PIERRE APESTEGUY
Venus auf Abwegen
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
VENUS AUF ABWEGEN
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Das Buch
Die junge Frau stand aufrecht neben dem Telefon. Ihre Armbanduhr, ein Meisterwerk der Goldschmiedekunst, bestand aus unzähligen kleinen, sehr lupenreinen Brillanten, die einen Solitär von seltener Schönheit und prachtvollem Feuer umgaben, der die Uhr selbst verbarg. Auch am Armband glitzerten und funkelten überall Brillantsplitter. Mit dem Daumen drückte die junge Frau leicht auf die unsichtbare kleine Feder. Der Solitär schob sich zur Seite und enthüllte das Zifferblatt. Zwölf Uhr mittags...
Der Roman Venus auf Abwegen des französischen Schriftstellers Pierre Apesteguy (* 12. September 1902 in Biarritz; † 17. November 1972 in Cagnes-sur-Mer) erschien erstmals im Jahr 1964; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der französischen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
VENUS AUF ABWEGEN
ERSTER TEIL
Erstes Kapitel
Kein normaler Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, eine Reise von Paris nach Monte Carlo mit einem Ausflug in die Kloaken der französischen Hauptstadt zu verbinden. Und doch hatten Barnabé, genannt Le Pendule, und sein Freund Alcide, genannt Fil-de-Fer, mit der gelassenen Selbstverständlichkeit von Leuten, die genau wissen, was sie wollen, dieses außergewöhnliche Vorhaben an den Anfang ihrer Reisepläne gestellt.
Es war erst sechs Uhr morgens. Noch hüllte der Mantel der Nacht Paris in Finsternis. Morgen war der Tag des Allerheiligenfestes, an dem die Christen in aller Welt ihrer Toten gedenken und die Gräber mit frischen Blumen und Kränzen zieren. Für unsere beiden Freunde bedeutete das aber auch, dass heute der letzte Tag des Monats war, dass die Safes der Bank wohl gefüllt waren.
Der Cadillac hatte in einer kleinen Nebenstraße angehalten, die von den beiden Banken, der Societé Generale und der Crédit Lyonnais, ungefähr gleich weit entfernt lag.
Im fünfzehnten Bezirk schien noch alles ruhig und in tiefem Schlummer.
Die beiden Frühaufsteher sprangen aus dem Luxusfahrzeug. Sie waren für ihr Vorhaben wohl ausgerüstet: Gummistiefel, die weit über die Knie reichten, blaue Overalls und Schiebermützen. Und da ein Arbeiter ohne Brotzeit genauso undenkbar ist, wie ein Reisender ohne Pass, hatten sich beide einen Brotbeutel umgehängt, der das lange dünne Weißbrot und den Rotwein enthielt, ohne die der biedere französische Bürger nicht auskommen kann.
Barnabé, genannt Le Pendule, und Alcide, genannt Fil-de-Fer, öffneten den Kofferraum des Wagens und holten zwei große Ledersäcke heraus, in denen das Werkzeug verstaut war, das für einen wohlbestallten Kloakenreiniger unerlässlich ist: Spitzhacken, Schaufeln, Brecheisen und natürlich Taschenlampen. Dazu noch eine große Hebestange, eine Beißzange, ein Lötrohr, zwei ziemlich gewöhnliche Revolver und schließlich noch ein Prachtstück von einem Maschinengewehr. Der Tag der Toten rückte näher.
Barnabé warf einen der Säcke Alcide über die Schulter, während er selbst den anderen packte. Dann schlossen sie den Kofferraum wieder.
Mit seiner freien Hand hob Fil-de-Fer das Schutzgitter vom Boden auf, und Le Pendule ergriff eine kleine verschnörkelte Laterne, die noch aus den zwanziger Jahren stammen musste.
Die paar Meter, die sie noch vom Place de la Convention trennten, gingen sie zu Fuß, und einige Minuten später setzten sie aufatmend ihre Last nieder und machten sich an die Arbeit.
Mit knapper Not entgingen sie einer vorzeitigen Entdeckung.
Zwei Polizeibeamte machten gerade die Runde. Sie waren so nahe, dass sie ohne weiteres den seltsamen Lastwagen hätten bemerken müssen, der die beiden Schwerarbeiter zu ihrem Arbeitsplatz transportiert hatte. Aber glücklicherweise hatten sie nichts gesehen, denn gerade im richtigen Augenblick verschwanden beide gleichzeitig, von einem menschlichen Rühren erfasst, in der öffentlichen Bedürfnisanstalt, die sich in der Rue de Vaugirard befindet.
