WERNER STEINBERG
Der Tag ist
in die Nacht verliebt
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER TAG IST IN DIE NACHT VERLIEBT
Erstes Buch: GÖTTIN IN GIPS
Zweites Buch: DOKTOR, SIND SIE DES TEUFELS?
Drittes Buch: DENK’ ICH AN DEUTSCHLAND IN DER NACHT
Nachwort
Das Buch
Heinrich Heine lebte in einer Zeit des Umbruchs und des Übergangs. Werner Steinberg versucht, den Dichter aus dieser Situation heraus darzustellen. Es geht ihm nicht so sehr um die Deutung des dichterischen Werkes, als vielmehr um die Entwicklung und Persönlichkeit Heines. Zu diesem Zweck verfolgt er den Lebenskampf seines Helden von den Jugenderlebnissen in Düsseldorf und den vergeblichen Bemühungen, einen Geschäftsmann aus sich zu machen, bis zu den Pariser Jahren, als seine Krankheit immer mehr zum Ausbruch kommt. Es ist dem Autor gelungen, die schweren inneren und äußeren Schwierigkeiten, gegen die der Dichter bis zuletzt zu kämpfen hatte, in eine fesselnde Handlung umzusetzen. Die Menschen, mit denen er zusammentrifft und die sein Leben oft entscheidend beeinflussen, sind einprägsam gezeichnet, sei es die Mutter in ihrer wissenden Sorge, der reiche Onkel Salomon Heine in Hamburg, die kluge Rahel Varnhagen in Berlin, der Verleger Campe oder die Frau, die ihm Frankreich schenkte und die er Mathilde nannte. Nie verliert Steinberg über der Darstellung des Lebens sein Ziel aus den Augen.
Als der kranke Dichter schließlich auf seinem letzten Spaziergang vor der Statue der Schönheit im Louvre zusammenbricht, ist das Bild vollendet, kann er auf die Jahre der Matratzengruft verzichten.
Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Literatur-Klassiker als durchgesehene Neuausgabe und macht Der Tag ist in die Nacht verliebt von Werner Steinberg (* 18. April 1913 in Neurode, Schlesien; † 25. April 1992 in Dessau) erstmals seit Jahrzehnten wieder dem Lesepublikum zugängig.
DER TAG IST IN DIE NACHT VERLIEBT
Erstes Buch: GÖTTIN IN GIPS
Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.
Erstes Kapitel
Unruhig drängt sich das Volk in der Allee des Düsseldorfer Hofgartens. Niemand spricht laut; nur unterdrücktes Raunen ist hörbar. Fiebrig vor Erwartung glänzen die Augen. Kleine Mädchen reiten auf väterlichen Schultern; Knaben hängen im Geäst der Bäume.
Der gelbe Kies auf der Allee, goldgleißend in der grellen Sonne, bleibt unangetastet. Kein Fuß wagt, ihn zu berühren. Es ist eigentlich unnütz, dass die rotgesichtigen schwitzenden Polizisten ihn bewachen. Nur ein Junge, der ganz vorn steht, vergisst in der zitternden Aufregung das ungeschriebene Verbot. Er beugt den schmalen Oberkörper vor, streckt den Hals, und auf seiner weißen Stirn stehen unter den braunen Locken Schweißtröpfchen – schon hebt er den Fuß, einen Schritt vorwärts zu tun, da fällt sein Blick auf den grimmen Schnurrbart eines der Polizisten. Der Junge erschrickt, fährt zurück, und er seufzt.
Wer ist es, nach dem er Ausschau halten wollte? Wen erwartet er – wen erwarten alle diese Menschen? Es wird einer kommen, den sie nie gesehen haben, aber dessen Bild sie genau kennen; einer mit einem fernen, abwesenden Blick, die rechte Hand in den Rock gesteckt. So haben ihn die Gazetten oft abgedruckt, und viele der Wartenden haben ein solches Bild im Zimmer hängen. Er, den alle kennen und den sie doch nicht kennen, wird erwartet, jener Mächtige, der das Wunder vollbrachte, mit dem Federstrich seines Namens vor wenigen Jahren die einhundertzwölf deutschen Bistümer und Kleinstaaten aufzulösen, jener Mächtige, der die bürgerliche Freiheit und das bürgerliche Gesetz mit großer Geste den Rheinbundstaaten schenkte: der französische Kaiser Napoleon.
Daran denkt der vorwitzige Junge allerdings nicht. Ihn erregt etwas anderes: Holztafeln an beiden Enden der Allee verkünden, es sei bei fünf Talern Strafe verboten, durch den Hofgarten zu reiten.
Die Polizei pflegt sehr streng zu sein. Vielleicht sind alle diese Menschen nur gekommen, um zu erleben, wie die Polizei den Napoleon mit fünf Talern Strafe belegen wird?! Zwei Welten werden aufeinanderstoßen, es wird etwas Erschütterndes geschehen – und sicher nur deshalb stehen hier die Einwohner Düsseldorfs, wohl alle zwanzigtausend, die eleganten Damen und die Marktweiber, die Handwerker und Bürger.
Die Schweißtröpfchen auf der Stirn des blassen Jungen vereinigen sich, werden kleine Bäche, die er salzig in den Augen spürt. Da tönen von fern Trommelwirbel, Trompetenstöße! Die Menge schweigt, die Hälse gereckt, die Köpfe gedreht.
Ruhig reitet der Kaiser mitten durch die Allee. Das Pferd ist weiß, geht langsam, sicher und stolz. Lässig liegen die Zügel in der Hand des Kaisers. Er trägt eine schlichte, grüne Uniform und den spitzen Hut. Hinter ihm das Gefolge. Trommelwirbel, Trompetenstöße – und plötzlich tausendstimmiger Jubel, winkende Hände, rufende Münder.
Der Junge aber fiebert: Gleich muss es geschehen, gleich wird das Verbot, die Verordnung, der Polizist dem Kaiser entgegenschreiten, selbstsicher, grimmbärtig: Fünf Taler Strafe!
Aber nichts geschieht. Lächelnd reitet der Kaiser vorüber, klopft mit einer Hand gutmütig den Hals des weißen Gauls, nickt abwesend – und die Polizisten stehen stramm!
Der Junge wartet nicht, bis das glänzende Gefolge vorbei ist: Er windet sich durch die Menge, rennt heim – heim in die Bolkerstraße, und sein Herz hämmert dabei: Man darf ungestraft durch verbotene Straßen reiten – wenn man mächtig ist!
Die Mutter hört lächelnd seinen atemlosen Bericht. Sie streichelt sein wirres schweißfeuchtes Haar. »Mächtig, Harry, ist nur, wer klug ist. Man muss einen kühlen Kopf haben und klare Gedanken!« Sie weiß, warum sie mahnt: Einmal, ein einziges Mal in ihrem Leben war ihr Kopf nicht kühl gewesen; da hatte sie, Tochter eines berühmten Düsseldorfer Arztes, Schülerin Rousseaus, kundig des Lateins, die Torheit ihres Lebens begangen: Sie war dem leichtsinnigen Samson Heine verfallen. Der war, mit Empfehlungen ausgestattet, von Hannover nach Düsseldorf gekommen, als ihr Vater gestorben, das Haus in Trauer war. Empfehlungen – gut, aber Samson Heine war arm. Indessen kümmerte ihn das wenig. Unbeschwert plauderte er von den Erlebnissen seiner Reisen – was dabei Wirklichkeit, was Traum war, das ließ sich schwer unterscheiden; doch bunt war es und blühte über ihre dunkle Trauer hin.
Die nachdenkliche, ernste, trauernde Betty van Geldern verfiel der himmelblauen Heiterkeit, den Fanfaren des Leichtsinns... Man wird ein Geschäft eröffnen in Düsseldorf, ein englischer Freund wird Nankingtuch liefern, davon versteht Samson Heine viel. Ganz Düsseldorf wird sich um den neumodischen und billigen Stoff reißen, und man wird...
Deshalb sagt sie jetzt zu dem aufgeregten Dreizehnjährigen: »Man muss einen kühlen Kopf haben, Harry!«
Nicht, dass sie mit dem Schicksal hadert: Sie liebt den Mann, dem sie angetraut ist. Sie weiß, dass er herzensgut ist, und sie schätzt sein Zartgefühl, wenn er, von der Gemeinde als Armenpfleger bestellt, mit wichtiger Miene im Zimmer umhergeht und die silbernen Leuchter beiseite räumt, damit die Armen sich nicht bedrückt fühlen, die hier ihre Unterstützung empfangen sollen. Aber sie hat Sorgen: Samson Heine kauft für seinen Laden Nankingzeug, bestellt bei einem englischen Freund, als habe er nicht nur Düsseldorf zu versorgen, sondern die ganze Welt. Da muss sie steuern, die kleine, schweigsame Frau – behutsam, damit er es nicht merkt. Trotzdem gerät das Geschäft in der Bolkerstraße mehr als einmal in Gefahr.
So sagt sie zu Harry: »Man muss einen kühlen Kopf haben!«, und diese klare, beherrschte, beinahe rechnerische Liebe braucht Harry: Nur zu leicht verliert er sich in Träumereien. Wenn er mit flüchtigem Blick die kolorierte tönerne Arche Noah streift, die über der Haustür angebracht ist, geschieht es häufig, dass sie sich in eine wirkliche Arche Noah verwandelt, in der er sitzt: bebender Herr über unendliche hochgepeitschte Meere.
Es gibt einen Raum in dem Hause auf der Bolkerstraße, wo man in solchen Träumen schweifen und ausschweifen kann: die Stube, in der Simon van Geldern, der Bruder der Mutter, lebt, ein Privatgelehrter mit gepuderter Perücke und langem Zopf, der für Zeitschriften schreibt. Der zierlich geputzte Mann, in dessen strengen Augen eine gravitätische Vergangenheit lebt, kümmert sich um Harry nicht: Abgewandt schreibt er mit knirschendem Federkiel auf bestechend schönes Papier mit bedeutender Schrift unbedeutende Dinge. Umso unbekümmerter kann sich Harry den merkwürdigen Überbleibseln widmen, die verstaubt diese Stube zieren: An verblichenem Rosaband hängt an der Wand eine Flöte neben dem Galanteriedegen des Großvaters, eine ausgestopfte Angorakatze ringelt sich vor einem aschgrau-einäugigen Papagei, aber auch Weltkugeln stehen herum und Planetenbilder; in modrigen Scharteken stöbert Harry Absätze aus Schriften des Descartes und des Paracelsus auf. Das vergilbte Papier ist mit Tintenzeichen des Onkels versehen. Vor allem entdeckt Harry hier ein Heftchen, in dem sein Großoheim Simon van Geldern die Weltreise beschreibt, die er gemacht hat: bis weit in die Türkei, bis nach Indien, wo er Berater des Maharadschas war. Was ist Wirklichkeit, was Traum? Auf dem Boden hockend zwischen dem schreibenden Onkel und dem verstaubten Galanteriedegen reist Harry die zitternd gemalte Reiseroute des Großoheims nach, reist über die Weltkugel hinaus und verliert sich auf Planetenbildern bis in die Sterne.
Er spricht der Mutter davon; sie sagt ernst: »Der Großoheim war ein vielgereister Mann, und wenn er Berater des Maharadschas gewesen sein sollte, so nur mit einem Rat.« Sie sieht ihn bedeutungsvoll an. »Unsern Rat braucht der Maharadscha gewiss nicht mehr; aber Geld braucht er. Das braucht die ganze Welt, jeder Fürst, jeder König, jeder Kaiser. Wer Geld hat, herrscht. Die Bankiers haben die Weltherrschaft angetreten.« Seltsames Wort im Munde einer Mutter, und doch nicht seltsam, denn sie sieht die Wirklichkeit vor sich: Onkel Salomon in Hamburg.
Wenn dessen Name erwähnt wird, fühlt Harry Ehrfurcht. Nie hat er bisher den Onkel gesehen. Doch welch ein gewaltiger Mann muss das sein, dessen Geld die Könige und Kaiser brauchen, und wie Harry das denkt, reitet nicht mehr der Kaiser Napoleon durch die Allee, sondern der Onkel Salomon, und auch ihm wagt kein Polizeidiener fünf Taler Strafe abzufordern.
Er weiß: Der Bruder seines Vaters ist Mitinhaber des Bankhauses Heckscher & Co. Wieviel Geld er besitzt, kann niemand genau sagen; aber Millionen sind es: Wievielmal könnte man davon fünf Taler Strafe zahlen, wenn es darauf ankäme!
Im Blick der Mutter ist Härte, als sie zu Harry sagt: »Träum nicht von der Arche Noah und vom Maharadscha, Harry, träum du vom Onkel Salomon; Kaiser kannst du nicht werden, aber Bankier!«
Sagt sie den nüchternen Satz, dann zuckt Harry zusammen; denn sie sagt, ohne es auszusprechen: »Werde Bankier, Harry, wie Onkel Salomon; werde Bankier, und tritt die Weltherrschaft an...«
Zweites Kapitel
Diese Weltherrschaft beginnt in einer rumpelnden Kutsche, in der Harry mit seinem Vater von Düsseldorf nach Frankfurt reist. Auf der Messe wird man Nankingtuch für Düsseldorf kaufen – und Harry wird Lehrling eines kleinen Weltherrschers werden: des Bankiers M. B. Rindskopf, der die Geschäfte des Vaters betreut.
Harry ist achtzehn Jahre, ein blasser und unsicherer Jüngling. Er spürt süßziehende Erregung, muss den Speichel hinunterschlucken, bevor er reden kann. Niemand sieht dem unbedeutenden jungen Mann an, von welcher großartigen Zukunft er träumt, ihm, der nur verlegen und mit leicht verzerrtem Mund lächeln kann.
