LARRY MADDOCK
DIE GOLDENE GÖTTIN
- Galaxis Science Fiction, Band 41 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE GOLDENE GÖTTIN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Das Buch
In geheimer Mission auf dem verlorenen Kontinent...
Archäologische Untersuchungen auf der Insel Kreta führen zu verblüffenden Resultaten, die eindeutig auf das Wirken von Zeitfälschern schließen lassen. TERRA, die Schutzorganisation des Galaktischen Imperiums, schaltet sich ein. Sonderagent Hannibal Fortune und Webley, der Symbiont, werden mit der Aufgabe betraut, den Zeitverbrechern das Handwerk zu legen: Sie reisen per Zeittransporter in das alte Kreta - aber die Spur, die sie entdecken, führt noch zehntausend Jahre weiter zurück in das Dunkel der Vergangenheit...
Der Roman Die goldene Göttin des amerikanischen Schriftstellers Larry Maddock (geboren am 10. Oktober 1931 in Eaton Rapids, Eaton County, Michigan; gestorben am 14. April 2009 in Nordkalifornien) erschien erstmals im Jahr 1967; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1968.
Die goldene Göttin erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
DIE GOLDENE GÖTTIN
Erstes Kapitel
Hannibal Fortune packte sein Schwert mit festem Griff und umtanzte seinen bärtigen Gegner. Er beobachtete ihn über den Rand des kupferbeschlagenen Holzschildes. Der andere täuschte und stieß plötzlich nach Fortunes ungedecktem Schenkel. Fortune bleckte die Zähne und nahm den Schild herunter, dass die Schwertspitze abglitt. Obwohl es ihm an Erfahrung mangelte, begann ihm der Umgang mit dem unhandlichen Bronzeschwert Spaß zu machen. Das war eine Waffe, die einen ganzen Mann verlangte, was man von den Laserpistolen seiner eigenen Zeit kaum sagen konnte. Als er eine Blöße in der Deckung seines Gegners sah, sprang er vor und versuchte, den behelmten Kopf des anderen mit einem mächtigen, weit ausholenden Schwertstreich zu treffen.
Aber der Bärtige hatte andere Ideen. Bevor er wusste, wie ihm geschah, sah Hannibal den fremden Schild zustoßen. Weil sein ganzer Körper in der Bewegung des Schwertarms mitschwang, vermochte er der schweren Schildkante nicht auszuweichen, und sie traf die Seite seines Helms mit voller Wucht.
Fortune fiel hart auf den Boden. Er wälzte sich benommen herum und blickte mit schmerzverzogenem Gesicht zu seinem Gegner auf. »Was zum Teufel war das?«
»Schildstoß«, erwiderte d’Kaamp trocken. »Ein Schild kann eine sehr gute Angriffswaffe sein, wenn er richtig gehandhabt wird.« Der Instrukteur legte Schild und Schwert weg und nahm den Helm ab. Sein Haar war ebenso weiß wie sein Bart. »Das reicht für heute Morgen. Kommen Sie nach dem Mittagessen wieder.« Hoch aufgerichtet marschierte d’Kaamp aus der Trainingshalle.
Hannibal Fortune erhob sich ächzend, dankbar, dass Webley nicht Zeuge seiner uneleganten Einführung in den Kampf mit Schwert und Schild geworden war. Der scharfzüngige Symbiont hatte ihn schon zu oft in ähnlich misslichen Situationen gesehen. Es wäre unklug, ihm weitere Gelegenheiten zur Erprobung seines Witzes zu geben. Noch etwas unsicher auf den Beinen, brachte er seine Waffen an ihren Platz an der Wand zurück, dann entledigte er sich mit einiger Mühe der barbarischen Kriegsrüstung und nahm eine Dusche. Wieder in seinen eigenen Kleidern, trat er auf den langen, gebogenen Korridor hinaus, sprang leichtfüßig auf ein rollendes Band und ließ sich die achthundert Meter zur Intendantur fahren.
Die TERRA-Zentrale war ein hohler, künstlicher Planet, bevölkert von zehntausend Spezialisten, deren Aufgabe mehr oder weniger darin bestand, Hannibal Fortune und die anderen Außenagenten zu unterstützen und ihnen für ihre Arbeit das nötige Rüstzeug zu vermitteln. Die Zentrale befand sich im genauen Mittelpunkt der Galaxis und drehte sich um keine Sonne; man konnte eher sagen, dass die Galaxis sich um die TERRA-Zentrale drehe.
