HEATHER GARDINER
Hotel der toten Gäste
Roman
Apex Crime, Band 94
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Die Autorin
HOTEL DER TOTEN GÄST
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Das Buch
Meine Kehle wurde heiß und trocken, meine Hände verkrampften sich. Selbst wenn man nicht wusste, dass heute der Vorabend des großen Rennens war, würde man doch die besondere Atmosphäre gespürt haben. Eine fiebrige Unruhe lag über dem Raum, die noch verstärkt wurde durch das monotone Klopfen des Schlagzeuges. Eben noch klang es schwach, wie dahinsterbend, um gleich darauf zu einem tobenden Crescendo anzuschwellen. In manchen Augenblicken hatte diese grelle Musik etwas Wahnsinniges an sich, sie brachte gesetzte, wohlbeleibte Männer dazu, lächerliche Jitterbugschritte zu riskieren. Es war ein seltsames, geradezu hektisches Bild. Die Fröhlichkeit ringsum wirkte übertrieben, die Gesichter gierig. Nur ein paar ältliche Herren hielten sich außerhalb des wirbelnden Strudels. Sie waren typische Spielernaturen, steif und ausdruckslos, denen nicht die kleinste Spur einer Gemütsbewegung anzumerken war. Ihre Wetten gingen nicht in die Hunderte, sondern in die Tausende. Morgen würden Vermögen verloren und gewonnen werden...
Heather Gardiner (* 1924; † 1954) schrieb nur zwei Romane, die jedoch zu weltweiten Bestsellern wurden: Hotel der toten Gäste (1951) und Wettlauf mit der Vergangenheit (1953). 1954 verunglückte sie bei einem Autounfall tödlich.
Ihr Roman Hotel der toten Gäste war überdies die literarische Vorlage für den gleichnamigen deutsch-spanischen Kriminal-Film aus dem Jahr 1965 (Regie: Eberhard Itzenplitz) mit Joachim Fuchsberger als Barney Blair, Karin Dor als Gilly Powell, Frank Latimore als Larry Cornell, Hans Nielsen als Inspektor Forbes und Gisela Uhlen als Ruth Cornell.
Der Apex-Verlag veröffentlicht die Romane von Heather Gardiner als durchgesehene Neuausgaben in seiner Reihe APEX CRIME und macht diese Krimi-Klassiker erstmals seit über fünfzig Jahren wieder in deutscher Sprache verfügbar.
Die Autorin
Heather Gardiner (* 1924; † 1954).
Heather Gardiner war eine australische Kriminal-Schriftstellerin.
Sie studierte an der Universität von West-Australien in Perth und war anschließend als Buchhändlerin und Bibliothekarin tätig. Sie verfasste zwei Kriminal-Romane, die zu internationalen Bestsellern wurden: Hotel der toten Gäste (1951, verfilmt im Jahre 1965) und Wettlauf mit der Vergangenheit (1953). Kurz nach Veröffentlichung ihres zweiten Romans wurde der schriftstellerischen Laufbahn dieser höchst vielversprechenden jungen Autorin ein jähes Ende bereitet: Sie verunglückte 1954 bei einem Autounfall tödlich.
HOTEL DER TOTEN GÄSTE
Erstes Kapitel
Im Spiegel des kleinen Zimmers im Hotel Austral starrte mir mein Bild aus großen, erschreckten Augen entgegen. Mit zitternden Fingern versuchte ich mein Kleid zu schließen.
Dieses Kleid war ein Traum aus steifem, grauem Moiré, der in schimmernden Falten bis zu meinen Knöcheln herabfiel. Am Saum schaute eine kokette, winzige Rüsche hervor. Ein Modellkleid, das mich ein ganzes Monatsgehalt gekostet hatte.
Ich schloss den seitlichen Reißverschluss und betrachtete mich kritisch. Braunes Haar, graue Augen, die Figur ein wenig zu schlank, der Mund ein wenig zu breit...