Und dann: Frankfurt! Hier wird seine Weltherrschaft beginnen! Neben ihm flüstert heiter der Vater: »Das ist eine Stadt, Harry! Mehr als fünfzigtausend Menschen, doppelt soviel wie in Düsseldorf. Diese Stadt blüht! Warum, frag ich dich? Weil die Börse hier ist, und der Rothschild ist hier, und seit dreihundert Jahren sind die Messen hier!« Er schnalzt mit der Zunge. »Harry, deine Stadt ist das jetzt! Ich bin sehr zufrieden mit dir, mein lieber Harry!« Sie gehen durch die Messe: Stand an Stand. Und Samson Heine ist Einkäufer für die ganze Welt. Er hat des Bruders letzten Brief vergessen, der zur Vorsicht mahnte. Handelsherr ist er, wenn er die Tuche befühlt, wenn er Weisheiten in unendlichem Redestrom von sich gibt, wenn er dem Händler wohlwollend auf die Schulter klopft: »Nur Exquisites! Nur beste Qualität!« Er sieht nicht auf den Preis, und er bemerkt nicht, dass man hinter ihm augenzwinkert. Er ist ein großartiger Mann in einer großartigen Stadt, und Salomon Heine vom Bankhaus Heckscher & Co. ist sein Bruder, und der kennt den Rothschild in Frankfurt gut, sehr gut...
Am nächsten Morgen ist der seidenblaue Himmel ergraut. Der Vater ist müde, er spricht wenig, schiebt die Unterlippe vor, als mache ihn irgendwas bedenklich.
»Rindskopf ist mein Freund«, behauptet er, »generös, weitblickend: Ein Mann mit Zukunft! Er tut mir viel Liebes. Ich hoffe, es wird ihm ein Vergnügen sein, den Sohn seines Geschäftsfreundes anleiten zu können. Du hast in ihm den besten und geschicktesten Lehrer, was das Bankwesen anbetrifft. Von Manchester allerdings und Nankingzeug versteht er nicht viel.« Er seufzt: »Du weißt, Harry, mein Bruder Salomon macht mir ebenfalls manchmal Sorgen, da er großzügige Pläne nicht billigt.« Die Mädchenfinger der weißen Hand, die noch nach Mandelkleie duftet, trommeln unruhig auf dem Frühstückstisch. Harry fiebert vor Ungeduld: Er wird das Hauptquartier der Welteroberer in Kürze betreten, wird bei einem der Feldherren, M. B. Rindskopf, das Kriegshandwerk der Börse erlernen...« Der Vater spricht weiter, als sie durch die Stadt gehen. Harry erwartet, dass sich die Zeil auftun wird zu einem Boulevard, palastähnliche Gebäude in großen Parks: So muss der Ort aussehen, wo die Fäden auslaufen nach London, Paris, New York, Schanghai, Lissabon, Rom – zu den großen Städten der Welt, von denen aus die Länder beherrscht werden.
Da biegt der Vater um eine Hausecke.
Eine enge Gasse tut sich auf. Schmalbrüstige Häuser fallen vornüber, die Wände verzogen. Geschäftige Männer, Haarlocken über der Schläfe, eilen, stehen beieinander, gestikulieren heftig. Aus den Fenstern schauen Frauen und Mädchen, rufen einander zu.
Harry erwacht und erschrickt. Verständnislos sieht er den Vater an. Der Vater, geschäftig weitereilend, schon da- und dorthin grüßend, sagt: »Hier, Harry, sind wir zu Hause. Auch die Synagoge ist da, als Wahrzeichen sozusagen, du weißt, ich habe freie Gedanken.« Er schwatzt schnell und fröhlich.
Plötzlich hat Harry allen Mut verloren. Das hier war einst Ghetto. Zugemauert mit Toren von der Freien Stadt Frankfurt, eingekesselt die Menschen in diese übervölkerten Straßen, nirgendwo ein Park, nirgendwo Land, nirgendwo Licht, Luft, Wind, Bäume: Nichts. Und das alles versperrt nicht nur durch die Tore, die allabendlich geschlossen wurden, sondern durchs Reglement: Keiner durfte nach acht Uhr abends noch gesehen werden in den Straßen Frankfurts, bei Strafe des Kerkers. Auch jetzt, nachdem der französische Kaiser dreimal die Stadt erobert hatte und den Juden die bürgerliche Gleichberechtigung brachte, hängt schwüler Dunst von früher immer noch hier, wie der Brandgeruch von Häusern sich lange nicht vertreiben lässt. Sie treten in einen engen, dunklen Hausflur. Harry erinnert sich der Bolkerstraße: Die Mutter steht vor ihm im Zimmer, das vor Sauberkeit duftet, sieht ihn mit klaren Augen an: »Man muss klug sein, Harry!« Aber es ist schwer, klug zu sein und keine abwehrende Übelkeit zu empfinden, wenn man eine schmale Wendeltreppe in einem dunklen Haus hochklimmt und der Schimmelgeruch einem den Atem raubt.
Wie soll man einen freien Kopf haben, wenn in den Schläfen ein leichter Schmerz liegt, der unaufhörlich peinigt?
Misstrauisch kommt ihnen M. B. Rindskopf entgegen. Der Vater sprudelt Freude und Freundlichkeit. M. B. Rindskopf nickt dazu, die Locken über den Schläfen pendeln. Er erwidert nichts, als er sie einlässt. Er beachtet auch Harry nicht, der in einer Ecke des halbdunklen Zimmers stehen bleibt: Er ist nicht da, auch für den Vater nicht mehr.
M. B. Rindskopf begibt sich hinter sein Schreibpult. Darauf steht eine Öllampe, die ihr rötlich-rußiges Licht durch einen trüben Zylinder mit dem Halbdämmer mischt, das durch die Fensterluken hereinsickert. Hier herrscht M. B. Rindskopf. Er lehnt sich mit dem linken Ellenbogen auf das Pult und bietet mit höflich einladender Bewegung der Rechten Samson Heine einen Stuhl an. Samson Heine lässt sich nieder, die Beine behäbig breit, die Ellenbogen auf die Schenkel gestützt, das freundlich-runde Gesicht erhoben. Langsam lenkt er das Gespräch aufs Geschäft: »Ein Stöffchen, eine Entdeckung«, ruft er und strahlt, »dieses Nankingzeug ist unübertroffen. Man braucht es nur anzusehen, dann weiß man: Das macht keine britische Firma, das ist keine Imitation, das ist kein Talmi – das ist Nanking, echtes Nanking. Ein Muster hab’ ich mit, hier!« Er hebt ein Läppchen triumphierend vor M. B. Rindskopfs Nase. »Wie Kupfer ist die Farbe! Ich kenne Nanking, aber solches Nanking kannte ich nicht. Das ist chinesische Ware, glatt und fest, das muss exquisite Baumwolle sein, besondere Baumwolle, was weiß ich. Da hab’ ich gesagt, ich nehm’s. Und ich nehm’s für ganz Düsseldorf, ich will keine Konkurrenz mit diesem Nankingzeug. Da werden sie alle kommen, die Düsseldorferinnen, in die Bolkerstraße zum Samson Heine, der solches Zeug hat.« Er lächelt. »Also wird es ein großes Geschäft werden. Ich werde den Preis festsetzen können mit einem guten Verdienst.«
»Für Düsseldorf...?« M. B. Rindskopf sagt seinen ersten Satz. »Hätte ich mehr nehmen sollen?« Samson Heine fragt rasch. Aber M. B. Rindskopf kneift die Lippen zusammen: »Es ist nicht meine Sache, das Zeug in Düsseldorf zu verkaufen. Ich bin Bankier, ich nehme Geld und verleihe Geld, und ich krieg meinen Zins. Ich werde mir nicht den Kopf zerbrechen, ob man fünftausend Ellen verkauft oder sechs. Nur Sicherheit muss ich haben.« M. B. Rindskopf will Sicherheit. Er mag das Geschäft nicht machen, er mag überhaupt kein Geschäft machen, Geschäfte sind ihm zuwider, und mit Nankingtuch will er schon gar nichts zu tun haben.
Samson Heine erwähnt seinen Millionärsbruder in Hamburg: »Gleich legt er mir’s auf den Tisch, mein lieber Bruder, nur ist er nicht hier, er ist in Hamburg.«
»Man kann ihm schreiben. Ich will das Geschäft nicht. Ich mach kein Geschäft ohne Sicherheit. Und sieben Prozent müssen dabei herauskommen, unter sieben Prozent geht es nicht, ich hab’ meine Unkosten, und ich zahle ja auch Zins.«
»Sieben Prozent! Wer wird heute sieben Prozent geben! Niemand gibt sieben Prozent! Wer wird unter Freunden sieben Prozent fordern!«
Harry sitzt weit vorgebeugt, kneift die Augen zusammen, sein Mundwinkel zuckt. Ein Schauspiel rollt vor ihm ab, das ihn fesselt. Er ist nicht gespannt, wer den Sieg davontragen wird. Er zittert vielmehr vor Erregung, weil er bemerkt: Keiner der beiden sagt, was er denkt, nein, das Gegenteil ist der Fall! Es ist eine glänzende Taktik: Zum Schluss mag Samson Heine keinen Kronentaler, ja nicht einmal einen Gulden, da man ihm doch den Nanking auf Ziel aufdrängt und er nur seinem Freunde Rindskopf eine nutzbringende Gelegenheit bieten wollte – und M. B. Rindskopf will kein Geld geben, er müsste ja Zinsen fordern, und wie könnte er das seinem Freund Samson Heine antun...
Als es so weit kommt, da lacht Harry schallend. Die beiden Männer zucken zusammen, sie hatten ihn völlig vergessen! Warum lacht der Junge?! Was gibt es zu lachen für ihn?! Es gibt nichts zu lachen!
Die beiden Männer haben sich von ihm abgewandt, nachdem er still geworden ist; aber der Handel macht ihnen keine Freude mehr; M. B. Rindskopf schickt misstrauische Blicke zu Harry, der bei ihm in die Lehre gehen soll.
Sie einigen sich rasch, vor allem, weil Samson Heine die Lust verloren hat, alles auf eine Karte zu setzen. Und so zahlt er endlich nicht sieben, sondern siebeneinhalb Prozent... Erleichtert atmet er auf und überlegt, wo er das Tuch lagern wird, da im Laden in der Bolkerstraße nicht so viel Platz ist.
Immer noch steht M. B. Rindskopf an seinem Pult. Langsam wendet er sich Harry zu und betrachtet ihn lange, während der Vater lustig und erleichtert schwatzt.
Endlich erklärt der Bankier mit ernstem Gesetztafelgesicht: »Wenn man Bankier werden will, muss man wissen, was ein Bankier ist.«
Unschuldig fragt Harry: »Wie soll ich wissen, was ein Bankier ist? Mein Vater ist kein Bankier. Ein Bankier handelt mit Geld, er borgt’s und verborgt’s, und obwohl er nur so viel ausleihen kann, wie er borgt, wird es mehr und mehr, und aus dem fremden Geld wird sein eigenes. Nimmt er hier in Frankfurt einen Gulden und wechselt ihn in Batzen oder Kreuzer und Pfennige: Da kriegt der Gulden Junge, denn der Bankier ist ein Zauberer, und statt sechzig Pfennig sind’s auf einmal vierundsechzig, und wenn es ein großer Zauberer ist, noch einen oder zwei dazu.«
Harry hebt, gar nicht mehr schüchtern, beide Arme: »Ein Bankier ist ein Zauberer, und ich will ein Zauberer werden!« Rindskopf bläst beide Backen auf, stößt die Luft aus. Zu Samson Heine, mit dem Daumen auf Harry zielend: »Der da – der wird entweder ein Stiefeldreck oder ein Rothschild. Ich werd’ ihn mal nehmen...«
Rindskopf wird ihn nehmen. Samson Heine ist vergnügt und reibt sich die Hände. Nu, M. B. Rindskopf ist keiner von den Großen, er ist einer von den Kleinen, aber die Großen waren allemal klein: Mehr als ein Rothschild wird der Harry werden. Der Vater legt ihm die mandelkleie-duftende Hand auf die Schulter und flüstert geheimnisvoll: »Ich hab’ geträumt, Harry, du wirst ein berühmter Mann, und an unser Haus hängt man eine Erinnerungstafel, und was ich träume, das ist wahr. Du wirst eine Geldmacht werden, Harry!«
Der sagt langsam: »Düsseldorf ist eine schöne Stadt, wenn man fort ist.« Schon nach Stunden hat Frankfurt den Glanz verloren. Die Zeil: Ja! Aber überall sonst schieben sich die Straßen eng ineinander, die oberen Stockwerke sind vorgebaut und verdecken den Himmel. Auch das Zimmer, worin Harry wohnt, ist muffig, eng und verstellt mit Möbeln.
Er begleitet den Vater: Viele Besuche sind zu machen, Geschäftsfreunde, Geistesfreunde. »Den Menschen muss man Licht bringen«, sagt der Vater und führt Harry in das Lesezimmer der Loge Morgenröte. Ihr gehören freisinnige Männer an, die aufgeklärt sind wie Samson Heine. An den Wänden stehen braune Regale, vollgestapelt mit Büchern, Folianten. Hier wird nur geflüstert, auch Samson Heine mäßigt seine Stimme zu ehrfurchtsvollem Raunen. Sein Gesicht wird gravitätisch, und bedeutsam spricht er mit dem Bibliothekar. Harry fühlt sich bedrückt. Bücher machen die Welt aus, erklärte die Mutter. Aber welche: Die des Bankiers Rindskopf, oder diese hier? Er hört die Stimme seiner Mutter: »Die Bankiers haben die Weltherrschaft angetreten.« Samson Heine naht zufrieden tänzelnd, fasst ihn an der Schulter. »Wir gehen.« Noch ein Rundblick über den Saal, über die vielen Lesepulte und die gekrümmten Rücken. Da stockt er, drückt die Schulter des Sohnes fester, gibt ihm mit einer Kopfbewegung ein Zeichen, einen Hinweis mit den Augen. Harry ist verständnislos. Dort sitzt ein Mann, ein Buch vor sich wie die anderen auch, nicht bedeutend, nicht unbedeutend. Doch in diesem Augenblick flüstert der Vater: »Das ist Börne, der gegen die Komödianten schreibt!« Harry weiß nichts von Börne – wozu schreibt er gegen die Komödianten? Wie töricht! Komödianten sind stolze Männer, schöne Frauen; das weiß er aus Düsseldorf. Warum schreibt der Mann dort gegen sie? Ein Narr!
