Cover

Leseprobe

 

 

 

 

HARRY CARMICHAEL

 

 

NACKT BIS INS GRAB

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 287

 

 

 

 

Apex-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

NACKT BIS INS GRAB 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Als der Londoner Versicherungsdetektiv John Piper in Julian Daveys Wohnung kam, ahnte er keineswegs, was dort an jenem Samstagnachmittag geschehen würde.

Doch dann entdeckte er, gemeinsam mit ihrem Ehemann, die tote Pauline Davey nackt im Bett - erstochen mit einer langen Schere.

Kommt als Täter der Ehemann in Frage? Oder wurde Pauline erstochen, während Piper mit Davey im Wohnzimmer verhandelte?

 

Harry Carmichael (eigtl. Hartley Howard/Leopold Horace Ognall - * 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien) war ein britischer Schriftsteller.

Der Roman Nackt bis ins Grab erschien erstmals im Jahr 1972; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1974 (unter dem Titel Tod in flagranti). 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  NACKT BIS INS GRAB

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

 

Es war zwei oder drei Minuten vor halb sechs, als Piper von der Belsize Lane in die Cornstalk Avenue einbog, eine von Bäumen gesäumte Straße, die in sanftem Bogen zum Rosslyn Hill anstieg. Er war sogar etwas früh dran zu seiner Verabredung. Julian Davey hatte gesagt, er würde ihn zwischen halb und dreiviertel sechs erwarten.

Die Sonne hatte sich hinter einer Wolke verzogen, und in der Luft hing eine Ahnung kommenden Regens. Als Piper außerhalb der Wohnanlage Denholme Court anhielt, meinte er, aus Westen schwaches Donnergrollen zu hören.

Ein halbes Dutzend Wagen stand auf dem den Mietern vorbehaltenen Privatparkplatz vor dem Eingang zu den Wohnblocks. Piper schaltete den Motor seines Wagens aus, zog den Zündschlüssel ab und sah auf die Uhr. Im Rückspiegel konnte er einen blauen Jaguar sehen, der auf den Privatparkplatz einbog. Er hatte denselben Wagen schon in der Belsize Lane hinter sich bemerkt.

Ein Mann stieg aus, stämmig, mit blondem Haar und einer spitzen Nase. Er stand da, ließ die Autoschlüssel in seiner Hand baumeln und blickte Piper, der auf ihn zukam, lächelnd entgegen.

»Sie sind John Piper, nicht wahr?«, fragte er dann. »Ich habe Sie nach einem Foto erkannt, das ich vor ein paar Monaten in der Zeitung sah.«

»Und Sie müssen Mr. Davey sein«, versetzte Piper.

»Richtig. Ich bin froh, dass ich es noch geschafft habe, rechtzeitig hier zu sein. Normalerweise hätte ich ja viel früher hier sein müssen, aber Sie wissen ja, wie es samstags um diese Zeit ist. Fürchterlich, der Verkehr.«

»Ja, ich weiß. Es wird von Tag zu Tag schlimmer.«

Als sie über den gepflasterten Vorplatz schritten, fragte Piper: »War das Spiel gut?«

Davey antwortete erst, als sie schon im Foyer waren.

»Nicht übel«, antwortete er. »Ich habe schon schlechtere Vorstellungen gesehen. Die üblichen vertanen Gelegenheiten natürlich, aber alles in allem war das Ergebnis gerecht.«

Das Foyer war mit einem königsblauen Läufer ausgelegt, zu dessen beiden Seiten Parkett schimmerte. Am hinteren Ende des Foyers befand sich eine Glastür, durch die Piper Blumenbeete und eine ovale, gepflegte Rasenfläche sehen konnte.

Die Wohnungen 1 A, 1 B, 1 C und 1 D lagen einander paarweise im Erdgeschoss gegenüber. Der Aufzug befand sich linker Hand, die Nottreppe direkt gegenüber. In der Decke verborgene Neonröhren spendeten indirekte Beleuchtung. In Denholme Court herrschte eine Atmosphäre vornehmer Behaglichkeit, und Piper sagte sich, dass Julian Daveys Geschäfte florieren mussten.