Hannibal Fortune arbeitete seit zehn Jahren in der Agentur für zeitliche Umstrukturierung, die auch Abteilung für Rekonstruktion und Reparatur der Zeit-Balance genannt wurde, und im Gegensatz zu den meisten anderen Außenagenten sah er wie einer aus: groß und breitschultrig, mit einem scharfgeschnittenen, verwegen wirkenden Gesicht. Er war nicht immer glücklich über seine auffallende äußere Erscheinung; nicht selten erschwerte sie seine Arbeit, und unter dem weiblichen Personal der Zentrale gab es viele, die ihm mehr oder minder hartnäckig nachstellten. Es war eine sonderbare Rolle, in die er da hineingeraten war, reflektierte er zuweilen, und mit Recht: Eigentlich hatte er Geschichtsprofessor werden wollen.
Das gegenwärtige Abenteuer hatte vor zwei Tagen begonnen, als Fortune und sein symbiotischer Partner in Pohl Tausigs Büro gerufen worden waren. Tausig war ein massiger Mann unbestimmbaren Alters, der sich, wie d’Kaamp, mit einem Bart zierte. Tausigs war jedoch tiefschwarz, und schwarz waren auch seine stechenden Augen, die aus einem täuschend milden Gesicht spähten. Unbewiesenen Gerüchten zufolge hatte Tausig vor seinem Übertritt in den Dienst TERRAS einen Universitätslehrstuhl innegehabt, und wenn man wollte, konnte man seinem Benehmen etwas Professorales andichten. Ein anderes Gerücht besagte, Tausig habe zwanzig Jahre zuvor ein Kriegsschiff der Galaktischen Föderation kommandiert. Dies erschien Hannibal Fortune wahrscheinlicher; obwohl er sich bemühte, es nicht zu zeigen, gab Tausig in Haltung, Sprechweise und anderen Gewohnheiten unmissverständlich den professionellen Militaristen zu erkennen.
»Setzen Sie sich, meine Herren«, sagte er mit einer Stimme, die wie ein Tempelgong klang.
Fortune setzte sich, Webleys fünfzehn Pfund wie ein Joch auf den Schultern.
»Wieder die Erde«, sagte der Operationschef.
»Wann?«
»Fünfzehnhundertneun vor Christus«, sagte Tausig. »Minoisches Reich, Kreta. Harkness und Morag sind unser ortsansässiges Gespann. Sind Sie mit der Zeit und der Gegend vertraut?«
»Selbstverständlich. Aber fünfzehnhundert? Das ist Frühgeschichte.«
Tausig nickte. »Harkness hat dies hier gefunden.« Er beugte sich vor und reichte seinem Agenten eine rechteckige Platte aus bläulich-grün oxydiertem Metall. Sie war ungefähr vierzig Mal fünfundzwanzig Zentimeter groß und war in jeder Ecke durchbohrt, als wäre sie einmal an einem Gebäude angebracht gewesen. In die Oberfläche waren mehrere Zeilen eines Textes graviert.
»Griechisch?«
»Koine – Spätgriechisch. Kam etwa um vierhundert vor Christus auf.«
»Dann hat Harkness es elf hundert Jahre früher gefunden, als es von Rechts wegen existieren konnte.«
»Ihre rasche Auffassungsgabe hat etwas Beruhigendes«, sagte Tausig trocken und schob ihm ein Blatt Papier über den Schreibtisch. »Unsere linguistische Abteilung hat eine Übersetzung angefertigt.«
Hannibal Fortune nahm das Blatt und las:
Ich, Kronos, verkündige ewige Treue der Yolarabas, der goldenen Göttin und Mutter aller Menschen, die mein Volk gedeihen und sich vermehren lässt, auf dass es die Erde fülle.