Der Narr wendet sich plötzlich und bemerkt die neugierigen Augen. Harry empfängt einen so durchdringenden Blick, dass er ihn nie mehr vergisst, den Blick Börnes, der gegen die Komödianten schreibt...
Ein kleines Stückchen Glauben an Zauberer steckt in Harry Heine: Er hatte daheim zu oft die Saga der Rothschilds gehört. Konnte das anders zugehen als mit Zauberei?
Harry schließt die Augen: Er sitzt im halbdunkeln Maklerzimmer des Bankiers Rindskopf. Er soll Rechnungen schreiben. In den Fingerspitzen, die den Federkiel halten, fühlt er ein seltsames Ziehen. Kommt’s daher, dass er in Wirklichkeit eine Schwungfeder in der Hand hält, die größte, die aus dem Flügel gerissen wurde, um nun als Schreibzeug zu dienen? Jedenfalls fliegen seine Gedanken fort von den Zahlen im Buch, den Groschen und Gulden und Pfennigen. Er träumt seinem Onkel, dem Abenteurer, nach, der Berater des Maharadschas war, der in morgendländisch-buntem Gewände die Welt durchstreifte und heimliche Sehnsüchte blasser Damen stillte. Harrys Gedanken fliegen aus dem Süden nach dem Norden, nach Hamburg, wo ein anderer Magier sitzt: ein nüchterner, ein rechnender; aber darum ein vielleicht noch mächtigerer: der Onkel Salomon, der Weise des Geldes. Ist es kein Zauber, mit sechzehn Groschen nach Hamburg zu kommen und sie in Millionen zu verwandeln?
Die Hand, die den Federkiel hält, zittert leicht. Vielleicht kann Salomon die versiegelten Zeichen entziffern, die in dem Büchlein des morgenländischen Oheims geschrieben sind? Vielleicht kann er sie deuten und lesen? Vielleicht sind sie der geheime Bannspruch, der sechzehn Groschen in Millionen verwandeln konnte...?
Und ist er, Harry Heine, der berufene Erbe der beiden, die seine Weltherrschaft nur vorbereiten?
Er öffnet die Augen: Seine Hochwohlgeboren! Seine Hochwohlgeboren...? Schwungvoll, mit druckstarken Abstrichen steht es auf dem gelblich-glatten Papier, von seiner Hand geschrieben: Kann er so das Geheimnis lösen, kann er so den Bann sprechen, er, Millionärslehrling, in den dunklen Räumen des Bankiers Rindskopf?
Das bemerkt er nicht, dass Rindskopf längst in der Tür steht, lautlos, schweigend und mit schmalem, bösem Munde. So sieht ihn Rindskopf: Einen blässlichen jungen Menschen mit unreiner Haut, der die Augen geschlossen hält, statt seine Pflicht zu tun, und jetzt hebt er die Gansfeder hoch, erprobt den Tintenfluss am Fingernagel, setzt an und beginnt eifrig zu schreiben – endlich! Bankier Rindskopf nähert sich leise Schritt um Schritt auf Zehenspitzen. Er steht hinter dem jungen Mann, beugt sich atemanhaltend vor und erstarrt! Unglaublich!
Da steht auf dem gelblich-glatten Papier, schwungvoll, aber deutlich lesbar:
Seine Hochwohlgeboren, den Herrn Sy Freudhold Riesenharf. Wir beehren uns alleruntertänigst, anliegend einen Wechsel auf die Zukunft in Summa einer Million Mark banco zu überreichen, einzulösen im Haus Rothschild zu Paris oder London.
Und darunter:
Bankhaus M. B. Rindskopf.
Rindskopf greift danach, schüttelt das Papier in seiner Hand, sodass es leise knistert, und er fragt endlich: »Ich verstehe das nicht. Ich habe keinen Wechsel ausgestellt über eine Million! Mein Gott, wie könnte ich das! Ich kenne alle bedeutenden Leute in Frankfurt – den Herrn Riesenharf kenn’ ich nicht.« Obwohl weder Worte noch Tonfall etwas ahnen lassen, spürt Harry Heine den Verdacht. Und plötzlich zuckt sein Mundwinkel spöttisch. Er hebt den Kopf: »Ein schöner Name, Riesenharf?«
Aber Rindskopf besitzt keinen Sinn für Spott. Er fährt Harry an: »Was heißt schöner Name? Eine schöne Summe!« Harry lässt sich nicht beirren; er spottet weiter: »Er hat sie verdient!« Die schwarzen Augen Rindskopfs werden stechend: »Aber nicht bei mir!«
Wieso bleibt Harry so ruhig? Er ist nicht verlegen, nicht betroffen, er lächelt sogar heiter: »Er wird sie bekommen!« Zum ersten Mal macht ihm Frankfurt richtiges Vergnügen.
Rindskopf wird aufgeregt, seine Stimme klingt schrill. »Nicht von mir, nicht von meinem Geld! Sind Sie verrückt?! Ein Mann, den ich nicht kenne, und wie viele Prozente er gibt, weiß ich nicht, und von Sicherheiten weiß ich nichts. Wenn Sie ein Geschäft machen wollen für das Bankhaus Rindskopf – nu, da kann man darüber reden; aber nicht so!«
Leise seufzt Harry und sagt: »Ich bin’s!« Er hebt den Blick in die Augen des Bankiers und liest dort Fassungslosigkeit.
Empört schüttelt Rindskopf die schwarzen Locken. Sein Verdacht wird ihm zur Gewissheit: Dahinter steckt eine Prellerei! Mit dunkeln Augen sagt er: »Beweisen!« Nicht mehr.
Traurig nickt Harry: Nun gut! Der versteht eben keinen Spaß, man wird es also erklären müssen. Er setzt sich und ergreift den Federkiel; die Tinte ist eingetrocknet. Harry taucht den Kiel in die Tinte, malt groß gedruckt: SY FREUDHOLD RIESENHARF.
Der Bankier sieht ihm zu und kann doch bei allem Zorn die neugierige Frage nicht verstecken: »Was soll das Sy? Ich kenn’ keinen Namen Sy!«
Heine blickt schräg über die Schulter auf. »Zauber...«, murmelt er, »Zauber...«, und schaut wieder aufs Papier.
M. B. Rindskopfs Zorn erwacht neu.
Harry deutet mit dem Zeigefinger auf das Papier, und mühsam beginnt er zu erklären; aber das ist schwer. Der Bankier begreift nicht, und so schneidet Harry die Buchstaben SY FREUDHOLD RIESENHARF aus, schiebt sie durcheinander und ordnet sie neu.
Da liest Rindskopf: HARRY HEINE DÜSSELDORF. Er nickt und sagt: »Ein E ist noch übrig, das ist nicht gut gemacht. Wenn man was gut macht, bleibt nichts übrig. An dem, was man übrig lässt, erkennen einen die Leute immer!«
In winzige Stückchen zerreißt er die Wechselanzeige, die er immer noch in den Händen hält, lässt die Papierfetzen auf den Tisch flattern, wendet sich und geht aus dem Raum.
Bankier M. B. Rindskopf überdenkt alles sehr gründlich. Er ist kein Mann des schnellen Entschlusses, er muss Für und Wider abwägen, sonst fügt man sich leicht einen größeren Schaden zu. Er zieht Geschäftsfreunde ins Vertrauen, er befragt seine Familie. Muss ihm der Samson Heine aus Düsseldorf so ein Kuckucksei ins Nest legen...!
Endlich hat er sich entschlossen. Beiläufig sagt er: »Es ist nichts, er wird nichts! Einen Wechsel können Sie ausstellen – Rechnungen schreiben nicht. Es hat keinen Zweck. Wollen Sie heimfahren nach Düsseldorf oder wollen Sie’s versuchen beim Moses Oppermann, einem Freund von mir, die Spezereiwarenhandlung?«
Harry begreift und antwortet sofort: »Ich geh zum Oppermann. Schreiben Sie es nicht nach Düsseldorf.«
Einen Wechsel kann er ausstellen, Rechnungen kann er nicht schreiben. Da hat er die erste Quittung, um in Bankiersdeutsch zu reden.
Rindskopf berichtet nicht nach Düsseldorf, und auch Harry tut es nicht: Er muss es beim Oppermann schaffen, vorher darf die Mutter nichts erfahren. Sie darf er nicht kränken, sie, die den Sohn voll Stolz und Vertrauen in Frankfurt sieht, wie er die Weltherrschaft antritt. Harry bleibt in dem gleichen düsteren Zimmer wohnen, wo alle Schubladen vollgestopft sind mit Fetzen und Zettelchen, auf denen versucht wurde, nichts übrigzulassen.
In den kühlen und düsteren Gewölben der Spezereiwarenhandlung Oppermann schwebt der Duft von Muskatnuss, Zimt und Pfeffer; ein fremdartiger Geruch, der Harry vergessen lässt, dass er einen kühlen Kopf haben muss. Kaum betritt er die Räume, wandert er durch Arabien wie der weltreisende Vorfahr.
Schon vier Wochen später aber ist die Fata Morgana verflogen. Auch Moses Oppermann hält ihn für unfähig, ein Kaufmann zu werden. Niedergedrückt schlendert Harry am Main entlang. Der Tag ist grau und trist, kalt fegt der Wind, niedrig fliegen die Wolken. Auch das Wasser ist grau. Ihn schaudert. Er hat beide Hände in den Hosentaschen, hält den Kopf gesenkt, die Finger der Rechten spielen mit einer Muskatnuss: Das ist die ganze Erinnerung an die Weltherrschaft, die er in Frankfurt antreten wollte. Kein Reichsapfel, eine Muskatnuss.
Er verzieht das Gesicht: Was hat das Schicksal ihm zugedacht? Er ist verzweifelt, doch nicht wegen seines Scheiterns, sondern weil er die hölzernen Gesichter der Kaufleute leid ist. Ihr jammervolles Geschrei über die bösen Zeiten verursacht ihm Übelkeit. Er kann die schlaue Heuchelei nicht ertragen. Vielleicht würde der Oppermann ihn behalten, wenn er ihn bäte, wenn er ihm versicherte, er werde sich bemühen? Er wird es nicht tun, obwohl ihn quält, dass seine Mutter erschrecken, dass sie traurig sein wird, sie, die ihn auf kühnem Adlerfluge glaubt. Wie soll er ihr erklären, dass er versagte, der in der Schule der Erste war? Wie soll er ihr begreiflich machen, dass er dort lernte, weil er nach Wissen begierig war, und dass er hier nicht lernte, weil ihm das Gewechsle und Gefeilsche in dunklen Stuben und düsteren Gewölben sinnlos und töricht erschien?
Über die Brücke strebt er zur Stadt zurück. Sturm wirft sich ihm entgegen und zerwühlt das wehende Haar.
Drittes Kapitel
Er hat sich entschieden. Er wartet keinen Tag mehr, keine Stunde, er rafft die Sachen zusammen, drückt sie in die Koffer, schnürt und schnallt sie zu: Heimweh schüttelt ihn. Düsseldorf ist eine schöne Stadt...
Die Zöllner am Stadtrand sind misstrauisch und grob. Sie durchfurchen seinen Pass mit dem Finger und flüstern miteinander. Ein junges Bürschlein, das in den Landen umherfährt, ist verdächtig. Wo er gewesen sei?
»Bei meinem Vetter zu Besuch!«
Sie fahren ihn an: Er solle nicht lügen. Ein Düsseldorfer Jude bekomme in Frankfurt kein Niederlassungsrecht. Wer denn der sagenhafte Vetter sei, man werde den Mauschel schon kennen. »Rothschild.«
»Oh!« Der Zöllner faltet den Pass, als sei es kostbare Seide, streicht ehrfürchtig mit der groben Pfote darüber, lächelt mit viereckigem Munde: Der Herr Baron Rothschild – sein Vetter...
Hochmütig steigen Harrys Augenbrauen; er greift aus der Hosentasche einen Groschen. Der Zöllner neigt sich voll Demut. Die Postkutsche rollt humpelnd über die Straßen. Die Häuser der Stadt und die Kirchtürme bleiben am Horizont zurück wie vergessenes Spielzeug.
Harry jedoch, der blass und schweigsam ist, hat etwas, worüber er nachdenken kann in der humpelnden, schlagenden Kutsche, im nüchternen, weißgekalkten Kämmerchen der Herberge: Ein Name ist ein Zauberstab, der die Menschen verwandelt. Der Wagen rollt und schwankt; grau schickt der Sturm die Wolken in die Berge. Harry fröstelt. Ein leises Klopfen pocht schmerzhaft in den Schläfen.
An einem Abend spät gelangen sie nach Düsseldorf. Tausendmal hat Harry unterwegs das Gespräch geführt, das er jetzt mit dem Vater, mit der Mutter führen soll. Tausendmal hat er einen guten Abend gewünscht, fröhlich und siegessicher lächelnd, hat die Mütze auf den Stuhl geworfen, hat das Erstaunen, das Erschrecken überwältigt: Einer, der trotz allem gesiegt hat.
Jetzt aber – spät ist es, grau sind die schmalen Gassen, und da ist er, Harry Heine, ein achtzehnjähriger Jüngling, der versagt hat, ein blasses Gesicht, das sich zaghaft durchs Dämmern schiebt, mit Augen, dem Weinen nahe... Die Bolkerstraße, das verhutzelte Gässchen, der Laden mit den kleinen Fenstern, hinter denen Tuche und Schmucktand quellen; die Holztreppe, drei Stufen hinauf, und dahinter die Klingeltür des Ladens.