Sie traten in den Aufzug, und Davey drückte auf den Knopf neben Nummer 2. Als sich die Tür schloss, bemerkte er: »Es ist wirklich freundlich von Ihnen, an einem Samstagnachmittag herzukommen. Ich bin Ihnen sehr verbunden.«

»Keine Ursache«, erwiderte Piper. »Die Cresset hielt es für ratsam, die Schätzung noch vor Ihrer Abreise in der nächsten Woche vorzunehmen. Heutzutage weiß man ja nie, was geschehen kann.«

»Genau das hat mir Kopfzerbrechen gemacht, seit mir der Verdacht kam, dass wir unterversichert sein könnten. Wir haben seit der letzten Erhöhung einige wertvolle Möbelstücke und Silbersachen gekauft.«

»Ja, da dürfte es höchste Zeit sein, die Versicherung zu erhöhen«, meinte Piper.

Der Aufzug hielt. Als sie ausstiegen, bemerkte Davey: »Ich war überrascht zu hören, dass McLean mir jemanden mit Ihren besonderen Qualifikationen schicken wollte.«

Es klang wie ein Kompliment, hinter dem sich eine Frage versteckte.

»Warum überrascht Sie das?«, fragte Piper.

»Nun, Sie sind wohl kaum das, was ich einen gewöhnlichen Schätzer nennen würde.« Daveys Mund verzog sich zu einem Lächeln, doch seine Augen blickten immer noch fragend. »Nach dem, was ich über Sie gelesen habe, befassen Sie sich mit wichtigeren Dingen.«

»Manchmal – aber das sind Ausnahmefälle. Das Gros meiner Arbeit könnte man als gewöhnlich bezeichnen. Das hier ist gewiss nicht die erste Schätzung, die ich im Auftrag der Cresset Versicherungsgesellschaft durchführe.«

Davey nickte und lächelte wieder.

»Ich bin überzeugt, dass Sie darin genauso erfahren sind wie in den meisten Details, die mit Versicherungen zu tun haben. McLean scheint Sie sehr zu schätzen.«

»Freut mich, das zu hören. Er ist ein Freund von Ihnen, nicht wahr?«

»Oh, wir kennen uns schon sehr lange«, erwiderte Davey. Er griff in seine Hosentasche und zog ein ledernes Schlüsseltäschchen heraus. »Ich hoffe doch, Sie trinken ein Glas mit mir, ehe Sie mit der Arbeit anfangen?«

»Nicht vorher«, antwortete Piper. »Vielleicht wenn ich fertig bin – wenn es Ihnen recht ist.«    

»Selbstverständlich.« Er ging vom Aufzug zur Tür der Wohnung 2 A und blickte über die Schulter zurück. »Vielleicht möchten Sie eine Tasse Tee oder Kaffee trinken, während Sie meine Unterlagen durchsehen?«

»Nur, wenn Sie sowieso welchen machen.«

»Gewiss. Ich habe meiner Frau versprochen, sie mit einer Tasse Tee zu wecken, sobald ich wieder da bin.« Er steckte den Schlüssel ins Schloss und fuhr fort: »Sie ist gestern erst spät ins Bett gekommen und meinte, sie wollte sich heute Nachmittag ein wenig hinlegen, um den versäumten Schlaf nachzuholen. Aber  ohne ihre obligatorische Tasse Tee fühlt sie sich überhaupt nicht menschlich.«

»Kümmern Sie sich um Ihre Gattin«, erwiderte Piper, »und machen Sie sich meinetwegen keine Umstände. So schrecklich eilig habe ich es nicht.«

»Drei Tassen Tee machen sich so leicht wie eine. Aber wenn Sie lieber Kaffee wollen – das ist kein Problem.«

»Tee ist mir sehr recht«, antwortete Piper.

Er fragte sich, warum Davey so viel redete. Die Tatsache, dass seine Frau den Nachmittag im Bett verbracht hatte, ging niemanden etwas an. Davey war einem Fremden keine Erklärung schuldig.

Es waren müßige Gedanken, die ihm da durch den Kopf schossen. Sie verflüchtigten sich gleich wieder, als Davey die Tür geöffnet hatte.

