedrungener Maßen ergriff ich sie. Er zog mich auf die Füße und ehe ich erneut in seinen Augen versinken konnte, verschwand er aus meinem Blickfeld. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er einen Zettel in der Hand.

„Ist das deiner?“ Er faltete das Stück Paper auseinander und hielt es mir hin. Ich nickte.

Das war der Grund dafür, dass ich hier war. Der Grund, warum ich mich durch die Mengen kaufsüchtiger Leute kämpfen musste. Der Grund, warum ich ihn wiedergetroffen habe.

 

Ein Traumfänger.

 

Meine Mutter war verrückt nach diesen Dingern. In unserer Wohnung hingen bestimmt Zweihundert davon. Und hier auf dem Markt sollte es den einen geben. Den, nach dem sie schon seit Monaten suchte.

Ich verstand nicht, was an den Teilen so besonders war, zumal man sie an jeder Ecke kaufen oder sie selbst basteln konnte. Aber meine Mutter glaubte an ihre magische Kraft und deshalb sollte ich jetzt hier bei irgendeiner „Zauberin“ den einen Traumfänger abholen.

Eine weitere Sache, die ich nicht verstand. Meine Mutter redete seit Wochen von nichts anderem mehr, für sie war das Ding heilig, aber jetzt sollte ich es abholen. Angeblich weil sie keine Zeit hatte. Und das hatte mich stutzig gemacht. Meine Mutter hatte immer Zeit für ihre Traumfänger. Vor allem für den. Warum bestand sie so darauf, dass ich das machte?

 

Eine dampfende Tasse wurde mir unter die Nase gehalten. „Du trinkst doch Glühwein, oder?“ Ich nickte und nahm sie dankend entgegen.

Ich saß in eine Decke eingemummelt ihm gegenüber in seinem Stand. So alt hätte ich ihn gar nicht geschätzt. Ich war erstaunt, dass er einen eigenen Stand hatte. Ich hätte gedacht, er wäre ungefähr so alt wie ich.

„Wie heißt du eigentlich?“ Er rückte ein Stück näher. Unsere Knie berührten sich und zusätzlich zu der Hitze des Glühweins durchfloss mich ein warmes Gefühl.

„Dennis“

„Ich bin Lucas.“ Schüchtern ergriff ich seine ausgestreckte Hand und wunderte mich wieder darüber, dass sie so warm war. Ich sah ihn an. Er sah mich an. Ich ließ seine Hand nicht los, sondern strich mit dem Daumen sanft über seinen Handrücken. Er entzog sich mir nicht, ließ es zu.

„Dennis, ich…“ Er wurde von einer Kundin unterbrochen und ließ meine Hand los, um sie zu bedienen.

Das erste Mal, seit ich hier war, sah ich mir den Stand genauer an. Überall hingen Lichterketten. Lange, kurze, Kränze, bunte, einfarbige, mit Blumen oder Sternen. Sie sahen gut aus. Und nach Handarbeit. Hatte Lucas die gemacht? Ich bezweifelte es, aber andererseits, was wusste ich schon von ihm?

Mein Blick wanderte weiter und blieb an der Nachbarbude hängen. Traumfänger. Überall, der ganze Stand war voll damit.

Belustigt lachte ich auf. Ich glaubte nicht an das Schicksal. Aber wenn meine Mutter so sehr an den Zauber von Traumfängern glaubte, konnte es doch kein Zufall gewesen sein, dass ich gerade hier Lucas getroffen hatte, oder?

 

„Sorry, aber meine Mum ist krank, deshalb muss ich den Stand alleine führen.“ Lucas setzte sich wieder zu mir.

„Heißt das, deine Mutter hat die ganzen Lichterketten gebastelt?“

„Jap, hat sie. Sie ist gut.“

„Das ist sie.“

Ich sah mich wieder um. Mittlerweile war es dunkel geworden und inmitten der vielen Lichter zu sitzen, hatte etwas Romantisches. Ich lächelte. Wann hatte ich das letzte Mal über Romantik nachgedacht?

„Woran denkst du?“, fragte Lucas.

„Daran, dass ich mich lange nicht mehr so wohl gefühlt habe.“ Ich sah ihn an. Im Schein der Lichter leuchteten seine Augen golden.

„Du kannst gerne öfter her kommen. Hilfe ist immer willkommen.“ Er zwinkerte mir zu.

„Okay, ich überleg‘s mir.“ Auf seinem Gesicht breitete sich ein Strahlen aus und unwillkürlich musste auch ich lächeln.

„Super, danke!“

Er beugte sich vor und umarmte mich.

Mich hatte seit Ewigkeiten niemand mehr in den Arm genommen. Zaghaft erwiderte ich die Umarmung. Sie fühlte sich richtig an. Gab mir das Gefühl von Geborgenheit. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich hier her gehörte. Zu Lucas. Außerdem roch er gut. Nach Weihnachten. Obwohl ich Weihnachtsmärkte mit ihrer Hektik nicht leiden konnte, liebte ich das Fest. Es war friedlich. Still.

Vorsichtig löste sich Lucas von mir, wich aber nicht zurück. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren, die Wärme fühlen, die er abstrahlte. Ich versank in seinen Augen und nahm nur noch am Rande wahr, wie er den letzten Abstand überbrückte und mir einen Kuss auf die Lippen hauchte. Als er sich zurückzog war ich mir nicht sicher, ob ich mir diese Berührung nur eingebildet hatte. Warum sollte er mich küssen? Freiwillig. Bis jetzt hatten mich immer alle gemieden. Alle bis auf die zwei Freunde, die ich gehabt hatte. Aber das lag wahrscheinlich nur daran, weil sie auch Außenseiter waren.

Also warum sollte sich das jetzt plötzlich ändern? Warum sollte sich jetzt jemand für mich interessieren? Ich war niemand besonderes. Ein Nichts. Der Gedanke, dass Lucas nur mit mir spielte, zerbrach mir das Herz, obwohl wir uns erst seit ein paar Stunden kannten. Ich konnte das nicht. Musste hier weg.

Ruckartig erhob ich mich und ignorierte den überraschten Blick, den Lucas mir zuwarf. Ich legte die Decke auf den Stuhl und stellte die Tasse obendrauf.

„Wo willst du hin?“

„Nach Hause. Meine Mutter wartet sicher schon.“

Er sah enttäuscht aus und mein Herz zog sich schmerzlich zusammen. Ich wollte ihn nicht verletzen, aber ich konnte das Risiko nicht eingehen, selbst wieder verletzt zu werden. Nochmal würde ich das nicht aushalten. Ich hatte meinem Therapeuten versprochen, nicht wieder in diesen Abgrund zu fallen. Und was ich versprach, hielt ich auch.

„Hey, Dennis, warte!“ Ich drehte mich zu ihm um. „Wenn ich irgendetwas falsch gemacht habe, sag’s mir, ja? Wenn es wegen dem Kuss ist … dann tut’s mit leid, ich dachte halt nur…“ Er brach ab. Ich ertrug den Anblick nicht, wie er so verzweifelt und in sich zusammengesunken vor mir stand.

„Nein, das ist es nicht. Mach’s gut.“ Ich wandte mich um und verließ den Stand. Verließ Lucas. Es war besser so.

 

Während ich mir einen Weg durch die Menge kämpfte, liefen mir unablässig Tränen über die Wange. Ich durfte nicht zulassen, dass ich mein Herz erneut verschenkte. Nicht, wo ich es gerade erst wieder halbwegs zusammengeflickt hatte.

 

Wenn es dafür nicht bereits zu spät war.

2

--- 19.12. ---

 

Müde öffnete ich meine Augen. Ich fühlte mich wie gerädert. Von der gestrigen erholsamen Nacht war nichts mehr zu spüren. Ich seufzte. Es wäre ja zu schön gewesen.

Träge stand ich auf und schlurfte in die Küche. Es war Samstag - der erste Ferientag. Wenigstens etwas Gutes.

Aus dem Kühlschrank angelte ich mir eine Tüte Milch und setzte mich mit einer Schüssel Cornflakes an den Tisch. Meine Mutter schlief noch und mein Vater war momentan in Bukarest. Er kam erst in einer Woche wieder, würde Weihnachten also nicht hier sein. Wenn ich das richtig verstanden hatte.

Meine Mutter würde Heiligabend damit verbringen, vor dem Fernseher zu sitzen, The Cranberries zu hören und sich selbst zu bemitleiden. Darauf konnte ich getrost verzichten und ehrlich gesagt interessierte es mich auch nicht.

Ich fieberte den Tag herbei, an dem ich 18 wurde. Dann könnte ich endlich von Zuhause ausziehen, wegkommen von allem, was mich noch an mein altes Leben erinnerte. Die Frage blieb nur, wohin?