Samson Heine blickt auf, als Harry eintritt. Durch seine Finger läuft das kupferne Nankingtuch. Harry versucht mühsam ein Lächeln. Es gelingt ihm nicht; sein Gesicht verzerrt sich. Erschrocken fragt Samson Heine: »Bist du krank, Harry?!« Er kommt sorgenvoll hinterm Ladentisch hervor, fasst den Sohn beim Arm und sucht hastig. Dann steht neben dem kupfernen Nankingtuch ein Glas mit purpurnem Wein. Harry Heine trinkt, denn er will das besorgte Antlitz des Vaters nicht sehen, er kann es nicht ertragen: Nicht mehr er selbst ist wichtig, sondern nur der Vater, der harmlos-fröhliche, der kindlich-vertrauensvolle. Wie soll er ihm Schmerz bereiten!
Langsam setzt er das Glas ab; der purpurne Reflex des Weinrests huscht übers kupferne Nankingtuch. Harry hat sich gefasst. Er erzählt, die Augen auf dem sanft schwankenden Reflex. Wortlos lauscht Samson Heine. Seine Wangen röten sich tiefer. Dann beendet Harry seinen Vortrag. Er blickt auf und erwartet eine Vorwurfsflut. Es bleibt still. Der Vater wartet, seine Finger kräuseln im Nankingtuch, so erregt ist er – und auf einmal bricht es aus ihm. Es gibt keine Vorwürfe, kein Schelten, sondern einen Zornausbruch über den Geschäftsfreund, den Bankier Rindskopf, einen Zornausbruch, wie Harry ihn bislang nie bei seinem Vater erlebte! Die Stimme, sonst so sanft, dröhnt und überschlägt sich: Was! Harry sollte Rechnungen schreiben?! Harry, der Erste in der Schule, läppische Rechnungen! Schmeiß es ihm vor die Füße, dem Rindskopf! Heißt nicht bloß so, der! Und will ein Geschäftsfreund sein, der – siebeneinhalb Prozent verlangt er und lässt meinen Sohn Rechnungen kopieren! Und schickt ihn dann zum Oppermann, Erdnüsse zählen! Soll mein Sohn Rechnungen schreiben, Erdnüsse zählen?!
Plötzlich bricht der Vater ab und sagt kein Wort mehr. Stille. Und dann fast kläglich: »Und gerad’ heute Nacht hab’ ich so schön von dir geträumt...«
Nichts hätte Harry tiefer treffen können als dies! Er versucht, dem Vater zu erklären, dass er selbst schuld gewesen sei... Der Vater bleibt eigensinnig. Harry begreift: So schützt sich der Vater – und er schweigt nun. Der schwere Weg liegt vor ihm; der Weg zur Mutter. Gemeinsam gehen Vater und Sohn hinauf. Die Mutter blickt hoch, wird einen Schein blasser; sie steht auf und legt das Häkelzeug beiseite. »Du wirst hungrig sein, Harry, mein Sohn.« Das ist alles, was sie sagt. Sie umarmt ihn und verlässt den Raum. Der Vater schweigt kleinlaut. Sein Zorn ist verraucht. Die Mutter trägt das Essen auf. Stumm sitzen sie am Tisch. Die Teller werden nicht leer. Die Mutter räumt ab, setzt sich wieder und sagt nachdenklich: »Unsere Schuld war es. Wir lassen dich nach Frankfurt, sehen dich schon als Rothschild; wie lächerlich wir waren!« Versteckt in den Augen ist Traurigkeit: »Bevor der Napoleon reiten konnte, ist er gewiss hundertmal vom Pferd gefallen. Und hat es ihm später jemand angemerkt?«
Da nickt Samson Heine befriedigt. Er setzt sich gerade, ja, er bläst sich auf, als er sagt: »Reiten lernen muss der Junge!« Danach lacht er fröhlich.
Die Mutter sieht ihn mit gehobenen Brauen an.
»Ja, reiten, Samson! Bei uns muss er reiten lernen – auf Rechnungen.« Sie fügt gütig-verschmitzt hinzu: »Wollen hoffen, dass genug Rechnungen auszuschreiben sind fürs Nankingtuch aus Frankfurt...«
Es ist kein leichtes Jahr, für Harry nicht und für die Eltern nicht. Samson hat für alle Düsseldorferinnen das herrliche Nankingtuch gekauft. Nicht alle Düsseldorferinnen indessen mögen es tragen. Samson versteht das nicht. Ihm ist es nicht nur ums Geld: Doch wie kann eine Frau, ein Mädchen darauf verzichten, sich mit diesem Tuch zu schmücken?! Er möchte sie durch die Straßen gehen sehen: Alle von dem kupfernen Gewebe umflossen. Betty Heine weiß das. Aber Zinsen und Rückzahlungen drängen und drücken. Sie macht dem Mann keinen Vorwurf: Er ist so, und so liebt sie ihn.
Harry läuft still herum. Selbst die liebste Schwester Charlotte hat wenig von ihm: Er muss Rechnungen schreiben. Während er über die Bücher gebeugt sitzt und Zahlen kritzelt, während er Rechnungen ausstellt, während er bescheiden im Laden das Tuch preist und Händler damit versorgt, die auf die Dörfer hinausgehen, verrinnen Wochen, Monate.
Er spürt, dass die Mutter ihn aufmerksam beobachtet. Sie sagt nichts, und der Sohn ahnt nicht, dass Betty Heine längst an den Bruder ihres Mannes geschrieben hat, an den mächtigen Salomon Heine in Hamburg: einen klaren und kühlen Brief, der mit einer Bitte endet. Seither sind mancherlei Briefe hin und wieder gegangen. Doch selbst Samson Heine erfährt nichts davon.
Viertes Kapitel
Alle Rosen blühen. Zart zieht ihr Duft durch den Park, süß und betäubend. Fahlblau ist der Sommerhimmel. In weiten Terrassen dehnt sich der Park hinunter, die Wiesen sind schwer von blühendem Gras, sauber gezirkelt schwingen sich goldgelbe Kieswege, und rötlich hebt sich der Sandstein der breiten Treppen dagegen ab. Buschgruppen sind da und dort sauber hingetupft, darin verbergen sich gipsweiße Amoretten.
Zufrieden steht die untersetzte Gestalt des Besitzers vor der mächtigen Villa. Das kluge Gesicht mit durchdringend hellen Augen ist auf ein gelbliches Segel gerichtet: Langsam zieht ein Lastkahn die Elbe hinauf. Blau dunkelt das Wasser.
Die kurzfingrige Hand des Hausherrn deutet in langsamem Schwung über das Bild. »Ich hoffe, Herr Graf, Sie noch des Öfteren als Gast bei uns zu sehen. Wir schätzen die Ehre, einen so verdienstvollen Mann bei uns zu wissen.« Ein Lächeln gleitet über die breiten Züge.
Konrad Daniel Graf von Blücher, Oberpräsident von Altona und Geheimer Konferenzrat, reibt heftig das spitze Kinn und verzieht das bärbeißig-mürrische, hausbackene Bürokratengesicht kaum zu einem Lächeln. Es ist ihm angenehm, in dem freigebigen Haus empfangen zu werden, geehrt als entfernter Verwandter des Draufgänger-Blüchers. Es ist angenehm, Herr Graf tituliert zu werden, wenn auch der Grafentitel von dem dänischen Hause stammte. Andererseits: Muss er, ein Graf Blücher, gelassen und wohlwollend zuhören, was ihm ein Wechselausträger zu erzählen weiß, nur weil dieser gerissene Jude die schönste Villa, den prächtigsten Park in Ottensen besitzt und – weil er ihm soeben einen Wechsel über siebzehntausend Mark banco übergab für das neu zu errichtende Krankenhaus?!
Er sagt: »Ein angenehmer Anblick...«Dabei sieht er die Frau an, die neben den beiden Männern steht. Schon ein wenig füllig, nähert sich den Vierzig. Sie lächelt charmant und mit gütigen Augen. Blücher ergreift ihre mollige Hand und küsst sie, sich verabschiedend: »Madame...!«
Die Equipage rollt vor, der Kies spritzt unter den Hufen. Salomon Heine atmet tief auf, wendet den Blick zu seiner Frau und steigt langsam die Terrasse wieder hinauf.
Sie lächelt ihm zu und nickt.
»Dreißig Jahre, Betty«, sagt er und legt ihr eine Sekunde lang die Hand auf die Schulter, »dreißig Jahre haben genügt. Damals schmiss man mich zu den Hofeingängen der Herren Grafen, Barone, Offiziere hinaus. Heute holen sie sich einen Scheck über siebzehntausend Mark banco, wütend und freundlich. Nu, man wird ihm ein Denkmal errichten hier in Ottensen, dem Grafen Blücher, damit man sich daran erinnert, dass er Anno vierzehn vor den Franzosen vom Pferde fiel und siegte. Im Krankenhaus von Ottensen aber wird stehen: Gestiftet von Salomon Heine!« Zufrieden nickt er. Es ist eine gute Stunde unter dem seidigen Himmel, vor den grünen Matten, und Bienengesumme dunkel und vertraut. »Ich habe«, sagt er langsam, »an Beer Lion Fould nach Paris geschrieben, ob er nicht eine Verbindung weiß. Amalie ist fünfzehn, man muss sich umsehen. Sie ist klug und wird solche Umsicht zu schätzen wissen.«
Betty Heine wendet nichts ein. Ihre Töchter ähneln dem Vater im Wesen, und das ist gut.
Plötzlich sagt sie erstaunt: »Wer kommt dort?«
Salomon Heine folgt ihrem Blick.
Sie gewahren die Gestalt eines Mannes, der weit hinten auf den Kieswegen schlendert, die Hände in den Taschen.
Zornig rötet sich Salomon Heines Stirn. Mit schnellen, kräftigen Schritten – und doch behutsam – geht er die Stufen hinunter, über die Wege, strebt dem Fremden zu.
Auf dem steinernen Rande eines Springbrunnens sitzt er, ein Bein hochgezogen, die Hände müßig aufgestützt, den Blick nach der Fontäne gewendet, deren Wassertropfen ein Sonnenspiel treiben.
Leise geht Salomon Heine weiter, steht dann dicht hinter dem anderen, der ihn immer noch nicht bemerkt, weil sein Blick das Silberspiel des Springbrunnens im blauen Himmel verfolgt.
Laut und empört fragt Salomon Heine: »Wer sind Sie?!«
Der Fremde fährt zusammen, springt auf: Ein junger Mensch, blass, die Haare verwirrt, mit Augen, die langsam nur zurückfinden aus dem Sonnenspiel in den Wassertropfen.
Dann sagt er und schlägt die Augen nieder: »Harry Heine, Düsseldorf!«
Betty Heine, die Mutter des Bankierslehrlings, hatte Mühe gehabt, Salomon Heine, den Millionär, zu bewegen, Harry in seine Lehre zu nehmen. Salomon hat in Frankfurt bei Rindskopf nachgefragt; die Auskunft war: Ein Narr und ein Träumer, und dafür ist bei Salomon kein Platz.
Trotzdem ist es Harrys Mutter endlich gelungen – und vielleicht nur deshalb, weil sie den gleichen vertrauten Vornamen Betty wie Salomon Heines Frau trägt und weil sie zudem ein klares Auge hat, ein nüchternes Hirn, das phantastische Ziele kühl überlegt zu erreichen trachtet, und weil sie ihm, dem Salomon Heine, darin nicht unähnlich ist. Ein zweites Mal öffnet sich so für Harry die Tür, durch die er als Bankier die Weltherrschaft antreten kann.
Vor Stunden erst ist Harry in Hamburg eingetroffen, aber schon ist er verzaubert. Das Tor hat sich aufgetan – endgültig! Ein weiteres Tor! Er bebt geradezu vor Begierde, dies Neue alles kennenzulernen. Er sieht sich seinem Onkel gegenüber – zwei Männer, der eine dem Alter zugehend, der andere der Jugend entwachsend; ein würdiger Nachfolger des großen Salomon Heine, ein Millionärsnachfolger, nicht ein Lehrling nur!
Die Stadt hat noch nicht die Schläge der kriegerischen Auseinandersetzungen überwunden; doch die Kraft ist da, das Kapital, das die französischen Emigranten herbeischleppten, das Schmuggelgeld aus der Zeit der Kontinentalsperre, der holländischen Handelshäuser, die nach der Besetzung Hollands durch die Heere der Französischen Revolution sich in Hamburg niederließen. Seit jenen Tagen herrschte in Hamburg banco, und die großen Bankhäuser stehen noch immer!
Für Harry Heine wehen auf allen Dächern Fahnen. Am Jungfernstieg ist er aus der Kutsche gestiegen. Er steht an der Alster, und er riecht salzigen Meereswind. Er atmet tief die frische würzige Luft. Ihm ist, als sei er aus Ketten befreit. Hier ist das Leben! Er benötigt mehr als eine Stunde, um nach Ottensen zu gelangen, auf den Landsitz des Onkels. Mein Gott, welcher Glanz, welche Pracht – welche Macht! Er wagt es nicht, den Kiesweg durch den Vorgarten zur prunkvollen Pforte hinanzuschreiten. Und so umstreift er das Anwesen, den Park mit den Terrassen und Figuren, das Paradies, in das er einziehen wird.
Von dem unteren Weg her betritt er schlendernd den Park, findet den Brunnen, hockt auf dem Rande und träumt... Und dann steht er dem Onkel gegenüber und stammelt: »Harry Heine, Düsseldorf!« Die Gestalt des Onkels überwältigt ihn. Ein gewaltiger Mann! Oft hat er ihn sich vorgestellt – aber nicht so! Salomon Heine betrachtet den schüchternen Neffen. Dem Bruder sieht er nicht ähnlich, niemandem aus der Familie. Man wird abwarten müssen. Er nickt gönnerhaft: »Willkommen in Hamburg, Harry. Wollen sehen, was in dir steckt! Komm mit!« Schweigend gehen sie nebeneinander über den knirschenden Kies. Betty Heine sieht ihnen entgegen. Salomon sagt ruhig: »Deine Tante, Harry!« Und zu seiner Frau: »Ich hatte vergessen, er war für heute angesagt. Nun wird er hierbleiben heute Nacht, und morgen bezieht er sein Quartier in Hamburg. Ich habe ein sauberes Zimmer für ihn suchen lassen, nicht zu teuer. Bei einer Witwe Rodbertus, Große Bleichen dreihundertsieben.« Er hat verfügt, Salomon Heine, und dabei bleibt es. Zögernd hat er den Neffen aufgenommen. Man weiß nicht, was daraus wird. Ein armer Neffe, die Witwe Rodbertus hat ein Zimmer, das genügt. Dann und wann wird man ihn in Ottensen sehen, und Tag um Tag auf dem Büro.