Eisern hielten sich die beiden Beamten an ihre Anweisung, die ihnen vorschreibt, sich in kritischen Augenblicken keinesfalls zu trennen. Die Wellblechwand des Örtchens entzog das Treiben der beiden Kloakenreiniger momentan ihren Blicken.
»Zweiundzwanzig«, flüsterte Barnabé, als die Beamten wieder auftauchten.
Er hatte gerade sein Feuerzeug angezündet. Alcide war sich der drohenden Gefahr wohl bewusst, er blieb jedoch kaltblütig und drehte sich nicht um. Nachdem er den Deckel des Gullis mit der Hebestange hochgezogen hatte, stellte er das Schutzgitter auf, so dass es die Öffnung umgab, und befestigte daran die kleine rote Laterne, die einst bessere Tage gesehen hatte.
»Na, ihr beiden«, sprach der eine Beamte sie an, während er zu ihnen trat. »Ihr fangt aber heute schon früh an.«
Fil-de-Fer grinste breit und zeigte sein gelbes Pferdegebiss. Er fühlte sich offensichtlich sehr geschmeichelt, von den Hütern der öffentlichen Ordnung so wohlwollend beachtet zu werden.
»Ach, reden Sie nicht davon«, gab er aufseufzend zurück. »Es ist schon wieder irgendwo in der Hauptgasleitung eine undichte Stelle. Beugen Sie sich einmal ein wenig hier herüber, dann können Sie den Gasgeruch gleich feststellen.«
»Nein danke, mein Bester«, antwortete der Beamte und zog seinen Kollegen am Ärmel. »Viel Glück bei der Arbeit.«
»Undichte Stellen sind unsere Spezialität«, behauptete Barnabé ohne Begeisterung.
»Ja, wir leisten ganze Arbeit«, fügte Alcide hinzu. Je mehr sich die Angst, entdeckt zu werden, in ihm regte, desto breiter wurde sein Grinsen.
Gemeinsam stiegen sie in den schwarzen Schlund hinab, wie zwei Kameraden, die auch der Tod nicht scheiden kann. Gebückt tasteten sie sich im Schein der Taschenlampen auf dem schmalen Pfad vorwärts, der an dem übelriechenden Strom der Abwässer entlangführte. Überall mündeten Nebenkanäle in den Hauptabfluss. Barnabé schlich hinter seinem Genossen her. In der einen Hand hielt er sein Pendel.
»Halt«, rief er unvermittelt.
Die kleine weiße Kugel, die an einer Schnur zwischen seinem Daumen und seinem Zeigefinger herunterhing, pendelte unruhig hin und her.
»Da oben gibt es haufenweise Goldbarren«, behauptete er. »Es besteht gar kein Zweifel: Wir befinden uns direkt darunter.«
Le Pendule irrte sich nie. Gleich darauf entdeckten sie rechter Hand einen Kanal, in den die Abwässer der Bank flössen. Es war ein enges, schräges Rohr, in das sich Fil-de-Fer nur mit Mühe hineinzwängen konnte.
Unverdrossen kroch er vorwärts, während er ächzend und stöhnend die beiden schweren Säcke vor sich her stieß. Er versicherte Barnabé, dass seine Höhlenforschungsarbeit unbedingt von Erfolg gekrönt sein werde, wenn es ihm nur gelänge, wieder aus dem engen Kanal zu entkommen.
Nachdem er sich etwa zehn Meter vorwärts geschlängelt hatte, erreichte er eine Art Plattform, eine konvexe Öffnung, wo ein Mensch von geringerer Größe als er hätte aufrecht stehen können. Das Gewölbe war aus Bruchstein zusammengefügt, der unter der Einwirkung von Salpeter und feuchtem Sand schon ziemlich altersschwach geworden war. Der erste Schlag der Spitzhacke hallte dumpf wider.
»Butterweich«, schrie Fil-de-Fer seinem Komplizen zu. »Es kann sich nur noch um Minuten handeln. Mach' die Augen auf, das Zeug fällt hinunter.«
Tatsächlich lösten sich die großen porösen Steine mit einer Leichtigkeit, die Alcide in einen Freudentaumel versetzte, während Barnabé vor Überraschung kein Wort hervorbringen konnte. Polternd rutschten die Gesteinsbrocken durch das Abflussrohr geradewegs in das gurgelnde Kloakenwasser. Der Overall des Wünschelrutengängers Barnabé wurde über und über mit Schmutzflecken bespritzt.
