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Leseprobe

 

 

 

 

HARRY CARMICHAEL

 

 

Frau im Labyrinth

 

Roman

 

 

 

 

APEX CRIME CHEFAUSWAHL, BAND 1

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

FRAU IM LABYRINTH 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

Seit zwei Jahren ist Mrs. Janet Kilmuir aus Leeds verschwunden. Untergetaucht? Entführt? Ermordet?

Der Versicherungsdetektiv John Piper geht Schritt für Schritt den Spuren dieser braven Hausfrau nach. Und er findet heraus, dass ihr Leben weder einfach noch beschaulich war...

 

Der Roman Frau im Labyrinth des britischen Schriftstellers Harry Carmichael (eigtl. Hartley Howard/Leopold Horace Ognall - * 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien) erschien erstmals im Jahr 1964; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1976.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME CHEFAUSWAHL.

  FRAU IM LABYRINTH

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  24. Oktober, 8.00 Uhr

Es ist ein kalter, windstiller Tag nach einer Nacht, die die ersten Vorboten des Winters gebracht hat. Ein leichter Dunst liegt über Westbourne Avenue, und die Gehwege sind mit Reif bedeckt. Im Garten von Nummer 23 ist der Bergahorn in brüchiges Gelb und Braun gekleidet, tote Blätter liegen in der Einfahrt, Dahlien, Löwenmäulchen und Wicken welken, eine einsame Rose lässt ihren rosaroten Kopf hängen.

Jetzt ist es halb neun, und der Dunst beginnt sich unter einer zarten Sonne aufzulösen. Mr. Kilmuir sagt, es sieht so aus, als ob es ein schöner Tag wird. Seine Frau fragt ihn, ob er glaubt, dass den Kindern in ihren Regenmänteln warm genug ist, und er meint, sie verwöhnt sie zu sehr. Kinder spüren die Kälte nicht, wenn sie herumlaufen. Außerdem wird es bis zum Nachmittag wahrscheinlich ziemlich warm, und sie kommen vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause.

Die Familie hat das Frühstück beendet. Mrs. Kilmuir fordert Paul auf, sich ordentlich das Haar zu kämmen, während sie Linda das Ei vom Gesicht wischt. Mr. Kilmuir hat den Wagen aus der Garage gefahren und kommt fetzt ins Haus zurück, um zu sagen, dass sie sich beeilen müssen, wenn er sie zur Schule bringen soll.

Hastig werden in letzter Minute Schulranzen, saubere Taschentücher und ein Apfel für die Frühstückspause zusammengerafft. Dann verstaut Vater sie im Wagen und will gerade losfahren, als Mrs. Kilmuir mit einem Schal für Paul hinter ihnen herrennt.

Ihr Mann sagt, dass er zu spät ins Geschäft kommt, wenn sie noch mehr Zeit vergeuden. Das Problem ist, dass sie früher aufstehen müssten. Außerdem sieht er nicht ein, warum sie nicht zu Fuß zur Schule gehen können, wenn es nur fünf Minuten von zu Hause sind. Mrs. Kilmuir kehrt zum Eingang zurück und bleibt in der offenen Tür stehen.

Sie winkt ihnen zu, als der Wagen rückwärts die Einfahrt hinunterfährt. Die Kinder winken zurück und rufen: »Wiedersehen, Mama, Wiedersehen... Wiedersehen...«

Es ist genauso wie an jedem anderen Werktag. Das Muster ihrer winzigen Leben setzt sich unverändert fort, wiederholt sich Tag für Tag, als ob das Leben für sie alle immer 50 sein wird.

An diesem Morgen des 24. Oktober denken Paul und Linda nur an die einfachen Dinge, die kleinen Jungen und Mädchen im Kopf herumgehen. Sie können nicht wissen, dass das Muster im Begriff ist, zerstört zu werden.

Nach heute wird nichts je wieder so sein wie früher. Heute ist das Ende.

Der Wagen fährt an verwelkten Fliederbüschen vorbei, durch das Tor hinaus auf die Straße. Die Kinder bemühen sich, einen letzten Blick auf ihre Mutter zu werfen. Sie rufen immer noch: »Wiedersehen, Mama, Wiedersehen... Wiedersehen...«

Es ist 8.40 Uhr.

 

 

 

Erstes Kapitel

 

 

Piper kam zu seiner Verabredung zu spät. Er erreichte Bishop’s Lane ein paar Minuten nach eins, aber bis er am Ende der Straße einen freien Platz fand, wo er seinen Wagen parken konnte, war es beinahe Viertel nach eins. Quinn würde sich fragen, was ihm zugestoßen war.

