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Leseprobe

 

 

 

 

PAT A. BRISCO

 

 

Das Schattenvolk

 

Roman

 

 

 

 

Apex Horror, Band 59

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS SCHATTENVOLK 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Sie leben unter uns wie brave Bürger. Aber in gewissen hellen Mondnächten geschieht mit ihnen etwas Unheimliches: Sie verwandeln sich in schreckliche Vampire, Werwölfe, Hexen und Hyänen, auf einsamen Waldlichtungen geheimnisvolle Beschwörungsformeln murmelnd. Dann ist nichts Lebendes vor ihnen sicher, denn sie dürsten nach dem warmen Blut ihrer Opfer.

Detektiv Carl Denner ist diesem Schattenvolk auf der Spur. Im unterirdischen Labyrinth der Ghuls erwartet ihn ein Inferno, dem noch niemand entkommen ist. Die Ungeheuer beherrschen alle magischen Kräfte, aber er bekämpft sie mit den gleichen Mitteln, denn er ist einer von ihnen - ein Wolfsmensch...

 

Der Roman Das Schattenvolk der US-amerikanischen Schriftstellerin Pat A. Brisco erschien erstmals im Jahr 1970; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1972.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers in seiner Reihe APEX HORROR.

   DAS SCHATTENVOLK

 

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Er rannte, die Angst jagte ihn durch das Dunkel, ohne jede Vorsicht, mit fliegenden Pulsen. Sein Atem brannte ihm in der Kehle, seine Sohlen schmerzten von der Berührung mit den scharfen Steinen auf dem Abhang, den er emporlief. Er hörte die Verfolger hinter sich, das erregte Kläffen von Hunden, Männerstimmen. Er kletterte den steinigen Abhang hinauf, ohne sich um das Geröll zu kümmern, das sich unter seinen Füßen löste, ohne der dornigen Äste zu achten, die nach seinem groben Mantel griffen. Er wurde müde. Sie konnten ihn jeden Augenblick einholen. Er sog keuchend die Gerüche der Nacht ein, den feuchten Duft von Blättern, die scharfe Witterung eines jagenden Wiesels, den starken Geruch von Hunden, die aus vielen Komponenten zusammengesetzte Ausdünstung ihrer Herren und vor allem den Blutgeruch.

Er versuchte seine Gedanken zu sammeln, aber seine Sinne waren verwirrt, ihn schwindelte. Sie jagten ihn, weil er etwas getan hatte, etwas...

Nun waren die Hunde ganz nahe. Seine Füße schmerzten, seine Hände bluteten; an seinem Hemd war Blut, das sah er im Licht des Mondes. Plötzlich fand ihn der Strahl einer Lampe, nagelte ihn wie einen Riesenfalter an den Berghang. Er wand sich, drehte sich herum, doch der Strahl hielt ihn fest. Die Hunde bellten laut, wild, nah, doch sie blieben außerhalb des Lichtkreises. Er hörte jemand schreien: »Mein Gott! Ein Mann!«

»Nein! Sieh doch, es verwandelt sich. Heilige Mutter Gottes, es ist...«

Carl erwachte und fuhr hoch, dass seine Decke zu Boden fiel; er blieb keuchend liegen, schweißbedeckt. Es dauerte eine Weile, bis er wusste, wer und wo er war, bis er voll Dankbarkeit erkannte, dass er wieder einmal nur geträumt hatte.

Er lag dort, und als er zur Wirklichkeit zurückfand, wurde er sich des Sonnenscheins bewusst, der durch das Fenster hereinfiel, des Kaffeedufts, der unter der Tür hereindrang. Sein Herzschlag wurde ruhiger, sein Atem langsamer. Er verbannte den Traum und die Gedanken daran aus seinem Bewusstsein, setzte sich auf und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen, während er unter dem Bett nach seinen Pantoffeln tastete.