Aber schon bald hatte seine Qual ein Ende, denn die Steine verstopften schließlich den Durchgangskanal und häuften sich übereinander. Das schmutzige, stinkende Wasser spritzte nicht mehr, aber die Öffnung wurde enger und enger. Barnabé hütete sich wohl, in diese für ihn günstige Entwicklung einzugreifen. Nach Alcides Rückkehr blieb noch genug Zeit, um den Durchgang wieder freizulegen.
Doch unerwartet schnell entschied sich das Schicksal der beiden Gauner. Ein riesiger Steinblock löste sich von allein über dem Kopf von Fil-de-Fer, bevor dieser Zeit genug fand, sich zur Seite zu werfen. Donnernd wälzte sich eine ungeheure Steinlawine das Rohr hinab, gefolgt von einer undurchdringlichen Wolke dichten Staubes. Barnabé hielt den Atem an, der Hustenreiz erstickte ihn fast. Er presste sich eng an die Mauer, um den todbringenden Trümmern auszuweichen. Allmählich jedoch verringerte sich der ohrenbetäubende Lärm, und die Gefahr schien vorüber. Doch plötzlich gaben oben weitere Steine nach und stürzten mit lautem Getöse nach unten, einen nicht enden wollenden Strom von Geröll und Schutt nach sich ziehend.
Verzweifelt rief Barnabé zehn Minuten lang ununterbrochen Alcides Namen. Nur das gespenstische Echo seiner eigenen Stimme antwortete ihm, sonst herrschte Grabesstille. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: entweder war Fil-de-Fer tot, unter den Geröllmassen begraben, oder die Schuttmassen hatten sich in solchen Mengen zwischen ihm und Barnabé aufgetürmt, dass es unmöglich war, auf der anderen Seite den Klang einer menschlichen Stimme zu vernehmen.
Unglückseliger Fil-de-Fer! Selbst wenn er noch lebte, war ihm der Fluchtweg abgeschnitten. Und es bestand nicht die geringste Möglichkeit, den Durchgang freizulegen, bevor die Bank geöffnet wurde.
Welch entsetzliches Dilemma! Falls Alcide tatsächlich noch am Leben sein sollte, dann bedurfte es eines Erdbebens oder eines Geistes von höchster Erfindungsgabe, um den armen Burschen zu retten. Barnabés einziges Talent jedoch beschränkte sich auf seine Pendelei, die in diesem Falle nicht viel nützen konnte.
Le Pendule hatte seine Entscheidung getroffen. Er entfernte sich von diesem unheilschwangeren Ort und ging auf dem gleichen Weg zurück, auf dem er gekommen war.
Draußen dämmerte grau und trübselig der neue Tag herauf. Die Bistros waren erleuchtet. Im fahlen Licht des Morgens hasteten die Menschen missgelaunt und fröstelnd zur Metro-Station. Mit einem Blick auf den unteren Teil der Bedürfnisanstalt, der nicht von der Blechwand verdeckt wurde, stellte Barnabé erleichtert fest, dass sich offenbar niemand im Inneren befand. Er brauchte also nicht zu befürchten, dass plötzlich zwei Polizeibeamte erscheinen würden, um ihn zu fragen, wo er seinen Kollegen gelassen habe.
In aller Eile demontierte er das Schutzgitter und verschloss den Gulli mit seinem Deckel. Grauenhafte Henkersarbeit!
Ungehindert erreichte der städtische Kloakenreiniger die Rue Alain-Chartier. Schnell stieg er in den Cadillac und ließ sich aufatmend auf den Rücksitz fallen. Unverzüglich setzte sich das Fahrzeug in Bewegung.
Zweites Kapitel
Über dem Kopf Fil-de-Fers war nur noch die Zementdecke übrig, die gleichzeitig den Boden des Kellergewölbes der Bank bildete, wo die Panzerschränke mit dem Gold standen. Es wäre übertrieben gewesen, zu behaupten, dass unser Freund froh wär, seine Arbeit so schnell und mühelos erledigt zu sehen. Im Schein seiner Taschenlampe entdeckte er, dass sich nach dem gewaltigen Erdrutsch unten meterhohe Geröllmassen aufgetürmt hatten, die ihm den Fluchtweg endgültig abschnitten.