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Eltern mir so viel mitgaben, dass es für eine eigene Wohnung reichte, es sei denn, ich bestach sie damit, dass ich sonst zu Hause bleiben müsste, weil ich unter einer Brücke ja schlecht würde wohnen können. Mit der Aussicht auf einen weiteren Besuch von der Jugendamttante würde ich meine Mutter rumkriegen. Da war ich mir sicher. Es war nicht die nobelste Variante, aber so profitierten wir alle davon.

 

„Dennis!“

 

Ich schreckte aus meinen Gedanken.

„Ja?“

Meine Mutter erschien in der Küchentür. Wann war sie aufgestanden?

„Hast du meinen Traumfänger? Ich kann ihn nämlich nirgends finden.“

Ertappt zuckte ich zusammen. Mist, den hatte ich bei meinem überstürzten Abgang gestern ganz vergessen. Leider kehrten mit den Erinnerungen an den Grund, weswegen ich überhaupt in der Stadt gewesen war, auch die an gewisse goldbraune Augen zurück. Gerade jetzt, wo ich ihn für fünf Minuten mal vergessen hatte.

Ob er heute wieder seine Mum vertrat? Wahrscheinlich, schließlich war diese krank. Dann würde ich ihm unausweichlich begegnen, wenn ich das Federding meiner Mutter abholte. Das Glück, dass er mich in den Menschenmassen nicht entdeckte, würde ich bestimmt nicht haben. Wie sollte ich mich ihm gegenüber verhalten? Ihn ignorieren? Das konnte ich nicht. Nicht, wo er mich geküsst hatte.

Bei dem Gedanken an seine Lippen, wie sie meine berührten, wurde mir warm. Es hatte sich so unglaublich gut angefühlt. Lucas hatte die Mauer, die ich mühsam in meinem Inneren aufgebaut hatte, mit einem Kuss niedergerissen. Mit einem einzigen Blick aus seinen Augen. Mit einer einfachen leichten Berührung.

Doch jetzt, wo dieser Schutz nicht mehr existierte, war ich wieder angreifbar. Schutzlos vor Leuten wie denen von meiner alten Schule. Das durfte ich nicht zulassen.

Ich würde ihn ignorieren. Um den Tramfänger abzuholen war es nicht notwendig, in seine unmittelbare Nähe kommen zu müssen. Ich würde einfach am Rand laufen, weit weg von seinem Stand. Genau, dann den Abholschein der Traumfängerfrau geben und mit dem Teil schnell wieder verschwinden. Kein Lucas, keine Bedrohung für mein zerrissenes Inneres.

 

„Dennis“ Die Stimme meiner Mutter klang genervt. Wie immer. Außer, wenn sie über Traumfänger redete, da blühte sie regelrecht auf.

„Hm?“

„Wo ist der Traumfänger?“

Ich biss mir auf die Lippe. „Hab ich vergessen.“

„Vergessen? Junge, du warst stundenlang in der Stadt, nur mit dem Auftrag, das gute Stück abzuholen, wie kannst du ihn da einfach vergessen?“

Tja, das war eine gute Frage. Und eine noch bessere Frage war, wie ich ihr das jetzt erklären sollte.

„Ich … ich geh schnell hin und hole ihn, ja? Es tut mir wirklich leid.“

Tat es nicht, aber das musste ich ihr nicht auch noch unter die Nase reiben. Ich fragte mich immer noch, warum ausgerechnet ich das Ding abholen sollte. Schließlich war sie es, die es haben wollte.

Abwartend sah ich sie an. Ich hoffte, sie würde „Nein“ sagen und mir Hausarrest geben. Egal was und wie schlimm es wäre, im Moment würde ich alles über mich ergehen lassen, um nicht auf diesen Weihnachtsmarkt zurückkehren zu müssen. Zurück zu den Menschenmassen, der Hektik, zu Lucas.

„Das würde ich dir auch raten, denn wenn er weg ist, dann…“ Sie ließ den Satz unvollendet, aber ich wusste, was dann passieren würde. Und da würde mir auch keine Tante vom Jugendamt mehr helfen können.

 

Ich stellte meine Müslischale auf die Spüle und schnappte mir meine Jacke. Als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fiel, fühlte es sich so an, als würde ich den direkten Weg in die Hölle nehmen. Was ich höchstwahrscheinlich auch tat. Meine Zuversicht, nein, eigentlich war es nur Wunschdenken gewesen, war verschwunden. Meine Hände schwitzten und meine Knie fühlte sich merkwürdig zittrig an. Super, was sollte das erst werden, wenn ich am Weihnachtsmarkt angekommen war?

 

 

Konnte es eigentlich noch voller werden? Wie viele Leute mussten denn ausgerechnet heute hier her? War die Musik lauter geworden oder war es das Gemurmel der Massen? Roch es gestern auch schon so penetrant nach Zuckerwatte? Und hatte ich bereits erwähnt, dass ich Weihnachtsmärkte auf den Tod nicht ausstehen konnte?

Schlecht gelaunt kämpfte ich mich durch das Gedränge. Immerhin dachte ich so nicht die ganze Zeit an Lucas.

Ich wurde zum wiederholten Male angerempelt, geschubst und zurückgedrängt. Ich hatte die Nase voll. Der Gedanke, dieses was wäre wenn, einfach abzutauchen, Traumfänger Traumfänger und Lucas Lucas sein zu lassen, keimte in mir auf. Ich müsste mich nicht einmal davonschleichen. Nur einfach nicht mehr nach Hause gehen. Wobei nach Hause eigentlich nicht der richtige Ausdruck war.

Als Zuhause definierte ich etwas Anderes. Sicherheit, Wärme und vor allem Geborgenheit machten den Begriff für mich aus. Das Gefühl, nicht allein zu sein, jemanden zu haben, an den man sich anlehnen konnte, jemanden, dem man vertraute. Jemand wie Lucas.

So unglaubwürdig es auch klingen mochte, aber in den zwei Tagen, die ich ihn bereits kannte, hat sich genau diese Gefühl von Geborgenheit in mir immer mehr verstärkt. Gestern mit ihm in dieser Bude zu sitzen, einfach nur zu reden, zu lachen, war für mich zum Inbegriff von Zuhause geworden. Einem Ort, an dem ich mich wohl fühlte, an dem ich mich fallen lassen konnte. An dem ich ich selbst sein durfte.

 

Das Bild eines federbehangenen Standes ließ mich aus meinen Sehnsüchten erwachen. Ich war da. Kurz vor meinem persönlichen Höllentor. Ich versuchte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, hinunterzuschlucken.

Vielleicht war er gar nicht da. Vielleicht hatte ich mich umsonst verrückt gemacht. Vielleicht… Ich holte tief Luft.

Der Traumfänger. Auf nichts anderes kam es jetzt an. Ich würde zu diesem Stand gehen, das Ding holen und ganz schnell wieder verschwinden. Lucas würde mich nicht bemerken. Dafür war es zu voll.

Und das am frühen Morgen. Ich verstand immer noch nicht, wie man auf Weihnachtsmärkte gehen konnte. Um neun! Ein paar Tage vor Weihnachten. Das war doch krank.

Krank war es auch, dass ich wie angewurzelt inmitten des Trubels stand und mir wiederholt vor Augen hielt, was ich an diesen Menschen nicht kapierte, nur um nicht zu diesem Stand zu müssen.

Vielleicht sollte ich doch einfach abhauen. Dann hatte ich die Probleme nicht mehr. Genau wie meine Mutter. Sie wäre ihren problembereitenden schwulen Sohn endlich los. Darauf warte sie doch schon seit fast 18 Jahren. Was sprach also dagegen?

 

Er.

 

Ich wusste es und dennoch wollte ich es nicht wahr haben. Ich hatte mich Hals über Kopf in ihn verknallt, trotz aller Vorsätze. Ich hatte gespürt, wie es sein konnte, ihn an meiner Seite zu haben, ihm nahe zu sein, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Doch dieser hatte ausgereicht.

Ich wollte mein Leben nicht mehr ohne ihn leben. Nicht, wenn ich wusste, wie es sich anfühlen konnte, ein Zuhause zu haben. Jemand Vertrauten.

Doch genau das durfte ich nicht zulassen. Ich durfte nicht zulassen, dass mich jemand wieder so zerstören konnte.

Aber sein Lächeln, das Glitzern in seinen Augen… Das war echt gewesen. Er würde mir nicht wehtun. Es würde alles gut werden.

Wäre da nur nicht die Stimme in meinem Inneren, die mich daran erinnerte, dass ich das das letzte Mal auch gedacht hatte. Bei ihm. Er hatte mich zerstört. Mich zu diesem Wrack gemacht, welches ich nun war. Er war dafür verantwortlich. Nein, nicht nur er, sie alle. Alle, die ich gekannt hatte. Alle, die sich für was Besseres hielten.