»Kronos«, sagte Fortune nachdenklich. »Wer immer das ist, er macht praktisch Propaganda für seine Anwesenheit. Fragt sich nur, welcher von Maliks Jungen es diesmal ist?«
»Harkness hat es in einem Grabhügel gefunden. Wie Sie am Grad der Oxydation sehen können, muss das Ding seit Jahrhunderten unberührt gewesen sein. Unsere Chemiker veranschlagen ein Minimum von zweitausend Jahren, vorausgesetzt, dass die Platte einmal reines Kupfer gewesen ist. Das würde mit dem Beginn der Bronzezeit etwa um 3400 vor Christus übereinstimmen. Wahrscheinlich werden Sie Ihren Mann irgendwo in diesem Zeitabschnitt finden. Oder noch früher. Ich möchte, dass Sie herausbringen, um wieviel früher, wer Kronos ist, was er vorhat...«
»...und dass ich etwa angerichtete Schäden repariere«, beendete Fortune den Satz. »Was meinst du, Webley?«
Der Symbiont lächelte und schob drei Augen vor, um die oxydierte Metallplatte besser sehen zu können. »Scheint echt zu sein«, meinte er. »Ich habe allerdings den Verdacht, dass dein Interesse an der goldenen Göttin nicht bloß wissenschaftlicher Natur ist.«
»Religion ist auch eine schöne Sache«, sagte Fortune fromm.
»Die frühesten ortsansässigen Agenten, die wir auf der Erde haben«, fuhr Tausig fort, ohne den Wortwechsel zwischen Fortune und seinem Partner zu beachten, »leben um achtzehnhundert vor Christus. Sie haben den Grabhügel ausgemacht, sind aber angewiesen, ihn nicht zu berühren. Sie melden, dass es in den Legenden und Mythen jener Zeit keine Spur von einem Kronos oder einer Göttin Yolarabas gebe. Ich habe ein Gefühl, dass Sie noch ein ganzes Stück weiter zurückgehen müssen. Ich habe deshalb Anweisung gegeben, dass Sie für diesen Auftrag besonders sorgfältig vorbereitet werden, soweit uns das möglich ist. Zu Ihrer Tarnung wird es am besten sein, wenn Sie als Söldner gehen. Sie werden alles an zerebraler Indoktrination bekommen, was wir Ihnen geben können, aber für diese frühe Zeit ist das nicht viel. Ich habe mit d’Kaamp gesprochen; er erwartet Sie zum Waffentraining. Viel Glück.«
Obwohl Tausig die Tatsachen trocken und emotionslos dargelegt hatte, war Fortune sich keinen Augenblick über die Dringlichkeit des Auftrags und die potentielle Gefahr im Unklaren, die ein unvorsichtiger Zeitreisender für die Zeitstruktur darstellte. Fortune wusste auch, dass die Agenten des Imperiums sich alle dieser persönlichen Gefahren bewusst waren. Sie befolgten die Gesetze der Selbsterhaltung und mieden die geschichtliche Vergangenheit ihrer eigenen Ursprungsplaneten, damit sie nicht unwissentlich ein Stückchen Keimplasma zerstörten, das viele Generationen später in ihrer eigenen Existenz resultieren mochte.
Nein, der Empire-Agent, der sich Kronos nannte, würde nicht wagen, sich selbst zu gefährden. Vielleicht hatte er nicht einmal die Absicht, die Zeitstruktur der Erde und damit die Menschheitsgeschichte zu verändern, aber Fortune und alle anderen Angehörigen der Organisation TERRA wussten, dass ein zufälliger Fehler genauso gefährlich und tödlich sein konnte wie bewusste Sabotage.
Fortune fühlte sich durch den Kronos-Auftrag weder geehrt noch war er überrascht. Anfangs war es anders gewesen. Die Faszination, die er als Historiker für diesen abgelegenen Planeten empfand, hatte ihm das Angebot TERRAS eingetragen, als Außenagent für die Organisation zu arbeiten. Zuerst hatte er kaum glauben können, dass die Gelegenheit, die sich ihm hier bot, eine reale Sache und kein dummer Scherz war. Er hatte zwar die Gerüchte gehört, dass die Galaktische Föderation eine Art Zeitmaschine entwickelt habe, und die Möglichkeit, in der geschichtlichen Wirklichkeit seines bevorzugten Planeten zu leben, war nicht etwas, das er mit einem belustigten Achselzucken abtun konnte. Aber erst nachdem er die Maschine gesehen hatte, war auch der letzte Rest Ungläubigkeit vergangen.
Sein erster Auftrag als sesshafter Agent hatte ihn in das Mitteleuropa Voltaires und der Aufklärung geführt und war relativ einfach gewesen: Er brauchte nur die Augen offenzuhalten und alles zu melden, das ihm fehl am Platz zu sein schien, das von der historischen Wirklichkeit jener Zeit, wie er sie kannte, abwich. Alles weitere übernahm die Zentrale.