Barnabé antwortete nicht auf sein Rufen.
Gefangen, wie die Maus in der Falle, dachte Alcide bei sich.
Aber der Vergleich hinkte. Fil-de-Fer fühlte sich beileibe nicht wie ein armes hilfloses Mäuschen. Er war ein schlauer Fuchs und durchaus nicht gewillt, die Flinte ins Korn zu werfen. Noch blieb ihm eine, wenn auch recht riskante, Möglichkeit, wieder wohlbehalten ans Tageslicht zu gelangen: Der kürzeste Weg durch die Bank auf die Straße!
Falls es ihm tatsächlich gelingen sollte, ungehindert auf die Straße zu gelangen, dann würde sein grauenhaftes Aussehen allerdings todsicher überall Aufsehen erregen. Alcide brauchte keinen Spiegel, um sich darüber klar zu werden, wie er auf seine Mitmenschen wirken musste. Bei seiner kühnen Kletterpartie in den Abwasserkanal hatten sich seine Hände, sein Gesicht und seine Kleider mit der übelriechenden, klebrigen Masse der herabfließenden Jauche überzogen, und die riesige Staubwolke, die sich nach dem Steinschlag den engen Schlund hinabgewälzt hatte, hatte ihn über und über mit Salpeter und Sand bedeckt. Dieses stinkende, völlig verdreckte Wesen, mit dem grünlichen Gesicht, war kaum noch menschenähnlich.
Aber er musste unverzüglich zur Tat schreiten, wenn er in dieser elenden Höhle nicht hilflos zugrunde gehen wollte. Er fand, er sei noch viel zu jung, um schon jetzt sang- und klanglos aus dem Leben zu scheiden und für immer unter dieser Zementplatte begraben zu werden. Jetzt war nicht der Augenblick, lange Überlegungen anzustellen. Alcide zögerte nicht. Er packte seine Spitzhacke fester und durchbrach mit kräftigen Schlägen den Zement. Dann zog er sich geschickt durch die Öffnung nach oben, ohne zu vergessen, seine Spezialwerkzeuge mitzunehmen.
Überall um ihn herum standen mächtige Panzerschränke. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, bei dem verlockenden Anblick.
Als erstes machte er sich daran, die massive Eisentür des Gewölbes näher zu untersuchen. Er sah ein, dass jeder Versuch, sie gewaltsam zu öffnen, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Die Tür hätte sogar Kanonenkugeln standgehalten. Unter diesen Umständen musste es einfach so kommen, dass schließlich die Angestellten der Bank hier unten ein abscheuliches, primitives Geschöpf entdeckten, das wunderbarerweise über ein ganz modernes Maschinengewehr verfügt. Na, es würde sich ja herausstellen, wer dem Tode geweiht war. Auf jeden Fall war es nobler, im Kampf zu fallen, als kläglich in den Kloaken zu verrecken.
Das Lötrohr trat in Aktion und schnitt säuberlich Kreise, Dreiecke, Rechtecke und andere geometrische Figuren aus dem harten Stahl. Aus den Öffnungen quollen Dollars, Francs, Sterling und andere hübsche Papierchen hervor. Die bunten Scheine wanderten in den Sack, den Fil-de-Fer zu diesem Zweck mitgebracht hatte, und in dem sich bereits zwei oder drei Kilo reinsten Goldes befanden.
Punkt neun Uhr öffnete der gewissenhafte Wächter die Panzertür. Seit zwanzig Jahren tat er Tag für Tag zur gleichen Stunde die gleichen Handgriffe, und noch nie war es vorgekommen, dass sich bereits ein recht zweifelhafter Kunde vor ihm in der Schatzkammer aufhielt.
Im ersten Augenblick glaubte er in dem Gewölbe mindestens vierzig Räuber finden zu müssen. Aber es blieb ihm gar nicht genug Zeit, sich darüber zu wundern, was hier eigentlich vorging. Alcide erwartete ihn hinter der Tür, und als er noch einen Schritt vorwärts machte, ließ Fil-de-Fer den Revolver mit solcher Wucht auf seinen Hinterkopf niedersausen, dass es dröhnte.