Erst eine Zigarette, dachte ich, und dann hinunter in die Halle, wo Barney wartete, um mich ins Kabarett zu begleiten. Ich fand mein goldenes Etui - das erste Geschenk von Larry -, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an.
Mein kleiner Reisewecker auf dem Schreibtisch tickte fröhlich die Minuten. Es war gleich acht. Barney wartete sicher schon, aber ich war später ins Hotel zurückgekommen, als ich vorausgesehen hatte. Die Cocktailparty bei Franesca hatte sich in die Länge gezogen. Und weil ich nicht zum Vergnügen, sondern beruflich dort war, musste ich ausharren, um der Sydney Daily Times einen genauen Bericht über die neuesten Modelle des Salon Franesca zu geben, der jedes Jahr am Vorabend des Großen Rennens um den Pokal von Melbourne eine Modenschau abhielt. Alle, was Rang und Namen hatte, gab sich bei Franesca ein Stelldichein.
Heute Nachmittag war ich Lucy Grantham dort begegnet. Sie hatte mindestens fünf Jahre jünger ausgesehen als dreißig, wie ich sie geschätzt hätte.
Sie hatte mir beide Hände entgegengestreckt und ausgerufen: »Gillian Amery! Darling, wir haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen! Warum kommen Sie nicht öfter nach Melbourne? Und Sie sehen einfach bezaubernd aus! Wo wohnen Sie?«
Eine Unterhaltung mit Lucy bestand immer aus einem endlosen Schwall von allen möglichen Fragen, die sie sich aber meist selbst beantwortete.
»Sie sind natürlich zum Rennen hergekommen«, plapperte sie weiter. »Wir müssen uns unbedingt noch zusammensetzen und den neuesten Tratsch erzählen. Geben Sie mir doch bitte Ihre Telefonnummer, Darling.«
»Ich bin erst heute Morgen angekommen«, hatte ich gemurmelt. »Ich wohne im Austral.«
Lucy stieß einen Freudenschrei aus. »Das ist ja wunderbar. Dort wohne ich auch. Gillian, Darling, dann treffen wir uns heute Abend unten im Kabarett! Sie müssen einfach kommen, alle werden dort sein.« Und dann hatte sie meine Hand mit festem Druck umschlossen, bevor sie das sagte, was die Welt rings um mich versinken ließ: »Larry und Ruth haben ebenfalls ein Appartement im Austral. Ruth kommt zu jedem Pokal her, Sie wissen ja. Schon seit Jahren.«
Während sie mir diese Neuigkeiten beibrachte, beobachtete sie mich scharf. Ihren wachsamen Augen konnte nicht die Röte entgangen sein, die mir ins Gesicht schoss, und nicht die hastige Bewegung meiner Hand, die sich bei der Erwähnung von Larry um die blaue Handtasche gekrampft hatte.
»Wie schön«, brachte ich mühsam heraus. Es sollte gleichmütig klingen, als ob Larry nichts mehr für mich bedeutete. Aber ich wusste, dass Lucy sich nicht einen Augenblick lang täuschen ließ. Sie hatte mich verschmitzt angelächelt.
»Also gut, dann treffen wir uns heute Abend.«
Dann wogten Leute um uns herum, die nach ihren Tischen Ausschau hielten, und ich hatte keine Gelegenheit mehr, noch ein Wort mit Lucy zu sprechen. Mrs. Edmondson steuerte auf mich zu und schob dabei ihre hausbackene, reizlose Tochter so vor sich her, dass ich sie auch ganz bestimmt sehen musste. Mechanisch hatte ich mir Kleider und Namen in meinem winzigen Notizbuch notiert und lächelnd gesagt: »Guten Tag, Mrs. Edmondson, guten Tag, Mrs. Wiltshire«, bis das Lächeln auf meinem Gesicht festzufrieren drohte.
Bei der erstbesten Gelegenheit war ich bei Franesca auf gebrochen und ins Austral zurückgekehrt. Und nun saß ich hier, bereit, hinunterzugehen und Barney zu treffen und vielleicht... Larry.