»Kommen Sie herein, Mr. Piper. Ich bin gleich soweit.«

Piper folgte ihm durch eine rechteckige Diele, an einer geschlossenen Tür zur Rechten vorbei in ein gut ausgestattetes Wohnzimmer. Ein großes Fenster ließ das bernsteinfarbene Licht der untergehenden Sonne herein. Das andere blickte hinaus auf einen Himmel, der sich schon zu verdunkeln begann.

Davey knipste die Wandleuchten an.

»Sobald der September da ist«, bemerkte er, »kann man sehen, wie rasch die Tage wieder kürzer werden, nicht wahr? Bitte, setzen Sie sich, und machen Sie es sich bequem.«

Er brachte Piper einen Hefter, der mit Papieren prall gefüllt war, und schob ihm einen Beistelltisch hin. Und die ganze Zeit sprach er, wie unter einem Zwang.

»...und wenn Sie nicht genug Platz haben, dann holen Sie sich einfach noch einen Beistelltisch. Wenn Sie sonst noch etwas brauchen, dann geben Sie mir Bescheid, okay?«

»Natürlich. Danke«, sagte Piper.

»Gut. Dann setze ich jetzt das Wasser auf. In spätestens fünf Minuten können Sie mit mir rechnen.«

Er ließ die Tür angelehnt, als er hinausging. Piper hörte Wasser rauschen, das Klirren von Porzellan, Daveys Schritte in der Küche, das Öffnen und Schließen von Schubladen, von einer Schranktür.

Bald war das unverwechselbare Zischen des Wassers zu vernehmen, das zu sieden begann, wenig später das sanfte Glucksen des Wassers, das in die Teekanne gegossen wurde, das Klirren des Deckels, der auf die Kanne gedrückt wurde. Piper hörte es alles sehr deutlich, während er die Papiere in dem Hefter durchsah.

Quittungen, Expertisen, die ursprüngliche Versicherungspolice, mehrere Zusätze. Julian Davey hatte im Laufe des Jahres an die zweitausend Pfund ausgegeben. Auf einem Zettel hatte er eine Reihe anderer Gegenstände aufgeführt, deren Wert sich seiner Meinung nach inzwischen erhöht hatte.

Die Gesamtsumme belief sich auf einen Betrag um zwölftausend Pfund. Piper konnte sich nicht vorstellen, dass die Gesellschaft Schwierigkeiten machen würde, diesen erhöhten Betrag zu akzeptieren. Er musste sich nur noch vergewissern, dass die Angaben mit dem tatsächlichen Inventar der Wohnung übereinstimmten.

Er hörte das Klappern von Geschirr, den Klang vorsichtiger Schritte. Dann ging Davey, der mit beiden Händen ein Tablett hielt, an der einen Spalt offenstehenden Tür vorüber. Piper sah ihn nur flüchtig.

Von irgendwoher kam leise Radiomusik, schwach und entfernt. Mrs. Davey musste erwacht sein und ließ wohl auf diese Weise ihren Mann wissen, dass sie wach war.

Nachdem Davey noch einige Schritte gegangen war, blieb er stehen. Piper vermutete, dass er sich vor der geschlossenen Schlafzimmertür befand. Nach dem verstärkten Klappern des Geschirrs zu urteilen, balancierte er mit dem Tablett, während er sich bemühte, die Tür zu öffnen.

Piper lauschte mit halbem Ohr, während er seine Gedanken auf die Unterlagen konzentrierte, die er durcharbeitete. Keiner konnte behaupten, dass Julian Davey ein Geizhals war. Ganz gleich, was er verdiente, seiner Frau gegenüber war er äußerst großzügig. Sie hatte Pelze, Schmuck und teure Kleider im Überfluss.

Piper hörte, wie Davey das Schlafzimmer betrat. Das Teegeschirr auf dem Tablett klirrte, als er gegen irgendetwas stieß. Dann sagte Davey: »Hier ist dein Tee, Liebling. Setz dich hin und nimm mir das Tablett ab, damit ich die Vorhänge aufziehen kann.«

Die Radiomusik, noch immer schwach und fern, weckte Erinnerungen an längst vergangene Zeiten in Piper – an Dinge, die er eigentlich schon lange hätte vergessen haben müssen. Sie gehörten in eine Zeit, als die Welt noch anders gewesen war, als sein Leben sich im Kreis anderer Menschen abgespielt hatte.