Nachdem er diesen Teil seiner Aufgabe erledigt hatte, schwang sich Alcide den Sack über die Schulter. Das Maschinengewehr trug er in der freien Hand schussbereit vor sich her. Wagemutig stieg er die Treppe hinauf und drang in die große Halle der Bank ein, indem er gleichzeitig dreimal in höchster Lautstärke »Ha! Ha! Ha!«, rief.
Die Wirkung war durchschlagend.
»Hände hoch, alle miteinander! Hände hoch oder ich schieße!«
Lag es an dem siegessicheren Ton? Oder an dem Aussehen dieser Gestalt, die aus der Hölle emporgestiegen zu sein schien? Die ersten Kunden, die vor den Schaltern warteten, die Angestellten, ja selbst der Direktor, hoben widerstandslos und zu Tode erschrocken die Arme.
»Oh, Gott! Frankenstein«, wimmerte eine Frau, die offenbar zu häufig ins Kino ging.
Ohnmächtig brach sie hinter dem Schalter zusammen.
»Rühren Sie die Frau nicht an«, brüllte der Killer mit befehlender Stimme. »Sonst werde ich diese Bank in ein Leichenhaus verwandeln.«
Er stand so, dass sich alle Leute, die in der Halle versammelt waren, in seinem Schussfeld befanden. Keiner wagte eine Bewegung. Langsam ging Alcide rückwärts.
Kaum zwei Meter trennten ihn von der rettenden Tür, als eine junge Frau über die Schwelle trat. Es war durchaus normal, dass sie zur Bank ging. Schließlich hatte sie genau das gleiche Recht wie alle anderen, ein Konto zu besitzen. Sie trug ein schickes helles Kostüm und sah aus wie ein Mannequin. Den Kopf zierte ein kleines Hütchen, das frech in die Stirn gedrückt war und unter dem das üppige blonde Haar hervorquoll. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie auf das unbegreifliche Bild, das sich ihr bot.
Alcide war nur noch einen Meter von ihr entfernt, und jede andere an ihrer Stelle hätte wohl schnellstens die Flucht ergriffen. Aber sie war eine mutige kleine Französin. Mit blitzartiger Geschwindigkeit öffnete sie ihre Handtasche und zog einen 7,65er Revolver heraus. Dann machte sie einen Schritt nach vorn und presste dem Gangster die Waffe in den Rücken, genau zwischen Schulterblatt und dem wohlgefüllten Geldsack.
»Keine Bewegung oder ich schieße«, rief sie mit leicht zitternder Stimme.
»Bravo«, zollte ihr der Direktor erleichtert Beifall und ließ sich hinter seinem Schreibtisch auf den Stuhl fallen.
Pil-de-Fer war aschfahl.
»Verflucht«, wütete er. »Jetzt hat’s mich erwischt. Aber wenn du dein Schießeisen auch nur einen Moment wegnimmst, dann werde ich mein Maschinengewehr auf die Feiglinge hier abfeuern.«
Auf diese Drohung hin hoben sich die Arme der Feiglinge, wie Fil-de-Fer sie tituliert hatte, erneut in die Luft, obwohl sie vorher schon gehofft hatten, endgültig gerettet zu sein.
Alcide schäumte vor Wut.
»Der erste, der sich der Tür nähert, wird von mir rücksichtslos niedergeknallt. Mein Pech, wenn ich dabei krepiere.«
»Wobei«, fragte die blonde Siegesgöttin, ohne ihren Pariser Schick zu verlieren.
Nach diesen einleitenden Worten pachte sie den Gangster mit erstaunlicher Kraft beim Schlafittchen. Die Umstehenden entdeckten überrascht, wieviel Energie in dem zarten Persönchen steckte.
»Los«, rief sie, während sie-ihn hin und her schüttelte. »Jetzt geht’s zur Polizei, du elender Gauner. Aber marsch!«
Mit einer kraftvollen Bewegung schleuderte sie ihn herum, so dass er vor ihr her zur Tür gehen musste.
Leider hatte sie jedoch die unverzeihliche Nachlässigkeit begangen, die Tür ihres Wagens offenzulassen. Auch der Motor lief noch.
Fil-de-Fer hatte einen seiner seltenen Geistesblitze. Er bückte sich tief und war mit einem Satz in dem Auto, während er den Sack und seine Werkzeuge auf den Rücksitz warf. Mit festem Griff umfasste er das Steuer.