Ich drückte meine Zigarette aus und ging zur Tür. Dabei warf ich noch einen letzten Blick zurück in mein Zimmer, das überaus einladend wirkte mit seinen cremefarbenen Wänden, den fröhlich-bunten Vorhängen, deren Muster auf die Farben der schweren Clubsessel abgestimmt waren, dem großen, niedrigen Diwan, der sich nachts auf geheimnisvolle Weise in ein bequemes Bett verwandelte. Ich wünschte, ich könnte hierbleiben, in diesem behaglichen Raum, und den Abend ganz allein und in aller Ruhe verbringen.
Aber das ging nicht, weil unten in der Halle Barney auf mich wartete. So schloss ich also energisch die Tür hinter mir und ging mit schnellen Schritten den langen, stillen Korridor entlang zum Lift.
Butch, der kleine Liftboy, strahlte mich an, als ich den Fahrstuhl betrat. »Na, wer wird wohl den Pokal gewinnen, Miss Amery?«, fragte er mich.
»Da wendest du dich am besten an Mr. Blair«, entgegnete ich ihm und lächelte über sein enttäuschtes Gesicht. »Er ist der Sportreporter. Ich kümmere mich nur um die Mode.«
»Glauben Sie, dass Mr. Blair mir einen Geheimtipp geben wird?«
»Aber sicher - wenn er überhaupt einen hat. Aber das kann ich nicht garantieren. Verlass dich nicht zu sehr auf seine Tips.«
Ich wusste, dass er Barney anhimmelte. Er widersprach auch sofort. »Aber Miss Amery, seine Tips sind prima...!« Dann wären wir im Erdgeschoss, wo Barney mich in der Halle erwartete.
Butch flüsterte mir noch ins Ohr: »Da drüben ist er. Sie werden ihm doch sagen, dass ich einen Tip von ihm möchte?«
Butch und ich waren alte Freunde, und darum wisperte ich ihm zu: »Aber gewiss. Also bis auf später.« Dann ging ich hinüber zu Barney, den ich inmitten einer Gruppe Herren entdeckt hatte.
Als er mich sah, kam er mit großen, elastischen Schritten auf mich zu. In diesem Augenblick mochte ich ihn richtig gern. Er sah gut aus mit seinen breiten Schultern und dem jungenhaften Lächeln - der typische Australier, unkompliziert und offen. Barney wusste immer ganz genau, was er wollte. Manchmal war ich wütend auf ihn, wenn er mir zu offen den Hof machte, aber im nächsten Augenblick dachte ich nur noch daran, dass er ein wirklich netter Kerl war. Alle mochten Barney gern. Er war der Sportredakteur der Sydney Daily Times und der einzige vom ganzen Personal, der mit dem grantigen alten Perky, dem Herausgeber der Zeitung, fertig wurde.
»Hallo, Gilly«, begrüßte er mich strahlend. »Du siehst entzückend aus.« Er führte mich durch die Halle zum Kabarett.
Dieses Kabarett war ursprünglich eine kleine Nebenhalle gewesen. Jetzt war sie in eine winzige Tanzdiele verwandelt worden: Die Tische standen an den Wänden; eine dezente, indirekte Beleuchtung gab den Gesichtern der Damen und auf der kleinen Tanzfläche dem wirbelnden Farbenspiel ihrer Kleider aus Lame, Satin und Taft eine zauberhafte Tönung.
Der Raum war gestopft voll, wie immer am Vorabend des großen Rennens. Alle verfügbaren Zimmer in Melbourne wurden für dieses Ereignis bereits Monate voraus bestellt. In Scharen kamen die Leute von den großen Weidegütern aus dem Innern des Landes, die Fluglinien und Züge waren überfüllt. Für die meisten Australier bedeutet das Pokalrennen den Höhepunkt des Jahres. Die Frauen haben Gelegenheit, Kleider und Schmuck vorzuführen, und die Männer eine Ausrede, sich ordentlich zu betrinken.