Komisch, dachte er, wie Musik die Uhr zurückdrehen kann. Ich kann mich an die Ereignisse erinnern, als hätten sie sich gestern zugetragen. Nein, vielleicht nicht ganz so lebhaft, doch es scheint, als wären seitdem höchstens einige Monate verstrichen. Nichts hat die gleiche Wirkung wie ein alter, vertrauter Schlager...

Er hatte kein Verlangen, Julian Daveys Frau kennenzulernen, mit einer Frau Konversation zu machen, die nicht den Wunsch hatte, ihn kennenzulernen. Es war zu hoffen, dass sie in ihrem Zimmer blieb, bis er seine Bestandsaufnahme abgeschlossen hatte und wieder gegangen war.

Ein Gedanke drängte sich zwischen ihn und die beharrlichen Erinnerungen aus der Vergangenheit. Er war froh, dass Jane eine Frau war, die abends nicht ihre eigenen Wege ging.

Aber vielleicht war Mrs. Davey bei einer Freundin – oder beim Bridgespielen gewesen.

Überhaupt war es albern, so viel in eine beiläufige Bemerkung hineinzulesen. Vielleicht war sie den ganzen Abend zu Hause gewesen. Davey hatte ja nur gesagt, dass sie spät zu Bett gegangen war.

Wenn das Ehepaar keine Kinder hatte, dann konnte Mrs. Davey tun und lassen, was sie wollte, solange ihr Mann nichts dagegen einzuwenden hatte. Und er konnte wohl kaum Einwendungen erheben, wenn sie sich ein wenig hinlegte, während er sich ein Fußballspiel ansah.

Ein Paar in ihrem Alter konnte Kinder haben, die noch zu Haus lebten. Julian Davey musste zwischen fünfunddreißig und vierzig sein. Mrs Davey war wahrscheinlich etwas jünger – vielleicht wesentlich jünger.

Trotzdem – der Wohnung fehlte es an jener gewissen Atmosphäre, die man überall da antrifft, wo Kinder zu Hause sind. Man spürte es auf den ersten Blick. Immer dieses ungreifbare Etwas, wenn keine Kinder da waren.

Ein Gedanke folgte dem anderen in jenen Augenblicken, während Davey wieder über irgendetwas im Schlafzimmer stolperte und das Geschirr auf dem Tablett laut klirrte. Piper hörte ihn sagen: »Setz dich auf, Liebling, und knips das Licht an. Ich sehe ja überhaupt nichts.«

Die Radiomusik flutete noch immer gedämpft durch die Wohnung. Sie war nicht lauter geworden, als Davey die Schlafzimmertür geöffnet hatte.

Piper war unbehaglich bei dem Gedanken, dass er der Lauscher an der Wand war. Er hatte kein Recht, das Gespräch eines Mannes mit seiner Frau im Schlafzimmer mitzuhören.

Gegen seinen Willen flössen seine Gedanken fort. Davey stolperte im Schlafzimmer herum, weil die Vorhänge zugezogen waren. An einem hellen Tag würden sie vielleicht etwas Licht durchlassen – genug, um ihn in der vertrauten Umgebung seinen Weg finden zu lassen. Doch es begann schon dunkel zu werden.

Es musste also ziemlich finster im Zimmer sein, sonst würde er nicht immer wieder gegen irgendein Möbelstück stoßen. Warum setzte er nicht einfach das Tablett ab und machte Licht? Irgendeine Abstellfläche bot sich doch sicher – der Toilettentisch oder eine Kommode.

Es gab eben Menschen, die im Geschäftsleben äußerst clever waren und in anderen Dingen ausgesprochen ungeschickt. Trotzdem...

Vielleicht veranstaltete Davey das ganze Getue nur, um darauf aufmerksam zu machen, was für ein guter und rücksichtsvoller Ehemann er war. Schlimmstenfalls eine harmlose Eitelkeit.