Die Reaktion der heldenhaften Amazone ließ nicht auf sich warten. Noch während sie die Tür des Wagens hinter sich zuwarf, wurde sie heftig in den Sitz zurückgedrückt, da sich der Wagen bereits mit aufheulendem Motor und kreischenden Reifen in Bewegung setzte.
Die Passanten blieben gaffend stehen. In kürzester Zeit hatte sich eine unübersehbare Menschenmenge vor der Bank angesammelt.
»Ich habe die Nummer aufgeschrieben. Es ist die 82 G 75«, sagte ein Buchhalter, der aus dem Gebäude trat, zu dem Polizeibeamten, der zu spät am Tatort erschienen war.
Alcide fuhr mit Vollgas durch das rote Licht an der Rue Lecourve.
»Uff!«, machte die blonde Schönheit.
Mit einer kurzen Bewegung schob sie das Hütchen auf den Hinterkopf. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn.
»Tausend Dank, Venus«, flüsterte Fil-de-Fer.
»Keine Ursache«, gab sie bescheiden zurück. »Dazu bin ich ja da.«
Drittes Kapitel
Die junge Frau stand aufrecht neben dem Telefon. Ihre Armbanduhr, ein Meisterwerk der Goldschmiedekunst, bestand aus unzähligen kleinen, sehr lupenreinen Brillanten, die einen Solitär von seltener Schönheit und prachtvollem Feuer umgaben, der die Uhr selbst verbarg. Auch am Armband glitzerten und funkelten überall Brillantsplitter. Mit dem Daumen drückte die junge Frau leicht auf die unsichtbare kleine Feder. Der Solitär schob sich zur Seite und enthüllte das Zifferblatt. Zwölf Uhr mittags.
Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer 14. Während sie auf Antwort wartete, zündete sie sich eine Abdullah mit rotem Mundstück an. In dem kleinen Louis- Quinze-Salon, der als Wohnzimmer benutzt wurde, lagen überall kleine und große Gepäckstücke herum. Der große ovale Spiegel warf das Bild der jungen Frau zurück, die regungslos, in eine Wolke blauen Rauches gehüllt, den Hörer ans Ohr presste und wartete.
Das Negligé aus blauer Seide unterstrich vorteilhaft ihre vollendeten Formen. Sie war groß und schlank, wirkte jedoch nicht im Geringsten knabenhaft, sondern ausgesprochen weiblich. Ihr Körper besaß jene Rundungen, die die Frau dem Manne begehrenswert machen, und seine weichen, fließenden Linien standen im krassen Gegensatz zu den nüchternen und trockenen Lehrsätzen der Geometrie.
Ein seidenes Band umschloss die zerbrechlich schmale Taille und betonte den sanften Schwung der rundlichen Hüften. Unter dem Negligé konnte man die Konturen ihres schönen Busens erkennen, der sich bei jedem Atemzug in ruhiger Regelmäßigkeit hob und senkte. Die Schultern waren breit und voll, und der Ausschnitt ihres Morgenrocks enthüllte ein wunderbares Dekollete. Die Schönheit der jungen Frau strahlte den Zauber und die Vollendung einer griechischen Göttin aus, und sie wäre durchaus würdig gewesen, vom Meißel des großen Phidias verewigt zu werden.
»Hallo«, rief sie schließlich. »Ist dort die Telegrammaufnahme? Hier ist Opera 28-30. Bitte schicken Sie ein Telegramm an Montana-Hotel, San Remo, Ligurien, Italien. Verstanden? Gut. Hier ist der Text: Erbitte Reservierung einer Suite mit fünf Zimmern für den 17. stop. Scheck folgt per Post. Unterschrift: Demilot. Ja! Demilot. Ach du große Güte! Haben Sie es endlich kapiert? Ja, ja, es stimmt schon. Demilot, wie Venus. In einem Wort natürlich. Mit t am Ende. Verstanden? Danke schön.«
Sie legte auf. Im gleichen Augenblick hielt im zweiten Stock der Aufzug an. Der charmante Estève, genannt Le Tricheur, stieg aus, den Koffer in der Hand, und schritt über den Gang, der mit dicken Teppichen ausgelegt war. Gleich darauf befand er sich vor Suite Nr. 213. Er beachtete den Klingelknopf gar nicht, sondern klopfte laut und nachdrücklich an die Tür und trat dann, ohne auf Antwort zu warten, in das leere Vorzimmer. Der Samtvorhang, der den Eingang zum Wohnzimmer verhüllen sollte, war zur Seite geschoben. Estève trat näher und blieb an der Schwelle des Salons wie angewurzelt stehen, überrascht durch den ungewohnten Anblick. Überall standen Koffer, Kisten, Kartons und Reisetaschen herum, die mit Kleidern, Mänteln und zarten weiblichen Dessous vollgepackt waren.