Er erhob sich, streckte sich, gähnte und trottete zum Badezimmer. Als er sich im Spiegel betrachtete, stellte er fest, dass seine Augenbrauen wieder einer Behandlung bedurften. Wie die Brauen von allen seiner Art neigten sie dazu, über dem Nasenbein zusammenzuwachsen. Das Gesicht blickte ihm ziemlich herausfordernd entgegen; es war durchfurcht, ausgeprägt männlich. Haar, Augen und Haut waren fast vom gleichen Goldbraun, was ihm ein eigenartig harmonisches Aussehen gab.

Wieder fühlte er, wie der Traum sich in sein Bewusstsein schlich. An etwas anderes denken! An das Haus, wie angenehm, wie ideal es war. Was für ein Glück, dass Gina und Jonathen es gefunden hatten, dass sie an ihn gedacht hatten, als sie jemand brauchten, mit dem sie es teilen konnten, da es für sie allein zu groß und zu kostspielig gewesen wäre.

Das Haus, abgeschieden in den Bergen, bot ihnen die Ruhe, deren sie alle bedurften, die sie sich jedoch allein nicht leisten konnten. Der Doktor war natürlich eine Ausnahme.

Carl hätte gern mehr über den Doktor erfahren; sie wussten von ihm nur, dass er eine Artikelserie für die Zeitschrift schrieb, bei der Jonathen angestellt war, und dass er einer der ihren war. Der Herausgeber der Zeitschrift hatte ihn Jonathen vorgestellt, und als der Doktor erwähnte, er suche eine Wohnung für die Zeit, während er an der Serie arbeitete, schlug Jonathen vor, er solle doch bei ihnen wohnen. Jonathen sagte, angeblich habe der Doktor einen wichtigen Posten im Rat inne. Carl war sofort die starke Persönlichkeit aufgefallen. Anscheinend war er gewohnt, Befehle zu erteilen und sie befolgt zu sehen.

Carl seifte sein Gesicht ein und begann sich zu rasieren, wobei er ton- und melodielos vor sich hin summte. An den Traum dachte er nicht mehr. Als er fertig rasiert war, kleidete er sich an.

Auf halbem Weg die Treppe nach unten hörte er die Stimme Jonathens und des Doktors aus der Küche. Die Stimme des Doktors klang etwas theatralisch, die Jonathens tonlos und ärgerlich. Als Carl eintrat, saßen die beiden Männer an dem kleinen Frühstückstisch. Der Doktor sagte: »Am besten, Sie sprechen mit ihr, Jonathen«, und brach ab, als er Carl sah. »Ah, guten Morgen. Sie sind heute früh auf gestanden.«

Carl nickte. »Ja, ich hab' euren Kaffee gerochen.« Er blickte Jonathen an. Sein Freund lächelte, doch Carl fühlte seine Spannung. Jonathens schmale Schultern waren so gekrümmt, wie er es aus ihren Collegetagen in Erinnerung hatte, und sein dichtes schwarzes Haar war wirr. Der Doktor dagegen sah entspannt und gutgelaunt aus. Sein prachtvolles weißes Haar war sorgfältig frisiert, seine Kleidung wie immer tadellos. Er wischte sich mit der Serviette über die Lippen, erhob sich und trug seinen Teller und seine Tasse zum Ausguss. »Wir müssen ein wenig auf räumen, sonst ist Gina böse.«

Carl lächelte, doch Jonathen blickte ernst in sein Glas. Carl hätte gern gewusst, worüber sie gesprochen hatten. Jedenfalls hatte es Jonathen durcheinander gebracht. Er sagte laut: »Wie geht es mit der Serie, Doktor?«

Der Doktor langte nach seinem Handtuch und trocknete sich die Hände ab. »Großartig. Jonathens Chefredakteur ist sehr entgegenkommend, er lässt mir völlig freie Hand. Ich bin sicher, die Leser werden das Material äußerst interessant finden. Meine Artikel legen die Ansicht dar, dass es auch heute unter uns Vampire, Werwölfe, Hexen und Zauberer gibt. Sie sind natürlich in scherzhaftem Stil geschrieben. Das Publikum wird sich amüsieren, vielleicht denkt es auch ein wenig darüber nach. Fordert doch zum Denken heraus, nicht?«

Carl zog die Brauen hoch. »Es enthält ein gewisses Fünkchen Humor.«

Der Doktor nickte. »Ich finde es überaus anregend. Ein Spielchen könnte man sagen.« Seine Augen glänzten. »Was meinen Sie, würden die Leute draußen unternehmen, wenn sie wirklich glaubten, dass es Wesen gibt, die neben ihnen im Theater sitzen, mit ihren Kindern zur Schule gehen und die von ihnen als übernatürliche Scheusale angesehen werden?«

»Daran möchte ich lieber nicht denken. Nicht auf nüchternen Magen.« Carl suchte Jonathens Blick zu erhaschen, aber der war immer noch mit dem Glas vor sich beschäftigt.