Piper stand auf und streckte sich. Eine Sekunde später hörte er das Knacken des Lichtschalters im Schlafzimmer.

Julian Davey sagte eben: »Du musst wirklich todmüde gewesen sein, Liebling. Hin und wieder solltest du eben doch früh zu Bett...«

Der Klang seiner Stimme verstummte. Abgesehen von der fernen Radiomusik war kein Laut in der Wohnung zu hören. Die Musik gehörte zu jenen Tagen vor langer Zeit. Piper stand da und lauschte der alten, sentimentalen Melodie.

Dann gingen die Klänge in schmetterndem Getöse unter. Etwas schlug krachend zu Boden, Geschirr klirrte und klapperte. Und alles wurde übertönt von dem wilden Schrei, den Julian Davey ausstieß.

Der Tumult hielt nur einen Moment an. Als er erstorben war, konnte Piper wieder die Radiomusik hören. Und dazu die fassungslose Stimme eines Mannes. Daveys Stimme.

»Mein Gott, Pauline – was ist denn geschehen? Pauline! Pauline, was ist denn?«

Er wimmerte wie ein Tier unter Qualen, und Piper eilte zur Schlafzimmertür. Sie stand gerade so weit offen, dass das Licht einer geschirmten Lampe in die Düsternis des Flurs hinausdringen konnte. Ein oder zwei Sekunden zögerte Piper. Dann drückte er die Tür weit auf und trat ein.

Das Licht kam von einer Nachttischlampe zwischen zwei Betten. Bodenlange Vorhänge verhüllten ein Fenster, das beinahe eine ganze Wand einnahm. Vor dem Fenster stand ein Toilettentisch, auf dem sich Kosmetikdosen, silberne Bürsten, Handspiegel und eine Schachtel mit farbigen Reinigungstüchern drängten.

Ein Bett war gemacht. Vor dem anderen stand Julian Davey.

Zu seinen Füßen lagen eine zersprungene Tasse und Untertasse, die Scherben einer Zuckerdose, deren Inhalt sich in weitem Umkreis um ihn ergossen hatte. Milch aus einer Kanne, deren Henkel abgebrochen war, war ihm auf die Schuhe gespritzt. Aus einer umgekippten Zinnkanne floss Tee, mit Teeblättern vermischt, auf den Teppich.

Das waren die Dinge, die Piper mit einem umfassenden Blick registrierte, als er ins Zimmer trat. Sie prägten sich ihm unauslöschlich ein, so dass er sie später in jedem einzelnen Detail vor sich sehen konnte.

Später fügte die Erinnerung noch ein Holztablett hinzu, das am Nachttisch lehnte, einen Teelöffel, der ein ganzes Stück von Davey entfernt auf dem Teppich lag. Später erinnerte sich Piper auch der Dinge auf dem Tisch mit der Lampe: ein Fläschchen mit rosafarbenem Nagellack, ein zweites mit Nagellackentferner, mehrere Nagelfeilen, mehrere weiße Wattebäusche, ein Handspiegel. Die Wattebäusche waren unbenutzt.

Julian Davey hatte aufgehört zu wimmern. Wie ein Mensch, der die Fähigkeit, sich zu bewegen, verloren hatte, stand er da und blickte auf das zerwühlte Bett. Sein Gesicht war bleich, starr vor Schreck.

In dem Bett lag eine Frau, eine Frau mit blauschwarzem Haar, das wirr über das Kopfkissen gebreitet war. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Züge reglos, wie aus Wachs modelliert. Ein dünner Blutfaden zog sich vom Mundwinkel zum Kinn. Sie war bis zum Hals zugedeckt, so dass nur ihr Gesicht zu sehen war. Es war ein schönes Gesicht gewesen – lange, jetschwarze Wimpern, die das Weiß ihrer Haut betonten, zarte Züge, ein voller Mund. Jetzt spiegelte dieses Gesicht nur noch das Pathos des Todes.

Piper wusste mit Gewissheit, dass diese Frau ihre Augen nie wieder aufschlagen würde.

Auf dem Kopfkissen lag eine Schere mit schmalen Klingen, die sich zu dolchscharfen Spitzen verjüngten. Die Klingen waren rot von frischem Blut, das auch das Kopfkissen befleckte.