Doch das würde mir nicht noch einmal passieren. Dafür würde ich sorgen. Und wenn es hieß, Lucas nie wieder zu sehen. Dieser Schmerz war nicht so groß, wie die Angst, erneut verletzt zu werden, war aushaltbar. Früher oder später wäre ich darüber hinweg. Irgendwo weit weg von hier, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land. Vielleicht gelang es mir dort, ein neues Leben anzufangen. Die Vergangenheit endlich hinter mir zu lassen, ein Zuhause zu finden. Vielleicht fand ich auch jemanden wie Lucas. Jemanden, der mir genau dieses Gefühl von Geborgenheit geben konnte.

 

„Hast du vor, dich heute nochmal zu bewegen oder willst du weiter einfach nur in der Gegend rumstehen?“

Ich drehte mich um. Die Frau, vor deren Stand ich stehengeblieben war, sah mich fragend an. Als sie mein Gesicht musterte, wechselte ihr leicht genervter Gesichtsausdruck in Besorgnis.

„Ist alles okay?“

Ich nickte. Die Frage erinnert mich an Lucas, wegen dem im Moment eben nicht alles okay war.

„Junge, du siehst blass aus. Soll ich jemanden anrufen?“

„Nein“ Ich klang unfreundlicher, als beabsichtigt und hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Sie wollte mir nur helfen. Deshalb fügte ich schnell ein „Es geht schon, ich hab mein Handy dabei. Danke.“ hinzu.

Ich nickte ihr zum Abschied noch einmal zu und machte mich dann nach gefühlten Stunden zu dem Federstand auf.

 

Immer einen Schritt vor den anderen. Nach vorne schauen, sonst würde ich in der Menge untergehen. Das Ziel fokussieren. Nicht ablenken lassen. Noch einen Schritt. Nicht schubsen lassen, nicht nach links zu der Lichterkettenbude schauen. Wieder einen Meter nach vorn.

Irgendwann hatte ich es tatsächlich geschafft. Ich stand vor meinem Ziel. Nein, eigentlich stand ich vor dem Ziel meiner Mutter. Mein Ziel lag drei Meter hinter mir.

Sollte ich? Nur einen kurzen Blick? Was würde schon passieren? Alles. Alles würde passieren und ich wusste es. Dennoch, ich musste es einfach wissen. Musste ihn noch ein letztes Mal sehen.

Mein Entschluss stand fest. Ich würde die Stadt verlassen. Nichts würde mich davon abhalten können. Heute Abend würde ich meine Sachen packen und in den nächsten Zug steigen. Weg von hier, von dem Schmerz.

Ich drehte meinen Kopf leicht zur Seite, sodass ich den gegenüberliegenden Stand aus den Augenwinkeln sehen konnte.

Wie gestern leuchteten die Lichterketten, nur dass sie heute nicht die gleiche Stimmung verbreiteten. Hinter der Theke stand ein junger Mann. Groß und schlank, aber es war nicht Lucas. Dieser hier hatte blonde Haare und als ich mich gänzlich zu ihm umdrehte erkannte ich auch, dass er Lucas nicht ansatzweise ähnelte. Die einzige Gemeinsamkeit war die große sportliche Statur. Wer war der Kerl? Und wo war Lucas?

 

„Entschuldigung? Kann ich ihnen helfen?“

Die Besitzerin des Federstandes, die wohl eine Wahrsagerin darstellen sollte, tippte mir auf die Schulter. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es aussehen musste, wenn ich immer wieder von den Leuten der Stände gefragt wurde, wie es mir gehe oder ob ich was wöllte.

„Äh, ja. Ich würde gern etwas abholen.“

Hastig fischte ich den Zettel aus meiner Hosentasche und reichte ihn ihr. Dann zog ich meine Geldbörse raus und gab der Verkäuferin das Geld, welches meine Mutter mir gegeben hatte. „Müsste so stimmen.“

Sie lächelte mich freundlich an.

„Kennst du die Bedeutung des Traumfängers?“

Ich sah sie entgeistert an.

„Er vertreibt Alpträume?“

Ihre Augen funkelten.

„Das ist die Grundaufgabe, ja. Aber vielleicht solltest gerade du dich näher mit ihnen beschäftigen. Ich habe dich gestern beobachtet und ich muss sagen, du hast euch beide nicht glücklich gemacht.“

Wovon zum Teufel redete sie bitte. Ich habe euch beobachtet. Wie gruslig klang das denn bitte?

„Ich weiß nicht, was sie meinen.“

„Ach, Kleiner. Warum, glaubst du, ist Lucas heute nicht hier, hm? Er ist so ein netter Junge und hat mir die Zeit hier wirklich versüßt. Mit ihm kann man reden, im Gegensatz zu vielen anderen hier.“ Sie warf einem Passanten einen missbilligenden Blick zu.

In meinem Kopf ratterte es.

„Er ist wegen mir nicht hier? Aber…“

„Naja, wissen tue ich es nicht, aber nachdem du gestern so Hals über Kopf einfach verschwunden bist, sah er ziemlich mitgenommen aus. Warum lässt du ihn nicht an dich heran?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Hab ziemlich üble Erfahrungen gemacht.“

„Ach, Kindchen. Es ist doch nicht jeder gleich. Und Lucas ist wirklich Gold wert. So wie der Traumfänger, den du abholen sollst. Für wen ist er denn, wenn ich fragen darf?“

Sie reichte mir eine Tüte.

„Meine Mutter. Sie ist verrückt nach den Dingern.“

Bei meinem grummelnden Ton lachte sie laut auf.

„Na, da ist aber jemand alles andere als begeistert.“

„Warum sollte ich auch begeistert sein, wenn mir dauernd Federn ins Gesicht hängen? Und ich frage mich immer noch, warum gerade ich das Ding abholen sollte. Wenn sie so scharf drauf ist, kann sie’s ja auch selber machen.“

„Aber dann hättest du Lucas nicht kennengelernt.“

Mit gerunzelter Stirn sah ich sie an.

„Sie sind nicht wirklich so eine Wahrsagertante, oder?“

Sie lachte.

„Nein, nicht wirklich. Aber ich kann dir gerne eine kostenlose Handlesung geben, wenn du willst. Das ist nicht so schwer und den meisten Menschen reicht es, wenn du überirdisch aussiehst und vor dich hinmurmelst.“

Ich hob abwehrend meine Hände.

„Nein, danke. Ich komme klar.“

„Bist du dir da sicher?“ Sie zog eine Augenbraue hoch. „Du siehst nämlich nicht gerade sehr glücklich aus.“

„Ich bin 17. Welcher Teenager sieht da schon glücklich aus?“

„Gestern sahst du zufrieden aus.“ Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu. „Und ich denke, du solltest dich schnellstens mit ihm versöhnen, denn du siehst wirklich nicht gut aus. Du kannst dich doch nicht wohl fühlen, wenn du ihn so zurückgelassen hast. Und selbst wenn es dich kalt lässt, was es ganz sicher nicht tut, geh zu ihm und sag es ihm, denn das, was du ihm im Moment antust, hat er nicht verdient.“

Ich musterte sie zweifelnd.

„Und sie sind sicher keine Hellseherin?“

„Nein, aber anscheinend habe ich ins Schwarze getroffen. Vielleicht sollte ich mich auf diesem Gebiet auch mal ausprobieren.“

Jetzt war ich es, der lachte.

„Dann wünsche ich ihnen viel Erfolg.“

„Danke.“

Sie zwinkerte mir zu.

„Und jetzt geh und hole dir deinen Tramprinzen. Reite mit ihm auf einem Regenbogenpony in den Sonnenuntergang und werde glücklich. Du hast es verdient.“

Sie kam um den Stand herum und zog mich in eine herzliche Umarmung. Ich musste ein paar Tränen der Rührung wegblinzeln. Sie war einfach zu gut für diese Welt.

„Danke“, krächzte ich.

„Wofür? Dafür, dass ich dir gesagt habe, was du eh schon wusstest?“

Sie grinste mich an. Ich musste ebenfalls lächeln und umarmte sie noch einmal, ehe ich mich zum Gehen wandte.

„Richte Lucas viele Grüße von mir aus und er soll seinen Arsch gefälligst wieder hierher bewegen, sonst komme ich vor Langeweile noch um. Und das kann und will er nicht verantworten!“

Ich konnte nicht mehr anders und prustete los. Diese Frau war einfach unglaublich.

„Mach ich.“

Vorausgesetzt ich sah ihn wieder. Was ich momentan sehr bezweifelte. Ich hatte keinen Schimmer wo er sich für fewöhnlich aufhielt, geschweige denn, wo er wohnte. Wie sollte ich ihn da je wiedersehen?

Da fiel mein Blick auf den gegenüberliegenden Stand. Klar! Vielleicht konnte der Typ mir helfen.

 

Ich ging langsam auf ihn zu.

„Hi“

„Hi, kann ich dir helfen?“

„Ja, ich … ich suche jemanden.“

Er sah mich abwartend an.