Toni, unser Stammkellner, hatte uns einen Tisch in der Nähe der großen Schwingtüren reserviert, so dass wir einen Hauch frischer Luft aus der Halle genießen konnten. Barney bestellte für mich einen Martini und für sich selbst ein großes Bier.
Meine Augen schweiften durch den Raum. Ich bildete mir ein, Gesichter und Kleider zu registrieren - aber das war Selbstbetrug.
In Wirklichkeit suchte ich die überladene Tanzfläche nach Larry ab, halb hoffend, halb fürchtend, dass ich ihn sehen würde. Sein dunkles Haar, seine braunen Augen... Irgendwo in dieser Masse zappelnder Menschen hält er Ruth in den Armen, dachte ich.
Meine Kehle wurde heiß und trocken, meine Hände verkrampften sich. Selbst wenn man nicht wusste, dass heute der Vorabend des großen Rennens war, würde man doch die besondere Atmosphäre gespürt haben. Eine fiebrige Unruhe lag über dem Raum, die noch verstärkt wurde durch das monotone Klopfen des Schlagzeuges. Eben noch klang es schwach, wie dahinsterbend, um gleich darauf zu einem tobenden Crescendo anzuschwellen. In manchen Augenblicken hatte diese grelle Musik etwas Wahnsinniges an sich, sie brachte gesetzte, wohlbeleibte Männer dazu, lächerliche Jitterbugschritte zu riskieren. Es war ein seltsames, geradezu hektisches Bild. Die Fröhlichkeit ringsum wirkte übertrieben, die Gesichter gierig. Nur ein paar ältliche Herren hielten sich außerhalb des wirbelnden Strudels. Sie waren typische Spielernaturen, steif und ausdruckslos, denen nicht die kleinste Spur einer Gemütsbewegung anzumerken war. Ihre Wetten gingen nicht in die Hunderte, sondern in die Tausende. Morgen würden Vermögen verloren und gewonnen werden.
Während Barney mich fachmännisch über die winzige Tanzfläche führte, notierte ich mir im Geist die dominierenden Moden und Farben. Nach einem trockenen Martini auf einen leeren Magen waren die Gesichter nicht so deutlich, wie sie eigentlich hätten sein sollen. Einen Augenblick lang konnte ich Lucy Grantham sehen. Sie bemerkte mich nicht, und als ich mich umwandte, um sie anzusprechen, war sie bereits in dem Mahlstrom schaukelnder Körper verschwunden.
Die Musik setzte aus und Barney brachte mich an unseren Tisch zurück. Ich bemerkte Ned Harper von der Morning Mail und winkte ihm zu. Er schien leicht beschwipst und beugte sich tief über eine bösblickende Blondine, obwohl er doch eigentlich zu Hause hätte sein sollen, um seiner Frau beim Geschirrspülen zu helfen. Larry blieb unsichtbar.
Barney winkte dem Kellner, der eifrig herbeigeeilt kam. Barney wurde stets bevorzugt bedient, weil er das ganze Personal kannte und unter der Hand Tips gab. Und seine Tips waren im allgemeinen nicht schlecht.
»Toni, was können Sie uns gegen Trübsinn empfehlen? Ich glaube, Miss Amery hat’s heute Abend gepackt.«
Toni beugte sich zu mir herab. »Für unsere hochverehrte Miss Amery werde ich etwas ganz Besonderes bringen.«
»Viel und vor allen Dingen kühl«, gab ich zurück.
Er verbeugte sich feierlich. »Überlassen Sie bitte alles mir!«
»Du siehst aus, als wenn dir das Ganze keinen Spaß macht, Darling«, meinte Barney, nachdem der Kellner gegangen war. »Warum redest du dir nicht einmal alles vom Herzen, was dich bedrückt?«
Ich lächelte matt.