»Sie würden uns umbringen.«

Carl blickte hoch, überrascht von der Heftigkeit in der Stimme des Doktors. »Ja«, sagte er ernst, »das glaube ich auch.«

Die Stimme des Doktors wurde sanfter, seine Augen jedoch glühten in einer Weise, dass Carl sich nicht abzuwenden vermochte. »Wir sind ein Schattenvolk, wir blicken von der Außenwelt nach innen und dürfen uns nicht zu erkennen geben, sonst sind wir unseres Lebens nicht mehr sicher. Und Sicherheit ist wichtig, glauben Sie das nicht auch, Jonathen?«

Während er das sagte, wandte sich der Doktor Jonathen zu, der verlegen hochblickte. »Ich glaube, mir ist ebenso klar wie Ihnen, was wichtig ist, Doktor.«

»Dann denken Sie daran, dass Sie mit Ihrer Schwester sprechen. So, ich muss zu meiner Arbeit. Wünsche euch einen guten Tag, Jungs.«

Er nahm seinen grauen Filzhut von der Anrichte, zog sein Stecktuch zurecht und ergriff den Spazierstock, der an der Rückenlehne seines Stuhls hing. Während er hinausging, lächelte er beiden zu, ein freundliches, ein wenig spöttisches Lächeln, das Carl aus irgendeinem Grund beunruhigte. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

»Der alte Schuft.« Jonathen schob seinen Stuhl zurück.

Carl setzte sich ihm gegenüber. »Na schön. Du brauchst mir nicht zu erzählen, was vorgeht, wenn du nicht willst.«

Jonathen fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Es ist wegen Gina. Du weiß ja, wie sie ist.«

»Na, sagen wir, ich weiß es bis zu einem gewissen Grad, wie sie ist. Aber was hat das mit dem guten Doktor zu tun?«

Jonathen blickte hoch. »Was man von dem Doktor erzählt, ist wahr. Er sitzt im Rat, deshalb sprach er mit mir über Gina. Sie hatte einen Rückfall, Carl.«

Carl seufzte. »Das ist es also. Kein Wunder, dass du durcheinander bist.« Er blickte seinen Freund verständnisvoll an. »Was wollte er von dir?«

»Ich soll mit ihr sprechen, sie dazu bringen aufzuhören, bevor der Rat eingreifen muss.« Er schlug mit der Faust gegen sein Knie. »Er meint es gut, aber irgendwie geht es mir gegen den Strich, vielleicht eben, weil ich weiß, dass er recht hat. Reden Sie mit ihr, sagte er. Ich habe mit ihr geredet, bis mir nichts mehr einfiel.« Er blickte Carl unglücklich an. »Willst du wissen, was sie sagt? Dass sie keinen Beweis haben, und dass ich mir keine Sorgen machen soll. Wahrscheinlich sollte ich auch nicht; sie hat sich ihr Bett selbst gemacht und legt sich nur mit den einflussreichsten Leuten hinein. Also gut. Aber muss sie es tun?«

Carl legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Entschuldige, Jonathen, aber leider kann keiner von uns etwas dagegen unternehmen. Das liegt nur an Gina selbst. Sie ist jetzt ein erwachsenes Mädchen.«

Jonathen schüttelte den Kopf. »Wenn sie nur einige von den armen Dingern sehen könnte, die der Rat gemaßregelt hat. Ich könnte es nicht ertragen, Carl, dass das mit Gina geschieht.«