Betty Heine nickt ihm freundlich zu.
Sie gehen ins Haus.
In diesem Hause kommt sich Harry plump und ungeschickt vor, ein schäbig-armer Verwandter. Die kostbaren Möbel, die Ölbilder an den Wänden, die goldgetriebenen Schmuckstücke, die gewaltige Halle, der breite Treppenaufgang – ein Diener, der halblaute Befehle empfängt, sich ergeben verneigt und lautlos wegeilt.
Betty Heine richtet freundliche Worte an ihn; der junge Mann gefällt ihr. Salomon hört zu, und plötzlich wendet er sich an Harry: »Was war das mit dem Wechsel auf Riesenharf?«
»Ein Scherz«, sagt Harry.
Salomon bleibt ernst: »Wechsel sind keine Scherze.«
Darauf weiß Harry keine Antwort.
Da erlöst ihn die Tante: »Stellst du nicht jetzt auch für unsern Harry einen Wechsel aus, indem du ihn aufnimmst in dein Geschäft, und weißt nicht, ob er ihn einlöst?«
Ungerührt wendet sich Salomon ihr zu: »Ich stell keinen Wechsel aus, Betty. Das soll er nicht glauben. Er soll arbeiten, dann werden wir sehen; dann werd ich ihm eine Quittung geben, so oder so...
Harry fröstelt: Er begreift, wie hart jede Mark banco ist! Er wird alle Freundlichkeit, alle Liebenswürdigkeit und alle Höflichkeit um der Eltern willen in diesem Geschäft einsetzen: Auch sie werden auf der Quittung Salomon Heines stehen.
Der Diener meldet, das Essen sei angerichtet. Harry atmet erlöst auf. Schwerfällig erhebt sich Salomon Heine. Die Tante lächelt Harry aufmunternd zu. Er folgt den beiden demütig – und fühlt bewundernd die weichen Teppiche unter den Sohlen.
Freundlich nickt ihm die Tante zu. Sie deutet seitlich: »Harry, deine Cousine Amalie.« Harry sieht hin. Verneigt sich – ihn schwindelt dabei. Kühl kommt das schlanke Mädchen auf ihn zu und reicht ihm schweigend die Hand. Zart schimmert das blonde Haar um ihr schmales, fremdes Antlitz, unter den kühnen Bögen der geschwungenen Brauen mustern ihn große, allwissende Augen.
Betty Heine sagt: »Sei nett zu deinem Vetter, Amalie. Er wird Zuspruch brauchen. Du weißt ja...«
Harry ist betroffen. Man hat also über ihn gesprochen, über die Eltern, über den Laden in der Bolkerstraße und ganz gewiss über sein Debüt bei Rindskopf.
Niemand bemerkt, was in ihm vorgeht: Mit alltäglicher Selbstverständlichkeit setzt man sich zu Tisch. Harry sitzt seiner Cousine gegenüber. Es scheint nicht üblich zu sein, beim Mahle zu sprechen. Schweigend geht der Diener herum und reicht die Speisen.
Verstohlen betrachtet Harry seine Cousine. Ihr ovales Gesicht ist rein und verschlossen, ist kühl und fremd: Nichts kann man darin lesen. Ihm fällt erst jetzt ein: Kein Wort hat sie bisher gesprochen, er kennt ihre Stimme nicht. Er rätselt, wie sie klingen müsse, damit sie zu diesem zurückhaltenden, selbstbewussten, vornehmen Gesicht passe – und gleichzeitig zu den zartgoldenen Haaren und wiederum zu den nixenhaften Augen. Er starrt sie an. Für ihn sind Salomon Heine und seine Frau verschwunden, die Stube hat sich in blaue Luft aufgelöst: Harry sitzt Amalie im Park gegenüber, leise summen die Bienen, die Rosen duften, sie hat die Augen niedergeschlagen...
Ohne weitere Störung ist das Mahl zu Ende gegangen. Salomon bespricht mit seiner Frau die Geschäfte. Sie ist klug und begreift seine Pläne. Wichtiger noch ist ihm, dass sie die Menschen beurteilt, mit denen er zu tun hat. Sie hat unbestechliche Augen, und sie sehen klarer als die seinen, die man mit falscher Demut und Ergebenheit nur zu oft zu blenden versucht.
Amalie wandert gelangweilt im Zimmer umher. Der arme Cousin aus Düsseldorf hockt ziemlich kläglich am Tisch und kommt sich überflüssig vor. Da fällt der Blick der Tante auf ihn und gleitet hinüber zu der Tochter. Nun, der Junge kann zu etwas nütze sein, soll er Amalie die Zeit vertreiben. Sie sagt nebenbei: »Lass dir von Amalie den Park zeigen, Harry!«
Ergeben zuckt Amalie die Schultern und winkt gnädig mit dem Köpfchen. Prinzessinnenhaft schwebt sie die breite Terrasse hinunter. Harry sieht nicht, dass sie mokant dabei lächelt; er trabt brav und glühend einen halben Schritt hinter ihr her. Vergeblich zerbricht er sein Hirn, möchte ein Wort finden, eine Schmeichelei, aber sein Kopf ist leer. Amalie wendet sich nicht um. Zierlich und stolz geht sie durch den Park, eine kleine Herrin, eine Fee, die ihr Reich durchschreitet, hinter sich einen stummen, verliebten und ungeschickten Diener. Dabei ist Amalie erst fünfzehn Jahre alt. Sie ist für ihr Alter zu klug. Mit dem Vater ist sie sehr zufrieden: Gut, dass er Harry herkommen ließ! Sie kann einen Trabanten gebrauchen, einen linkischen Bewunderer, der ungefährlich ist.
In seinen Augen hat sie die demütige Ergebenheit erkannt.
»Ich bin müde«, sagt sie, »setzen wir uns!« Sie geht zu einer Bank. Harry hat es nicht gewagt, sich dicht neben sie zu setzen; er hält achtungsvollen Abstand. Aber ihr ist das langweilig. Sie befiehlt: »Erzähle!«
Also erzählt er von Frankfurt, und sie hört ihm mit wachsender Spannung zu, denn er erzählt gut. Er schildert sich selbst so genau – verträumt, ungeschickt, ängstlich, ehrgeizig –, dass sie mit blitzenden Augen lächelt. Da sind zwei junge Männer neben ihr. Einer, der tölpelhafter Träumer ist, sehnsüchtiger Narr, sehnsüchtig nach Macht. Und ein anderer, der sich lustig macht über den, der da spricht. Ihre Augen bleiben rätselhaft, spöttisch, kühl und verheißend.
Sie bemerkt seinen sehnsüchtigen Blick und sagt mokant: »Man sehe mich nicht an wie die Statue drüben, dazu bin ich nicht da!«
Er blickt hinüber und erschrickt: Die Statue ist ein Mädchen, das halb den Arm hebt und irgendwohin über die Wiese sieht; ein weißes Gewand fließt enthüllend an der Gestalt nieder. Und er sieht Amalie Heine in ihr: Genauso ist sie, mädchenhaft und frühlingsreif, kühl von Jugend und knospenhaft im Werden, kindlich und unergründlich. Er schluckt und sagt erstickt: »Sie sieht aus wie du!«
Zornig springt sie auf, ihre Augen blitzen: »Das darfst du nicht sagen, du nicht!« Und betont das du so, dass es ihn schmerzt. Schnell geht sie weg. Er läuft hinterher und bittet und bettelt. Sie wendet den Kopf nicht.
Immerhin: Er bemerkt, dass sie nicht dem Hause zustrebt. Plötzlich schreit er laut auf. Sie erschrickt und dreht sich um: Da steht er, die Hand aufs Herz gepresst, und krümmt sich. Aufgeregt packt sie seinen Arm, fragt: »Was ist?«
Sein weißes Gesicht ist schmerzverzerrt. Scheinbar mühsam hebt er den Arm und deutet seitwärts in die Wiese: Da steht gipsern ein Amor.
»Getroffen«, stöhnt Harry.
Ein zweites Mal lacht Amalie laut, und sie kichert sogar hinterher. Sie sagt nichts, aber sie hängt sich in Harrys Arm. Er geht neben ihr: Anerkannt als bescheidener Sklave.
Fünftes Kapitel
Am nächsten Morgen bekommt er Amalie nicht zu sehen. Nur mühsam verbirgt er die verzehrende Sehnsucht. Er gibt sich dem Onkel gegenüber ergeben und ernst; schließlich ist er der Neffe des großen Salomon Heine, Mitinhaber des Bankhauses Heckscher & Co. Millionenschwer.
Salomon Heine nimmt ihn mit der Kutsche nach Hamburg. Vor Heckscher & Co. sagt er: »Merk dir das Haus. Du meldest dich bei Aron Hirsch, er ist mein Hauptbuchhalter und weiß Bescheid. Vorher gehst du zur Witwe Rodbertus und mietest dich dort ein.« Sie steigen aus der Kutsche. Der Onkel betritt sein Bankhaus, und Harry sieht ihm bewundernd nach.
Er seufzt und macht sich auf den Weg. Aber wie er durch die Straßen schlendert, wird er wieder mutig. Er erinnert sich Amaliens. Tiefatmend spürt er den scharfen, salzigen Meerwind. Der Onkel hat für angemessenes Quartier gesorgt. Große Bleichen 307 ist nicht unansehnlich, nicht sehr weit vom Alsterdamm entfernt, auf dem er gestern ankam, und die Witwe Rodbertus ist eine saubere Frauensperson. Sie steht breit und selbstbewusst in der Tür, als wollte sie die versperren. Da hört sie den Namen »Harry Heine«. Sie schmilzt hin, knickst sogar ergeben: Der Neffe des großen Heine! Und er begreift zum zweiten Male, dass ein Name zaubern kann. Diesmal ist es nicht der geborgte Name Rothschild, diesmal ist es sein eigener!
Dem Zimmer sieht er an, dass sich die Witwe Rodbertus bemüht hat, alles für den Neffen Salomon Heines zu tun, was sie nur vermag. Es blitzt sauber. Diensteifrig verharrt Witwe Rodbertus in der Tür. Er spürt, wie sie auf ein Lob wartet, auf eine Äußerung des Wohlgefallens. Gerade deshalb lässt er sich Zeit, geht im Zimmer herum, betrachtet alles genau – bis sie ihre Ungeduld nicht mehr zügeln kann und fragt: »Ist der junge Herr zufrieden?« Er nickt gnädig. Sieht sich nochmals um: »Die Karaffe bitte ich stets mit Wasser gefüllt zu halten.«
Sie eilt durchs Zimmer, ergreift die Karaffe, verschwindet: Und ganz behutsam, lautlos, samtig, schließt sie die Tür zum Zimmer des gnädigen Herrn, der ihr die Ehre erweist, in ihrem Hause zu wohnen.
Er steht da, die Linke in der Hosentasche, den Kopf hahnengleich gereckt, wandelt durchs Zimmer und fühlt sich großartig wie der Vater. Er gelangt vor den braungerahmten Spiegel, starrt sich an und erkennt sich zuerst nicht, so bleich ist das Gesicht. Er merkt plötzlich, wie komisch er sich gibt, es zuckt um seine Lippen, und dann bricht er in lautes Gelächter aus.
Da schallt sein Lachen laut von der Tür zurück. Er fährt herum. Dort steht die Witwe Rodbertus, die Karaffe in der Hand, und biegt sich, dass ihr Busen wankt und ihr die Karaffe fast entgleitet.
Mühsam nur fasst sie sich und sagt: »Der junge Herr – macht einen Spaß – nein so was!«
Mit wohlwollendem Hochmut bedeutet er ihr, die Karaffe hinzustellen. Da schüttelt Gelächter sie plötzlich wieder, sie will es unterdrücken – schon platscht ein Schwall Wasser auf den Boden. »Au verflucht! Pardon, Monsieur Heine, wie peinlich!« Und schreit: »Ma-thil-dee!« Und Mathilde kommt, ihre neunzehnjährige Tochter, ein dralles Wesen mit blauen Augen und strohigem Haar, eine fixe Deern, mit heiterem, wollüstig vollem Munde, dessen Lippen ein wenig auseinanderstehen. Dahinter sieht Harry perlweiße feste Zähne. Witwe Rodbertus bedeutet ihr, die Lache auf dem Boden zu entfernen. Mathilde rennt hinaus, gewandt, wie es ihrer kräftigen Fülle nicht zuzutrauen gewesen wäre. Harry starrt ihr nach. Er hat sehr wohl ihren kurzen kecken Blick bemerkt. Witwe Rodbertus lobt sie dem gnädigen Herrn Harry Heine: »Ein braves Mädchen, zuverlässig und schnell. Und hübsch doch auch?«
Er nickt wohlwollend. Da flüstert sie: »Aber mit Männern – nix, sag ich! Da will sie nichts wissen, sie ist frisch wie ein Apfel, hat niemand reingebissen, nein!«
Da kommt der frische rotbackige Apfel zurück. Die Mutter bleibt als strenge Wächterin der Tugend stehen. Ernst beobachtet sie, wie die Tochter auf den Knien sorglich die Pfütze aufreibt. Harry hat den Onkel Millionär, den Park und die Putten vergessen und jenes zarte und hochmütige Mädchengebilde, das seit gestern durch sein Hirn und Herz geisterte. Hier und jetzt, da vor ihm lockt ihn das handgreifliche Leben, das prall ein Mieder füllt, gesund und von derber Röte. Die Sinnlichkeit dieses Mädchens steigt wie der Duft von Kernseife auf: stark, gesund, reinigend. Das gelbe Haar fällt über die rotglühende Wange, wie das Mädchen eifrig den Boden säubert, eine derbe Locke pendelt hinunter bis vor den Busen, der kräftig sich hebt und senkt. Harry gewahrt am Ansatz des Kleides festes und schwellendes Fleisch, und das natürliche Verlangen seiner Jugend durchbricht den Traum von Macht.