»Sieht man mir das an?«
»Nur, wer dich gut kennt. Und ich rechne mich immerhin zu der Kategorie deiner guten Bekannten.«
»Natürlich!«, sagte ich obenhin. »Meine Gedanken liegen wie ein offenes Buch vor dir.«
Toni kam mit den Getränken. Barney gab ihm ein Trinkgeld und murmelte: »Fine Flight hat einen sicheren Platz.« Tonis Augen flackerten interessiert, dann eilte er zum nächsten Tisch.
Ich nippte an meinem Drink. Er schmeckte vorzüglich.
Barney beobachtete mich. »Du hast immer noch nicht gebeichtet«, sagte er endlich. »Wenn du einen Rat brauchst - meine große Erfahrung stelle ich dir gern zur Verfügung.«
Ich lächelte gezwungen. Er war genau wie mein Drahthaar-Fox - immer wollte er etwas von mir, war voller Zuneigung, besonders dann, wenn ich dafür keine Verwendung hatte.
»Wusstest du, dass Larry und Ruth hier wohnen?« Meine Stimme schien von weit her zu kommen.
Barney blickte schnell in sein Glas. »Woher willst du das wissen?«
»Weil ich heute Nachmittag während der Kuchenschlacht bei Franesca Lucy Grantham getroffen habe. Sie will, dass wir heute Abend alle zusammen feiern...«
»Ich verstehe«, murmelte Barney nur, und das bedeutete, dass er wirklich alles verstand.
Jedenfalls wusste er nun, warum ich mich nicht gerade in Hochstimmung befand. Sicherlich war er verärgert, weil ich nach so langer Zeit immer noch unter Larrys Einfluss stand.
Aber was immer er auch denken mochte, er ließ sich nichts anmerken. Stattdessen meinte er gleichmütig: »Die gute, alte Lucy! Die war also auch bei Franesca. Sieht ihr ähnlich! Sie hat den Dreh heraus, sich am rechten Ort zu zeigen. Sie versteht es, Reklame zu machen.«
Barney wollte mir Zeit lassen, mich zusammenzureißen und nicht länger wie ein liebeskranker Backfisch herumzusitzen.
Ich nahm mein Glas und schüttelte es so heftig, dass die kleinen Eisstückchen an den Rand klirrten.
»Ich habe Lucy nichts davon erzählt, dass du auch hier bist. Das soll für sie eine Überraschung sein. Sie wird dir vor Freude um den Hals fallen. Sie hat dich ja so gern!«
Barney lachte. »Lucy wohnt also auch hier?«
Ich nickte. »Wenn Lucy hier ist, gibt es bestimmt keine Langeweile. Sie ist ein netter Kerl.«
Den meisten Männern gefiel Lucy Grantham ausnehmend gut, und das war wohl der Grund, weshalb die wenigsten Frauen sie mochten. Man hatte in ihrer Gegenwart immer das leise Gefühl, dass Frauen Luft für sie waren. Und das stimmte auch. Lucys ganzes Leben drehte sich nur um die Männer.
Barney zwinkerte mir belustigt zu. »Warum magst du Lucy eigentlich nicht, Gilly?«
Aber noch ehe ich antworten konnte, hörte ich ihre Stimme dicht neben mir.
»Herrschaften! Da seid ihr ja! Barney! Niemand hat mir gesagt, dass Sie in Melbourne sind! Gilly hat kein Wort verraten.«
Barney erhob sich. »Gilly wollte Ihnen nicht die Überraschung nehmen. Sind Sie Immer noch so toll in mich verliebt, Lucy?«
Sie lächelte schelmisch, und wenn sie lächelte, wirkte sie wie ein junges Mädchen.
»Aber ja doch, Darling.«
Sie wandte sich um, und ich bemerkte jetzt erst den Herrn, der neben ihr stand. In seinem tadellos sitzenden Abendanzug sah er geradezu übermäßig korrekt aus. Neben ihm wirkte Barney beinahe wie ein Landstreicher, den man soeben aus dem Straßengraben aufgelesen hatte.
»Darf ich Sie mit Jack Courtney bekannt machen...?« Lucy hatte ihren Begleiter am Arm gefasst, ihre Stimme klang leise triumphierend.
