HARRY CARMICHAEL
Etwas bitter
im Geschmack
Roman
Apex Crime, Band 65
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
ETWAS BITTER IM GESCHMACK
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Das Buch
Bei einer feucht-fröhlichen Party wird der Kriminal-Reporter Quinn von Carole Stewart, einer reizvollen jungen Dame, zum Wochenende in die Grafschaft Dorset eingeladen.
Aber Caroles Freunde erweisen sich als sehr seltsame Leute. Und Quinn ist kaum angekommen, da findet man die Gastgeberin ermordet auf...
Der Roman Etwas bitter im Geschmack des britischen Bestseller-Autors Harry Carmichael (eigentlich Hartley Howard - * 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1971.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
ETWAS BITTER IM GESCHMACK
Erstes Kapitel
Es war eine gute Party. Nach einer Stunde amüsierte Quinn sich herrlich. Er war von Anfang an nicht als Fremder behandelt worden, sondern gehörte automatisch dazu. Alle lachten über seine Witze; alle waren sehr nett und freundlich. Jeder hätte glauben müssen, sie seien alte Freunde. Und einige Drinks später fragte Quinn sich, warum er die anderen je für Fremde gehalten hatte.
Später fand er sich in Gesellschaft einer zierlichen jungen Frau wieder, die dunkelbraunes Haar und eine leicht heisere Stimme hatte. Sie war lustig. Sie war attraktiv genug, um seiner Eitelkeit zu schmeicheln, und intelligent genug, um amüsant zu sein. Sie gefiel Quinn immer besser. Sie passten zusammen - allerdings mit dem Unterschied, dass sie nur Tomatensaft trank.
Ein niedliches Ding, überlegte Quinn sich. Sie trägt keinen Ehering... überhaupt keine Ringe. Ob sie etwas dagegen hat, wenn ich sie küsse? Ein Kuss ist schließlich ganz harmlos. Wenn sie etwas dagegen hat, braucht sie es nur zu sagen... Sie kreischt doch hoffentlich nicht?
Die dunkelhaarige junge Frau kreischte nicht. Sie tat gar nichts. Sie stand einfach nur da und ließ sich küssen. Quinn hatte das Gefühl, eine leblose Schaufensterpuppe in den Armen zu haben. Er wich zurück, wagte nicht, ihren Blick zu erwidern, und suchte verzweifelt nach einem Scherzwort, mit dem er diese peinliche Situation überwinden konnte. Dabei war seine Reaktion absurd. Er hatte keinen Grund, sich zu schämen, nur weil sie ihm nicht begeistert um den Hals gefallen war.
»Zufrieden?«, fragte die Dunkelhaarige.
Quinn wusste nicht, welche Antwort sie erwartete. Hätte er weniger getrunken, wäre er sich seiner Sache sicherer gewesen. Er hätte vernünftigerweise den Mund halten sollen, aber dazu konnte er nicht mehr klar genug denken. »Nein«, antwortete er. »Sind Sie immer so - oder rieche ich etwa aus dem Mund?«
Die Dunkelhaarige lächelte ironisch. »Zwei Fragen, zwei Antworten: nein und ja. Ich bin nicht immer so, und Sie haben eine grässliche Fahne.«
»Schon gut«, wehrte Quinn ab. »Wenn Sie auch etwas trinken würden, hätten Sie...«
»Warum sollte ich etwas trinken? Von Alkohol bekomme ich nur Kopfschmerzen. Ich amüsiere mich auch so, denn ich brauche keinen Alkohol, um meine Hemmungen loszuwerden.«
»Sie haben gar keine«, behauptete Quinn.
»Oder ich stelle sie nicht zur Schau«, erwiderte sie.
Quinn warf ihr einen mürrischen Blick zu. Sie hatte kein Recht, ihn wie einen kleinen Jungen zu behandeln. Aber wenn er nicht versucht hätte, sie zu küssen, wäre es vielleicht nie zu dieser Entwicklung gekommen. Schade, jammerschade... und das am ersten Urlaubstag!
»Haben Sie vergessen, dass ich hier bin?«, fragte die junge Frau.
»Das verstehe ich eben nicht«, gab Quinn zu. »Sie können mich offenbar nicht ausstehen, aber Sie...«
»Nur weil ich Ihnen nicht in die Arme gesunken bin?«
»Unsinn!«, wehrte Quinn ab.