Mathilde Rodbertus erhebt sich, leicht außer Atem, strahlend mit hellen Augen. Sie knickst vor dem Neffen des großen Salomon Heine.
Wieder spielt Harry Heine seine Rolle. Er hebt freundlich die Hand: »Danke, schönes Kind!«
Damit ist sie entlassen und entschwindet, gefolgt von der Mutter, die einen verhüllt triumphierenden Blick zurückwirft. Wohlgefällig betrachtet sich Harry vorm Spiegel.
Mathilde! Ein Name, der zu ihr passt. Ein verlockendes Frauenzimmer. Doch gleich darauf ruft er sich zur Ordnung; denn vor seinem Gesicht taucht wieder die weiße Statue im Park auf. Amalie – eine Lockung, verbunden mit gefährlichem Spiel. Während Mathilde nur bereit ist, alle Wünsche zu erfüllen und damit die eigenen, ist der blitzende Geist der kleinen Amalie Heine ein Gegner, den man nicht überwinden, sondern nur gewinnen kann.
Die Sonne prallt vom Himmel. Die Steinwände der betriebsamen Stadt glühen, und der Seewind ist in der Hitze erschlafft. Keine Bewegung der Luft kühlt Harrys Stirn, der langsam Heckscher & Co. zuschlendert.
Vorm Portal, flankiert von zwei dicken Sandsteinsäulen, überfällt ihn herzbeklemmender Druck: Obwohl doch alles ganz anders ist, erinnert es ihn an Frankfurt. Warum, das weiß er nicht. Harry schließt die Augen und atmet tief, bevor er das Haus betritt. Er stößt sich ab wie ein Schwimmer.
Er schreitet die Steinstufen empor. Die kalten Wände hallen. Draußen in den Straßen ist Glut: Hier ist es kühl, so kühl, dass der Pulsschlag langsamer geht.
Zögernd steigt Harry weiter und blickt sich aufmerksam um. Männer kommen und gehen, eilig, geschäftig, verschwinden in Türen, treten aus Türen: Eifrige Buchhalter in steinernem Labyrinth. Harrys Mundwinkel zuckt spöttisch: Er steckt beide Hände in die Hosentaschen, er will nicht so aussehen! Er schlendert, jetzt nur von Neugierde erfüllt. Jemand rempelt ihn an. Eine gebeugte Gestalt mit vorgezogenen Schultern, geducktem Nacken, klugen und scharfen Schwarzaugen, die von unten hochschielen.
Harry will die Zauberformel versuchen, die schon zweimal wirkte: »Mein Name ist Heine!«
Aber der andere lässt sich nicht verblüffen. Er faucht scharfzüngig: »Ein Salomon sind Sie nicht, junger Mann!«
»Stimmt«, sagt Harry sehr höflich, »ich bin bloß der Neffe.«
»So?« Das klingt gleichgültig. »Dann folgen Sie mir!« Und, während er schon wieselrasch voranflitzt: »Ich bin Aron Hirsch.« Im Zimmer Hirschs sitzen sie einander gegenüber; ein großes helles Zimmer von steifleinenem Aussehen mit einer nüchternen Luft. Aron Hirsch blättert in Briefen und schaut schräg von unten auf: »Sie sind in der Gunst Ihres Herrn Onkels«, beginnt er feierlich, »das müssen Sie schätzen. Sie beginnen hier als Lehrling; vergessen Sie nicht, dass Sie für mich immer Lehrling sind und niemals Neffe – auch dann, wenn andere hier im Hause in Ihnen den Neffen sehen sollten. Ich werde nur die Arbeit sehen, die Leistung, den Fleiß, das Bemühen, hm. Ihre Person interessiert mich nicht – oder nur insoweit, als das für Heckscher & Co. von Belang ist. Von Belang ist beispielsweise, dass der Neffe Herrn Salomon Heines nicht mit den Händen in den Hosentaschen durchs Haus schlendert wie ein Gassenjunge...« Er räuspert sich und blickt von unten her abermals Harry Heine an. »Sie werden das Haus kennen müssen, kommen Sie mit!«
Sie eilen durch die Gänge, Türen klappern, Harry wird dem und jenem vorgestellt, es geht alles so schnell, dass er keinen Eindruck von den Gesichtern hat. Zwischendurch erläutert Hirsch, was hier getan wird und dort.
Harry versucht, sich alles einzuprägen.
Dann steht Aron Hirsch, beugt sich vor, verneigt sich geradezu vor dieser einen Tür und klopft bittend mit gekrümmtem Finger.
Sie dürfen das Zimmer Salomon Heines betreten. Dessen breites festes Gesicht ist unbeteiligt. Er wendet sich an Hirsch, und während des Gesprächs, das folgt, ist Harry für die beiden nicht anwesend, keiner beachtet ihn.
»Hören Sie, Hirsch, im nächsten Jahre wird die Börse zu New York eröffnet. Wir werden unsere Kunden und Geschäftsfreunde prüfen. Man wird überlegen, wer uns in New York vertritt. Ich bin sicher, dass Rothschild schon längst seine Nase drinstecken hat, aber wird er mir schreiben darüber? Reden Sie nicht davon.«
Eine Debatte entspinnt sich. Namen fallen. Das Bankhaus Heckscher & Co. ist mit allen Teilen der Welt verbunden, und vor Harry entwickelt sich ein Schlachtplan, der alle Fronten in Bewegung setzt. Nichts Abenteuerliches ist dabei, keine Spekulation im verwegenen Sinne: Salomon Heine beschäftigt sich nicht mit Aktien, obwohl sie in dieser Zeit die große Mode sind und obwohl sie über Nacht Millionäre machten. Es ist die Zeit der unvorstellbaren Verlockung, des Glaubens an einen unendlichen Aufstieg der Menschheit, ein gewaltiges Wettrüsten zur Beherrschung der Natur; es ist schwer, dieser Zeit zu widerstehen, die gekennzeichnet ist durch eine atemberaubende Fülle von Erfindungen und Entdeckungen innerhalb von wenigen Jahrzehnten: James Watt konstruierte die erste Dampfmaschine, Cartwright den mechanischen Webstuhl; Lavoisier revolutioniert die Chemie; Murdock erfindet das Leuchtgas; Vaughan ergrübelt das Kugellager; Senefelder entwickelt den Steindruck; König konstruiert die Buchdruck-Schnellpresse Sämmering erbaut den ersten elektrischen Telegrafen, Stephenson die Lokomotive, Fulton das Dampfschiff: Hunderte, Tausende von Hirnen gestalten die Welt neu. Wer kann sich dem Sog entziehen? Überall auf der Erde werden Bankhäuser errichtet, Börsen erbaut, sogar in Moskau. In den Banken sitzen die Männer, die nur darauf warten, dass einem Hirn eine neue Maschine entspringt: Sie werden sie vervielfältigen, werden sie in Gang setzen, werden Hände beschäftigen, werden die Welt versorgen mit neuen Erzeugnissen vom Abendland bis zum Morgenland – und sie werden verdienen, so viel, dass sie Kaiser und Könige, und Kriege und Frieden finanzieren können.
Man weiß jetzt, dass Morphium aus Opium gewonnen wird.
Man wird ein Mittel benötigen, um Schmerzen zu lindern... Krupps Gussstahlfabrik wird errichtet. Das freilich ist’s nicht, was den nüchternen Salomon Heine bewegen könnte, nicht mit Aktien zu spekulieren: Eher schon mag es der Blick auf eine neue untergründige Unruhe sein, die mit diesen Entdeckungen und Erfindungen aufgetaucht ist, die plötzlich sichtbar wurde und die da und dort aus dem Boden bricht wie die Lava aus einem Vulkan: Unruhen in Glasgow, Maschinenstürmer in England... Maschinenstürmer... Es mag die Bedenklichkeit Salomon Heines nicht gemindert haben, dass ein englisches Gericht sie zum Tode verurteilte: Denn diese Unruhe sitzt offenbar in den Maschinen selbst und wird immer neu produziert mit jeder Maschine, die auf den Markt kommt.
Der Markt! Das ist das Schlachtfeld Salomon Heines!
Auf dem Markt braucht man Geld! Dieses Geld wird man immer bei Salomon Heine finden, der sich in Devisen auskennt, sie rechtzeitig aufkauft, sie rechtzeitig abstößt: Er hat dafür die Nase eines Jagdhundes.
In New York der Dollar? Er wird steigen! Deshalb setzt Salomon Heine heute sein Schlachtfeld in Bewegung, Ordres und Gegenordres zum Kauf und zum Verkauf werden hinausgehen; und erst Monate später wird man erkennen, welcher genialer Schachzug dem Bankhaus Heckscher & Co. einige Hunderttausende einbrachte.
Salomon Heine sitzt in seinem Sessel, einem Holzstuhl mit Armlehnen und keinesfalls sehr bequem. Er spricht stoßweise, mit Pausen dazwischen, in denen man der Bewegung seiner Stirn anmerkt, wie dahinter Knoten an Knoten ein Gedankenfaden geknüpft wird. Ist er sich seiner Sache ganz sicher, wirft er einen schnellen Blick auf sein Gegenüber; Aron Hirsch ist Salomon Heines Geschäftsgewissen.
Kaum wagt Harry zu atmen, er ist hingerissen von diesem Schauspiel, er bewundert den Onkel grenzenlos. Sein Herz schlägt schneller: Er weiß plötzlich, dass die devote Huldigung der Witwe Rodbertus lächerlich ist, dass er sich von dergleichen nicht verführen lassen sollte... Verführen? Ja, aber eine Amalie, die ihn nicht als den Neffen ihres Vaters zu bewundern reizvoll findet: Sie zu erobern, mein Gott, ist eine Aufgabe so groß...
Plötzlich verstummt Salomon Heine und sieht ihn an, und er sagt: »Lass uns allein, Harry. Du erwartest Herrn Hirsch in seinem Zimmer.«
Harry verlässt den Raum auf Zehenspitzen.
Kaum hat sich die Tür geschlossen, fragt Salomon Heine: »Was meinen Sie, Hirsch?«, und zeigt mit dem Kopf zur Tür.
Aron Hirsch hebt die Schultern. Sein Mund wird klein und faltig. »Was soll ich sagen? Ich habe ihn nur gesehen, als er nicht wusste, wer ich bin. Ich glaub nicht, dass ein Bankier in ihm steckt.«
»Warum?« Das ist eine kalte, sachliche Frage, wie Salomon Heine sie stellt, wenn es um die Bonität eines Kunden geht.
Abermals hebt Aron Hirsch die Schultern. »Ich kann es nicht beweisen. Aber ich meine, ich habe einen Blick dafür.«
Salomon Heine lacht vor sich hin. Breit, behäbig und zufrieden sitzt er in seinem unbequemen Holzsessel und sagt mit vertraulicher Freundlichkeit: »Man braucht keinen Blick dafür zu haben. Ein Jüngelchen, ganz intelligent, meine ich, jedoch ohne Ernst.« Er seufzt. »Ich glaube, er schlägt doch meinem Bruder nach. Meine Schwägerin ist eine sehr tüchtige Frau. Was soll ich machen? Ich wollte den Harry nicht in Hamburg sehen, mein Gott, aber ich kann ihn nicht überall bei den Geschäftsfreunden auftauchen lassen mit meinem Namen, und er versagt, wie beim Rindskopf. Er heißt nun mal Heine, und man wird sagen: Seht ihr, der Neffe vom Heine – was für’n Rindvieh! Wenn man Bankier ist, muss man auf seinen Namen achten; so ein Bengel kann einen mehr kosten, als man je zusetzt, wenn man für seinen Unterhalt sorgt.« Er überlegt und sagt dann: »Was den Harry betrifft, das wollen wir so regeln: Er genießt keinen Vorzug. Er ist eitel, glaub ich. Deshalb muss man es ihm schwermachen. Sorgen sie dafür, Hirsch. Und sonst...«, er hebt die Hand und lässt sie fallen, »...sonst sorgen Sie weiter dafür, dass er ein anständiges Auskommen hat.« Und schnell hebt er abwehrend die Hände: »Nein, nein, nicht zu viel Geld auf die Hand, aber bei seiner Wirtin die Dinge regeln und so weiter... Ich werde ihn wohl gelegentlich zu uns einladen, nicht zu oft, nur so, dass man nicht auf mich mit Fingern zeigt und sagt: Sieh mal an, der Salomon Heine will von seinem Neffen nichts wissen, wer weiß, was der Salomon Heine mit seinem Neffen hat... Ich werde für ihn sorgen müssen, sparsam jedoch, damit er begreift, er bleibt immer abhängig und muss dankbar sein.«
Aron Hirsch nickt gemessen. »Ich werd’ ihm ins Gewissen reden, immer wieder, und ihm klarmachen, dass der Name Heine ihn verpflichtet.«
Harry Heine verlässt Abend um Abend müde die Geschäftsburg Heckscher & Co., ohne freilich zu wissen, was er nun eigentlich gelernt hat. Aron Hirsch beschäftigt ihn, doch es sind läppische Dinge, die man ihm aufträgt. Sie ermüden, erfordern große Aufmerksamkeit – und Hirsch lässt alles, was er tut, kontrollieren. Aron Hirsch sitzt missmutig und strenge vor ihm und sagt: »Ich trage die Verantwortung, Ihr Herr Onkel will, man muss als Bankier gerade in den Kleinigkeiten sehr sorgsam sein, es stehen Millionen auf dem Spiel.«
Während solcher Vorträge droht Harry einzuschlummern. Er langweilt sich und träumt...
Amalie Heine hat er seither nicht wiedergesehen. Wenn er jedoch Wechsel registrieren muss, sieht er sie: verheißungsvoll und abwehrend zugleich!
Salomon indessen lächelt nur. Harry muss die Ehre zu schätzen wissen, dass er im Bankhaus Heckscher & Co. arbeiten darf, er muss auf den Knien danken, wenn er eine Einladung nach Ottensen erhält, er muss wissen, dass er niemals und nichts verdient, sondern dass es immer Gnade ist, Freundlichkeit zum armen Neffen um seiner Mutter willen.