Während er zu der Ecke zurückging, überlegte er, warum sie sich nicht in einem weniger überfüllten Lokal verabredet hatten. Eine Kneipe unterschied sich nicht von der anderen. Menschen vom gleichen Schlag trafen sich in der gleichen Atmosphäre, um über die gleichen Dinge zu reden.

Als Piper das Mitre betrat und zur Bar ging, sah er Quinn - das unvermeidliche Glas in der Hand - mit einem rundlichen Mann sprechen, der eine kastanienbraune Fliege trug.

Sie machten ihm zwischen sich Platz, und Quinn fragte ihn, was er trinken wollte. Der Mann mit der Fliege sagte: »Ich habe von unserem gemeinsamen Freund hier schon viel über Sie gehört,

Mr. Piper, und natürlich weiß ich, dass Sie einen guten Ruf haben. Mein Name ist Orton - Charles Orton.«

Piper gab ihm die Hand und sagte: »Ein guter Ruf kann täuschen. Und man kann nicht alles glauben, was man hört - besonders wenn man es mit einem Burschen wie Quinn zu tun hat. Was hat er gesagt?«

»Oh, nichts Nachteiliges. Ganz im Gegenteil.«

»Wahrscheinlich hat er maßlos übertrieben.«

»Bestimmt nicht. Deshalb habe ich auch gewartet, um Sie kennenzulernen. Ich finde es immer sehr interessant, Menschen zu begegnen, die auf dem Gebiet des Verbrechens Erfahrungen aus erster Hand haben.«

»Meine Erfahrungen sind sehr beschränkt«, sagte Piper.

»Nicht nach dem, was Quinn mir erzählt. Sie scheinen in einige faszinierende Fälle verwickelt gewesen zu sein.«

»Nur durch Zufall. Meistens ist meine Arbeit ziemlich eintönig. Versicherungsdetektive führen kein romantisches Leben.«

»Kriminalromanautoren wie ich auch nicht. Haben Sie jemals Krimis gelesen, Mr. Piper?«

»Ja, ziemlich oft. Im Laufe der Jahre habe ich fast alles gelesen, was lesenswert ist - einschließlich Ihrer Romane.«

Mit einem schnellen Lächeln sagte Orton: »Ich danke Ihnen für Ihre freundlichen Worte. Natürlich wollen Sie nur höflich sein.«

»Ganz im Gegenteil. Ich halte Ihr letztes Buch für eins der besten, die Sie bis jetzt geschrieben haben.«

Orton lächelte wieder. Seine Augen funkelten, als er sagte: »Jetzt bin ich wirklich froh, dass ich mich entschlossen habe zu warten, bis Sie kamen. Sie haben mir Glück gebracht.«

Er war nicht ganz mittelgroß, hatte einen Bauch, wie er oft bei Männern in mittleren Jahren zu beobachten ist, zurückweichendes blondes Haar und fleischige Gesichtszüge. Er sah verweichlicht, gepflegt und wohlgenährt aus wie jemand, der ein üppiges Leben liebt.

Quinn bezahlte Pipers Drink, hustete betroffen und sagte: »Ihr zwei hört euch wie eine Gesellschaft zur gegenseitigen Beweihräucherung an. Hat niemand ein Wort für den armen, mit Füßen getretenen Journalisten?«

»Ich wüsste eins«, sagte Piper, »aber es ist ziemlich grob. Übrigens, haben Sie sich schon wegen des Urlaubs entschlossen?«

»Nein. Ich habe darüber nachgedacht und bin nicht sicher, ob es für einen Mann mit meinen beschränkten Mitteln nicht zu teuer würde. Für Autoren, Versicherungsdetektive und ähnliche Leute ist so ein Urlaub sicher erschwinglich, aber ich gehöre nur zum arbeitenden Fußvolk. Ich muss jeden Penny umdrehen, bevor ich ihn ausgebe.«

»Wenn Sie weniger Bier trinken würden, könnten Sie sich diesen Urlaub zweimal leisten.«

Ein Ausdruck des Entsetzens trat auf Quinns ausgemergeltes Gesicht. Er sagte: »Möge Ihnen der Himmel verzeihen - denn die Brauereien tun’s bestimmt nicht.« Er warf seinen Kopf zurück und leerte sein Glas in einem Zug. Dann fügte er hinzu: »Ich brauche mindestens noch ein Glas, um den Geschmack dieser Bemerkung aus meinem Mund zu spülen - und streiten Sie sich nicht, wer es bezahlt.«

Orton erklärte: »Ich spendiere Ihnen eins.«

»Während Sie bestellen, Charles«, sagte Quinn, »mache ich einen kleinen Spaziergang. Gehen Sie nicht weg, bevor ich zurückkomme.«

Als er draußen war, meinte Orton: »Eins muss man Quinn lassen. Wenn man in seiner Gesellschaft ist, kommt nie Langeweile auf. Und in seinem Beruf hat er auch was los. Obwohl er so viel trinkt, arbeitet sein Verstand immer messerscharf. Ich möchte wissen, wie er das macht.«

»Er hat wahrscheinlich eine Unempfindlichkeit gegenüber Alkohol entwickelt«, antwortete Piper.