»Wie kommen Sie überhaupt darauf, es könnte mir Spaß machen, von jemand angetatscht zu werden, den ich erst vor kaum einer Stunde kennengelernt habe?«
»Das ist unfair!«, protestierte Quinn. »Woher soll ich wissen, warum Sie solches Theater gemacht haben? Vielleicht liegt das an Ihrer Erziehung. Oder Sie müssten zu einem Psychiater. Ich habe erst neulich gelesen, dass...«
»Mich interessiert nicht, was Sie gelesen haben. Ich möchte nur wissen, warum Sie mich küssen wollten.« Als Quinn nicht gleich antwortete, betrachtete die junge Frau ihn prüfend. »Sie haben wohl einen Schluck zu viel getrunken? Dann würde ich mich an Ihrer Stelle ein bisschen hinlegen.«
»Mir geht es glänzend«, behauptete Quinn. »Aber wir sind vom Thema abgekommen. Was wollten Sie vorhin wissen?«
»Warum haben Sie mich geküsst?«
»Lächerlich!«, meinte Quinn. »Warum küsst man jemand?«
»Aber ich bin nicht der Typ dafür. Ich bin keine Schönheit, und Sie müssen zugeben, dass ich mich Ihnen nicht an den Hals geworfen habe. Trotzdem wollten Sie mich plötzlich küssen. Warum?«
Quinn fragte sich, ob er ihre Intelligenz überschätzt hatte. »Ich habe Sie geküsst, weil ich dachte, dass das nett sein würde.«
»Für Sie - oder für mich?«
»Natürlich für beide«, antwortete er. »Zu einem Kuss gehören zwei... so war es jedenfalls bisher. Erinnern Sie mich bitte daran, Sie nie wieder zu küssen.«
Damit hatte Quinn seiner Meinung nach für einen wirkungsvollen Abtritt gesorgt. Er ließ die Dunkelhaarige stehen und gesellte sich im Zimmer nebenan zu einer Gruppe von Männern. Jemand drückte ihm ein volles Glas in die Hand. Quinn trank... ließ sich nachschenken... trank wieder und büßte dabei sein Zeitgefühl ein. Als er später auf die Uhr sah, konnte er nicht mehr unterscheiden, ob es halb drei oder zehn nach sechs war.
»Sehen Sie nicht auf die Uhr, alter Junge«, riet ihm ein schnauzbärtiger Mann. »Trinken Sie lieber noch einen Schluck mit uns. Ist es nicht traurig, wenn man bedenkt, dass wir uns jetzt monatelang nicht mehr die Nase begießen können?«
Quinn schüttelte verständnislos den Kopf. »Warum nicht? Warum sollen wir das morgen... oder übermorgen... oder an jedem beliebigen Abend nicht tun können?«, murmelte er undeutlich.
Der Schnauzbärtige starrte ihn an. »Dumme Frage, alter Junge, verdammt dumme Frage... wenn ich so sagen darf.« Er schwankte leicht. »Sie haben doch wohl nichts dagegen, alter Junge?«
»Durchaus nicht«, versicherte Quinn ihm. »Ich nehme Ihnen das nicht übel, Mister. Wir leben in einem freien Land und...«
»Reg, alter Junge, einfach Reg ohne Mister. Wir sind hier alle gute Freunde. Und wie heißen Sie?«
»Quinn.«
»Wirklich?« Der schnauzbärtige Mann kniff die Augen zusammen. »Ein komischer Name. Aber ich will Sie keineswegs beleidigen, alter Junge!«
Quinn dachte angestrengt nach, bis ihm wieder einfiel, was er hatte sagen wollen. »Ich möchte Sie etwas fragen, wenn Sie gestatten.«
»Klar, alter Junge, fragen Sie nur!« Reg tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Dahinter stecken die Erfahrungen eines ganzen Lebens. Bin überall gewesen, habe alles gesehen. Ich könnte Ihnen...«
»Ja, aber...«, begann Quinn.
»Ich könnte Ihnen Dinge über die menschliche Verworfenheit und Niedertracht erzählen, die ein ganzes Buch füllen würden«, fuhr der andere unbeirrt fort. »Das halten Sie vielleicht nicht für möglich, aber...«
»Ich glaube Ihnen jedes Wort«, unterbrach Quinn ihn. »Aber ich möchte wissen, warum Sie meine Frage von vorhin als dumm bezeichnet haben.«
Reg schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht, alter Junge. Welche Frage meinen Sie überhaupt?«
»Ich wollte wissen, warum jetzt monatelang keine Party dieser Art mehr stattfinden kann«, erklärte Quinn ihm.