Carl erhob sich. »Ich würde doch noch einmal mit ihr reden. Wenn du glaubst, dass es irgendwie nützt, werde auch ich mit ihr sprechen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich muss jetzt ins Büro. Kopf hoch, mein Lieber, die Dinge werden schon wieder in Ordnung kommen.«

Jonathen machte einen schwachen Versuch zu lächeln. »Jaja, gewiss, es sieht bloß manchmal eklig aus!«

Carl nickte. »Das stimmt. Da kann man nichts tun, als auf der Schattenseite bleiben und leise weitergehen.«

Nun war Jonathens Lächeln echt. »Das Sprichwort hab' ich schon seit Jahren nicht mehr gehört.«

Carl blieb auf dem Weg zur Tür stehen. »Ist mir eben eingefallen. Also, bis heute Abend. Wir reden beide mit Gina.«

»Ja, auf Wiedersehen heute Abend.«

 

Als Carl in sein Büro kam, legte Sandy eben den Telefonhörer auf. Sie blickte ihn an. »Eine Kundin. Klang nach einer netten Dame mittleren Alters.«

»Immer das gleiche«, sagte Carl, »keine blonden Schönheiten, bloß nette Damen mittleren Alters.«

Sandy grinste. »Sie heißt Mrs. Constantine Vidor; möchte einen vermissten Bruder finden. Sie sollen, wenn möglich, heute Nachmittag in ihre Wohnung kommen.«

Carl nahm den Zettel, den Sandra ihm reichte. Die Adresse war Evening Lane 711. Ein gutes Mittelstands-Wohnviertel, wenn er sich richtig entsann.

»Schön«, sagte er. »Sonst etwas?«

»Mr. Sandlo hat angerufen und gesagt, er sei mit der Art, wie Sie seinen Fall behandelt haben, sehr zufrieden.«

Ein angewiderter Ausdruck zeigte sich auf Carls Gesicht.

»Scheidungsfälle.«

Sandy lächelte teilnahmsvoll. »Die zahlen die Rechnungen, Chef. Übrigens, auf Ihrem Schreibtisch liegt ein Haufen Post.«

»Das werde ich mir gleich ansehen.« Carl ging in sein Zimmer und hängte sein Jackett auf den geschnitzten Kleiderständer. Das Büro war hübsch, blassgrün gestrichene Wände, ein Teppich in den Farben von Herbstblättern. Die Vorhänge zeigten ein Blattmuster, und an den Wänden hingen einige Jagdtrophäen. Carl nannte es seine Höhle, und seine Kunden lächelten dann anerkennend, wussten aber nicht, dass er nur zur Hälfte spaßte.

Er löste seinen Schlips, setzte sich bequem hin und nahm den ersten Brief von dem Stapel. Die Adresse war mit blasser, kupferiger Tinte geschrieben, die Buchstaben waren groß und spinnwebartig, aber gut lesbar. Tante Philomene, natürlich. Wie lang war es her, seit er ihr zum ersten Mal geschrieben hatte? Vorsichtig öffnete er den Umschlag und fand darin mehrere mit ihrer Spinnwebschrift bedeckte Seiten.

Während er den Brief las, eilten seine Gedanken zurück. Tante Philomene. Das große alte Haus aus der Zeit Königin Viktorias, mit Kuppeldach und Zuckerbäckergotik, der staubigen Dachstube und dem Geheimzimmer am Fuß der Treppe, den wundervollen Gerüchen, die aus der Küche drangen, wo Calinda den ganzen Tag vor ihren Töpfen und Kesseln stand, und Philomene selbst, klein und rund, irgendwie zart trotz ihrer Plumpheit, mit ihrem alten feinen Gesicht, ihren kleinen, glänzenden, auffallend grünen Augen. Die liebe Tante Philomene.

Er entsann sich, wie er am Fuß der breiten Holztreppe gestanden hatte, seine Hand in der breiten knotigen Hand seines Onkels Philip. Oben auf der Treppe stand seine Großtante Philomene. Das große graue Haus hinter ihr wirkte in der frühen Dämmerung riesenhaft und drohend. Er fürchtete sich. Sein Onkel Philip gefiel ihm nicht, aber er klammerte sich an den Gedanken, dass er zu seiner Familie gehörte.