»Darüber kann wohl kein Zweifel bestehen. Man sagt immer, Bier macht dick, trotzdem ist er spindeldürr. Wenn man uns beide nebeneinander sieht«, Orton tätschelte seinen aufgetriebenen Leib, »sollte man meinen, ich bin der Trinker. Dabei genehmige ich mir nur ab und zu ein Glas. Soviel ich weiß, gibt Quinn sein Geld fürs Trinken aus und leistet sich höchst selten eine anständige Mahlzeit, was nicht mein Fall wäre. Ich esse gern gut. Daher«, wieder tätschelte er mit beiden Händen seinen Bauch, »dieser beeindruckende Umfang.«

»Der lässt Sie gutmütig und erfolgreich erscheinen«, sagte Piper.

»Ich bin weder erfolgreich noch gutmütig«, konterte Orton. »Meine Frau ist eine erstklassige Köchin und versorgt mich zu gut. Da liegt der Hase im Pfeffer.«

»Viele Männer würden bestimmt gern mit Ihnen tauschen.«

»Oh, ich beklage mich nicht. Ich weiß, wann es mir gutgeht. Sind Sie verheiratet?«

Ein längst vertrauter Schatten verdüsterte Pipers Gedanken. »Nein. Ich war einmal verheiratet. Aber ich führe seit langem ein Junggesellendasein.«

Charles Orton blickte ihn mit seinen wasserblauen Augen neugierig und zugleich mitfühlend an und sagte: »Tut mir leid, wenn ich einen wunden Punkt berührt habe. Das war ungeschickt von mir.«

»Das macht nichts. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sie konnten es ja nicht wissen.«

»Trotzdem war es taktlos von mir. Ich habe nicht daran gedacht, dass Sie geschieden sein könnten. Wenn man darüber spricht, werden sicher unglückliche Erinnerungen auf gerührt.«

Piper sagte: »Meine Erinnerungen sind nicht auf die Weise unglücklich, wie Sie glauben. Es war kein Scheidungsfall.«

»Nein?«

»Nein, meine Frau starb. Sie kam bei einem Autounfall ums Leben.«

»Ich dachte mir gleich, dass Sie wie ein Mensch aussehen, dem ein schweres Kreuz auferlegt worden ist«, sagte Orton sehr gütig. »Verzeihen Sie mir, wenn ich mich in Ihre Privatangelegenheiten einmische, aber haben Sie je daran gedacht, wieder zu heiraten?«

»Ja, ich habe daran gedacht«, antwortete Piper. »Aber weiter bin ich noch nicht gekommen.«  ,

Er wusste, dass Ortons Interesse völlig unpersönlich war. Leute, die vom Schreiben lebten, neigten dazu, andere Menschen auseinanderzunehmen, ihre Gefühle zu erforschen und zu untersuchen, welche Motive ihren Handlungen zugrunde lagen.

Es tat jetzt nicht mehr weh, über die Vergangenheit zu sprechen. Ann war kaum noch eine reale Person. Manchmal glaubte er fast, dass sie Teil eines Traums war, den er vor langer Zeit gehabt hatte.

Dann kam Quinn zurück. Er fragte: »Haben Sie über mich geredet?«

»Ihre Eitelkeit wird nur noch von Ihrem Fassungsvermögen übertroffen«, antwortete Orton. »Offen gestanden haben wir uns über Frauen und die Ehe unterhalten.«

»Um Gottes willen! Sind Sie noch zu retten? Ich habe immer geglaubt, dass Männer in die Kneipe gehen, um von diesem Thema loszukommen. Ihr verheirateten Kerle gebt nie auf, was? Dauernd versucht ihr, Leute wie Piper und mich auf euer eigenes Niveau herunterzuziehen.«

Charles Orton schüttelte den Kopf und lächelte. »Unsinn. Sie wissen gar nicht, was Ihnen abgeht. Es hängt alles von der Frau ab, die man heiratet. Wie bei jeder anderen Beziehung ist es eine Frage von Geben und Nehmen.«

»Klar. Ich würde geben, und sie würde nehmen. Wenn ein Mann von seinem teuren Weib spricht, dann meint er damit, was sie ihn kostet.«

»Geld ist nicht alles. Ohne Frau hat ein Mann kein Zuhause.«

»Ich will kein Zuhause haben«, sagte Quinn.