„Ähm, also, er arbeitet hier. Er heißt Lucas.“

Die Miene meines Gegenübers veränderte sich. Es sah so aus, als ob er irgendetwas erkennen würde, als ob er wüsste, wer ich war. Aber das konnte nicht sein, oder?

„Wie heißt du?“, wollte er wissen.

„Dennis“

Er nickte langsam.

„Du bist echt ein Arsch, das weißt du, ja?“

Jetzt verstand ich nur noch Bahnhof.

„Bitte?“

Seine Augen funkelten.

„Du bist doch der Typ, wegen dem es Lucas so scheiße geht. Mann, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, ihn so zu verarschen? Kannst du mir das mal erklären?“

„Ich … ich hab keine Ahnung, was du meinst.“

Ich hatte wirklich keinen Schimmer. Anscheinend stand ich gerade auf dem Schlauch. So wie immer. Das war so typisch ich.

„Du hast ihn geküsst, schon vergessen? Und dann hast du ihn einfach stehengelassen. Und dieser Satz: „Meine Mutter wartet auf mich.“ Was Besseres ist dir nicht eingefallen, ja?“

Okay, Fakten zusammentragen: Lucas schien hier sehr beliebt zu sein und ich hatte ihn mit meinem hastigen Aufbruch sehr verletzt, aber was hätte ich denn machen sollen? Außerdem hatten wir uns nur geküsst. Nein, stimmte nicht. Er hatte mich geküsst. Was war daran jetzt bitte so schlimm?

„Was geht es dich an, was ich mit ihm mache? Außerdem habe ich ihm nichts versprochen.“

Es tat weh, so etwas zu sagen, aber es stimmte. Und ich hatte keine Lust mich deswegen anpflaumen zu lassen.

„Jetzt hör mir mal genau zu.“

Er beugte sich näher zu mir.

„Ich sehe doch, dass du das nicht so meinst. Außerdem hab ich dich mit Dorothea reden sehen. Ich bin nicht blöd, genauso wenig wie sie. Und du wirst jetzt deinen Hintern zu Lucas bewegen und ihm sagen, was Sache ist. Denn ganz ehrlich, du läufst hier so rum, als ob du dich am liebsten gleich selbst umbringen wölltest. Und wegen dir sieht er jetzt auch nicht anders aus. Ich glaube zwar eigentlich nicht an Liebe auf den ersten Blick, aber bei euch beiden…“

Ich sah ihn mit großen Augen an. Hieß das, dass Lucas wirklich was von mir wollte? Er verarschte mich nicht?

„Er meint es wirklich ernst?“

Mein Gegenüber, offensichtlich ein Freund von Lucas, verdrehte die Augen.

„Was glaubst du denn, warum ich hier stehe und mir den Arsch abfriere? Klar meint er es ernst und liegt jetzt todunglücklich in seinem Bett und lässt niemanden an sich heran.“

Er kritzelte eine Adresse auf einem Zettel und hielt ihn mir unter die Nase.

„Hier.“

Mit zittrigen Fingern nahm ich ihn entgegen. Ich wusste wo das war. Neben einem großen Park, nicht weit von hier.

„Hey, Dennis.“

Ich blickte auf. Sein Blick war weicher geworden. Er war mir nicht böse, das erkannte ich in diesem Moment. Er machte sich einfach nur Sorge um seinen Kumpel.

„Geh lieber erst in ein paar Tagen hin, die Mutter seiner Mum ist gerade da und kümmert sich um sie. Die hat es nicht gut aufgenommen, als sie erfuhr, dass ihr Enkel schwul ist. Ich glaube, sie ist bis zum 23. da.“

Ich nickte.

„Danke“

Er lächelte.

„Viel Glück.“

Ich lächelte ebenfalls zögernd und verstaute den Zettel in meiner Jackentasche. Dann nahm ich die Tüte mit dem Traumfänger und steuerte den Ausgang des Weihnachtsmarktes an. Bloß schnell raus aus diesen Menschenmassen.

 

„Und Dennis“

Ich drehte mich noch einmal um.

„Ich werde wissen, wenn du zu feige warst, um bei ihm vorbeizuschauen und dann werde ich dir eine Lektion erteilen. Niemand macht meinen besten Freund unglücklich, kapiert?

„Ich werd’s mir merken.“

Er lachte.

„Ich bin übrigens Thomas.“

Ich winkte ihm zum Abschied zu und drehte mich mit einem Lächeln auf den Lippen um. Ich mochte ihn. Lucas konnte froh sein, jemanden wie Thomas zu haben.

 

Blieb nur die Frage, wie ich Lucas jetzt klar machen sollte was in mir vorging. Die Idee abzuhauen, war vorerst vergessen. Wenn Lucas wirklich was von mir wollte, würde ich diese Chance ergreifen. Falls es dafür nicht schon zu spät war. Aber ich hatte ja noch ein paar Tage, um mir zu überlegen, wie ich das wieder gerade biegen konnte.

Ich tastete nach dem Zettel. Er war noch da. Meine düstere Stimmung jedoch war verschwunden. Die Leute um mich herum störten nicht mehr so sehr und die Musik kam mir auch nicht so nervig wie gestern vor.

Ich konnte wirklich nur hoffen, dass Lucas mir noch eine Chance geben würde. Denn der Kerl tat mir eindeutig gut. Und sei es nur, um meinen Extherapeuten glücklich zu machen, sollte ich es mit ihm probieren.

Sein Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. Wie er lächelte, das Funkeln seiner Augen, seine seidigen Haare. Was hatte der Typ nur mit mir gemacht? Ich kannte ihn seit drei Tagen und war verrückt nach ihm. Nach einem Kuss. Einem kleinen, nichtssagenden Kuss.

Doch für mich bedeutete eben dieser Kuss so viel. Er war alles. Alles, was mich gerade von Selbstmord oder Wegrennen abhielt. Alles, was mich am Leben hielt.

Ich beschleunigte meine Schritte. Als ob das helfen würde, die Zeit schneller vergehen zu lassen, schallte ich mich selbst. Ich sollte mir stattdessen überlegen, wie ich das am Heiligabend am schlausten anstellte. Noch fünf Tage. Ich seufzte. Wie sollte ich denn bitte fünf Tage ohne ihn überleben? Das waren 120 Stunden, 7200 Minuten, 432000 Sekunden, … Ich sollte damit aufhören. Was waren schon 120 Stunden?

Ich ließ meine Schultern hängen. 120 Stunden waren mindestens 120 Stunden zu viel. Am besten, ich schnappte mir Zuhause meinen Laptop und zog mir Titanic, Troja oder Avatar rein. Irgendwas Langes halt. Ich könnte mir auch nochmal die Herr der Ringe-Trilogie ansehen und am besten den Hobbit gleich mit dazu. Dann wären nur noch ungefähr 92 Stunden übrig. Großer Fortschritt, oder?

Oder ich rechnete die ganze Zeit, was ich machen musste, damit so und so viel Zeit rumginge, dann passte das auch irgendwann.

Ich lachte auf. Irgendwie war ich schon blöd.

 

 

Ich hatte es tatsächlich geschafft, die komplette Trilogie von Herr der Ringe in Überlänge zu sehen, war dann dafür aber in der entscheidenden Schlacht bei Troja eingeschlafen. Das letzte, woran ich mich erinnerte, war, wie die Griechen aus dem Pferd sprangen und die Stadttore öffneten.

 

 

--- 20.12. ---

 

Ich schlug meine Augen auf und gähnte. Wie lange hatte ich geschlafen? Draußen war es noch dunkel, also entweder nicht lange oder einen Tag lang. Ich hoffte auf letzteres, aber wie ich meine Schlafgewohnheiten kannte, wahrscheinlich nur ein paar Stunden. Der Blick auf meinen Wecker bestätigte meine Vermutung. Es war halb drei. Ich seufzte und ließ mich zurück in mein Kissen fallen. Schlaf konnte ich jetzt vergessen.

Also stand ich auf und ging leise in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Wahrscheinlich war es am sinnvollsten, mich von Titanic soweit runterziehen zu lassen, dass ich wieder einschlief. Augenringe hatte ich eh schon und unter Schlafmangel litt ich auch, was machten da die paar Stunden noch aus?

3

 --- 21.12. ---

 

Als ich das nächste Mal erwachte, schien die Sonne hell in mein Zimmer. Ich fühlte mich ausgeschlafen. Nicht gut, aber wach. Immerhin.

Ich krabbelte aus meinem Bett und schlurfte ins Bad. Ich hatte seit Samstagmorgen nicht mehr geduscht und vielleicht würde das kühle Wasser dazu führen, dass ich mich besser fühlte.