Schon auf jener ersten Mission, die nach der Basis-Zeitrechnung fast zehn Jahre zurück lag, war Webley sein Partner gewesen. Er und sein Symbiont hatten einander aus einer Anzahl möglicher Partner ausgewählt und ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, das mehr war als die Summe seiner Mitglieder. Webley wog fünfzehn Pfund und war ein Organismus etwa in dem Sinne, wie man sich einen Bienenschwarm als Organismus vorstellen kann. Er sah aus, wie es ihm gerade gefiel und konnte seine Gestalt jeder Notwendigkeit anpassen. Gewöhnlich gab er sich damit zufrieden, sein Protoplasma gleichmäßig über Hannibal Fortunes Schultern zu verteilen, aber er war auch gut als Vogel, als Schlange, Fledermaus oder Katze. Um die Fülle seiner Fähigkeiten abzurunden, war er ein vollkommener Telepath, was ihn zu einer idealen körperlichen und geistigen Verlängerung Hannibal Fortunes machte.
Die Organisation TERRA ihrerseits verdankte ihr Entstehen einer zwingenden Notwendigkeit. Im Jahre 2548, als Lipzig und Rudnl den Zeittransporter erfunden hatten, hatte die Galaktische Föderation ihn sofort verboten, weil sie die Maschine mit Recht als eine Bedrohung der Millionen ineinander verwobenen Zeitlinien betrachtete, die die objektive Wirklichkeit stützten. Verärgert hatte sich Rimaud Rudnl daraufhin mit Gregor Malik zusammengetan, dem Beherrscher des Planeten Bories, der in der Maschine ein Mittel sah, seinen Machtbereich über größere Teile des bekannten Universums auszudehnen. Malik verbündete sich mit den korrupten Regierungen von vierzehn anderen Planeten, machte sie zu seinen Vasallen und gründete Empire, eine Organisation, die sich Eroberung und Ausplünderung in galaktischem Maßstab zum Ziel setzte.
Die Galaktische Föderation, der solche Aktivitäten nicht lange verborgen blieben, gründete TERRA, mit der einzigen Direktive, die geschichtliche Basis der Zeitwirklichkeit zu schützen. In den weniger als zwanzig Jahren ihres Bestehens hatte TERRA über zehntausend sesshafte Agenten entlang den Zeitlinien von dreiundvierzig Planeten stationiert. Sie überwachten eine Zeitspanne von dreiundvierzig Jahrhunderten.
Außerdem war im Laufe der Jahre ein Korps besonderer Einsatz- oder Außenagenten aufgestellt worden. Es bestand überwiegend aus Männern, die in der Geschichte der ihnen zugewiesenen Planeten außergewöhnlich bewandert waren und die Fähigkeit besaßen, fremde Manipulationen mit der historischen Wirklichkeit zu erkennen und zu neutralisieren, bevor sie Veränderungen des Geschichtsablaufs und damit der realen Gegenwart bewirken konnten. Solche Leute zwanzig Jahre lang als sesshafte Agenten an einen Posten zu binden, wäre eine unverzeihliche Vergeudung von Talenten gewesen.
Hannibal Fortune gehörte zu diesen wenigen, die die begehrte Lizenz besäßen, die Vergangenheit zu korrigieren – innerhalb sehr eng gezogener Grenzen. Sein Spezialgebiet war die Erde. Der Kronos-Auftrag war darum eine Routineangelegenheit.
Bis zu einem gewissen Grad. Selbst Pohl Tausig musste zugeben, dass dies das erste Mal war, dass ein Agent bis an die Grenze der prähistorischen Zeit zurückgehen musste, einer Zeit, über die man außer gelehrten Vermutungen nicht viel zu sagen wusste. Und wie immer bei derartigen Unternehmungen stand das Schicksal einer Welt auf dem Spiel.