Ortons feistes Gesicht legte sich in Falten und nahm einen mitleidigen Ausdruck an, aber seine Augen blickten amüsiert. Er zuckte die Achseln und meinte: »Schon gut. Aber eines schönen Tages werden Sie Ihren Sinn ändern.«

»Wenn ich das tue, bin ich nicht bei Sinnen.«

»Wir werden sehen. Meiner Meinung nach«, er kniff die Augen zusammen und betrachtete Quinn kritisch, »würde Ihnen eine Frau guttun.«

Quinn nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas, leckte sich die Lippen ab und sagte: »Ich bleibe lieber, wie ich bin.«

»Und das wäre?«

»Nun, ich kann tun, was ich will, wann ich will und wie ich will. Wenn ich Lust auf ein Techtelmechtel habe, weiß ich, wo ich es mir holen kann. Die übrige Zeit wärme ich mein Bett mit einer elektrischen Heizdecke. Die ist billiger - und fragt mich nie, wo ich gewesen bin, wenn ich nach Hause komme.«

»Das stimmt. Aber sie kümmert sich nicht um Ihre Wäsche, bereitet Ihnen keine schmackhaften Speisen und«, Ortons Lächeln wurde breiter, als er auf Quinns schmuddeligen Regenmantel deutete, »näht Ihnen keine Knöpfe an. Wenn Sie eine Frau hätten, würde Ihr Äußeres ein bisschen aufpoliert.«

Quinn stellte sein Glas hin und drehte den Kopf, um sein Spiegelbild in dem Spiegel hinter der Bar anzustarren. Dann wandte er sich an Piper und fragte ihn: »Wovon redet er? Fällt Ihnen an mir irgendetwas auf, was nicht stimmt?«

»Nein«, sagte Piper. »Sie haben in all den Jahren, die ich Sie kenne, nie anders ausgesehen - außer dass an Ihrem Mantel ein paar Bierflecken mehr sind. Alles andere ist unverändert: verkrumpelter Kragen, zerknitterte Krawatte, ausgebeulte Hose.«

Quinn bleckte sein Pferdegebiss und erklärte: »Sie lassen also auch kein gutes Haar an mir. Okay. Ich will Ihnen was sagen. Ich mag mich so, wie ich bin... Mit all diesem Gerede wird nur kostbare Zeit vergeudet, in der man sich lieber eins hinter die Binde gießen sollte. Wenn Ihr Freund Mr. Piper die Güte haben sollte, einen auszugeben, könnte man mich vielleicht dazu überreden, noch ein Bier zu trinken.« Er leerte sein Glas. Während er der Kellnerin winkte, fuhr er fort: »Noch ein Wort zu diesem faulen Ehezauber, und dann wollen wir das Thema wechseln. Wissen Sie, wie viele sogenannte glücklich verheiratete Männer ihre Frauen auf Nimmerwiedersehen verlassen?«

»Das sind Ausnahmen«, sagte Piper. »Die große Mehrheit der Ehepaare...«

»...lebt in einem idyllischen Zustand der Glückseligkeit. Quatsch! Sie geben die Tatsache vielleicht nicht bekannt, aber die meisten bekämpfen sich wie Hund und Katze.«

»Sie sind ein Zyniker«, bemerkte Orton.

»Nein, nur ein Realist. Es würde zehnmal so viele Scheidungen geben, wenn keine Kinder da wären, auf die man Rücksicht nehmen muss. Die Durchschnittsmutter lässt sich fast alles gefallen, um zu verhindern, dass die Familie zerbricht. Und das wissen Sie genauso gut wie ich, Charles.«

»Wo haben Sie Ihre Erfahrungen auf dem Gebiet mütterlicher Verhaltensweisen gewonnen?«

»Oh, ich komme viel herum. Mehr als eine Frau hat mir erzählt, dass immer die Kinder die Leidtragenden sind, ganz gleich, welcher Ehepartner die Schuld hat. In den meisten Fällen ist die Mutter nicht bereit, ihre Kinder zu opfern, weil sich herausgestellt hat, dass ihr Vater ein Schweinehund ist.«

Charles Orton sah plötzlich nachdenklich aus. Nachdem er seine Fliege befingert und sich davon überzeugt hatte, dass sie gerade war, sagte er: »Komisch, dass wir ausgerechnet auf dieses Thema gekommen sind. Ich hörte neulich von einem Fall...« Er brach ab, betastete sein Kinn und starrte vor sich hin. Er schien nicht geneigt, fortzufahren.

