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Morgens, exakt um halb Acht Uhr verlässt er das Haus. Mit der Tasche in der Hand. An der Kreuzung Stresemannstraße und Elbestraße bleibt er stehen. Er wartet auf seine Straßenbahn. Sie kommt, er steigt ein. Hinten, wie immer. Drei Stationen fährt er immer. Zur Arbeit.

Um diese Zeit trifft er immer die gleichen Leute. Wie er, auf dem Weg zur Arbeit. Wie er, mit einer Tasche. Andere Taschen mit anderen Inhalten. Er kennt sie nicht. Kennt nicht ihre Namen. Ihre Gesichter sind ihm bekannt.

Beim Stadttheater steigt er aus. Mit einem Nicken an seine Mitfahrer verabschiedet er sich. Er bleibt stehen und zündet sich seine erste Zigarette des Tages an. Es ist windig und er muss sein Streichholz mit beiden Händen abschirmen. Er nimmt seine Tasche und überquert die Straße.

Um diese Zeit sind noch nicht viele auf dem Marktplatz. Aber er kennt die meisten. Er sucht sich einen freien Platz. Sein Stammplatz ist dieses Mal besetzt. Eine junge Mutter mit zwei halbwüchsigen Kindern. Macht ja nichts, denkt er. Auf löchrigen Wehrmachtsdecken ausgebreitet liegt ihr Angebot. Zigaretten, Kaugummi und eine halbvertrocknete Apfelsine. Er stellt sich daneben und wartet.

Auf der anderen Straßenseite, direkt vor dem noch zerstörten Stadttheater, beobachtet er wie drei Frauen damit beginnen Ziegelsteine aufzusammeln. Fein säuberlich werden sie zu einer Pyramide gestapelt. Ein Leiterwagen steht daneben. Ein alter Mann, geht mit gebeugtem Rücken vorbei, bleibt stehen und sieht den Frauen bei ihrer Arbeit zu. Dann beginnt auch er Steine aufzuheben und baut eine neue Pyramide, direkt neben der bereits stehenden Ziegelsteinpyramide.

Die junge Mutter neben ihm seufzt und holt einen kleinen Apfel aus ihrer Kittelschürze. Mit einem Kartoffelschälmesser zerteilt sie ihn in zwei Hälften und gibt sie an ihre Kinder weiter. Dann wischt sie das Messer an ihrer Schürze ab und steckt es wieder ein. Dem Mann läuft das Wasser im Mund zusammen, als er die schmatzenden Essgeräusche der halbwüchsigen hört. Er schiebt sich seine Mütze etwas ins Genick und öffnet seine Tasche. Viel hat er heute nicht anzubieten. Schokolade, etwas Kaffee und einen kleinen Beutel Tabak. Selbst angebaut, selbst geerntet und getrocknet.

Ein kleiner dicker Mann bleibt stehen. Er trägt einen Mantel, zu groß und zu weit geschnitten. An den Schultern und am Revers sind noch die Stellen zu erkennen, wo die Rangabzeichen des ehemaligen Besitzers einmal waren. Etwas mitleidig schaut er sich die Ware der jungen Mutter an und wendet sich ab. Schaut zum Mann mit der Tasche. Fragend hebt der eine Augenbraue und deutet auf seine Tasche. Der kleine dicke Mann zögert. "Kaffee?", flüstert er und zieht die Kaffeetüte halb aus der Tasche. Der kleine dicke Mann nickt. Greift in seinen Mantel. Als die Hand wieder auftaucht hält sie eine Packung Zigaretten in der Hand. Der Mann mit der Tasche schüttelt den Kopf und hebt vier Finger. Der kleine dicke Mann grinst, greift wieder in den Mantel und reicht dem Mann mit der Tasche vier Packungen "Lucky Strike". Mit einer fließenden Bewegung wechseln die Waren ihre Besitzer.
Der kleine dicke Mann zieht einen Ausweis aus seinem Mantel und ruft "Polizei! Ihren Ausweis bitte! Sie auch" und wendet sich der jungen Mutter zu.
Mit weit aufgerissenen Augen und bleichem Gesicht steht sie da. Der Mann mit der Tasche sieht wie die Trümmerfrauen neugierig zu ihnen hinübersehen. Jetzt kann er auch die anderen Polizisten erkennen, die den Marktplatz umstellt haben. Flucht ist zwecklos. Drohend kommen zwei Polizisten näher.

Der Mann mit der Tasche bückt sich als sich eine Straßenbahn von der Brücke her nähert. Er greift nach einem handlichen Ziegelstein und schmettert ihn auf den Kopf des kleinen dicken Mannes. Nicht sehr fest. Der kleine dicke Mann fällt um als die Straßenbahn quietschend an der Ruine des Stadttheaters hält.

Der Mann mit der Tasche greift sich die junge Frau und zerrt sie zur Straßenbahn. Gerade als die beiden Polizisten ihn an der Jacke festhalten wollen, schließen sich die Türen der Bahn und sie fährt. Immer schneller. Der Mann mit der Tasche sieht, wie der kleine dicke Mann sich wieder aufrappelt und den beiden Polizisten etwas zuruft, worauf die keuchend stehen bleiben.

Weiter hinten im Waggon stehen die Kinder. Heulend. Die anderen Fahrgäste und der Schaffner sehen betreten zu Boden.

Morgens, exakt um halb Acht Uhr verlässt er das Haus. Mit der Tasche in der Hand. An der Kreuzung Stresemannstraße und Elbestraße bleibt er stehen. Er wartet auf seine Straßenbahn. Sie kommt, er steigt ein. Hinten, wie immer. Drei Stationen fährt er sonst immer. Dieses Mal fährt er fünf Stationen. Zur Arbeit.

Um diese Zeit trifft er immer die gleichen Leute. Wie er, auf dem Weg zur Arbeit. Wie er, mit einer Tasche. Andere Taschen mit anderen Inhalten. Er kennt sie nicht. Kennt nicht ihre Namen. Ihre Gesichter sind ihm bekannt. Eines ganz besonders. Er wendet seinen Kopf und sieht in dieses Gesicht. "Guten Morgen, Gisela. Wie geht es den Kindern? Heute Nachmittag komme ich vorbei und repariere die Gartenmauer. Ist es dir Recht?"
Gisela lächelt und sagt: "Ja Heinrich. Die Kinder freuen sich schon dich wiederzusehen" und sie fügt etwas leiser hinzu "Ich übrigens auch"


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Quelle: Wikipedia

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Publication Date: 01-20-2011

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We can beat them just for one day. We can be Heroes, just for one day! David Bowie

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