Ich schloss meine Augen und hielt mein Gesicht in den Wasserstrahl. Das tat gut. Bis auf die Tatsache, dass meine Gedanken wieder zu einer ganz bestimmten Person wanderten. Ich seufzte. Wahrscheinlich sollte ich mich nicht mehr dagegen wehren. Es einfach zulassen.

Irgendwie hatte Lucas es ja auch nicht verdient, wenn ich ihn auch noch in meinem Kopf verdrängte. Schließlich hatte ich ihn einfach stehengelassen. Da war es nur fair, wenn er mich jetzt heimsuchen durfte.

Ich stellte das Wasser ab und ging nur mit einem Handtuch bekleidet in die Küche. Die Filme und unregelmäßigen Schlafphasen hatten dazu geführt, dass ich jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Es war hell draußen, also vermutlich war es so gegen Mittag.

Trotzdem hatte ich keinen großen Hunger und nahm mir nur ein Brötchen, welches ich schnell mit Nutella beschmierte, um mich dann im Wohnzimmer auf die Couch zu setzen und fern zu sehen.

Mein Plan wurde von meiner Mutter, wem sonst, durchkreuzt. Sie saß mit ihren Freundinnen, von denen ich nicht wusste, dass es sie gab, am Wohnzimmertisch und pries ihre neue Errungenschaft - den Traumfänger - an. Mich bemerkte sie dabei überhaupt nicht, aber es war wahrscheinlich besser, wenn ich zurück in mein Zimmer ging. Meine Mutter schätzte es gar nicht, wenn ich im Handtuch vor anderen herumlief. Warum, konnte ich nicht sagen. Ich sah nicht unbedingt gut aus, aber schlecht würde ich es auch nicht bezeichnen. Halt normal.

Was auch immer sie hatte, eigentlich konnte ich froh sein. So entkam ich den ewig andauernden, langweiligen Kaffekranz-Nachmittagen und musste nicht brav danebensitzen.

Mein Therapeut hätte mich jetzt gelobt. Er wäre stolz auf mich gewesen, weil ich positiv gedacht hatte. Galgenhumor zwar, aber Humor war schließlich Humor.

In meinem Zimmer zog ich mir eine schwarze Jeans an und einen ebenfalls schwarzen Kapuzenpulli. Noch etwas, was meine Mutter auf den Tod nicht ausstehen konnte. Sie meinte immer, schwarz würde mich noch blässer machen und mir überhaupt nicht schmeicheln. Ich sah das anders. Erstens mochte ich die Farbe über alles, zweitens war ich kein Emo und drittens passte sie perfekt zu meinen schwarzen Haaren. So vollkommen dunkel fühlte ich mich nicht mehr ganz so angreifbar, da viele einen Bogen um mich machten. Nur leider nicht sie. Aber wir waren umgezogen. Sie konnten mir nichts mehr tun. Zum Glück.

Ich sah aus dem Fenster und entdeckte einen süßen Cockerspaniel, der gerade sehr interessiert an einer Straßenlaterne schnüffelte. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht.

Das war es! Ich würde mit Fridolin eine Runde drehen. Beim Gassi gehen bekam ich den Kopf frei und tat dem Kleinen auch gleich was Gutes.

Ich schnappte mir Jacke und Schlüssel, steckte meinen Mp3-Player in die Tasche und verließ die Wohnung. Meiner Mutter musste ich nicht Bescheid sagen, die war froh, wenn ich weg war.

 

 

Fridolin kam mir freudig entgegengesprungen. Er war nicht unbedingt das, was man als groß bezeichnete, aber dennoch hatte er die Kraft, mich umzuwerfen.

„Hey, ganz ruhig, Kleiner. Wir gehen ja schon.“

Ich kraulte ihn hinter den Ohren und wünschte seiner Besitzerin noch einen schönen Tag.

 

Der Park war so kurz vor Weihnachten wenig besucht. Mir war es recht so. Ich fand es nervig, die gesamte Zeit aufpassen zu müssen, dass Fridolin niemandem zu nahe kam oder plötzlich auf andere Hunde zu hastete. Manche waren da ja sehr empfindlich. Vor allem Mütter mit kleinen Kindern. Die sahen dich schon böse an, wenn du mit deinem Hund in einen zehn-Meter-Umkreis ihres Kindes kamst. Dabei waren es weniger die Kinder, die Angst hatten. Die wollten den Hund meistens sogar streicheln.

 

Fridolin kam mit einem großen Stock im Maul auf mich zugelaufen. Ich grinste. Wer konnte bei den großen Hundeaugen schon nein sagen?

Ich nahm ihm das Stöckchen ohne Probleme ab. Eine Eigenschaft, die ich an Fridolin sehr zu schätzen wusste. Zur Belohnung kraulte ich ihn kurz hinter den Ohren und warf den Stock dann wieder weg. Ich war nicht der Beste in Sport, aber für’s Stöckchenwerfen reichte es allemal.

Fridolin sauste dem Stock hinterher und fing ihn mit einem Sprung in der Luft auf. Dann kam er wieder und hielt mir seine Errungenschaft schwanzwedelnd unter die Nase. Der Kleine war schon niedlich. Lächelnd warf ich den Stock erneut, diesmal in die andere Richtung.

Beim nächsten Mal deute ich das Werfen nur an und schleuderte das Holz hinter mich. Verpeilt wie Fridolin war, bekam er das natürlich erst nicht mit. Ich lachte auf, als er in die gewohnte Richtung sprintete. Plötzlich blieb er stehen und sah sich verdutzt um. Sein Blick wanderte zu mir und ich konnte mich nicht mehr halten vor Lachen.

„Hier, Fridolin. Komm hier!“

Hechelnd kam er auf mich zugerannt. Doch anstatt abzubremsen, sprang er und begrub mich unter sich. So klein er auch aussah, schwer war er.

„Ach, Frido! Was soll denn der Mist, hm?“

Statt einer Antwort leckte er mir über mein Gesicht. Angeekelt drehte ich meinen Kopf zur Seite.

„Bäh, Fridolin, lass das! Du weißt, dass du das nicht darfst. Komm, geh runter von mir!“

Ich drückte gegen seine Flanke und schaffte es tatsächlich, den schweren Klops auf den Boden zu schieben. Natürlich nicht ohne nochmal seine Pfoten in den Magen zu bekommen.

Zum Glück war es trocken. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie ich jetzt aussehen würde, wäre es nass gewesen.

„Okay, Fridolin. Wir gehen zurück, ja? So kann ich schließlich nicht durch die Öffentlichkeit wandern.“

Ich nahm ihn wieder an die Leine. Es war eine gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Die gesamte Zeit hatte ich nicht einmal an Lucas gedacht. Außerdem waren es jetzt nur noch drei Tage, die ich irgendwie herumbekommen musste.

 

Nachdem ich Fridolin wieder abgegeben hatte, schlenderte ich noch ein wenig durch die Stadt. Ich kaufte mir einen Kaffee und genoss die vergleichsweise warme Winterluft. Für Dezember waren 14 Grad echt angenehm.

 

Gegen 22.00 Uhr machte ich mich auf den Heimweg, in der Hoffnung, dass die Freundinnen meiner Mutter verschwunden waren. Aber wahrscheinlich saßen sie immer noch mit zu viel Alkohol intus am Tisch und kicherten was das Zeug hielt. Sie würden sich gegenseitig zuprosten und große Reden schwingen. Wie ich es hasste.

Vielleicht sollte ich einfach hier bleiben. Meiner Mutter würde es nicht auffallen, wenn ich über Nacht nicht zu Hause war. Blieb nur die Frage, wohin ich gehen sollte.

So warm, dass ich auf einer Bank schlafen konnte, war es dann doch nicht und selbst wenn, ich wollte nicht wie ein Penner aussehen.

Wenn ich nur nicht so dumm gewesen wäre. Wenn ich das mit Lucas nicht versiebt hätte, vielleicht hätte ich dann… Ich schüttelte den Kopf. Thomas hatte gesagt, Lucas‘ Oma, die nicht gut auf das Thema Homosexualität zu sprechen war, wäre da, also würde das eh nicht gehen. Aber wenn ich gesagt hätte, ich wäre nur ein Freund…

Energisch schob ich den Gedanken beiseite. Nein, es ging nicht. Ich hatte es nicht vergeigt, sondern nur dafür gesorgt, dass ich nicht wieder verletzt wurde.

 

Ich bog in meine Straße ein. Schon von weitem hörte ich Gelächter und die unverwechselbare Stimme meiner Mutter. Sie sang gerade laut und schräg irgendeinen Partysong. Obwohl schräg eigentlich nicht das richtige Wort war. Es klang eher so, als würde sie versuchen, bloß keinen Ton zu treffen. So schlecht konnte man doch gar nicht sein.