»Ist das denn nicht klar?« Der Schnauzbärtige schüttelte den Kopf. »Eigentlich sollte ich Ihnen nicht erklären müssen, dass niemand so tolle Partys gibt wie Charlie Hinchcliffe, Gott segne ihn. Wenn Charlie also verreist und erst Ende des Jahres zurückkommen will, gibt es vorläufig keine Partys mehr, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich nicht«, stimmte Quinn zu.
»Richtig! Leute wie Charlie Hinchcliffe sind verdammt selten. Der gute alte Charlie hat ein goldenes Herz. Er würde Ihnen sein letztes Hemd geben. Das weiß jeder!«
»Ja, gewiss. Aber ich finde es...«
»Er kann es sich natürlich leisten, zum Abschied ein richtiges Fest zu geben. Charlie ist gut bei Kasse, wissen Sie. Seine Frau hat ihm genug hinterlassen. Haben Sie sie noch gekannt, alter Junge?«
»Nein, nicht dass ich wüsste«, antwortete Quinn. Vor seinen Augen verschwamm alles, und seine Beine drohten einzuknicken. Der Raum kam ihm plötzlich unerträglich heiß vor.
»Eine prima Frau!«, meinte Reg begeistert. »Legt sich in Charlies besten Jahren hin und stirbt - und hinterlässt ihm ein Vermögen. Seitdem kann Charlie kräftig auf die Pauke hauen. Das ist Glück, was?«
»Allerdings«, gab Quinn zu.
»Aber ich gönne es ihm natürlich«, fuhr der Schnauzbärtige fort. »Was halten Sie davon, wenn wir einen kleinen Schluck auf sein Wohl trinken? Ich komme gleich wieder. Laufen Sie nicht weg. Sie sind ein interessanter Bursche, Quinn, ein interessanter Bursche...«
Er verschwand und kam nicht mehr zurück. Quinn wartete noch einige Zeit auf ihn, drängte sich dann durch die Menge und wanderte von einem Zimmer zum anderen und entdeckte eines, in dem ein breites Bett stand. Er schloss die Tür hinter sich, öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, und streckte sich auf dem Bett aus. Kurze Zeit später war er eingeschlafen.
Die dunkelhaarige junge Frau fand ihn dort. »...nach Ihnen gesucht«, hörte Quinn gerade noch. »Ich habe mir gleich gedacht, dass Sie sich irgendwo verkriechen würden.«
Quinn musste sich erst räuspern. »Mir gefällt es hier ganz gut. Warum stören Sie mich? Ich möchte nur ein bisschen schlafen.«
»Aber nicht hier! Dies hier ist Jacquelines Zimmer.«
»Wer ist Jacqueline?«
»Charlie Hinchcliffe bezeichnet sie als seine Sekretärin. Sie ist bei seiner Firma angestellt, aber er beschäftigt sie auch privat, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Quinn runzelte die Stirn. »Wer ist Charlie Hinchcliffe?« hörte er sich murmeln.
»Sind Sie so blau? Jeder kennt Charlie!«
»Ich nicht«, stellte Quinn fest. »Wie sieht er aus?«
»Klein, dicklich und kahlköpfig. Da Sie schon den ganzen Abend lang auf seine Kosten saufen, habe ich angenommen, Sie...«
Quinn wäre fast wieder eingeschlafen und schrak jetzt hoch. »Hören Sie, ich war in einem Pub und habe dort einen Mann kennengelernt, der mich als Reporter zu einer Party seines Freundes eingeladen hat.«
»Wie hieß dieser Freund?«
»Keine Ahnung«, gab Quinn zu.
»Aber nicht Charlie Hinchcliffe?«
»Ich kenne niemand, der Hinchcliffe heißt«, antwortete
Quinn. »Ich will auch niemand kennenlernen, der Hinchcliffe heißt. Bin ich deshalb ein Verbrecher?«
»Nein, nur ein uneingeladener Gast«, erklärte ihm die junge Frau. »Sie sind auf der falschen Party.«
Quinn hielt das für lustig. Er begann zu lachen. Aber die Dunkelhaarige stimmte nicht ein. »Los, kommen Sie mit!«, befahl sie ihm. »Sie müssen nach Hause!« Sie rüttelte Quinn an der Schulter. »Wenn Sie mit dem Auto gekommen sind, können Sie nicht mehr fahren. Zu Fuß kommen Sie erst recht nicht nach Hause. Deshalb muss ich anscheinend den barmherzigen Samariter spielen.«
»Danke, ich komme allein zurecht«, wehrte Quinn ab.