»Hallo! Venus!«, rief er laut.
»Hallo«, echote eine erstickte Stimme aus der Tiefe eines Koffers.
Er umging die riesige Pyramide von Hutschachteln. Venus richtete sich auf. Sie zog einen Flunsch und rümpfte die Nase wie ein kleines Kaninchen.
»Nun? Wie geht es meinem über alles geliebten Bruderherz?«
Sie hielt ihm die Wange hin, auf die er einen absolut brüderlichen Kuss drückte. Estève spielte die Rolle des Bruders zwar nur, wenn es nötig war, aber er bezeigte seiner angeblichen Schwester zu jeder Zeit tiefsten Respekt. Dass er charmant war, wissen wir bereits. Es fehlte ihm auch nicht an einer gewissen Eleganz und weltmännischen Haltung. Jeder, der nicht wissen konnte, dass es sich dabei nur um Tünche handelte, hätte ihn leicht in eine Klasse einstufen können, zu der er keineswegs gehörte. Während der Reisen, die die kleine Gruppe unternahm, während der Abenteuer, die sie bestehen musste, erwiesen sich Estèves Eigenschaften als ausgesprochen nützlich. Er verschaffte der jungen Frau Achtung, er beschützte sie, und war gleichzeitig der Verteidiger des jungen Mädchens, das viel zu schön war, um noch immer unverheiratet zu sein. Aber ach, Venus wechselte ihren Wohnort viel zu häufig, sie hatte weder Zeit noch Gelegenheit, sich zu verlieben und in den Ehestand zu treten. Sie floh vor der Polizei und vor den Heiratskandidaten, zwei Arten von Menschen, die auf dieser schönen Welt entschieden im Übermaß vertreten sind.
Alcide oder Barnabé wären natürlich niemals imstande gewesen, die Rolle des großen Bruders, des tapferen Beschützers und des großzügigen Geldgebers der Familie überzeugend zu spielen. Estève jedoch hatte sich in die Rolle so eingelebt, dass er schließlich selbst daran glaubte, der edle Ritter ohne Furcht und Tadel zu sein. Und in diesem Punkt betrog Le Tricheur, zu Deutsch der Betrüger, Venus niemals.
»Wie wohltuend, endlich wieder bei der Familie zu sein«, seufzte er, während er seine begabte, ihm überlegene Schwester voll Bewunderung anstarrte. Ja, wirklich, man musste sie einfach bewundern, ob man nun wollte oder nicht. Die kurzgeschnittenen roten Haare bildeten einen faszinierenden Kontrast zu ihren Augen, die in einem so klaren Grün leuchteten, dass man hätte meinen können, sie seien aus reinstem Jade. Wie zwei tiefe grüne Seen wirkten sie, dachte Estève, und ihre Unergründlichkeit verbarg meistens Gedanken und Gefühle der jungen Frau. Nur wenn Venus sich unbeobachtet glaubte oder wusste, dass sie nicht auf der Hut zu sein brauchte, dann konnte dieses ausdrucksvolle Augenpaar die ganze Skala ihrer Gefühle widerspiegeln.
Im Augenblick gestattete sie sich den seltenen Luxus, ihre Maske fallenzulassen und sich im Kreise ihrer Verbündeten so zu geben, wie sie wirklich war. Welch wunderbare Entspannung, einmal nichts anderes sein zu müssen, als eben einfach Marie-Caroline Demilot, von ihren guten Freunden Venus genannt, ein unkompliziertes junges Mädchen, das die Herausforderungen des Lebens liebte und nichts davon hielt, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Das Leben war so kurz, warum sollte man ihm nicht ein wenig Würze geben?
Estève gab sich große Mühe, sie zu unterhalten.
»Ich habe da unten einen Riesenkrawall gemacht«, behauptete er.
»Wie immer«, gab sie zurück und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du bist wirklich der ergebenste aller Pseudo-Brüder!«
Sie lächelte ihn strahlend an und zeigte dabei zwei Reihen leuchtend weißer Zähne.