Zweites Kapitel
TERRAS Techniker hatten für Hannibal Fortune eine Ausrüstung zusammengestellt, die Pohl Tausig Sonderausstattung nannte. Fortune selber zog es vor, von einem Spielzeugkasten zu reden. Was sich hinter derart euphemistischen Umschreibungen verbarg, waren ein teleskopisches Schwert, in dem ein federgespanntes Florett verborgen war, ein Sortiment walnussgroßer Handgranaten mit Explosivstoffen und Gas, ein Kriegerhelm mit Visier und darin eingebauter Infrarot-Nachtsichtvorrichtung, ein Bronzedolch mit blattförmiger Klinge, dessen reichverzierter Griff Gaspatronen sechzig Meter weit verschießen konnte, und noch einige Kleinigkeiten mehr.
Während diese diabolischen Spielzeuge hergestellt worden waren, hatte Fortune viele Stunden damit verbracht, sich allen verfügbaren Wissensstoff anzueignen. Er bediente sich dazu der Zerebralfeld-Methode, einer Weiterentwicklung jener archaischen Lerne im Schlaf-Technik, die sich für das Memorieren fremdsprachiger Vokabeln und anderer unverarbeiteter Daten als nützlich erwiesen hatte, jedoch ungeeignet gewesen war, die logische Verarbeitung solcher Daten zu lehren. Zerebralfeld-Aufnahmegeräte gehörten zur Standardausrüstung aller ortsansässigen Agenten und waren für die Vorbereitung der Außenagenten auf neue Einsätze geradezu unentbehrlich.
So lebte Fortune im Zuge seiner Vorbereitungen nacheinander als römischer Zenturio (100 v. Chr.) griechischer Hoplit (500 v. Chr.), chaldäischer Krieger (700 v. Chr.) und als ägyptischer Söldner der ersten Dynastie (2700 v. Chr.) Dabei sah, hörte und fühlte er nicht nur die authentische Umgebung, sondern er erwarb auch die für den alltäglichen Umgang notwendigen Kenntnisse der Sprachen jeder dieser Gegenden und Zeitabschnitte.
Nach seinen Zerebralfeld-Erfahrungen als chaldäischer Krieger erhöhte sich seine Wertschätzung für d’Kaamps Waffentraining bedeutend. »Der Kampfinstinkt des Barbaren«, betonte der bärtige Instrukteur, »muss zur Disziplin des geübten Schwertkämpfers erzogen werden. Eine große Rolle in jeder Armee spielt etwas, das ich militärische Mystik nenne. Wenn man weiß, welche geistige Haltung und welcher Glaube hinter den römischen Legionären, den Samurai, den Kreuzrittern oder den Sarazenen stand, um nur ein paar zu nennen, dann kann man auch verstehen, warum sie die Kämpfer werden konnten, die sie waren. Und, was für uns noch wichtiger ist, man kann sie lenken.«
Fortune grinste den älteren Mann an. »Welches ist nach Ihrer Meinung die geistige Haltung, von der ich mich leiten lasse?«
Der ältere Mann machte ein zweifelndes Gesicht. »Da bin ich nicht sicher. Vielleicht ist es der Ehrgeiz, die eigene Welt zu schützen.«
»Übersehen Sie nicht einfache Neugier und die Lust an einem guten Kampf.«
Der Weißhaarige schnaufte. »Da haben wir es! Das ist es, was den Söldner zu seiner Arbeit zieht. Mir scheint, Ihr neuer Beruf ist Ihnen schon recht vertraut. Ich muss allerdings sagen, dass ich die Söldnerideologie nicht sonderlich schätze.«
Für die Zeit vor 2800 v. Chr. enthielt die Zerebralfeld-Bibliothek nichts als Spekulationen, kluge wissenschaftliche Vermutungen, die auf archäologischen Funden beruhten. Und selbst die besten Kenner waren sich in vielen Punkten nicht einig. Zielgebiet war das Spätchalkolithikum, als Kupfer und Bronze allmählich die alten Steinwerkzeuge und -Waffen zu verdrängen begannen und als die Ägypter ihre Bilderschrift entwickelten. Der Ruhm Babylons unter Hammurabi war noch in ferner Zukunft, und das gleiche galt für die griechischen Stadtstaaten, die kretische Thalassokratie, Salomons Israel, die Gründung Roms, den Tod des Sokrates. Alle diese Ereignisse waren aufgezeichnet. Ortsansässige Agenten lebten in diesen Zeiten. Aber Hannibal Fortune musste weiter zurückgehen, musste zeitliche Räume betreten, die fast unbekannt waren, in denen es noch keine Pyramiden und Städte gab und der Mensch gerade erst begann, seine Lebensweise als nomadischer Jäger aufzugeben und mit Ackerbau zu experimentieren. Die Sprache? Der Homo sapiens musste schon damals verschiedene gehabt haben, aber nichts davon war aufgeschrieben, nichts war auf Magnetbändern festgehalten. Religion? Regierungsform? Gebräuche? Tabus? Darüber konnte er erst nach seiner Ankunft Näheres erfahren.