»In Ihrem Zustand landen Sie bestimmt in der Gosse«, behauptete die junge Frau. »Jemand muss sich um Sie kümmern - und diesmal scheine ich an der Reihe zu sein.«
Quinn leistete keinen Widerstand, als die Dunkelhaarige ihn stützte, aus dem Haus führte und in einen Wagen verfrachtete, der dort geparkt war. Er nahm kaum bewusst wahr, dass die Morgendämmerung bereits angebrochen war und dass die ersten Vögel zu zwitschern begannen. Er hörte nur, dass die junge Frau ihn fragte: »Wo wohnen Sie?«
Komisch war nur, dass sie seine Antwort nicht zu verstehen schien. Quinn erklärte es ihr zweimal, aber sie fragte immer wieder danach. Ob sie auch einen Schluck über den Durst getrunken hatte?
Als sie dann losfuhr, hörte Quinn sie murmeln: »Okay, ich wollte es ja nicht anders! Warum muss ich mich auch immer um Dinge kümmern, die mich nichts angehen?«
Zweites Kapitel
Als Quinn nach endlos langer Zeit aufwachte, spürte er eine Hand an seiner Schulter und hörte die vertraute Stimme sagen: »Wenn Sie tot sind, brauchen Sie es nur zu sagen - dann trinke ich den Kaffee selbst. Bei Ihrem Anblick habe ich einen nötig. Sie erinnern mich an Marats Leiche in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett.«
Quinn versuchte, die Augen zu öffnen. Aber die Sonne schien zu hell. Er wandte sich stöhnend ab.
»Das geschieht Ihnen ganz recht!«, behauptete die Stimme.
Quinn sah kurz zu der dunkelhaarigen jungen Frau auf und schloss dann wieder die Augen. »Wie spät ist es?«
»Viertel nach fünf Uhr - nachmittags! Sie haben über zwölf Stunden lang geschnarcht. Wie geht’s Ihrem armen Kopf?«
»Schlecht«, gab Quinn zu. »Geben Sie mir den Kaffee und seien Sie eine Weile still.«
Der Kaffee war heiß und stark. Quinn fühlte seine Lebensgeister wieder erwachen. Er riskierte einen Blick zu der Dunkelhaarigen hinüber, die in einem eleganten roten Hosenanzug attraktiv und jugendlich wirkte. Anscheinend machte ihr der fehlende Schlaf nichts aus.
Quinn fragte sich, ob sie gesehen worden war, als sie ihn in sein möbliertes Zimmer brachte... oder als sie die Treppe hinabging... oder als sie nachmittags zurückkam. Dann hatten die anderen Mieter endlich wieder genug Gesprächsstoff.
Dann merkte er, dass er sich gar nicht in seinem Zimmer befand. Dort standen kein breites Sofa und kein niedriger Tisch mit einer Vase voll Blumen. Bei ihm lag auch kein Orientteppich auf dem Boden. Durch die offene Tür sah er, dass nebenan ein Schlafzimmer lag; er erkannte ein mustergültig gemachtes Bett, einen Toilettentisch und den dazugehörigen Hocker, auf dem eine Handtasche und ein Paar Handschuhe lagen.
Was er vermutete, war unsinnig. Er trank den Kaffee aus, bevor er fragte: »Wo bin ich?«
»Wo Sie nicht sein sollten«, antwortete die junge Frau lächelnd. »Ich habe noch immer einen guten Ruf - aber mit solchen Sachen ruiniere ich ihn natürlich.«
»Bin ich in Ihrer Wohnung?«
»Sie sind jedenfalls nicht im Britischen Museum.«
Quinn richtete sich auf, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. »Ich komme mir wie Rip Van Winkle vor. Wo bin ich also?«
»Eineinhalb Meilen von Basingstoke entfernt. Das hier ist mein Wochenendhaus, in das ich mich zurückziehe, wenn ich Ruhe brauche. Das Leben in der Stadt...«
»Ja, ich weiß«, unterbrach Quinn sie. »Soll das etwa heißen, dass ich von der ganzen Fahrt nichts gemerkt habe?«
Die Dunkelhaarige lächelte. »Genau! Sie - haben neunundvierzig Meilen lang geschlafen. Und ich habe zweimal gehalten, um zu sehen, ob Sie noch leben.«
»Aber warum kann ich mich an nichts erinnern?«
»Keine Ahnung. Sie waren zum Glück noch imstande, ein paar Schritte zu gehen, sonst hätte ich nicht gewusst, was ich mit Ihnen anfangen sollte.« Sie lachte unbekümmert.