Das spürt Harry bald. Er beginnt, zornig zu werden. Er empört sich, wenn er allein in seinem Zimmer hockt und sich völlig verlassen vorkommt; aber ein zweites Mal kann er nicht zurück nach Düsseldorf. Die Nachrichten von daheim lauten, so vorsichtig sie abgefasst sind, nicht erfreulich: Das herrliche Nankingtuch verkauft sich schwer, Samson Heine muss Abschläge gestatten, und die siebeneinhalb Prozent Zinsen lasten auf ihm. So schreibt die Mutter in ihrer genauen und pünktlichen Art. Jede Woche erhält er einen Brief von ihr.
Samson hingegen lässt selten von sich hören; ein freundliches Gekritzel, und stets nur eine Frage: Wie stehst du mit Salomon?
Sieh zu, wie du am schnellsten zu einer Million kommst, du hast das Zeug dazu, und Salomon wird es rasch erkennen, er war schon immer für hochfliegende Pläne.
Sechstes Kapitel
Eines kann ihm freilich niemand verbieten: Von Millionen zu träumen! Wenn er’s bei Heckscher & Co. nicht darf, so kann er sich einen anderen Platz suchen. Den findet er. Es ist der Jungfernstieg, die Stelle, an der bei seiner Ankunft in Hamburg alle Fahnen gehisst wurden. Dorthin schlendert er, wenn die Sonne sich senkt. Süß duftet die Lindenallee am Alsterbassin. Diese Allee wird begrenzt von hüfthohen, zuckerhutförmigen Steinen, zwischen denen doppelte Eisenketten hängen. Dahinter rollen, an den hohen Häusern mit den verschlossenen hagestolzen Fronten vorüber, Kutschen, die laut übers Kopfsteinpflaster kollern. Aber Harry schaut ins goldgepunktete Sonnenwasser hinüber, auf dem weiße Schwäne schwimmen. Ins Wasser hineingebaut sind zwei zeltartige, lustige Kaffeehäuslein; Harry strebt einem davon zu, dem Schweizerpavillon, und dort lümmelt er sich auf einen Gartenstuhl, ein Glas Limonade neben sich. Ja! So ist das Leben schön! Was kümmert ihn hier Banco? Nur so sitzen, nichtstuerisch die Welt betrachtend, die da vor ihm flaniert und sich in Bewegungen und Gesichtern, eitel gerafften Röcken und verwegen zurückgeschobenen Zylinderhüten verrät, so sitzen und Limonade trinken, das ist besser als ein Millionärslehrling bei Aron Hirsch zu sein, und es ist wahrhaftig viel besser als ins Parkparadiesgärtlein von Ottensen nicht eingelassen zu werden, obwohl man ein Neffe des großen stolzen Salomon Heine ist.
Es ist besser, wenn auch dort vielleicht sogar eine Diana auf einer Bank sitzt und den Blick, frei von allem Hochmut und Spott, auf eine marmorne Gestalt im grünen Gebüsch richtet. Denkt er daran, ist er plötzlich sicher, dass sie auf ihn wartet.
Er kommt auf verrückte Gedanken: Man müsst’ ihr eine Botschaft schicken... Er verliert sich in Träumereien, die immer unwirklicher werden: Eine Botschaft! Er entwirft sie, er spielt mit den Worten dieser Botschaft, er verliebt sich in diese Worte, er wiederholt sie, und er bemerkt nicht, dass seine Lippen sie flüstern... Er muss ihr klarmachen, warum er sie liebt. Er beginnt, sie zu beschreiben: Und da steht sie vor ihm, mitten auf dem schmalen Weg vorm Pavillon, mitten im bunten freundlichen Gedränge der Spazierenden, steht, hebt das Köpfchen, wendet es suchend hin und her, entdeckt ihn, streckt die Hand hoch, ein freudig-überraschtes Lächeln huscht über ihre Züge, sie winkt ihm mit einem Taschentüchlein, ein süßer Schmerz durchzuckt sein Herz...
Ein Traum! Der Schweizerpavillon ist ihm verleidet: Eine Geisterbegegnung – nun gut! Aber wenn der Geist ein schönes Mädchen, ein geliebtes Mädchen ist, das sich verflüchtigt wie Rauch...? Er geht heim. Der Anblick der Witwe Rodbertus ist erfreulich, wirklich, und auch Mathilde ist keine Sylphide: Ihr Blick, schon keck, scheint nicht darauf hinzudeuten, dass sie sich zu verflüchtigen beabsichtigt.
Doch Harry zieht sich zurück und grüßt nur kurz. Die Frauen blicken verwundert und sehen sich vielsagend an: Der Neffe des großen Heine hat Sorgen, natürlich, wie sollte der Neffe eines Millionärs keine Sorgen haben, da er Reichtum auf Reichtum scheffeln muss.
Der ganze Reichtum Harrys ist ein Taler. Wild entschlossen wirft er ihn in die Luft, und während der Taler aus seiner Hand gleitet und auf den Fußboden klirrt, hat Harry es zu Ende zu denken gewagt: Ist’s der Adler, fahr ich morgen mit der Frühpost nach Düsseldorf, ohne was zu sagen, ist’s der Kopf, bin ich morgen bei Amalie!
Der Taler rollt auf dem Rande, als wolle er ihn verspotten, klirrt gegen die Fußleiste, taumelt und rollt zurück. Harry starrt. Der Taler kreiselt auf dem Rand, dass man nicht zu erkennen vermag, welche Seite oben zu liegen kommen wird:
Dann ist’s der Kopf!
Morgen werd’ ich Amalie sehen!
Aron Hirsch betrachtet ihn schräg: »Sie sehen müde aus, Herr Heine! Blaue Ränder untern Augen. Es ist nicht gut, am Jungfernstieg zu sitzen...« Er kneift die Lippen. Dann sagt er: »Ihr Onkel lässt Ihnen sagen, Sie sollen ihn in seinem Zimmer aufsuchen.« Harry sieht ihn unsicher an: Soll er zur Verantwortung gezogen werden? Unwillig hat Salomon ihn nach Hamburg genommen, kein rühmenswertes Glied der Familie. Soll er ihm sagen, dass er, der Sohn des leichtfertigen Bruders Samson, das Mädchen dort in Ottensen begehrt, die geliebte Tochter? Kann der Onkel einen Wechsel auf die Zukunft annehmen, der aller Wahrscheinlichkeit nach niemals eingelöst werden wird?
Langsam erhebt Harry sich von seinem Schemel, wortlos verlässt er das Zimmer, um zu seinem Onkel zu gehen. Der Blick Aron Hirschs folgt ihm unzufrieden aus den Augenwinkeln.
Salomon Heine sieht ihn mit unbehaglichem Gefühl hereinkommen. Er empfindet unbestimmt eine Belästigung und fragt missmutig: »Du fühlst dich wohl in Hamburg?«
Und schon hat Harry alle Bitterkeit vergessen. »Ja. Als Clerk – ich habe keine Sorgen. Meine Unterkunft ist gut.«
»Als Clerk?!«
»Als Lehrling bei Heckscher, wenn du willst. Nur, was ich dich lange fragen wollte: Wäre es nicht besser, ich nähme einen anderen Namen? Tauschte Heine, na, vielleicht gegen Hirsch?« Der Onkel starrt ihn fassungslos an. Dann fragt er: »Was soll das heißen?«
»Du hast mich gefragt, ob ich mich wohl fühle in Hamburg. Darf ich dich fragen, ob du dich wohl fühlst? Die Leute reden schon darüber, was das für ein Millionär ist, der seinen Neffen tagelang nicht ansieht, der sein Haus vor ihm verriegelt wie vor einem Bettler. Die Leute finden, der Millionär sei geizig. Sie bemitleiden den jungen Mann, den sie gut leiden mögen. Sie sagen: Der dicke Bauch frisst nicht nur Dukaten, der frisst noch seine Nahverwandten; aber daran wird er würgen, so wahr Gott straft!« Salomon Heines Antlitz ist blutrot geworden, und mit Blut steigt ihm Zorn zu Kopf und presst die Schläfenadern blau heraus. Er hält mühsam an sich. Und sagt zwischen gepressten Lippen: »Du bist unverschämt.«
Die Münze ist gefallen, empfindet Harry, jetzt kann man nichts ändern. Er sieht den Onkel nachdenklich an und fragt: »Soll ich verschämt sein?!«
Der lehnt sich zurück, entspannt sich, die Ader schwillt ab. Er hebt plötzlich die Hände hoch, lässt sie auf die Armlehnen fallen, verdreht die Augen nach oben und sagt: »Mein Gott, was hab’ ich für’n Neffen! Harry, entweder wirst du ein Rothschild – oder der letzte Stiefeldreck!« Und sieht ihn prüfend an: »Ich glaube, du bist verrückt.«
Jetzt ist Harry alles gleichgültig. Er setzt auf eine Karte. Er zuckt die Schultern. »Na schön. Ein Waisenhaus hast du schon gebaut, ein Krankenhaus baust du – da wird dein Name für alle Ewigkeit bleiben. Dann bau auch ein Irrenhaus für mich. Wo gibt es das auf der Welt: Ein Onkel, der seinem Neffen ein Irrenhaus baut!«
Gerade diese Frechheit aber ist es, die auf Salomon Heine Eindruck macht. Er beruhigt sich schnell und denkt: So ein junger Hund! Immerhin, er duckmäusert nicht, auch nicht vor den Millionen. Vielleicht trägt er den Namen Heine doch mit Recht, und es steckt etwas in ihm. Er erinnert sich an das gestrige Gespräch mit Frau Betty und hebt eine Braue: Frauen fühlen so was! Er sagt: »Sprechen wir mal vernünftig!«
Harry spielt seine letzte Karte aus: »Wie mit dem Aron Hirsch?« Da setzt sich der Onkel im Stuhl zurück.
»Hm. Nein. Wie Heine mit Heine!«
Salomon Heine erhebt sich, tut ein paar Schritte gewichtig hin und her und bedenkt die Rede und Gegenrede gestern Abend in Ottensen, ehe er zu sprechen beginnt. Was sagte Betty plötzlich auf der Terrasse? »Was macht Harry eigentlich, Salomon? Du sprichst nicht darüber. Warum sehen wir ihn hier nie mehr, Salomon? Er ist schließlich ein naher Verwandter. Man wird sich wundern, dass er nie bei uns ist. Gelegentlich, meine ich, könntest du ihn mitbringen. Vielleicht träumt er dann weniger, Salomon. Abend um Abend auf der Großen Bleiche, fremd in der Stadt...«
Er erwiderte hart: »Ich hatte kein Zimmer auf der Großen Bleiche, das mein Onkel bezahlte.«
»Mag sein, Salomon, ich weiß. Aber er hat nun einmal dich!«
Plötzlich lächelte sie. »Ich habe darüber nachgedacht, Salomon, und ich verhehl es dir nicht. Warum auch? Amalie fragt mich nach Harry – was soll ich dir sagen? Sie findet ihn witzig und nett, ein Spielzeug, an dem sie die Krallen wetzen kann, die kleine Katze. Warum sollen wir ihr die Freude nicht machen, zumal Harry sicher gern die Maus spielen wird? Ihre Geschwister? Therese ist zu weich, da kann sie nicht funkeln und blitzen, es ist kein Stein, an den sie schlagen kann. Karl ist zu jung, er ist ihr lästig. Und mir ist’s lieber, sie reibt sich jetzt mit sechzehn an einem jungen Mann, dem sie überlegen ist, als dass unsere Pläne ein Jahr später durchkreuzt werden, weil sie eine Null mit wehendem Haar bewundert.«
Der Bankier rechnete: Plus, Minus, Plus. Er hatte sich entschlossen.
»Wie Heine mit Heine also. Was willst du anders haben als jetzt, Harry?«
Darauf ist Harry nicht gefasst. Er hat erwartet, dass Salomon Heine ihm sagen werde, was er anders wolle – und in keinem herzlichen Ton! Nun, herzlich spricht er auch jetzt nicht; aber wohlwollend.
Also sagt er es ihm: »Mein Taschengeld reicht für eine Limonade im Schweizerpavillon. Vielleicht verdiene ich noch nicht mehr, man könnte mir jedoch einen kleinen Vorschuss auf die Zukunft geben. À fonds perdu, Onkel, falls ich ihn nicht abdecke!«
»Schön, Harry, der Aron Hirsch wird aufpassen, dass nichts passiert. Aron Hirsch, weißt du, ist seit zwanzig Jahren bei mir: Nicht ein einziges Mal hat er versucht, mich zu hintergehen, zu übervorteilen, gegen mich zu intrigieren.«
»Da müssen wir eben zwanzig Jahre abwarten, bis du mir vertraust, Onkel!«
Salomon verzieht den Mund und hebt die Schultern: »Du bist mein Neffe, sie werden sich an dich ranmachen...«
Auf einmal spürt Harry einen wilden Stich in der Schläfe, unwillkürlich greift er hin, schmerzverzerrt das Gesicht... Wirklich erschrocken fragt der Onkel: »Was ist dir, Harry?« Der sucht sich zu beherrschen, bemüht sich, diesen stechenden
Schmerz niederzuringen. Mühsam antwortet er: »Kopfschmerz, Onkel, der kommt manchmal plötzlich, überfällt mich, aber es geht gleich wieder vorbei.«
Aufmerksam mustert ihn Salomon Heine. Dann sagt er bedächtig: »Du solltest zum Arzt gehen, vielleicht Bäder nehmen, du bist zu jung, um zu leiden.« Er überlegt: »Hast du Post aus Düsseldorf? Wie steht’s dort?«
Harry wundert sich: Welch plötzlicher Sprung. Er berichtet. Das Geschäft mache sich nicht sehr gut, die Leute wollten nicht kaufen, hätten kein Geld...