Die Abteilung für historische Forschung lieferte eine bemerkenswerte Analyse des Kronos-Fundstücks. Der Grad der Oxydation schloss einen Zeitpunkt nach 3400 v. Chr. mit Gewissheit aus. Kupfer war offenbar schon ohne Schwierigkeiten zu haben. Die Erwähnung einer goldenen Göttin bedeutete, dass auch Gold wohlbekannt und hochgeschätzt war. Der Gebrauch von Koine-Griechisch war ein Rätsel, solange man sich nicht klarmachte, dass Kronos in der Zeit, in die er eingedrungen war, keine geschriebene Sprache vorgefunden hatte. Koine war im Mittelmeerraum zwischen 400 v. Chr. und etwa 600 n. Chr. eine lebende Sprache; ein Agent des Imperiums konnte sie in jedem dieser zehn Jahrhunderte erlernt haben.
Der Hinweis auf die goldene Göttin als Mutter aller Menschen passte zu anderen Kulten, in denen Muttergottheiten und ähnliche Fruchtbarkeitssymbole verehrt wurden. Anthropologen hatten festgestellt, dass diese Riten bis weit in die Steinzeit zurückreichten. Trotzdem gab Kronosʼ Wortwahl den Wissenschaftlern Anlass zu der Vermutung, dass er den Kult der Yolarabas selber geschaffen habe, wobei er sich von gewissen dionysischen Kulten der Zeitenwende habe inspirieren lassen. Von dieser Voraussetzung ausgehend, hatten sie ein ziemlich vollständiges Zivilisationsbild skizziert, das Fortune als Anhaltspunkt für das dienen sollte, was ihn erwartete.
Fast jede Abteilung der TERRA-Zentrale hatte eine Meinung oder eine Theorie zu dem Fundstück. Fortune ärgerte sich über die Verzögerungen, aber er studierte pflichtbewusst alle Informationen und gelehrten Theorien, die man ihm anbot. Webley dagegen amüsierte sich über alle diese ernsthaften Reisevorbereitungen – er wusste aus Erfahrung, dass es auch diesmal wieder darauf hinauslaufen würde, jeder Situation zu begegnen, so gut es eben ging.
Schließlich war alles bereit. Der Zeittransporter war mit einer Anzahl Spezialapparate ausgerüstet, darunter einer kleinen Zerebralfeld-Anlage zur Überwindung der Sprachschwierigkeiten. Hatte Webley einmal Gelegenheit, die Sprache zu hören, was er als Vogel oder Katze tun konnte, brauchte er die Bandaufnahme des Gehörten nur der Anlage einzugeben, die es dann in Vokabular und Grammatik aufschlüsselte und in Fortunes Gehirn übertrug.
Der Zeittransporter selbst war eine erstaunliche Maschine, das Produkt zwanzigjähriger Vervollkommnung des ersten, von Lipnig und Rudnl konstruierten Prototyps. Fortune wusste, dass das Imperium den Originaltyp verwendete, ein ungefüges Ding, wenigstens fünfmal so groß wie TERRAS Version. Letztere war groß genug – zehn Meter lang und drei Meter im Durchmesser, ein schimmernder Zylinder, der an beiden Enden mit Halbkugeln abschloss. Er konnte in der Zeit rückwärts und vorwärts gehen, konnte Jahrhunderte in Sekunden überbrücken oder behutsam an Wochen, Tagen und Stunden knabbern.
Er konnte um neunzig Grad außer Phase mit der objektiven Wirklichkeit gedreht und so völlig unsichtbar werden, zugleich aber in Raum und Zeit bleiben und als Beobachtungsposten dienen.
Nach einer letzten, peinlich genauen Überprüfung der Bordanlagen und Instrumente wurde endlich das lang erwartete Startsignal gegeben. Fortune prüfte seine zeitlichen Koordinaten und stellte den Gradteiler entsprechend ein. Er drückte einen Knopf, und der Transporter begann leise zu summen. Fortune warf einen Blick aus der transparenten Halbkugel und war erfreut, Pohl Tausig zu sehen, der eigens gekommen war, um sie zu verabschieden. Tausig versuchte den Eindruck zu erwecken, er sei zufällig vorbeigekommen, aber Fortune wusste, dass der Operationschef niemals etwas zufällig tat.