Er hatte nach dem Tod seiner Eltern, die zwei Jahre zuvor bei einem Brand umgekommen waren, bei Onkel Philip und Tante Mary gelebt. Nun begriff er, dass er abwechselnd bei jedem seiner Verwandten einige Zeit verbringen sollte. Es gab deren viele. Sie würden bestimmt ausreichen, bis er alt genug war, um selbst für sich zu sorgen. Es hatte einige Debatten gegeben, ob man ihn zu seiner Großtante schicken sollte, da sie sehr alt war. Aber sie hatte darauf bestanden, und da war er nun.

»Komm her, mein Kind.« Ihre Stimme war dünn und trocken. Sein Onkel Philip ließ seine Hand los und schob ihn vorwärts. Er stieg widerwillig die Treppe empor, bis er vor ihr stand. Sie beugte sich nieder und drückte ihre trockenen Lippen an seine feuchte Stirn. Sie roch nach Veilchen, und er war erstaunt, wie klein sie war. »Der Begrüßungskuss«, sagte sie. »Ich freue mich, dass du hier bist.«

Carl blickte in ihre glänzenden Augen. Was er dort sah, verscheuchte alle Zweifel, die er gehabt haben mochte. Er legte vertrauensvoll seine Hand in die ihre, und sie stiegen zusammen die Stufen hoch.

Das erste, was Carl drinnen auffiel, war die sanfte Beleuchtung. Anstelle strahlender elektrischer Lampen erblühten Gasglühstrümpfe mild aus ihren Kupferfassungen. Ihr Licht, nicht beständig wie elektrisches, sondern zu- und abnehmend mit unsichtbaren Strömungen, verlieh dem Raum seltsame Bewegung. Carl hatte noch nie vorher Gaslicht gesehen, wunderte sich aber nicht über das Vorhandensein der Lampen. Es erschien ihm richtig, dass die Dinge in diesem Haus anders sein sollten.

Seine Großtante sprach über seinen Kopf hinweg mit seinem Onkel.

»Wieviel weiß er über sich?«

»Nur das, was er wissen muss, um sich zu schützen.«

»Hat er nie weitere Fragen gestellt?«

Carl blickte wie gebannt auf die polierte Maske an der Wand. Ihre Worte schwammen über ihn hinweg, er hörte sie, aber sie drangen nicht in sein Bewusstsein.

»Ja, er hat Fragen gestellt, aber es ist schwer, einem Kind das zu erklären.«

»Aber notwendig«, sagte Tante Philomene scharf. »Unbedingt notwendig. Macht nichts, ich werde ihm alles sagen, was er wissen muss.«

An den Wänden gab es Waffen. Lange Speere mit gefährlich aussehenden Spitzen und Federbesatz. Carl merkte, wie ihn seine Tante zu der breiten, gewundenen Treppe schob, die ins Dunkel hinauf führte. Er war sehr schläfrig. Die Fahrt war lang und ermüdend gewesen, und immer wieder fielen ihm die Augen zu. Dabei gab es so viel zu sehen. Er spürte, wie ihn sein Onkel Philip hochhob, ihn die Treppe hinauf trug, spürte die Weiche seines Bettes, die Glätte der Laken, den Kuss seiner Tante auf seiner Wange.

Als er erwachte, erschien ihm das Zimmer vertraut, als ob er Morgen um Morgen in diesem Raum die Augen aufgeschlagen hätte. Das Muster der Tapeten zeigte marschierende Soldaten in roten Röcken. Die Gardinen waren weiß und frisch und bewegten sich sanft in der Brise, die zum Fenster hereinkam. Er roch die Luft, sie war angenehm, erfüllt von Pflanzenduft und dem lebender Dinge. Er blickte auf die Bettdecke, unter der er lag. Anstelle von Karos oder eines sonst üblichen Musters sah er die Zeichen des Tierkreises, wusste aber damals noch nicht, was sie darstellten. Er war fasziniert. Da standen zwei Jungen Hand in Hand, er sah einen Löwen, einen Krebs. Er kroch unter der Decke hervor, um sich die übrigen anzusehen. Ein Skorpion, eine Dame, die etwas in der Hand hielt.