Von einem Gefühl der Übelkeit überkommen, blieb Piper ganz still an der Tür stehen. Einen endlosen Moment lang war er nicht fähig, sich zu regen oder zu denken. Es war ihm nicht möglich, seine Augen von dem toten Gesicht dieser Frau zu wenden.

Aus einer Nachbarwohnung kam Stimmengemurmel. Und irgendwo spielte immer noch das Radio jene Melodie aus lang vergangener Zeit.

Nichts im Zimmer war in Unordnung. Piper konnte kein Anzeichen dafür erkennen, dass ein gewaltsamer Eindringling Mrs. Pauline Davey getötet hatte. Nur das Bett war zerwühlt.

Davey war es, der die erste Bewegung machte. Ohne Piper anzusehen, ohne erkennen zu lassen, ob er Pipers Anwesenheit im Zimmer überhaupt wahrgenommen hatte, streckte er den Arm aus und schlug langsam, Zentimeter um Zentimeter, die Bettdecke zurück, bis beide sahen, wie seine Frau zu Tode gekommen war.

Sie war nackt – nackt und geschändet wie eine verstümmelte Statue. Ihre Brüste waren übersät von zahllosen Einstichen, die stark geblutet hatten. Der Deckenbezug war feucht von Blut. Und ebenso blutüberströmt waren ihre Schultern und der Ansatz ihres Halses. Piper hatte den Eindruck, als blutete sie immer noch.

Mit plötzlichem, entsetztem Ekel warf Davey wieder die Decke über sie und torkelte nach rückwärts, beide Hände von sich gestreckt. Sie waren blutverschmiert.

»Oh, nein«, stammelte er mit erstickter Stimme. »Nein. – Hilf mir! Bitte hilf mir...«

Wie ein Mensch, der seiner Sinne beraubt ist, wischte er die Hände immer wieder an der Steppdecke ab. Er zitterte heftig, als er sich schließlich umdrehte und Piper ansah. In seinen Augen flackerte Verwirrung. Zweimal setzte er zum Sprechen an. Beim drittenmal brachte er hervor: »Wer kann das getan haben? So grässlich! Warum? Warum musste man meine Frau töten – auf diese Weise? Warum? Warum?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Piper. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll.«

»Aber es war doch – es war doch alles in Ordnung, als ich um halb zwei ging.« Davey blickte auf seine Hände nieder und schauderte. »Und die Wohnungstür war abgesperrt. Ich bin ganz sicher, dass ich sie zugezogen habe – absolut sicher.«

»War sie da schon zu Bett gegangen?«

»Ja. Sie war kurz vor dem Einschlafen, als ich hineinschaute, um – um auf Wiedersehen zu sagen.«

Kein Ausdruck der Teilnahme konnte in diesem Moment seinen Schmerz lindern.

»Die Polizei«, sagte Piper, »wird feststellen, was geschehen ist. Am besten rufen Sie gleich an. Rühren Sie hier drinnen nichts an.«

Daveys Augen richteten sich auf das stille Gesicht seiner Frau. Als er auf sie niederblickte, erschlafften seine Schultern, und Linien der Verzweiflung gruben sich in seinem Gesicht ein.

»Das ist doch jetzt ganz gleich«, murmelte er. »Es ist mir gleich, wie es geschehen ist. Mir ist alles gleich. Sie ist tot. Pauline ist tot.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Chefinspektor Rillett hatte ein großes, ernstes Gesicht und gütige Augen und schütteres, krauses Haar, das mit Sorgfalt über die kahle Stelle am Scheitel gebürstet war. Er sah zu sanftmütig aus, um Polizeibeamter zu sein.

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Mr. Piper«, sagte er mit sanfter Stimme. »Bitte missverstehen Sie mich nicht, wenn ich sage, dass ich froh bin, dass Sie hier waren. Jemand mit einem sachlichen Verstand wie Sie könnte uns eine große Hilfe sein.«

»Ich kann Ihnen nicht viel sagen, was Sie nicht schon wissen«, erwiderte Piper.