»Fertig?«, fragte er.
»Fertig«, bestätigte Webley und machte es sich auf den Schultern seines Partners bequem.
Fortune betätigte einen zweiten Knopf. Draußen wurde es dunkel, und die Zwillingsuhr im Armaturenbrett zeigte rückwärtslaufende Zahlen. Eine Reihe Kontrolllämpchen blinkte auf, als der Computer die Navigationssignale gab.
Der Himmel draußen war samtschwarz und mit glitzernden Diamanten übersät. Der nächste Stern war vier Lichtjahre entfernt. Schon die Erde? Fortune blickte zur Uhr, die die Basiszeit anzeigte. 84,63 Minuten waren seit dem Start vergangen. Er sah, wie sich der Sternhintergrund um zehn Grad drehte, als der Transporter sich auf seine Leitsterne einrichtete und den Kurs korrigierte. Der Computer gab ein paar hohe Summtöne von sich – dann waren die Sterne verschwunden. An ihrer Stelle durchzogen haarfeine Lichtstreifen den schwarzen Raum. Die Instrumente zeigten normale subspatiale Operation an.
Am 14. Juni 1509 v. Chr. erschien der Transporter einige vierzigtausend Kilometer von der Erde entfernt in der raumzeitlichen Wirklichkeit. Nach einer kleinen Korrektur lag der Planet direkt voraus im Zentrum der Beobachtungsblase. Er sah wie ein auf Armeslänge gehaltener Handball aus, die linke Hälfte in gleißendes Tageslicht getaucht, die rechte in mondsilbriger Nacht. Uber Indien und Zentralasien wurde es Abend, während Europa, das Mittelmeer und Mesopotamien, die Wiege der frühesten Zivilisation, in der Nachmittagssonne brieten. Hannibal Fortune konnte gerade noch die Insel Kreta ausmachen.
»Dies ist der Tag, an dem Harkness die Platte fand«, sagte er. »Um vier Uhr achtzehn wird er sie ausgraben. Das gibt uns etwas über eine Stunde Zeit, hinzukommen, ihn zu finden und den radioaktiven Spurenfinder anzubringen.«
Er tastete einige Daten in den Computer, schaltete den Autopiloten ein und prüfte alle Einstellungen, bevor er einen Knopf berührte. Es gab kein Gefühl von Beschleunigung. Nur die Instrumente und die anschwellende Scheibe der Erde zeigten an, dass sie sich bewegten, dass sie ihrem Ziel mit über zweihundert Kilometern pro Sekunde entgegenfielen. Schließlich, nach einer Ewigkeit von vier Minuten, leuchtete eine blaue Lampe auf, und sie beendeten das Manöver, wiederum ohne das Gefühl einer Bremswirkung. Der Transporter schwebte achtzig Kilometer über der Insel. Fortune stellte den Autopiloten auf eine sichere Fallgeschwindigkeit von achthundert Kilometern pro Stunde ein. Fünf Minuten später, als das blaue Licht erneut aufleuchtete, brachte er das Schiff außer Phase in Unsichtbarkeit, schaltete den Autopiloten ab und setzte sich ans Navigationspult.
Obwohl die Zentrale ihnen genaue Karten der gebirgigen Insel mitgegeben hatte, brauchten sie fast eine Stunde, bis sie die Stelle entdeckten, an der Harkness seine Ausgrabungen machte. Der unsichtbare Transporter ging kaum zwanzig Meter neben dem Grabhügel nieder, an dem der ortsansässige Agent in diesem Moment mit geschäftiger Hingabe arbeitete, ohne etwas von der Anwesenheit seiner Agentenkollegen zu ahnen.
Es war noch nicht soweit. Harkness hatte die Erdaufschüttung des Grabhügels abgetragen und die altertümliche, längst eingestürzte Grabkammer aus rechteckig angeordneten, lose aufeinandergelegten Steinplatten freigelegt. Nun war er dabei, die reliefartig hervortretenden Umrisse eines Skeletts von der pulverig trockenen Erde zu befreien. Der namenlose Tote lag mit angezogenen Beinen in der engen Kammer, den Schädel zwischen zwei Steine gebettet.