Der Onkel nickt: »Ja, es fängt an. Das wird schlimmer. Es haben zu viele auf Hausse spekuliert. Das ist nach jedem Krieg so, der Bedarf ist da. Geld läuft um, die Leute gründen Geschäfte, große Geschäfte, Windgeschäfte, Harry, und alles geht großartig, und alles spekuliert weiter auf Hausse, bis auf ein paar Kluge, die rechtzeitig auf Baisse spekulieren: Denn die muss ja kommen, es ist nur eine Frage der Zeit. Die Windeier platzen, und wenn es mal losgeht, brennt’s bald überall. Da kann der nicht bezahlen, er reißt die Geschäftsfreunde mit, die ihm Kredit gaben... Man soll vorsichtig sein mit Kredit. Dein Vater hat auf Hausse spekuliert, Harry, er hat viel gekauft in Frankfurt, zu viel.«
Harry verteidigt ihn, obwohl er spürt, dass der Onkel recht hat. »Er hofft, es werde sich bessern...«
»Er hofft immer. Alle hoffen immer! Auf Baisse spekulieren, Harry, auf Baisse!«
Bedachtsam fügt er hinzu: »Nicht nur im Geschäft: Überall! Sie jubeln, weil sie den Napoleon geschlagen haben, Harry. Sie haben die Französische Revolution geschlagen und haben es nicht begriffen! Sie wollen die Freiheit der Französischen Revolution hier verwirklichen, ach, die Helden! Sie sind kurzsichtig! Metternich hat jetzt die Soldaten – die anderen haben nur die Tabakspfeifen, ihre Träume und Erinnerungen an den heldenhaften Freiheitskrieg. Sie haben Metternich befreit, das wissen die Narren noch nicht! Sie spekulieren weiter auf Hausse in Freiheit – und das Geschäft wird nicht gehen. Hausse geht nicht, es ist eine Fehlspekulation. Spekulier du in Baisse, Harry, das ist auch ein Geschäft, wenn man es rechtzeitig macht.«
Den jungen Harry beginnt es zu frieren. »Ich hab’ mich freiwillig gemeldet, damals in Düsseldorf, als der Napoleon von Elba zurückkam; aber sie haben mich nicht genommen, ich war zu jung!«
Der Bankier lacht kurz auf: »Das war auch auf Hausse spekuliert, damals, auf Napoleon-Hausse.« Plötzlich ist er verändert: »Na, Schluss! Überleg’s dir! Ich wollte es dir sagen.« Er dehnt die Worte: »Du bist ja mein Neffe. Lass dir das durch den Kopf gehen. Ich habe Erfahrung. So! Und in Düsseldorf geht’s schlecht? Sag, sind das deine Kopfschmerzen?«
Langsam steht Harry auf. Sein Gesicht ist ernst. Er sieht Salomon ruhig an: »Ich lüge, Onkel! Meine Mutter fragt besorgt nach mir. Sie hat Kummer in Düsseldorf. Meinetwegen sollte sie keinen haben! Deshalb schreibe ich, es gehe mir gut, du und die Tante sorgten euch um mich, fast jeden Abend sei ich bei euch...« Seine Hand zittert leicht. Wieder spürt er den bohrenden Schmerz in der Stirn! Ein leichter schwarzer Flor zieht vor seine Augen. Er setzt sich langsam.
Salomon Heine schweigt lange. Dann sagt er kurz: »Meine Frau lässt dir ausrichten, dass du für morgen Abend nach Ottensen eingeladen bist. Mach’ dich ordentlich zurecht, wir haben teure Gäste.« Er lacht trocken auf. »Graf Blücher ist auch dabei. Du wirst ihn kennenlernen, das kann dir nützlich sein.« Harry sieht ihn überrascht an. »Also morgen in Ottensen. Und Hirsch wird dir zusätzlich einen Scheck geben; ich sag ihm Bescheid. Dass die Leute nicht reden...«
Harry reicht ihm die Hand, ihm ist schwindlig, er will sich bedanken.
Schroff wehrt Salomon ab: »Lass das; andere machen auch keine Worte, sondern nehmen’s Geld!«
Siebtes Kapitel
Es ist still an der Abendtafel in Ottensen. Salomon Heine liebt es nicht, wenn gesprochen wird. Er isst langsam, voll Genuss. Gedanken an geschäftliche Dinge sind verbannt: Das gehört nicht hierher. Hierher gehört nur seine Frau Betty, die er so herzlich liebt, wie es seinem kühlen Verstände möglich ist, hierher gehören seine Kinder; und er ist zufrieden, wenn er sie prüfend anschaut. Es macht ihm Freude nachzuspüren, wo er verborgen ist und wo seine Frau. Er kann sich stundenlang ernsthaft mit ihnen unterhalten; er versucht, ihren Verstand hervorzulocken, und freut sich kindlich, wenn sie ihn überlisten. Am liebsten mag er’s von Amalie. Er fühlt sich betreut hier draußen in Ottensen, zufriedene Ruhe ist in ihm, Stolz auf den Besitz, den er selbst erarbeitet hat, auf dieses Haus, auf die kostbare Einrichtung, auf den gepflegten Park, auf die Kunstwerke.
Er sagt: »Ich habe den Harry eingeladen. Ich denk’, er wird keine schlechte Figur geben. Er sieht ordentlich aus, fast zu weich – etwas blass, meine ich. Beinahe kränklich, er sagt, er habe oft Kopfschmerzen. Ich lasse ihm von Aron Hirsch einen Scheck geben, soll er was tun für die Gesundheit, dass es ihn nicht so packt wie meinen Bruder. Aron Hirsch hat keine gute Meinung von Harry. Er sei ein Träumer, und er zeige zu wenig Interesse fürs Geschäft. Er müsste mal wachgerüttelt werden.« Betty Heine lächelt: »Amalie könnt’ ihn belehren.«
Amalie sieht auf den Teller, verzieht den Mund, hebt dann den Kopf und lächelt spöttisch: »Ich taug’ nicht zur Erzieherin, Mutter, und zum Kinderfräulein auch nicht. Er braucht beides, glaub’ ich. Aber aufstacheln will ich ihn, damit er munterer wird!«
Zwei Tage und eine Nacht verbringt Harry voll aufgeregter Verstörung. Er grübelt über Salomon Heines Worte, grübelt über die Einladung nach. Er steht oft vor dem Spiegel und starrt sich an, und sein Gesicht verwandelt sich ihm in das Salomon Heines, breit, schmallippig, fest und mit hart forschenden Augen. So sieht ein Mann des Erfolges aus.
Es klopft. Versunken in seine Träume, hört er es nicht. So öffnet sich schließlich die Tür. Da wird er aufmerksam, wendet den Kopf und sieht Mathilde. Noch hat er die herrische Spiegelmaske vor dem Gesicht. Mathilde Rodbertus kennt ihn so nicht. Sie starrt verblüfft. Will er sich beschweren? Aber er sieht so komisch aus, gewiss macht er nur einen Spaß. Da kichert und prustet sie los. Er versucht, sein Gesicht zu wahren. Plötzlich jedoch sieht er in diese Stube, als sei er ein Fremder, und er gewahrt sich selbst neben dem Spiegel mit Bankiersmiene und würdigem Gehabe, als sei er vierzig; er sieht an der Tür das kichernde Mädchen; er lacht und ist wieder Harry Heine, der nette Neffe des Millionenonkels, der ihn nach Ottensen eingeladen hat.
Er wird ganz übermütig, rennt zu der Kichernden, die sich fast nicht zu halten weiß, fasst sie, pfeift und tanzt ein paar Menuettschritte, doch das will nicht gelingen. Sie kichert immer noch, hängt schwer in seinen Armen und legt den Kopf an seine Brust. Er besinnt sich, bleibt stehen, rückt sie zurecht, geht ans Fenster und lacht nicht mehr.
Sie hebt den Zeigefinger: »Schwindelig, Herr Heine? Die Mädchen laufen Ihnen nach, da wird man schwach...« Sie kichert wieder. »Was Wunder, wenn der Onkel ein Millionär ist...« Und mit einem begehrlichen Augenleuchten fügt sie hinzu: »Ach, Herr Heine, ich möcht’ so gern mal tanzen gehen. Wir tanzen bis um zwei, drei – und dann gehen wir nach Hause, es wird bestimmt sehr schön...«
Harry spürt das Versprechen. »Ich hab’ kein Geld«, sagt er grob. Einen Augenblick nur ist sie enttäuscht, dann sagt sie strahlend: »Ach, da borgt Mutter gern. Sie sind uns ja sicher, wo ihr Onkel doch Salomon Heine ist. In Ottensen bin ich schon gewesen: Mein Gott, ist das schön! In so einem Haus möcht’ ich wohnen und in so einem Park spazieren. Haben Sie in Düsseldorf auch so eine Villa und so einen Park?« Ihre Augen leuchten vor Sehnsucht.
Er schürzt verächtlich die Lippen. »Mädchen, was ist Hamburg! In Düsseldorf haben wir die Bäume in unserem Park mit goldenen Äpfeln behängt, damit es schöner aussieht, und die Sonne spiegelt sich drin. Und groß sind die Äpfel!« Er sieht sich um, findet nichts Vergleichbares, sieht sie an, und ihm fällt ein: »So groß!« Er zeigt auf sie. Unwillkürlich senkt sie die Augen, sieht ihre starken Brüste und staunt: So groß, mein Gott! Und ist ganz gläubig.
Ihn rührt das so, dass er sich schämt, und er sagt sanft: »Ich muss noch allein sein. Morgen muss ich nach Ottensen zu meinem Onkel.«
Verwirrt knickst sie tief und rennt verwirrt weg.
Harry steht blass am Fenster: »Sie bringt mich zum Lügen, die Kleine.« Er sinnt angestrengt darüber nach, irgendwas ist dahinter, das er nicht herausbekommt: Den Millionär glauben sie nicht, aber die goldenen Äpfel, das Unwahrscheinlichste, das Phantastischste!
Wie er sich vom Fenster entfernt, spiegelt sich in der Scheibe sein Gesicht. Ihm aber scheint es nicht sein Gesicht zu sein, sondern Amalies, das voll Spott ihn verfolgt. Immer, wenn die Stunden so müde verrinnen, taucht es auf, leicht zu verscheuchen, wie ein Schmetterling – dann fester, greifbarer. Es bleibt, und wenn er mit Aron Hirsch spricht und ihn ansieht, ist zwischen ihnen ihr Gesicht und nickt oder lächelt oder höhnt zu dem, was er sagt. Das Gesicht lässt sich nicht vertreiben. Da gibt er’s auf, sich zu wehren. Er duldet das Gesicht, und allmählich gewöhnt er sich daran: Es ist sein steter Begleiter, und auch, wenn er die Alster entlanggeht, begleitet es ihn. Es begleitet ihn bis zu Heckscher & Co. So nah ist es, dass er schließlich nur noch vor einem Angst hat: Es könnte sich entfernen, es könnte ihn allein lassen! Jetzt ist er es, der das Gesicht nahe zu sich zwingen will. Er versucht, sich deutlicher an jenen ersten Tag in Ottensen zu erinnern, er versucht, sich das alles sichtbar zu machen, das Haus, den Park... Er kritzelt auf einen Zettel, wie es damals war; der Federkiel sträubt sich und spritzt. Zornig bewegt er ihn und schreibt...
Plötzlich tönt Hirschs Stimme hinter ihm: »Herr Heine!«, und er schlägt das Buch auf, findet den versteckten Zettel, hält ihn dicht vor Augen, liest, bewegt dabei die Lippen, liest lange... Harry ist blass. In der Schläfe fängt der Schmerz wieder an zu bohren. Er verbeißt ihn. Er steht unbewegt und verstockt. Endlich schielt Hirsch über den Zettel und flüstert: »Und mitten in dem Blumenland ein kleiner Marmorbrunnen stand, da schaut’ ich eine schöne Maid...« Er hält eine Sekunde inne, legt den Zettel nachdrücklich wieder auf das Pult, klappt das Buch zu und sagt: »Das ist unbezahlbar, Herr Heine!« Er sagt es mit Nachdruck, zieht einen Scheck aus der Tasche und legt ihn aufs Pult. Harry erkennt: Es ist der versprochene Scheck von Salomon Heine, und er ist nicht gering dotiert.
Aron Hirsch blickt ihn mit zusammengekniffenen Augen an und sagt anzüglich: »Selbst damit ist das unbezahlbar!«
Er geht. Aber Harry Heine weiß, dass Aron Hirsch ihn verachtet.
Achtes Kapitel
Der Kutscher salutiert mit dem Peitschenstiel, als er die Adresse hört, Ottensen! Steif sitzt er auf dem Bock. Der Wagen holpert kläglich durch die Straßen, doch Harry thront königlich, blickt rechts und links, grüßt völlig Unbekannte, um sich an ihrem Staunen zu weiden, winkt mit lässig halb erhobener Hand in vorüberfahrende Droschken.
Er fühlt sich als Hamburger Bürger, und das ist viel! Hamburger Bürger kann nur werden, wer sich mit 3.000 Mark banco fünf Jahre lang eingesteuert hat oder Grundstückseigentümer ist. Dann darf er für einen Bürgerschaftsabgeordneten seiner Wahl stimmen, kann mit neunzehn anderen Mitglied des Bürgerausschusses werden, der die Verfassung der Hansestadt überwacht und alle ihre Gesetze und Verordnungen, ist also ein großer Mann in der großen Stadt Hamburg!
Vor der Heine-Villa wird der Kutscher entlohnt. Noch einmal fühlt sich Harry groß, als er ihm ein angemessenes Trinkgeld gibt und der Kutscher achtungsvoll grüßt.
Die Sonne steht noch flach am Himmel. Sie blendet ihn, wie er langsam den Weg durch den Garten zum Hause schlendert. Er täuscht Gelassenheit vor, sein Herz hämmert.
Möglich ist’s, dass er in einer der nächsten Stunden sein
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Werner Steinberg/Apex-Verlag.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx (nach Motiven).
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Mina Dörge.
Proofreading: Mina Dörge.
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 07-21-2021
ISBN: 978-3-7487-8934-5
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