Plötzlich war es mir egal, ob mich morgen jeder für einen Penner hielt. Aber ich würde ganz sicher nicht dieses Haus betreten. Am besten, ich blieb ihm die folgenden Tage fern. Oder lieber gleich die nächsten Jahre. Das war sicherer. Solange, dass mich hier niemand mehr kannte oder besser gesagt, bis mich niemand mehr mit meiner Mutter in Verbindung brachte.

 

 

Ich zog meinen Kragen höher und setzte mir meine Kapuze auf. Zum Glück hatte ich meine Lieblingsjacke angezogen. Die Fellkapuze hielt wenigstens halbwegs warm und in das gefütterte Innere konnte man sich schön reinkuscheln. Mein Bett wäre mir zwar lieber gewesen, aber hier hatte ich immerhin meine Ruhe.

Wer saß schon Ende Dezember kurz vor Mitternacht auf einer Parkbank? Idioten. Ich grinste. Ja, ich war ein Idiot. Ein depressiver, nichtstaugender, frierender Idiot.

Ich sah zum Sternenhimmel hoch. Vereinzelt verdeckten ein paar Wolken die Sicht, doch größtenteils war es klar.

Ich versuchte mich daran zu erinnern, was wir in Astronomie alles gelernt hatten. Viel war nicht hängengeblieben. Ich hatte die meiste Zeit der Stunden damit verbracht, kleine, selbstmordbegehende Männchen auf ein Blatt Papier zu kritzeln.

Mein Therapeut hatte sich das Blatt angesehen und lächelnd den Kopf geschüttelt. „Solange du die umbringst und nicht dich, darfst du von mir aus so viel Astronomie schwänzen wie du willst.“

Ich lächelte bei dieser Erinnerung. Mein Leben war mit ihm nicht unbedingt besser gewesen, aber irgendwie hatte ich mich wohler gefühlt. Seine Nähe hatte etwas Beruhigendes an sich gehabt. Wäre er nicht schon Ende Dreißig oder so gewesen, hätte ich mich vielleicht in ihn verliebt. Ich war froh, dass er so alt war.

Eine gewisse Ähnlichkeit zu Lucas bestand. Sie hatten die gleiche Art, dasselbe ausgeglichene Wesen. Wobei, war Lucas wirklich so ausgeglichen, wenn er seinen Kumpel zum Stand geschickt hatte, nur um mir nicht über den Weg zu laufen?

Nein, das war etwas anderes. Das hatte damit nichts zu tun.

 

Ich lehnte mich zurück. Langsam wurde es echt arschkalt. Vielleicht sollte ich mich bewegen und nicht die ganze Nacht auf einer Bank sitzen. Mittlerweile war es auch stockdunkel, sodass niemand mich sehen würde. In diesem Teil des Parks gab es nur alle 50 Meter eine Laterne.

Ich erhob mich und ging Richtung See. Entfernt konnte man vereinzelt die Geräusche der Autos hören, sonst war es still.

Der See lag ruhig und klar vor mir. Der Vollmond spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Ein Steg führte hinaus. Im Sommer lagen hier Ruder- und Motorboote, jetzt, im Winter, war auch er verlassen.

Nein, das stimmte nicht. Ganz vorne saß eine Gestalt. Ich war zu weit entfernt, um sie erkennen zu können. Langsam ging ich weiter. Achtete darauf, kein Geräusch zu verursachen. Ich wollte nicht entdeckt werden. Nachts von einer dunklen Gestalt angegriffen zu werden gehörte nicht unbedingt zu meinen Wunschvorstellungen. Nicht nach meiner Vergangenheit.

 

Mit einem letzten Blick auf die Person am Steg wandte ich mich ab und steuerte den Rundweg um den See an. Ich war schon häufiger abends hier gewesen, aber so spät noch nie. Diese Ruhe war einmalig. Wenn ich so unter den Bäumen entlang ging, konnte ich mein Leben mit all den Sorgen und Problemen fast vergessen. Aber eben nur fast.

 

Ich erreichte eine freie Stelle, die im Sommer als Badestelle diente. Hier konnte man fast den gesamten See überblicken. Mein Blick wanderte zum Steg. Er war leer.

Eigentlich konnte es mir egal sein und doch erfasste mich eine gewisse Nervosität. Was, wenn die Person mich gesehen hatte und mich verfolgte? Wenn sie mich angriff? Mich umbrachte?

Ein Zweig knackte hinter mir. Ich fuhr herum. Spähte in die Dunkelheit. Ich konnte nichts erkennen. Vorsichtig duckte ich mich in den Schatten der Bäume.

Wieder raschelte es. Diesmal näher, aber auf der anderen Seite. Also war die Person an mir vorbeigegangen. Ich atmete auf.

Immer noch darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, schlich ich mich zurück zum Hauptweg. Ich sollte so schnell wie es ging zu besser beleuchteten Stellen des Parks gehen.

Hinter mir, auf der anderen Seite des Sees, ertönte eine Sirene. Polizei. Vielleicht hatte ich Glück und sie schnappten wer auch immer hier herumlief. Andererseits wenn schon Polizei im Einsatz war… Wer war diese Person?

Plötzlich stieß ich mit etwas zusammen. Nein, nicht etwas. Jemand. Ich schrie auf und fuhr herum. Das nicht vorhandene Licht verhinderte, dass ich meinen Gegenüber erkennen konnte.

Ein Handy leuchtete auf, blendete mich.

Ich bekam Panik. So schnell es ging, rannte ich davon. Die Schritte meines Verfolgers dicht hinter mir.

Ich schrie nach Hilfe, merkte, wie die Polizisten mit ihren Taschenlampen in meine Richtung kamen. Ich musste nur noch ein paar Minuten durchhalten. Ein paar Meter, dann hatte ich es geschafft.

 

„Dennis!“

 

Ja, gleich war ich in Sicherheit.

 

„Mann, Dennis, warte!“

 

Warten? Klar, natürlich würde ich warten. War ja nicht so, dass ich gerade verfolgt wurde. ich beschleunigte meine Schritte.

 

 

Ruckartig wurde ich zu Boden geworfen. Eine Hand legte sich auf meinen Mund und verhinderte, dass ich weiter nach Hilfe rufen konnte.

Das war’s. Die Polizisten waren noch zu weit entfernt, als dass sie mir noch helfen könnten. Ich war verloren.

Verzweifelt versuchte ich mich, zu befreien, doch mein Gegner hielt mich eisern fest.

 

„Dennis, ich bin’s.“

 

Ich ignorierte die Stimme. Was auch immer er wollte, ich würde nicht kampflos aufgeben. Mit letzter Kraft schob ich ihn von mir herunter und rollte mich auf ihn. Wieder flackerte das Licht eines Handydisplays. Doch der Kerl versuchte nicht,schüchternh sich zu wehren. Er lag einfach ganz still da und beleuchtete sein Gesicht.

Verwirrt sah ich ihm in die Augen und erstarrte. Gold.

„Lucas“, hauchte ich.

„Ja, du Idiot. Wer sonst?“

Ich blinzelte. Konnte nicht fassen, dass Lucas mich verfolgt hatte.

„Aber was..?“

Er seufzte.

Ich war im Park unterwegs und plötzlich bist du in mich reingerannt. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, da bist du schon weggerannt und hast nach den Bullen gerufen. Keine Ahnung was du erlebt hast, aber es muss echt schlimm gewesen sein. Warum bist du überhaupt hier? Zu der Uhrzeit?“

Seine Augen bohrten sich in meine.

„Ich…“ Entsetzt bemerkte ich, dass ich immer noch auf ihm lag und stand schnell auf. Ich streckte ihm eine Hand entgegen, die er dankbar ergriff.

„Danke. Also?“

„Ja, ähm… Ich…“ Fieberhaft suchte ich nach einer Erklärung. Ich konnte ihm ja schlecht die Wahrheit sagen. Andererseits ging es doch genau darum. Ich hatte ihn schon mal belogen. Verletzt. Das konnte, wollte, ich nicht noch einmal.

„Meine Mutter macht mit ihren Freundinnen einen drauf und man hört sie in einem Umkreis von drei Straßen. Ich wollte nicht nach Hause.“

Unsicher sah ich ihn an. Sein Blick ruhte nachdenklich auf mir. Dann wanderte seine Augen höher und nahmen mich gefangen. Ich konnte eine Spur Scheu in ihnen erkennen.

„Komm“, flüsterte er. „Lass uns verschwinden, ehe die Bullen kommen und uns mit auf’s Revier nehmen. Die finden herumstreunende Jugendliche gar nicht lustig.“

Ich nickte. Deshalb waren die also hier.

„Was machst du eigentlich so spät noch hier.“

„Kopf freibekommen.“

Ich runzelte die Stirn.

„Was?“

Sein Blick huschte zu mir. Ich konnte die selbe Schüchternheit wie am Samstag in ihnen erkennen, kurz bevor er mich geküsst hatte.