Quinn meinte: »Wenn Sie aus Ihrem Trancezustand erwachen, erzählen Sie uns vielleicht davon.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Diese Frau ist offenbar eines Tages abgehauen und hat ihren Mann und ihre Kinder ohne jeden Grund verlassen. Merkwürdige Geschichte... höchst merkwürdig.«

»Nur weil Sie den Grund zufällig nicht kennen«, wandte Quinn ein. »Sie muss einen gehabt haben. Fragen Sie ihren Mann, was für ein Leben sie geführt haben, und Sie werden begreifen, warum sie es getan hat.«

»Nein, so einfach scheint der Fall nicht zu liegen. Ihre Beziehung schien bis zu dem Tag, an dem es passierte, ganz normal gewesen zu sein.«

Piper warf ein: »Normal ist ein dehnbarer Begriff. Wenn diese Geschichte Sie so sehr interessiert, könnten Sie versuchen, die Frau um eine Erklärung zu bitten. Vielleicht können Sie die Eheleute wieder zusammenbringen. Wenn es Freunde von Ihnen sind...«

»Ich bin ihnen nie begegnet«, unterbrach ihn Orton. »Ich weiß nicht einmal, wer sie sind.« Er spielte einen Moment mit seinem Glas. Dann fuhr er fort: »Die Person, die mir vor einer Woche darüber schrieb, ist mir völlig unbekannt. Ich habe ihren Brief noch nicht beantwortet, weil ich nicht ganz sicher bin, was ich schreiben soll. Ich habe im Laufe meines Lebens viel Post von Fans bekommen, aber nie so einen Brief. Möchten Sie ihn sehen?«

»Sie wissen verdammt gut, dass wir darauf brennen«, antwortete Quinn. »Haben Sie etwa geglaubt, dass wir nein sagen würden, nachdem Sie als Kriminalromanschriftsteller so die Werbetrommel gerührt haben? Zeigen Sie her.«

 

9.00 Uhr

Mrs. Kilmuir hat abgewaschen und die Küche aufgeräumt. Als sie die Milch hereinholt, wechselt sie ein paar Worte mit ihrer Nachbarin über das Wetter und die Kinder.

Die Betten sind gemacht. Sie sortiert verschiedene Teile aus, die in die Wäscherei gehen sollen, stellt die Liste zusammen und deponiert den Sack abholbereit in den Eingang.

Jetzt telefoniert sie mit dem Gemüsehändler, um ihm ihre wöchentliche Obst- und Gemüsebestellung durchzugeben. Das tut sie immer um zehn Uhr am Dienstagmorgen - und heute ist ein ganz gewöhnlicher Dienstag, an dem lauter gewöhnliche Dinge erledigt werden müssen.

In vier Stunden und fünfundvierzig Minuten wird die Welt zusammenbrechen. Im Augenblick ist sie Leonard Kilmuirs Frau und Mutter von zwei Kindern.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Es war ein Luftpostumschlag, der mit einer Fünf-Peseta- und einer Ein-Peseta-Marke frankiert und am 18. September abgestempelt war. Die Adresse war mit Kugelschreiber geschrieben: Mr. Charles David Orton, 48, Carlton Avenue, Hampstead, London, England.

Der Brief bestand aus drei engbeschriebenen Seiten. Quinn begann zu lesen und reichte eine Seite nach der anderen ohne Kommentar an Piper weiter. Charles Orton rückte ein wenig von ihnen ab, schlürfte sein Bier und beobachtete sie schweigend.

 

 

Hotel Triton, Torremolinos, Costa del Sol, Spanien

 

Lieber Mr. Orton,

nachdem ich überall nachgeforscht und monatelang in Yorkshire und anderswo ohne Erfolg einige Ihrer Bücher gesucht habe, wende ich mich heute direkt an Sie.

Ich bin Nachrichtenredakteurin an einer Wochenzeitung in Bradford und schreibe außerdem für mehrere andere Zeitungen Features. Im Augenblick arbeite ich an einem Buch, das sich mit einem höchst merkwürdigen Fall beschäftigt. Es geht um eine junge Frau, die vor beinah zwei Jahren unter äußerst rätselhaften Umständen aus ihrem Heim in Leeds verschwand. 