Der Fotograf und die Leute von der Spurensicherung waren gegangen. Nur der Arzt war noch da. Piper konnte ihn im Nebenzimmer, wo Mrs. Pauline Davey gestorben war, hören.

Rillett trat zur Tür und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Dann ging er zum Fenster zurück, wo die letzte Glut der untergehenden Sonne sich gegen die fortschreitende Dunkelheit wehrte.

»Was ich von Mr. Davey gehört habe, war ein ziemlich wirrer Bericht – wie zu erwarten unter den Umständen. Der Schock muss beträchtlich gewesen sein.«

Es klang beinahe wie eine Frage.

»Natürlich«, meinte Piper. »Meiner Ansicht nach braucht Mr. Davey ein Beruhigungsmittel.«

»Sicher. Deshalb habe ich den Hausarzt benachrichtigen lassen.«

»Wo ist Davey jetzt?«

»In einem der anderen Zimmer. Ich habe ihm geraten, sich hinzulegen, bis der Arzt kommt.« Mit einem entschuldigenden Unterton fügte der Chefinspektor hinzu: »Das gibt uns Gelegenheit, über diese Sache zu sprechen – das heißt, wenn Sie die Zeit opfern können.«

»Natürlich, ich habe es nicht eilig.«

»Gut.« Rilletts ernstes Gesicht erhellte sich in einem Lächeln. »Sie sagten mir, dass Sie geschäftlich mit Davey verabredet waren. Ist es in Ihrer Branche üblich, samstags Geschäfte zu erledigen?«

»Nein, an sich natürlich nicht«, erwiderte Piper. »Aber es machte mir nichts aus. Bill McLean bat mich ausdrücklich, mich soweit wie möglich nach Daveys Wünschen zu richten.«

»McLean?«

»Der Generaldirektor der Cresset Versicherungsgesellschaft. McLean und Davey sind privat miteinander befreundet.«

»Und hat McLean den Termin für heute Nachmittag vereinbart?«

»Nein. Nachdem er mich angerufen hatte, meldete sich Mr.

Davey bei mir, der mir erklärte, dass er die Bestandsaufnahme möglichst noch vor seiner Urlaubsreise in der kommenden Woche erledigen wollte.«

»Wann wollte Mr. Davey abreisen?«

»Montag, glaube ich.«

»Hätte man die Bestandsaufnahme nicht gestern machen können?«

»Da war er nicht frei«, erwiderte Piper. »Und Ihre Fragen finde ich recht rätselhaft. Worauf wollen Sie hinaus, Chefinspektor?«

»Auf nichts Bestimmtes, Mr. Piper«, sagte Rillett, ohne eine Miene zu verziehen. »Man könnte vielleicht sagen, ich versuche, mich mit den Leuten, die in diese unselige Angelegenheit verwickelt sind, vertraut zu machen.«

»Mich eingeschlossen?«

»Bis zu einem gewissen Grad, ja. Immerhin waren Sie zugegen, als der Mord an Mrs. Davey entdeckt wurde. Wenn der Arzt recht hat, sieht es ganz so aus, als wären Sie und Mr. Davey nicht lange nach der Tat eingetroffen.«

»Das bestätigt meinen Eindruck«, bemerkte Piper. »Wenn ich auch auf diesem Gebiet keine echten Qualifikationen vorweisen kann, so schien es mir doch, als wäre sie noch gar nicht lange tot gewesen.«

»Tatsächlich? So ein Eindruck aus erster Hand ist immer nützlich, wenn er von einem Mann wie Ihnen kommt. Verschiedene meiner Kollegen haben mir von ihrer Zusammenarbeit mit Ihnen erzählt.«

»Es war immer eine freundschaftliche Zusammenarbeit«, stellte Piper fest.