„Ich … also … ich wollte…“ Er holte tief Luft. „Ich hab die ganze Zeit nur an dich gedacht. Hab mir Vorwürfe gemacht, weil ich dich geküsst habe. Du sahst einfach so verloren aus, ich weiß auch nicht…“

Schweigend lief ich neben ihm her.

„Du hast mich also nur geküsst, weil ich verloren aussah?“

Sein Kopf fuhr herum.

„Was? Nein! ich hab dich geküsst, weil … weil … ich … ich mag dich, Dennis. Ich weiß, wir kennen uns erst seit drei Tagen, aber in dieser Zeit… Es fühlt sich so an, als würden wir uns schon Ewigkeiten kennen. ‘tschuldignung, das klingt kitschig.“

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um.

„Nein, überhaupt nicht. Mir geht es genauso.“

Mit großen Augen sah er mich an.

„Warum bist du dann abgehauen?“

„Ich … ich weiß es nicht. Ich hatte Angst, dass du mich wieder verarschst, dass du…“

 

„Hey! Ihr zwei, sofort stehenbleiben!“

 

Lucas und ich fuhren herum. Nicht weit von uns entfernt stand ein Polizeibeamter und leuchtete uns mit seiner Taschenlampe an.

„Shit“, fluchte Lucas.

Er griff nach meiner Hand und zog mich in die entgegengesetzte Richtung davon.

 

 

--- 22.12. ---

 

Ich dachte nicht mehr nach. Lief einfach nur noch. Folgte Lucas, der zielsicher durch die Dunkelheit lief. Er kannte sich hier aus, das war sein Gebiet.

Irgendwann verstummten die Polizeirufe hinter uns und die Wege wurden heller. Wir hatten es geschafft.

Völlig außer Atem bogen wir in seine Straße ein. Er hielt immer noch meine Hand, hatte sie während der gesamten Zeit nicht losgelassen. Es fühlte sich gut an. Richtig.

Als wir vor der Tür zu seinem Wohnblock standen, sah er mich wieder so niedlich unsicher an.

„Willst du…“ Er räusperte sich. „Willst du mit hochkommen? Es ist schließlich schon nach halb zwei.“

Erst jetzt, als das Adrenalin langsam zurückging, spürte ich die Müdigkeit.

„Wenn das für dich okay ist.“

Er lächelte mich schüchtern an.

„Ich denke, wenn jemand ein Problem damit hat, dann meine Oma. Sie ist was das angeht echt konservativ. Wir müssen leise sein.“

„Bist du geoutet?“

„Ja. Aber nur weil sie noch mit mir redet, heißt das nicht, dass sie es befürwortet. Ich glaube, sie dachte, es sei ein Scherz gewesen.

Lucas schnappte sich wieder meine Hand und ich ließ mich von ihm die Treppe hochziehen.

 

Er wohnte im dritten Stock und schloss leise die Tür auf. Vorsichtig zogen wir unsere Schuhe aus und schlichen in sein Zimmer.

Es war größer als ich mir ein Zimmer in so einem Block vorgestellt hätte.

Ich drehte mich wieder zu Lucas und musste bei seinem Anblick ein Stöhnen unterdrücken. Er hatte sich bis auf die Boxershorts ausgezogen und stand jetzt abwartend vor seinem Bett.

Als er meinen Blick bemerkte, wurde er rot.

„Ich … ähm, ich kann mir auch was anderes anziehen. Ich schlaf immer so, deshalb… Ich zieh mir was anderes an.“

„Nein“

Er hielt mitten in der Bewegung inne.

„Ist okay. Ich komme damit klar, wenn du damit klar kommst.“

Er grinste schief.

„Okay.“

 

Er rutschte auf sein Bett und machte mir Platz.

Ich zog mich ebenfalls bis auf meine Boxershorts aus und legte mich neben ihn.

„Danke“

„Wofür?“

„Ohne dich würde ich mir da draußen den Arsch abfrieren.“

Er lachte leise.

„Das würde ich nicht zulassen können.“

Überrascht drehte ich mich zu ihm um. Der schwache Schein des Mondes tauchte sein Gesicht in ein Muster aus Licht und Schatten. Ich hätte ihn am liebsten an mich gedrückt und geküsst, doch ich wusste nicht, wie er darauf reagieren würde.

Er grinste mich schief an und kuschelte sich dann schläfrig in sein Kissen.

„Schlaf gut.“

„Du auch.“

Ich rückte ein Stück näher zu ihm ran und atmete den Duft seines Kissens ein. Seinen Duft.

 

Lucas bewegte sich neben mir und ich spürte einen Arm auf meiner Brust. Ein Lächeln schlich sich in mein Gesicht, welches einem Grinsen wich, als er sich gänzlich zu mir umdrehte und mich von hinten umarmte.

Immer so einzuschlafen … ich gähnte … wäre schön.

 

Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem warmen Gefühl im Magen und am Rücken. Ich drehte meinen Kopf und lächelte, als ich direkt in das schlafende Gesicht von Lucas blickte. Wir hatten die ganze Nacht so gelegen. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät.

„Hör auf, mich so anzustarren.“

„Mach ich doch gar nicht.“

Träge öffnete er ein Auge und sah mich belustigt an.

„Doch, tust du.“

Ich rollte zu ihm herum und stützte mich neben seinem Kopf ab. Er schob eine Hand in meinen Nacken und sah mir nachdenklich in die Augen.

„Dennis, ich mag dich wirklich sehr und ich wünsche mir, öfter so neben dir aufwachen zu können.“

Er seufzte und ich konnte das „Aber“ schon hören.

„Aber ich möchte wissen, woran ich bei dir bin. Du kannst nicht immer abhauen. Erst in der Stadt, dann auf dem Weihnachtsmarkt und gestern im Park. Egal, was in deiner Vergangenheit passiert ist, du musst es hinter dir lassen. Ich will dir dabei helfen, aber dafür musst du mich an dich heranlassen.“

Flehend blickten mich seine honigfarbenen Augen an.

Gedankenverloren strich ich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Konnte ich ihm vertrauen? So wirklich? Bis jetzt hatte er nichts getan, was dagegen sprach, aber hieß das auch, dass das so bleiben würde?

Ich setzte gerade zu einer Antwort an, als die Zimmertür geöffnet wurde und eine ältere Dame den Raum betrat.

Das war dann wohl Lucas‘ Oma und das wiederrum hieß, wir hatten ein Problem. Ich meine, wie sollte man zwei halbnackte Jungen erklären, die halb aufeinander in einem Bett lagen?

Die Frage verflüchtigte sich, als Lucas aufsprang und beruhigend auf seine Großmutter zuging.

„Omi, ich kann das erklären. Das war nicht das, wonach es aussah, es war…“ Er verstummte unter dem geschockten Blick seiner Oma.

„Raus“, zischte diese leise, was dem Wort einen bedrohlichen Unterton verlieh. Ihr Blick wanderte zu mir. „Verschwinde aus diesem Haus und du, Lucas, ziehst dir auf der Stelle etwas Ordentliches an und kommst ins Wohnzimmer. Sofort.“

Sie warf mir noch einen eisigen Blick zu und verschwand.

 

Mit weißem Gesicht drehte Lucas sich wieder zu mir um.

„Sorry“

Ich war ebenfalls aufgestanden, hatte mir meine Jeans schon angezogen und zog mir gerade meinen Kapuzenpulli über den Kopf.

„Kein Problem, du hattest mich ja vorgewarnt.“

„Nein, das ist es nicht.“ Lucas wirkte verloren, wie er da so unschlüssig vor mir stand. Er kratzte sich am Hinterkopf.

„Ich wollte das jetzt mit dir klären, aber wir sollten ihre nicht vorhandene Toleranz nicht noch weiter strapazieren.“

„Thomas meinte, sie wäre bis zum 23. da. Soll ich dann wiederkommen?“

Er musterte mich mit einem Blick, den ich im Moment nicht so wirklich deuten konnte.

„Ähm, ja. Am Nachmittag reist sie ab.“

„Okay, dann bis morgen.“

Lucas kam einen Schritt auf mich zu. Er stand direkt vor mir und sah mir ernst in die Augen.

„Überleg dir, was du willst, ja?“

Ich nickte stumm. Einen Tag, wie sollte ich das so schnell entscheiden?

Lucas umarmte mich zum Abschied noch kurz und schob mich dann Richtung Wohnungstür.

„Bis morgen.“

 

Ich schlich den Hausflur nach unten und trat hinaus ins Freie. Die frische Luft tat gut. Hoffentlich half sie mir auch, den Kopf wieder frei zu bekommen. Eineinhalb Tage. Ich atmete tief durch. Sollte ich? Konnte ich?

Ich ging langsam in Richtung meines Hauses. Mein Zuhause ließ ich dabei hinter mir. Es war schon komisch. Aber anscheinend ging es Lucas ähnlich wie mir. Was sprach also noch dagegen?