Natürlich kann ich in diesem Stadium - ich stehe erst am Anfang meiner Arbeit - nicht auf Einzelheiten eingehen, aber dem Fall liegen folgende Tatsachen zugrunde:

Die Frau, eine frühere Angestellte von Ashworth, Johnstone & Company, London, ist (oder war) mit einem Mann verheiratet, der etwas älter als sie selbst (Anfang Dreißig) ist, und das Ehepaar hat zwei kleine Kinder.

Die Frau, die als ruhiger Mensch geschildert wird und sehr gern gelesen hat, freundete sich in den sechs Monaten, in denen sie in West Park, einem Vorort von Leeds, lebte, nur mit wenigen Leuten an. Sie verschwand und hinterließ keine Spuren - abgesehen von einer kleinen Menge menschlichen Bluts auf dem Teppich in der Diele, ein paar beschmierten Kleidungsstücken am Boden und einem vom Apparat abgerissenen Telefonhörer. Verschiedene Fingerabdrücke konnten noch nicht identifiziert werden, stammen aber nicht von ihr. Das Blut kann, aber muss nicht ihres sein. Es gehört der weitverbreiteten Blutgruppe 0 an. 

Als ehemalige Bibliothekarin begann ich mich für die Lesegewohnheiten der Frau zu interessieren und sie zu untersuchen. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Von ungefähr dreißig Büchern, welche die Frau - wie wir an Hand von Karteikarten der Bücherei beweisen konnten - gelesen hatte, handelten mindestens elf von Menschen, die verschwunden waren. In anderen ging es um selbstauferlegtes Exil usw.

Zwei der Bücher, die sich mit dem Verschwinden von Personen beschäftigen, sind von Ihnen: Verfolgungsjagd im Dunkeln und Manege der Narren. Aus einem unerfindlichen Grund kann ich den Gedanken nicht loswerden, dass Sie vielleicht in der Lage sind, dieses Rätsel lösen zu helfen. Mag sein, dass ich mich täusche, jedenfalls sind Sie unvermeidlich Teil meiner Geschichte. Außerdem ist es mir nicht gelungen, Ihre Bücher Der seltsame Trick und Letzte Abrechnung aufzutreiben; ich kann zwar nicht beweisen, dass die Frau sie gelesen hat, aber es ist durchaus möglich. 

Wie ich von Ihrem Verleger erfahren habe, sind diese Bücher zurzeit vergriffen. Wenn Sie glauben, dass Sie mir helfen können, oder wenn Sie bereit wären, mir Ihre Exemplare dieser beiden Bücher zu borgen, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich bin in einer Woche wieder zu Hause und werde Ihnen die Bücher, sobald ich sie gelesen habe, zurückschicken.

Ich weiß, es ist sehr viel verlangt, Sie in dieser Sache um Hilfe zu bitten. Aber nachdem ich viele Ihrer zahlreichen Romane - übrigens mit großem Vergnügen - gelesen habe, glaube ich, dass ein Mann, der einen so scharfsinnigen Geist besitzt wie Sie, mir vielleicht ein paar wertvolle Anregungen geben kann.

Mit freundlichen Grüßen

Mrs. Helen Byfield

37, Kingsmere Road Bradford, Yorkshire

 

P. S. Ist Ihnen bekannt, ob je zuvor einer Ihrer Leser verschwunden ist? Der Gedanke ist ziemlich erschreckend, aber ich glaube, Sie können verstehen, warum die Geschichte so faszinierend ist. Da Beweise eines möglichen Verbrechens vorliegen, hält die Polizei von Leeds übrigens die Frau nicht für eine gewöhnliche Ausreißerin und hat den Fall bisher nicht zu den Akten gelegt.

H. B.

 

Quinn griff nach seinem Glas und nahm einen großen Schluck, während Piper noch einmal die letzte Seite las. Charles Orton steckte die Hände in die Taschen, lehnte sich an die Bartheke und wartete mit ausdruckslosem Gesicht.