Vier Meter entfernt und etwas erhöht lag ein Hund, den die ganzen Ausgrabungsarbeiten unsäglich zu langweilen schienen. Seltsamerweise war er ebenso uninteressiert an einem großen Schmetterling, der nur wenige Zentimeter vor seiner Schnauze zwischen blühenden Gräsern und Blumen herumgaukelte. Das sah einem Hund ganz und gar unähnlich, bemerkte Fortune. Webley pflichtete ihm bei. Trotzdem war der Hund offensichtlich wach und beobachtete die wahrscheinlichste Richtung, aus der ein ungebetener Eindringling kommen könnte. Einmal wandte er den Kopf und blickte direkt zu dem unsichtbaren Transporter herüber.
»Alles in allem ein sehr glaubwürdiger Hund«, sagte Fortune. »Warum bedienst du dich nie der Gestalt eines Hundes?«
»Kleine Hunde sind lächerlich«, erwiderte Webley. »Jeder Hund unter fünfzig Pfund ist nichts als ein Zierstück, ohne Funktion und ohne Würde. Wenn Morag Gefallen daran findet, als fünfzehnpfündiger Spitz zu gehen, ist das seine Sache. Mir sind Katzen lieber. Sie sind vielseitiger und haben mehr Charakter.«
Der Symbiont hätte das Thema weiterverfolgt, aber es schien, dass Harkness die Kronos-Tafel gefunden hatte. Er hatte den Boden rings um das Skelett gesäubert und bei der Suche nach Grabbeigaben die Metallplatte entdeckt, die unter dem Oberkörper des Toten unter Sand und Staub verborgen gewesen war.
Im Gegensatz zu den Knochen, die Harkness mit einer weichen Bürste rasch vom anhaftenden Sand und Staub befreit hatte, war die Platte stark überkrustet, und der Belag blätterte an einigen Stellen leicht ab, um an anderen umso hartnäckiger festzuhalten. Harkness holte eine härtere Bürste aus seiner Werkzeugtasche und säuberte das fleckige bläulich-grüne Rechteck, das TERRAS Chemiker als solides Kupferoxyd identifiziert hatten.
Die Zeit war gekommen, dass Hannibal Fortune sich aktiv in die Vorgänge des 14. Juni 1509 v. Chr. einschaltete – und die Regeln des verrückten Spiels verlangten, dass er dabei weder gesehen noch gehört oder erahnt werden durfte.
Fortune hätte Harkness lieber von Angesicht zu Angesicht getroffen und vielleicht einen oder zwei Tage mit ihm verbracht, denn der Mann gehörte offenbar zu jenen Historikern, die sich der Wissenschaft um ihrer selbst willen verschrieben hatten. Wäre es anders gewesen, hätte er niemals mit dieser archäologischen Ausgrabung angefangen, die das Kronos-Fundstück zutage gebracht hatte. Seine offizielle Aufgabe bestand in der Überwachung der ihm zugewiesenen zwei Dekaden. Er hatte lediglich Ereignisse und Entdeckungen zu melden, die nicht mit den bereits bekannten geschichtlichen Tatsachen jener Zeit übereinstimmten; Ausgrabungen zur Erlangung von Hinweisen auf frühere, nicht überwachte Zeiten gehörten nicht zu seinen Pflichten. Aber Harkness war Wissenschaftler, und er war von der Neugier und der Wissbegierde des wahren Gelehrten erfüllt. Er wusste, dass dreiunddreißig Jahre später, also in der unmittelbaren Zukunft des Jahres 1476 v. Chr., der Vulkan der Insel Santorin ausbrechen würde, nur wenig mehr als hundert Kilometer im Norden. Er wusste, dass eine Flutwelle die Stelle überschwemmen würde, die er jetzt so sorgfältig erforschte, und dass sie danach unter Schlamm und abgerutschten Erdmassen verschüttet bliebe, die alle künftigen archäologischen Untersuchungen unmöglich machten.
Da sie nur für das Auffinden und
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Larry Maddock/Apex-Verlag.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Mina Dörge.
Proofreading: Mina Dörge.
Translation: Walter Brumm (OT: The Golden Goddess Gambit).
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 08-18-2021
ISBN: 978-3-7487-9192-8
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