Meine Angst. Die Angst davor, wieder verletzt zu werden. Alles erneut zu durchleben.

Ich ließ mich auf eine nahgelegene Bank fallen. Warum kamen die Zweifel jetzt wieder? Sie waren doch die ganze Zeit nicht da gewesen.

Ruckartig richtete ich mich wieder auf. Das war es!

Ich lächelte. Jetzt wusste ich, was ich Lucas morgen sagen würde. Sagen musste. Was ich ihm sagen wollte.

4

--- 23.12. ---

 

So wie die Zeit anfangs nicht schnell genug vergehen konnte, würde ich sie jetzt am liebsten anhalten. Andererseits auch nicht, denn ich wollte ihn wiedersehen. Es war zum verrückt werden.

Ich tigerte schon den ganzen Tag durch mein Zimmer. Überlegte, was ich anziehen sollte, wie ich es ihm am besten sagen sollte.

 

Als ich gestern nach Hause gekommen war, fand ich meine Mutter inmitten von Weinflaschen auf dem Boden liegend. Zwei ihrer Freundinnen hingen komisch verrenkt auf dem Sofa und schliefen schnarchend ihren Rausch aus. Der Rest war wohl irgendwie noch nach Hause gekommen. Ich hoffte, sie hatten keinen Unfall gebaut. Nicht um ihretwillen. Wegen der anderen. Diesmal hatten sie es echt übertrieben.

Ich hatte den Krankenwagen gerufen, als meine Mutter nach längerem Rütteln immer noch nicht aufgewacht war. Dass ich sie nicht leiden konnte, bedeutete nicht, dass ich herzlos ihr gegenüber war.

Doch mein Plan, so zu tun, als ob ich sie nicht kennen würde, war damit hinfällig.

Ich hatte den Sanitätern erzählt, dass ich eigentlich nicht geplant gewesen war und mein Vater nur selten nach Hause kam. Dass meine Mutter deshalb so abgestürzt war. Denn eigentlich war sie eine starke Frau. Früher einmal, als es mich noch nicht gegeben hatte.

Jetzt lag sie, wie ihre Freundinnen, mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus. Sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, weil sie mir nicht leid tat? Weil ich mir keine Sorgen um sie machte? Wahrscheinlich. Und doch konnte ich keine Gefühle in dieser Richtung für sie aufbringen.

 

Ich seufzte. Schwarze oder dunkelblaue Jeans? Schwarz. Passte besser. Und außerdem war es kein Date. Leider. Aber vielleicht änderte sich das. Irgendwann.

 

16.00 Uhr. Mein Magen kribbelte und ich wippte nervös auf und ab. Was sollte ich die nächsten Stunden noch machen? In meiner Aufregung hatte ich die Wohnung von den Zeugnissen der letzten Nacht gesäubert und auch sonst durchgeputzt.

Geduscht und fertig angezogen war ich auch. Und jetzt?

Ich stellte mich ans Fenster und sah hinaus auf die Straße. Es hatte angefangen zu schneien. Kleine weiße Flocken tanzten durch die Luft und bedeckten den Boden mit einer feinen Schicht.

 

Ich wusste nicht, wie ich es geschafft hatte, vor Aufregung nicht zu sterben, aber gegen neun verließ ich das Haus. Meine Nervosität verstärkte sich mit jedem Schritt. Ich hatte nicht früher gehen wollen, falls seine Oma später aufgebrochen war.

Ich vergrub meine Hände in den Jackentaschen. Durch den Schnee hatte die Luft sich stark abgekühlt. Wieder stiegen weiße Wölkchen von meinem Mund aus in die Luft. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich Lucas das erste Mal gesehen hatte. Vom ersten Augenblick an hatten mich seine Augen verzaubert. Er hatte mich voll und ganz in seinen Bann gezogen und ich hatte nichts dagegen tun können. Aber ich wollte es auch nicht. Nicht mehr.

 

Kurze Zeit später erreichte ich den Block, in dem er wohnte und klingelte mit flatterndem Herzen. Nach kurzer Zeit meldete sich Lucas. Er klang leicht gehetzt.

„Hey, warte, ich komm runter.“

„Okay“

Ich runzelte die Stirn. Aber eigentlich war es mir egal, wo wir uns trafen, Hauptsache, ich sah ihn wieder.

 

Die Haustür öffnete sich und Lucas trat heraus. Er trug wie ich eine schwarze Winterjacke und sah einfach umwerfend aus.

„Hi“

Er lächelte mich entschuldigend an.

„Meine Oma ist doch noch da. Anscheinend hat sie Angst, dass wieder ‘nen Typ bei mir übernachtet, wenn sie nicht aufpasst.“

„Hast du viel Ärger bekommen?“

Die Vorstellung, dass er sich wegen mir mit seiner Familie stritt, behagte mir nicht.

„Quatsch, meine Mom nimmt das gelassen. Sie hat auch gleich nach dir gefragt und war enttäuscht, als ich ihr gesagt habe, dass du schon weg bist. Sie wünscht sich schon lange, dass ich ihr mal jemanden vorstelle.“

Er sah mich prüfend von der Seite an, während wir durch die verschneiten Straßen Richtung Park gingen. Diesmal an eine andere Stelle, wo uns sie Polizei hoffentlich nicht finden würde.

Der Schnee bildete schon eine geschlossene Schicht und noch immer fielen vereinzelt Flöckchen vom Himmel. Sie verfingen sich in Lucas‘ Haaren und ich musste dem Drang widerstehen, sie herauszuzupfen.

Ich blieb stehen und sah ihn an.

„Ich würde mich freuen, wenn ich sie kennenlernen dürfte. Du hast Recht, ich kann nicht immer davonlaufen. Das habe ich jetzt begriffen. Keine Ahnung, ob ich es schaffen werde, aber was ich weiß ist, dass ich nicht davonrennen will, wenn du da bist. Solange ich in deiner Nähe bin, vergesse ich das alles. Ich denke nicht mehr daran, wie schlimm mein Leben ist, dass ich niemanden habe, dem ich wichtig bin. Ich denke nicht mehr daran, mich umzubringen.“

Lucas sah mich mit großen Augen an.

„Mir bist du wichtig.“

Er kam auf mich zu und nahm zögernd meine Hand in seine. Ich lächelte und drückte sie leicht.

„Heißt das, du willst?“

Ich nickte.

„Wenn es für dich okay ist.“

Statt einer Antwort nahm er mein Gesicht in seine Hände und küsste mich sanft. Diesmal erwiderte ich den Druck seiner Lippen. Es fühlte sich so unbeschreiblich gut an.

Meine Hände legten sich auf seine Hüfte und zogen ihn näher zu mir heran. Jetzt, wo ich wusste, dass ich es durfte, wollte ich ihn auch nicht mehr hergeben. Ihm schien es genauso zu gehen, denn er verschränkte seine Hände in meinem Nacken und presste sich an mich.

 

 

--- 24.12. ---

 

Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht und von irgendwoher erklang Sarah Connors Christmas In My Heart.

Lucas löste sich vorsichtig von mir und flüsterte gegen meine Lippen: „Frohe Weihnachten, Dennis.“

Ich schlang meine Arme um ihn und vergrub mein Gesicht an seinem Hals.

„Dir auch.“

 

 

I don't know how to stay alive

Without your touch without you by my side

 

Eins wusste ich jetzt, nämlich dass ich genau das nicht mehr konnte. Ich konnte nicht mehr ohne ihn leben. Er war mein Halt im Leben, mein ein und alles.

 

It's Christmas in my heart

When I'm with you

 

Ich war angekommen. Da, wo ich sein sollte. Ich hatte mit Lucas meinen Platz im Leben gefunden.

 

Tomorrow may be grey

We may be torn apart

But if you stay tonight

It's Christmas in my heart

 

Auch wenn es auf lange Zeit gesehen nicht klappen sollte, für mich zählte im Moment nur das hier und jetzt. Lucas zu umarmen, ihn zu spüren, seinen Duft einatmen zu können.

Er hatte mir klar gemacht, was es bedeutete, ein Zuhause zu haben. Er war mein Zuhause. Ein Zuhause, welches nach Weihnachten duftete.

Imprint

Images: http://www.wallpaper-gratis.eu/feiertage/weihnachten/weihnachtsdekoration1.php
Editing: Wie immer BlackSheepi. Tut mir leid, dass ich dich immer so hetze... Aber sieht so aus, als hätten wir es geschafft^^
Publication Date: 12-24-2014

All Rights Reserved

Dedication:
Für alle, die mich dieses Jahr immer wieder zum Lachen gebracht haben. Ich danke der Tigerdame, Laura und SwanBones für eure tollen Geschichten und lieben Kommis und Nachrichten und ein riesengroßes DANKE an BlackSheep, für deine unendliche Geduld und Zeit mit/für mir/mich. Ich weiß, dass ich nicht einfach bin ;)

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