»Guten Morgen, kleiner Herr.«

Erschrocken fuhr Carl hoch. Neben seinem Bett stand eine schwarzgekleidete Frau. Er dachte, sie müsste sehr alt sein, dann ihre Haut bestand aus zahllosen Fältchen. Sie war klapperdürr, hielt sich jedoch ganz gerade. Ihr Haar konnte er nicht sehen, denn sie trug ein rotes Kopftuch, das tief in ihre Stirn reichte. Sie roch nach Zimt und Zucker. Carl blickte ihr in die Augen, die schwarz waren wie Melonenkerne. Sie erwiderte seinen Blick, dann lächelte sie. Ihre üppigen vorstehenden Lippen öffneten sich, und er sah, dass sie weiße, gleichmäßige Zähne hatte. Irgendwie fühlte er sich sofort zu ihr hingezogen. Sie stellte das Tablett hin, das sie trug, und schob es auf das Tischchen neben seinem Bett.

»Miss Philomene hat gemeint, du möchtest vielleicht an deinem ersten Tag hier im Bett frühstücken.«

Carl lächelte ihr zu und nahm den Silberdeckel von dem Teller. Rührei, duftend und golden, frischer Schinken, gebutterter Toast, Kakao in einer kleinen Silberkanne und ein Tellerchen mit Schwarzbeeren-Marmelade. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen.

»Danke.« Er sah sie verlegen an.

»Ich heiße Calinda.«

»Calinda.« Carl ließ den Namen zwischen Zunge und Gaumen zergehen. »Klingt wie Musik.«

Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht der Frau. »Als ich jung war, da war ich wie Musik.«

Carl nahm eine Gabel voll Rührei. Es schmeckte köstlich. Als er die Augen hob, war die Frau fort.

Nach dem Frühstück zog er sich an, und seine Tante führte ihn durch das Haus. Im Oberstock lagen an langen Gängen die Schlafzimmer, und im Erdgeschoss gab es ein etwas steifes Wohnzimmer und eine herrliche Bibliothek mit vielen, bis zur Decke reichenden Regalen voller Bücher und einem so dicken Teppich, dass man darauf hätte schlafen können. Auch ein riesiger Kamin war da, mit zwei Eisenständern für die Holzscheite. Wunderbare Stühle, breit, weich und mit braunem Leder überzogen. Man saß darin wie auf dem Schoß einer dicken Dame.

Ein paar Stufen unterhalb der Mittelhalle lag die Küche, nur ein wenig tiefer als das Erdgeschoss. Hier herrschte Calinda über ihre Töpfe und Löffel, über geheimnisvolle Gewürze in kleinen Tiegeln mit Glasstöpseln. Ein köstlicher Geruch erfüllte den Raum. Die Küche war, wie das übrige Haus, nicht modernisiert worden. Da stand ein großer schwarzer Holzherd an der Wand, und über einer breiten offenen Feuerstelle hing ein Topf an einem Haken. Obwohl das Licht in der Küche schwach war, sah Carl sofort, dass alles vor Sauberkeit blitzte. Die Kupferpfannen warfen den roten Schein des Feuers zurück, und der riesige Topf gab tröstlich blubbernde Geräusche von sich.

Der letzte Raum, den ihm seine Tante zeigte, war das Museum. Es war groß, hell und mit unzähligen Dingen angefüllt, die im ersten Augenblick recht verwirrend aussahen.

Da gab es eine Sammlung von Besen, von denen manche so alt waren, dass man meinen konnte, sie würden beim ersten Windhauch zerfallen. Carl kannte diese Art von Besen aus seinen Büchern. Sie sahen aus wie Reisigbündel, die man notdürftig an kleine Äste gebunden hatte.

In einem niedrigen Glaskästchen stand eine Sammlung seltsamer Phiolen und Gläser, kleiner Waagen und merkwürdig geformter Zangen. »Die gehörten deinem Großonkel Maximas«, sagte seine Tante. »Er war Alchimist und ein großer Hexenmeister.«

Skurrile Masken und hässliche Puppen aus Afrika, umgeben von faltigen Lederbeuteln, die einen scharfen Geruch ausströmten, lagen auch da. Das alles war faszinierend und aufregend. Carl blieb mit seiner Tante im Museum, bis Calinda sie zum Mittagessen rief.