»Das finde ich durchaus nicht witzig«, stellte Quinn fest. »Warum haben Sie mich hierher geschleppt?«
»Bilden Sie sich ja nicht ein, ich hätte es getan, um einen Mann im Haus zu haben! Ich wollte Ihnen nur eine Nacht in der Ausnüchterungszelle ersparen. Sie waren betrunken und zu nichts mehr imstande, mein lieber Mr. Quinn.«
»Sie hätten mich zu mir nach Hause bringen können«, wandte er ein. »Aber denken Sie bitte nicht, ich wäre undankbar!«
»Wie hätte ich Sie nach Hause bringen können, wenn ich nicht weiß, wo Sie wohnen?«
»Aber ich habe Ihnen doch die Adresse gesagt!«, protestierte Quinn.
»Das haben Sie sich nur gedacht. Ich weiß alles andere - nur Ihre Adresse nicht.«
»Was soll das heißen?«, fragte Quinn misstrauisch.
»Sie haben mir Ihre gesamte Lebensgeschichte erzählt«, behauptete die junge Frau. »Sie wären kein guter Spion, Mr. Quinn. Sobald Sie sich ein paar genehmigt haben, breiten Sie vor dem ersten mitfühlenden Zuhörer die Geschichte Ihres Lebens aus.«
»Was habe ich gesagt?«, fragte Quinn ängstlich.
»Oh, Sie haben keine gepfefferten Geschichten erzählt. Ich war sogar ein bisschen enttäuscht.«
»Machen Sie keine Witze!«, verlangte Quinn. »Ich bin nicht in der richtigen Stimmung dafür.«
»Gut, wie Sie wollen. Sie sind unverheiratet, von Beruf Reporter und für den Polizeibericht der Morning Post verantwortlich. Ihre Arbeit gefällt Ihnen, aber Sie hätten noch mehr Spaß daran, wenn Ihr zuständiger Redakteur nicht so ein gemeiner Hund wäre.« Sie machte eine Pause. »Stimmt das alles?«
»Ja«, gab Quinn zu. »Was habe ich noch erzählt?«
Die Dunkelhaarige zögerte. »Lassen wir’s lieber dabei, ja?«, schlug sie vor.
»Warum denn? Was habe ich noch gesagt?«
»Gut, wie Sie wollen! Ich weiß, dass Sie Ihre Freizeit meistens in Pubs verbringen, weil Sie einsam sind; dass Sie Ihre verheirateten Kollegen beneiden; dass Sie Minderwertigkeitskomplexe haben und dass Sie...« Sie machte eine Pause. »Das genügt vorläufig. Möchten Sie zwei Aspirin wegen Ihrer Kopfschimerzen?«
»Ja, bitte«, antwortete er, »wenn Ihnen das nicht zu viel Mühe macht.«
Sie lachte wieder. »Zuviel Mühe! Das ist ein guter Witz, wenn ich dabei an heute Nacht denke.«
»Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen so viel Arbeit gemacht habe«, sagte Quinn niedergeschlagen. »Ich hätte mich nicht so gehenlassen dürfen. Aber ich habe schon lange keinen Urlaub mehr gemacht - und heute beginnt für mich ein zweiwöchiger.«
»Ja, ich weiß. Das haben Sie mir auch erzählt.« Die junge Frau warf ihm einen fragenden Blick zu. »Und Sie wissen tatsächlich noch nicht, wo Sie diesen lange ersehnten Urlaub verbringen werden?«
»Ich kann mich für keinen bestimmten Ort entscheiden«, gab Quinn zu.
»Eigentlich ist es überall gleich«, behauptete die Dunkelhaarige, »wenn man die falsche Hälfte seiner Persönlichkeit mitschleppen muss.«
»Das klingt ja, als wäre ich schizophren!«, widersprach Quinn. »Dabei...«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Ich hole Ihnen jetzt ein Glas Wasser und zwei Aspirin, damit Sie Ihren Brummschädel loswerden.«
Quinn schluckte gehorsam die Tabletten und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, um ihre Wirkung abzuwarten. Dabei musste er eingeschlafen sein, denn er schrak auf, als die junge Frau ihn fragte, ob er noch eine Tasse Kaffee wolle.