»Aber selbstverständlich. Und ich bin überzeugt, dass das auch so bleiben wird.« Der Chefinspektor blickte zur Decke hinauf. »Warum«, fragte er dann, »wurde die Verabredung für halb sechs getroffen? Warum ging es nicht früher am Nachmittag?«

»Weil er zum Fußballspiel in Highbury wollte. Er sagte mir, er hätte noch nie ein Spiel von Arsenal in London versäumt. »Ich weiß allerdings nicht...«

»Ich auch noch nicht, Mr. Piper. Aber ich habe das Gefühl, dass der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung sein kann. Sagte Mr. Davey Ihnen, wann er von zu Hause wegging?«

»Ja, um halb zwei.«

»Sagte er Ihnen das vor oder nach Auffindung seiner Frau?«

»Hinterher. Er war ganz durcheinander und fragte immer wieder, warum jemand ein Interesse daran gehabt haben Sollte, sie zu töten.«

»Sonst noch etwas?«

»Nur, dass zum Zeitpunkt seines Weggehens alles in Ordnung war und dass er ganz sicher sei, die Wohnungstür abgeschlossen zu haben.«

»Wo befand sich seine Frau, als er wegging?«

»Sie müssen entschuldigen, Chefinspektor, aber ich hielte es für besser, wenn Sie ihm selbst diese Fragen stellten.«

»Möglich, Mr. Piper, aber ich ziehe Ihre Antworten vor.«

»Sie können Ihnen nur das sagen, woran ich mich erinnere.«

»Das ist mir gut genug. Im Augenblick ist Mr. Davey kaum ganz bei Vernunft. Ich verlasse mich also auf Sie, bis er sich wieder so weit gefasst hat, dass er vernehmbar ist.« Mit einem Nicken und einem flüchtigen Lächeln fügte Rillett hinzu: »Selbstverständlich wird alles, was Sie mir sagen, streng vertraulich behandelt.« Er legte die Hände auf den Rücken und beugte sich ein wenig vor. »Also, wo befand sich Mr. Daveys Aussage nach seine Frau, als er um halb zwei aus der Wohnung ging?«

Es war kein Geheimnis, sagte sich Piper. Julian Davey würde alle diese Punkte bestätigen, wenn man ihn selbst verhörte. Rillett jedoch musste die Ermittlungen sofort aufnehmen, konnte es sich nicht leisten, Zeit zu vergeuden.

»Er sagte mir, sie habe im Bett gelegen«, erwiderte Piper.

»Hat sie geschlafen?«

»Sie sei kurz vor dem Einschlafen gewesen, sagte er.«

»Aha. Kommen wir jetzt auf Ihren Besuch hier. Sie warteten allein in diesem Zimmer, während er seiner Frau den Tee bereitete?«

»Ja. Er wollte mir und sich ebenfalls eine Tasse machen, sobald er ihr den ihren gebracht hatte.«

Rillett nickte wieder. »Hätten Sie nicht erwartet, dass man Ihnen etwas anbietet, was ein wenig stärker ist als Tee?«, erkundigte er sich gelassen.

»Er hat mich gefragt, ob ich ein Glas mit ihm trinken würde.«

»Und?«

»Ich sagte, damit wollte ich lieber warten, bis ich meine Arbeit erledigt hatte. Daraufhin bot er mir Tee oder Kaffee an.«

»Waren Sie darauf besonders erpicht?«

»Nein, nicht sonderlich – aber ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Er hat Sie also mehr oder weniger dazu überredet?«

»In gewisser Weise, ja. Er erklärte, er gieße sowieso Tee für seine Frau auf, und drei Tassen seien so leicht gemacht wie eine.«

»Hat Sie also beschwatzt, wie?«

»Nein, das wohl kaum. Aber selbst wenn er es getan hätte, wäre das von besonderer Bedeutung?«

»Vielleicht nicht«, erwiderte Rillett seufzend. »Vielleicht stolpere ich nur im Dunkeln herum. Es wäre nicht das erste Mal.«

Als würde eine Tonaufnahme zurückgespielt, konnte Piper wieder hören, wie Julian Davey gegen Möbelstücke stieß, während er mit seiner Frau sprach, die schon tot war. Und

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Leopold Horace Ognall/Apex-Verlag.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Dr. Birgit Rehberg.
Proofreading: Dr. Birgit Rehberg.
Translation: Mechtild Sandberg (OT: Naked To The Grave).
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 08-30-2022
ISBN: 978-3-7554-1977-8

All Rights Reserved

Next Page
Page 1 /