Nach einem letzten Blick auf die Briefmarke, gab Piper ihm den Brief zurück. »Voller Lücken«, sagte er, »aber interessant. Ist in diesen Büchern, die diese Frau gelesen haben soll, irgendwas enthalten, was den Umständen ihres Verschwindens ähnelt?«

»Ja«, antwortete Orton. »Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem, was ihr zugestoßen ist, und einem Vorfall in dem Buch Manege der Narren.«

»Aber Sie wissen doch gar nicht, was ihr zugestoßen ist«, wandte Quinn ein. »Vielleicht hatte sie die eintönige Hausarbeit satt und stellte plötzlich fest, dass es bessere Dinge im Leben gibt als Kochen, Saubermachen und Kinderhüten.«

»Schon möglich. Aber wenn sie freiwillig gegangen ist, wozu dann das ganze Theater: Blutflecken, beschmutzte Kleidungsstücke und ein abgerissener Telefonhörer?«

»Vielleicht hat sie zu viele Krimis gelesen.«

»Millionen von Menschen lesen Krimis. Abermillionen sehen sie im Fernsehen. Aber ich habe noch nie gehört, dass eine Frau Mann und Kinder verließ und versucht hat, den Eindruck zu erwecken, sie sei ermordet worden.«

»Es gibt immer ein erstes Mal. Wenn wir mehr über ihr Leben wüssten, würde es uns vielleicht leichter fallen, das Ganze zu verstehen.«

Piper meinte: »Der Brief sagt uns kaum etwas. Anfang Dreißig, verheiratet, zwei Kinder, zum Zeitpunkt ihres Verschwindens lebten sie seit ungefähr sechs Monaten in Leeds. Und das ist alles. Wie lange waren sie verheiratet gewesen? Wo wohnten sie und ihr Mann, bevor sie nach Leeds zogen? Warum verließen sie ihr früheres Heim? Waren sie glücklich miteinander? Es gibt eine Menge Fragen, die beantwortet werden müssten, bevor man überhaupt Vermutungen darüber anstellen könnte, was hinter dieser Sache steckt.«

»Ich habe Tage damit zugebracht, über die Geschichte nachzudenken, seitdem ich den Brief bekommen habe, und ich muss gestehen, sie fasziniert mich«, sagte Charles Orton. »Der Gedanke, dass ein Buch von mir die Frau möglicherweise dazu angeregt hat, das Ganze zu inszenieren, erscheint absurd. Aber entweder ist es das...«

»...oder jemand hat sie sich vom Hals geschafft«, sagte Quinn. Er starrte an die Decke und fuhr fort: »Wenn sie freiwillig gegangen ist, dann lebt sie noch. Wenn nicht, gibt es kaum einen Zweifel, dass sie hinausgetragen wurde.«

»Und sorgfältig aus dem Weg geräumt wurde. Was auch immer das Motiv war, es muss für den Mörder wichtig gewesen sein sicherzugehen, dass man sie nie finden würde.«

»Wenn wir von dieser Voraussetzung ausgehen«, erklärte Quinn, »sind die Blutflecken ein Beweis dafür, dass sie in ihrem eigenen Haus ermordet wurde. Was eine große Frage aufwirft.« Er wandte den Blick von der Decke, heftete ihn auf Piper und fragte: »Wenn Sie diese Frau um die Ecke gebracht hätten, wären Sie dann das Risiko eingegangen, ihre Leiche wegzukarren?«

»Ich hätte einen sehr dringenden Grund haben müssen«, antwortete Piper.

»Der einzige, den ich mir denken kann, ist folgender: Jemand wollte nicht, dass die Leute von ihrem Tod erfuhren.«

Orton sagte: »Das ergibt keinen Sinn. Wenn es so war, warum hat dann der Mörder nicht die Blutflecken weggewischt und die beschmutzten Kleidungsstücke beseitigt?«

»Weil er wusste, dass er seine Zeit vergeudete. Was immer er auch machte, er konnte die Tatsache nicht verbergen, dass etwas Merkwürdiges vorgefallen war. Sie vergessen das zerrissene Telefonkabel.«

»Nein, das tue ich nicht. Offen gestanden halte ich überhaupt nicht viel von Ihrer Theorie. Ich bin eher geneigt zu glauben, dass die Frau plötzlich durchgedreht und das Ganze inszeniert hat, damit es wie eine Szene aus einem ihrer Lieblingskrimis aussah.« Ein ernster Ausdruck trat in Ortons Augen. »Vielleicht klingt es albern, aber ich kann nicht umhin, mich in gewisser Weise für das, was eventuell geschehen ist, verantwortlich zu fühlen. Übrigens kein schönes Gefühl.«

Quinn sagte in bissigem Ton: »Wem wollen Sie das weismachen? Es ist ein verdammt guter Reklametrick. Wenn Sie es geschickt anstellen, kriegen Sie eine Unmenge Werbung gratis. Erzählen Sie mir bloß nicht, dass das nicht Ihr erster Gedanke war, als Sie Mrs. Byfields Brief erhielten.«

Orton nahm die Hände aus den Taschen, richtete sich auf und ergriff sein Glas. Dann sah er Piper an und fragte: »Denken Sie das auch?«