»Für heute haben Sie genug geschlafen, glaube ich«, fügte sie hinzu. »Jetzt brauchen Sie eine kalte Dusche. Im Bad finden Sie alles, was Sie brauchen - auch einen Rasierapparat. Nein, ich brauche ihn nicht selbst. Er hat einem Mann gehört, der früher hier gewohnt hat.«
»Danke«, sagte Quinn. »Sie haben sich rührend um mich bemüht. Wenn ich jemals etwas für Sie...«
»Keine Angst, ich bin nicht zu schüchtern, um Sie meinerseits um einen Gefallen zu bitten«, wehrte sie ab. »Sie brauchen sich übrigens nicht die Mühe zu machen, mir einen Blumenstrauß schicken zu lassen. Das hätte ich auch für jeden anderen getan.«
»Schade«, meinte Quinn. »Ich hatte gehofft, Sie hätten es getan, weil Sie mich mögen.«
Sie betrachtete ihn kritisch. »Wenn sich unter dieser unansehnlichen Fassade nicht eine reine Seele befindet, wüsste ich nicht, was ich an Ihnen mögen sollte.«
»Es kommt nicht nur auf das Äußere eines Menschen an«, wandte Quinn ein.
»Umso besser für Sie, nicht wahr?« Die junge Frau lächelte schwach. »Sie haben aschblondes schütteres Haar, sind blass und haben blutunterlaufene Augen... und Sie müssen sich unbedingt rasieren. Außerdem passen in Ihrem Gesicht Nase und Kinn nicht zusammen. Die Nase ist etwas zu spitz.«
»Die beiden gehören aber schon über dreißig Jahre zusammen«, erklärte Quinn ihr. »Allerdings scheint dies das verrückteste Jahr zu werden, weil ich Sie kennengelernt habe.«
»Danke, gleichfalls.« Die Dunkelhaarige runzelte die Stirn. »Vielleicht bin ich verrückt, aber ich finde Sie trotzdem sympathisch. Andererseits gefällt mir vieles an Ihnen nicht. Würden wir uns oft sehen, hätte ich Sie bestimmt bald satt.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, versicherte Quinn ihr. »Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn Sie in den nächsten zwei Wochen Zeit haben, könnten wir versuchen, wer wen zuerst satt hat.«
Sie starrte ihn an. »Ich soll mit Ihnen in Urlaub fahren?«
»Ja - aber nicht als Mr. Und Mrs. Smith. Mein Angebot hat keinen Haken.« Quinn lächelte. »Natürlich besteht immer die Möglichkeit, dass sich aus einer Freundschaft etwas anderes entwickelt...«
»Zählen Sie lieber nicht darauf!«
»Aber ich darf doch hoffen? Vielleicht wäre es ein guter Anfang, wenn Sie mir Ihren Namen verraten würden.«
»Oh, ich dachte, Sie wüssten ihn noch.« Sie gab Quinn die Hand. »Ich heiße Carole Stewart.«
»Ich warte noch auf Ihre Antwort«, sagte Quinn. »Was halten Sie von meinem Vorschlag?«
»Darüber muss ich erst nachdenken. Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee, bevor Sie aufstehen?«
»Ja, bitte«, antwortete Quinn.
Carole Stewart verschwand in der Küche, ließ jedoch die Tür offen. »Sind Sie schon einmal in Castle Lammering gewesen?«, wollte sie wissen.
»Nein. Wo liegt das?«
»In Dorset... nicht weit von Blandford entfernt. Etwa zwanzig Meilen außerhalb von Salisbury, um es genau zu sagen. Das Dorf - Castle Lammering, meine ich - hat nur ein paar hundert Einwohner, zwei Pubs und weder Wettannahmestellen noch Spielsalons. Die nächste große Straße ist meilenweit entfernt.«
»Klingt gut«, gab Quinn zu. »Sind Sie schon einmal dort gewesen?«
»Sogar ziemlich oft. Ich habe dort Freunde, denen die Villa Elm Lodge am Ortsrand gehört. Sie sind reich und haben gern Gäste.«
»Wie nett«, murmelte Quinn ironisch.