Es war ein herrlicher Tag, der Beginn vieler herrlicher Tage, Monate und Jahre, denn Philomene hatte nicht die Absicht, ihn weiterzugeben. Er hatte ein Heim gefunden, eine Mutter und Lehrerin, denn Philomene unterrichtete ihn in allem, was er brauchen würde, um in einer möglicherweise feindlichen Welt zu überleben.

Carl hatte von seinem Onkel Philip erfahren, dass er anders war. In seinen ersten Lebensjahren hatte er in seiner kindlichen Selbstgefälligkeit geglaubt, alle anderen wären so wie er. Bald lehrte ihn jedoch sein Onkel, seine Verwandlungen zu beherrschen, und Carl prägte sich ein, dass die Verwandlungen - wie so manches andere - nicht in der Öffentlichkeit stattzufinden hatten. Es gab aber noch so vieles an ihm, das er nicht verstand, und das wollte oder konnte ihm Onkel Philip nicht erklären.

So blieb es Philomene überlassen, ihm nicht nur zu sagen, was er war und warum, sondern auch, wie er ein einigermaßen glückliches und zufriedenes Leben führen konnte. Sie erzählte ihm die Geschichte seines Erbes, während sie vor dem großen Kamin in der Bibliothek saßen und in die Flammen blickten, die aus den brausenden Holzscheiten aufloderten. Ihre trockene leise Stimme war kaum lauter als das Knistern des Feuers, doch Carl verstand jedes Wort.

»Als die Welt noch jung war«, sagte sie, »als sich die Tiere entwickelten, gab es zwei Hauptgruppen, die friedlichen Pflanzenfresser oder Herbivoren, und die Fleischfresser oder Carnivoren. Die Fleischfresser wurden von der Natur geschaffen, um einen Ausgleich für die passiveren pflanzenfressenden Wesen zu bilden. Wir nennen das Naturausgleich, und wenn eine Tierart völlig ausstirbt, überschwemmt oft die natürliche Beute dieses Tieres die ganze Erde. Wenn man zum Beispiel alle Katzen in der Welt ausrotten würde, würden sich die Ratten und Mäuse so stark vermehren, dass sie zu einer Bedrohung würden.«

Carl nickte.

»So also schuf die Natur im Anfang mehr als eine Art Menschen. Außer denen dort...« - sie beschrieb einen Kreis mit ihrem Arm, der den Großteil der Menschheit einzuschließen schien - »...wurden wir erschaffen, die anderen, die dazu bestimmt waren, für die Menschheit der Zaum, das Raubtier zu sein.«

Carl rührte sich nicht. Das Feuer knisterte, die Eisenständer glühten und schienen sich in den Flammen zu bewegen. Er blickte auf seine Tante, die still in ihrem Stuhl saß und wartete, bis er ihre Worte begriffen hatte. Es dauerte eine Weile, denn es war nicht leicht für einen kleinen Jungen, sich mit den tödlichen Bestien der Welt gleichzusetzen. Seine Tante sah die Frage in seinem Blick und hob ihre kleine Hand. »Warte«, sagte sie, »gleich wirst du es verstehen. Die Natur, mein Kind, hat nicht immer beim ersten Mal recht. Manchmal misslingen ihre Experimente, die Experimente sind unbrauchbar. Das war zum Beispiel bei den Dinosauriern der Fall. Beim Menschen aber trat genau das Gegenteil ein, er wurde noch mehr, als die Natur beabsichtigte: er erwies sich als stark genug, die Erde und die niederen Tiere zu beherrschen. Leider, oder vielleicht glücklicherweise, wie man es eben ansieht, starben die

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Patricia A. Brisco/Apex-Verlag.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Dr. Birgit Rehberg.
Translation: Walter Brumm und Christian Dörge (OT: The Other People).
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 01-08-2021
ISBN: 978-3-7487-7081-7

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