Estève ließ seinen Blick über die zahllosen Gepäckstücke schweifen.
»Als ich dich gestern Abend anrief«, stellte er fest, »hast du mir gesagt, dass wir erst in drei Tagen abreisen.«
»Wenn nicht etwas Unvorhergesehenes geschieht!«
»Überraschungen liebe ich aber gar nicht!«
»In Paris musst du immer damit rechnen, mein Lieber.«
»Na, vielleicht ist Monte Carlo ein ruhigeres Pflaster.«
»Gerade darum eilt es mir ja so, dorthin zu kommen«, behauptete sie und wies mit der Hand auf die prall gefüllten Koffer. »Außerdem habe ich das Gefühl, dass du dich auch auf die Reise freust.«
»Und wie! Was war mit der Bank?«
»Da eben lag der Hase im Pfeffer!«
Sie schnitt eine Grimasse. »Das war vielleicht so eine Tragikomödie! Stell dir vor: Fil-de-Fer ist von einem Erdrutsch direkt unter dem Bankgewölbe eingeschlossen worden. Er konnte nicht mehr heruntersteigen.«
»Und dann? Alcide ist doch schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Er weiß sich immer zu helfen.«
»Er hatte auch keine Wahl«, antwortete sie ihm, während sie daran ging, ihre Koffer weiter zu packen. »Es blieb ihm nur ein Ausweg. Er musste durch die Bank und dann durch den Haupteingang direkt auf den Place de la Convention.«
»Oh, la, la, ein richtiges Bravourstück!«
»Es war urkomisch. Ich werde dir gleich die Einzelheiten erzählen, aber du siehst wohl schon jetzt ein, dass uns im Augenblick der Boden hier ein bisschen zu heiß geworden ist. Außerdem ist den Leuten natürlich der Cadillac aufgefallen. Ich weiß, wovon ich spreche, ich saß selbst am Steuer.«
»Was? Du hast ihn selbst abgeholt?«, rief Estève halb bewundernd, halb ängstlich.
»Wen hätte ich denn in deiner Abwesenheit zu Hilfe rufen sollen? Die Funkstreife vielleicht?«
»Meine Herren«, seufzte er. »Du bist wirklich einmalig, lässt einen nie im Stich. Denn was du da gemacht hast, widerspricht doch eigentlich vollkommen deinen Prinzipien!«
»Da hast du recht. Und ich garantiere dir, dass jetzt die Lage endgültig klargestellt wird. Aber schließlich ist es doch selbstverständlich, dass ich meine Freunde nicht einfach sitzenlasse, wenn sie in der Klemme stecken. Ich habe im Wagen auf die Rückkehr der beiden Helden gewartet, und als Pendule dann ankam und mir alles erzählte, blieb mir kaum eine Stunde Zeit, um hierher zu fahren und durch den Lieferanteneingang heimlich wieder zu verschwinden.«
»Hoffentlich nicht gerade als Brünette mit blauen Augen!«
»Du bist wohl nicht ganz bei Trost! Damit meine lieben Freunde bei der Interpol die Geschichte mit der Brüsseler Affäre in Zusammenhang bringen? Seit wann hältst du mich für so blöde? Du kannst ganz beruhigt sein: heute Morgen war ich eine schüchterne kleine Blondine mit dunklen Unschuldsaugen.«
»Wie in Valparaiso!«
»Das ist schon ewig her. Ach, weil wir gerade davon sprechen: gib mir doch meine Kontaktlinsen und den Perückenkoffer her.«
Er brachte ihr das samtgefütterte Wildlederetui, in dem fein säuberlich aufgereiht, vom weichen Samt gut geschützt, die gefärbten Gläser lagen. Sie schillerten in allen Farbtönen, die ein menschliches Auge haben kann.
»Du hast eine ganz nette Sammlung«, stellte Estève anerkennend fest, während er Venus diese Kunstwerke der Optik übergab.
Während er seine Blicke suchend im Zimmer umherwandern ließ, um irgendwo die Perücken zu entdecken,
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Pierre Apesteguy/Apex-Verlag/Successor of Pierre Apesteguy.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Dr. Birgit Rehberg.
Proofreading: Dr. Birgit Rehberg.
Translation: Mechtild Sandberg (OT: Les Hold - Up De Vénus).
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 08-24-2021
ISBN: 978-3-7487-9238-3
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