»Sie haben mich eingeladen, ein langes Wochenende bei ihnen zu verbringen - vielleicht von heute bis Dienstagmorgen.« Carole Stewart kam mit dem Kaffee zurück. »Trinken Sie ihn, solange er heiß ist«, riet sie Quinn. »Sie wissen nicht, wohin Sie im Urlaub fahren sollen«, stellte sie dann fest. »Ein paar Tage in Castle Lammering könnten Ihnen nicht schaden. Würden Sie mich begleiten wollen?«
»Sogar sehr gern«, antwortete er. »Aber was sagen Ihre Freunde dazu, wenn Sie einen Unbekannten mitbringen?«
»Sie freuen sich bestimmt«, erklärte Carole ihm. »Ein neues Gesicht wäre eine nette Abwechslung.«
»Dann nehme ich die Einladung dankend an.« Quinn runzelte die Stirn. »Merkwürdig, nicht wahr?«
»Was ist merkwürdig?«
»Die Gerechtigkeit ist anscheinend blind. Dafür, dass ich mir gestern die Nase begossen habe, hätte ich eigentlich in einer Ausnüchterungszelle landen müssen. Aber stattdessen werde ich das Wochenende in Ihrer Gesellschaft in einem Landhaus verbringen. Was kann man mehr verlangen?«
Carole lächelte verschmitzt. »Freuen Sie sich nicht zu früh. Vielleicht langweilen Sie sich dort zu Tode. In Castle Lammering passiert nie etwas.«
»Das klingt zu gut, um wahr zu sein«, behauptete Quinn. »Ich suche schon lange einen ruhigen Zufluchtsort dieser Art.«
Drittes Kapitel
Er fühlte sich wesentlich besser, als er geduscht und sich rasiert hatte. Während er sich anzog, klopfte Carole an die Tür.
»Ich habe mir die Sache noch einmal überlegt...«, begann sie.
»Und dabei ist Ihnen eingefallen, dass Sie mich doch nicht einfach mitbringen können, nicht wahr?«, unterbrach Quinn sie.
»Unsinn! Ich habe mir nur überlegt, warum Sie vorher in die Stadt zurückmüssen.«
»Ich brauche ein paar Kleinigkeiten«, erklärte Quinn ihr. »Ich habe nicht einmal eine Zahnbürste hier.«
»Im Spiegelschränkchen liegt eine neue«, stellte Carole fest. »Sie können auch den Rasierapparat mitnehmen. Der frühere Besitzer hat nichts dagegen, glaube ich.«
»Das ist sehr nett von ihm, aber wenn ich bis Dienstag verreise, brauche ich mehr als einen Rasierapparat und eine Zahnbürste. Ich kann nicht sechs Tage lang das gleiche Hemd anziehen, in dem ich heute Nacht schon geschlafen habe.«
»Welche Kragenweite haben Sie?«, wollte Carole wissen.
»Neununddreißig. Warum?«
»Im Wäscheschrank in der Diele liegen ein halbes Dutzend Hemden dieser Größe, zwei Schlafanzüge, Unterwäsche und Socken«, erklärte sie Quinn. »Sie brauchen sich nur zu bedienen.«
»Aber was sagt der Mann dazu, dem das alles gehört?«, erkundigte Quinn sich. »Wie reagiert er auf diese Zweckentfremdung, wenn er zurückkommt?«
»Hinter diesen beiden Fragen spüre ich eine dritte«, antwortete Carole nach einer kurzen Pause. »Er kommt nicht zurück. Sie können alles benützen - es sei denn, Sie wollten Ihre eigenen Sachen holen und später nachkommen.«
»Das wäre Zeitverschwendung«, entschied Quinn. »Ich nehme Ihr Angebot dankend an. Darf ich Sie noch etwas fragen?«
»Nein, lieber nicht«, wehrte Carole ab. »Ich hole Ihnen jetzt einen Koffer, damit Sie das Zeug einpacken können...«
Sie fuhren erst gegen sechs Uhr ab. Als Quinn die beiden Koffer verstaute, sagte Carole plötzlich: »Jetzt können Sie sich die Sache noch anders überlegen.«
»Warum sollte ich das tun?«, fragte Quinn.
»Nun, Sie wissen schließlich nicht, worauf Sie sich einlassen.«
»Das riskiere ich gern - es sei denn, Sie bereuten es, mich eingeladen zu haben.«
»Nein, ich bereue nie etwas«, versicherte Carole ihm. Sie setzte sich ans Steuer. »Wenn ich mich für etwas entschlossen habe, führe ich es auch durch. Und wenn es wider Erwarten schiefgeht, bedauere ich nichts.«
»Dann sind wir genau entgegengesetzt veranlagt«, gab Quinn zu. »Ich bilde mir später immer ein, ich hätte anders handeln sollen. Aber das habe ich Ihnen wahrscheinlich schon anvertraut, nicht wahr? Ich kann eben den Mund nicht halten.«
»Da sind Sie nicht der einzige«, sagte die junge Frau und fuhr an.