Piper antwortete: »Ich finde nichts dabei, wenn ein Mann mit Ihrem Beruf jede Publicity nutzt, die sich ihm bietet. Schließlich haben Sie Mrs. Byfield nicht aufgefordert, Ihnen zu schreiben. Was kümmert Sie schon, was die Leute denken?«

»Darum geht es nicht. Natürlich bin ich über die richtige Art Werbung immer froh. Aber ich kann den Gedanken an die beiden Kinder nicht loswerden. Was auch immer die Erklärung für das Verschwinden ihrer Mutter sein mag, die eigentlichen Leidtragenden sind sie. Sie müssen noch ganz klein gewesen sein, als es passierte, und ich kann mir denken, was sie für Fragen gestellt haben. Ich möchte wissen, was ihnen ihr Vater geantwortet hat.«

»Ich würde sagen, das war nicht sein größtes Problem«, meinte Quinn. »Die Polizei muss ihm noch viel peinlichere Fragen gestellt haben.«

»Ohne Zweifel. Aber es ist offensichtlich, dass er nichts mit der Sache zu tun hatte.«

»Oh, nein, das stimmt nicht. Es ist nur eins offensichtlich, nämlich, dass sie ihm nicht nachweisen konnten, dass er was damit zu tun hatte.«

»In einem Fall wie diesem«, erläuterte Piper, »ist der Ehemann der Verdächtige Nummer eins.«

Charles Orton nickte. Dann trank er einen kleinen Schluck. Über den Rand seines Glases hinweg starrte er Piper an und sagte: »Wir können alle drei die einzelnen Bruchstücke so in ein herkömmliches Schema einfügen, dass sie passen - vorausgesetzt, sie ist tot. Mann und Frau streiten miteinander. Er sagt Dinge, die sie zur Weißglut bringen. Sie rennt zum Telefon und droht, ihren Freunden zu erzählen, was für ein Mensch er ist. Er versucht, sie daran zu hindern, und es kommt zu einem Kampf. Entweder schlägt der Mann sie nieder, oder sie stürzt zu Boden und fällt auf den Kopf. Und das wär’s.«

»Das erklärt das zerrissene Telefonkabel und die Blutflecken auf dem Teppich«, sagte Quinn, »nicht aber das Fehlen einer Leiche.«

»Sollte ich eine solche Situation in einem Buch verwenden, würde es mir nicht schwerfallen, dafür eine Erklärung zu finden. Er hat sie beiseite geschafft, wie es andere Männer unter ähnlichen Umständen vor ihm getan haben. Auch wenn ihr Tod ein Unfall gewesen wäre, hätte der Mann Angst gehabt, dass man ihm nicht glauben würde.«

»Und jetzt kommen wir mit unseren Fragen. Wie hat er sie aus dem Haus geschafft, ohne gesehen zu werden? Der Durchschnittsmensch gerät in solchen Situationen in Panik und kann nicht mehr klar denken. Und trotzdem...«

»...hat er so ein gutes Versteck ausgewählt, dass man sie bis heute nicht gefunden hat«, fiel ihm Orton ins Wort.

»Genau. Jeder Polizeibeamte wird Ihnen sagen, dass es leichter ist, einen lebenden Menschen zu verstecken als einen toten.«

»Eben darum glaube ich, dass das Ganze nur vorgetäuscht ist. Vielleicht haben wir es mit einer Art Exhibitionismus zu tun. Wer weiß, ob sie nicht seit Jahren psychisch gestört war und dann eines Tages eine Kurzschlusshandlung beging?«

Piper sagte: »Solche Spekulationen werden uns nicht weiterbringen. Ich interessiere mich mehr für die Rolle, die Sie in dieser Sache spielen. Glauben Sie wirklich, dass Sie dabei helfen können, die Frau zu finden?«

Orton zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht, aber ich würde es gern versuchen. Wie Mrs. Byfield in ihrem Brief schreibt, bin ich jetzt in die Geschichte verwickelt, ob es mir gefällt oder nicht.«

»Was werden Sie ihr antworten?«

»Darüber bin ich mir noch nicht schlüssig.«

»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte Piper. »Ist es möglich, dass Mrs. Byfield Sie benutzt, um ihr Buch zu veröffentlichen?«

Charles Orton malte mit seinem Glas feuchte Ringe

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Leopold Horace Ognall/Apex-Verlag.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Dr. Birgit Rehberg.
Proofreading: Dr. Birgit Rehberg.
Translation: Rotraud Schwoerer (OT: Flashback).
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 02-09-2022
ISBN: 978-3-7554-0744-7

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