Quinn warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Hören Sie, Carole, ich möchte von Anfang an etwas klarstellen. Wir brauchen uns nicht weiter mit dem Mann zu befassen, dessen Hemd ich trage. Meinetwegen ist er Ihr Bruder.«
Sie konzentrierte sich auf die Straße. »Ich habe keinen Bruder«, antwortete sie leise.
»Gut, dann eben Ihr Onkel, Ihr Neffe oder Ihr Großvater. Das geht mich nichts an.«
Carole nickte langsam. »Ich bin froh, dass ich Sie eingeladen habe, mich nach Castle Lammering zu begleiten. Ich habe das Gefühl, dass Sie genau der Mann sind, den ich im Augenblick brauche.«
»Stets zu Diensten!«
Carole legte ihm kurz die Hand auf den Arm. »Seien Sie lieber nicht zu voreilig, mein Freund. Vielleicht stellt sich noch heraus, dass Sie einer schlechten Sache dienen.«
»Kann sein«, gab Quinn zu, »aber das riskiere ich in diesem Fall gern.« Er wechselte das Thema. »Soll ich irgendwo unterwegs eine kleine Aufmerksamkeit für die Dame des Hauses besorgen?«
»Nein, nein«, wehrte Carole ab. »Adele braucht nichts, was Sie sich leisten können. Das müssen Sie sich vor Augen halten.«
»Wie Sie meinen. Ich habe zwar keine Erfahrung im Umgang mit der Frau eines reichen Mannes, aber...«
»Das ist sie nicht«, unterbrach Carole ihn. »Das Geld gehört ihr. Ich bezweifle, dass Michael jemals etwas zu den Haushaltungskosten beigesteuert hat.« Sie machte eine Pause. »Am besten erzähle ich Ihnen gleich, wie die Verhältnisse liegen. Aber ich verlasse mich darauf, dass Sie das für sich behalten. Ich möchte nicht, dass Adele glaubt, ich...«
»Selbstverständlich!«, unterbrach Quinn sie.
»Michael Parry trinkt zu viel«, begann Carole.
»Da ist er nicht der einzige.«
Carole zuckte mit den Schultern. »Der Vergleich mit Ihnen hinkt. Sie trinken vielleicht gelegentlich einen über den Durst, aber Sie arbeiten wenigstens noch. Michael tut nichts.«
»Womit vertreibt er sich die Zeit?«
»Er fühlt sich als Schriftsteller. Sie kennen doch diesen Typ, der ewig an irgendeinem Meisterwerk arbeitet, das ihm mit einem Schlag Ruhm und Ehre einbringen soll.«
»Ja, solche Leute kenne ich«, stimmte Quinn zu.
»Aber ein Bestseller ist nicht einfach aus dem Ärmel zu schütteln«, fuhr Carole fort. »Ich glaube, dass Michael Talent hat, aber er gebraucht es nicht. Er ist geradezu arbeitsscheu.«
»Das kann man werden, wenn man eine reiche Frau heiratet«, behauptete Quinn.
»Adeles Geld hat Michael nur die Möglichkeit gegeben, nach Belieben zu faulenzen«, stellte sie fest. »Und wenn er deprimiert ist - das kommt ziemlich oft vor -, besauft er sich einfach.«
»Freut mich, dass Sie ihn nicht leiden können«, meinte Quinn grinsend. »Ein Säufer in Ihrem Leben genügt.«
»Machen Sie keine dummen Witze! Außerdem irren Sie sich. Michael kann recht charmant sein. Ich halte ihn nur für einen Schwächling. Adele hätte einen besseren Mann verdient.«
»Vielleicht ist sie ganz glücklich mit ihm.«
»Wie kann sie mit einem Mann glücklich sein, der völlig von ihr abhängig ist?«, fragte Carole irritiert.
»Wahrscheinlich ist er auch unglücklich«, meinte Quinn nachdenklich, »und trinkt deshalb.«
»Ja, ich weiß«, gab Carole zu. »Deshalb tut er mir eigentlich auch leid. Es ist zum Heulen, wenn er den großzügigen Gastgeber spielt, obwohl jeder weiß, dass Adele dafür bezahlt. Aber noch schlimmer ist ihr Blick, wenn...« Sie zuckte mit den Schultern. »Reden wir lieber von Ihnen.«
Ȇber mich gibt es nicht
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Harry Carmichael/Apex-Verlag.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Dr. Birgit Rehberg.
Proofreading: Dr. Birgit Rehberg.
Translation: Wulf Bergner (OT: A Slightly Bitter Taste).
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 04-07-2022
ISBN: 978-3-7554-1116-1
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