Courtney begrüßte mich mit einem tiefen Blick. Lucy stand beobachtend neben ihm, mit leicht zur Seite geneigtem Kopf, wie ein buntschillernder Vogel.
Barney und Courtney schüttelten sich die Hände, und Lucy ließ sich in einen Sessel sinken. »Bringt mir was zu trinken«, rief sie. »Ich verdurste! Lieber Barney, Sie müssen mir unbedingt sagen, wer morgen das Rennen macht... War es heute Nachmittag bei Franesca nicht himmlisch, Gilly? - Für mich bitte Gin mit Zitrone.«
Der Blich, mit dem sie sich gleich darauf von Courtney Feuer für ihre Zigarette geben ließ, war tief und sprechend. Gleich darauf waren ihre Augen wieder blau und voller Unschuld.
»Wir haben überall nach Ihnen gesucht, Gilly«, wandte sie sich zu mir. »In diesem Durcheinander hier war es fast wie mit der berühmten Stecknadel im Heuschober.«
»Lucy hat mir schon viel von Ihnen erzählt«, sagte Courtney galant. »Es ist schön für mich, alle ihre Freunde kennenzulernen.«
Ich hoffte nur, dass sie ihm nicht alles erzählt hatte, was sie über mich wusste!
Seine Stimme klang ruhig und warm, wie man es sonst kaum bei Australiern findet. Natürlich! Sein Akzent war ja eindeutig. Er musste Engländer sein.
»Glauben Sie kein Wort von dem, was Lucy Ihnen erzählt.« Barney schüttelte mit gespielter Traurigkeit den Kopf. »Sie ist eine unverbesserliche Lügnerin. Aber sie kann nichts dafür - es kommt von ihrer zu regen Phantasie.«
Lucys große Augen flackerten. »Das ist eine ganz schöne Verleumdung, mein Lieber. Als Zeitungsmann sollten Sie vorsichtiger sein mit derart gefährlichen Feststellungen - besonders über Ihre Freunde. Aber ich vergebe Ihnen großzügig, denn morgen ist ja der große Tag. Jade hat noch nie das Rennen um den Pokal von Melbourne erlebt. Er ist das erste Mal dabei.« Während sie sprach, berührten ihre schlanken Finger mit den korallenroten Nägeln Courtneys Arm.
»Ich fürchte, dass ich mich recht unerfahren benehmen werde«, hörte ich Courtneys faszinierende Stimme. »Aber Lucy hat mich in die Lehre genommen.«
Innerlich musste ich lachen bei dem Gedanken, dass Lucy ihn in die Lehre genommen hatte - sie würde das gründlichst besorgen.
»Schön, dass wir Barney und Gillian getroffen haben«, sagte Lucy gerade zu ihm, und ihre Stimme klang in diesem Augenblick direkt ernst. »Sie sind alte Freunde von mir. Außerdem weiß Barney praktisch alles über Pferde, alles, was man sich nur denken kann. Stimmt doch, mein Lieber? Sie sind für mich direkt ein Geschenk des Himmels. Ich bin nämlich pleite, restlos pleite. Ich muss morgen unbedingt gewinnen.«
Das war nichts Ungewöhnliches bei Lucy. Ich hatte mindestens schon ein dutzendmal von ihr gehört, dass sie restlos pleite sei. Aber was sie in tiefster Armut leben nannte, schien für mich ein ganz angenehmes Dasein, Sie würde es doch nie lernen, richtig zu wirtschaften.
»Ich dachte mir schon, dass Sie zum Pokal in Melbourne sein würden«, wendete sich Barney an Lucy.
Sie gab ihm einen Klaps auf die Hand and lachte.
»Ich habe noch nie einen Pokal verpasst. Ich kam jedes Jahr mit Don her.« Ihr Gesicht umwölkte sich einen Augenblick bei dem Andenken an ihren verstorbenen Gatten. Sie verstand das so wunderbar - nur ein leichter Schatten flog über ihre blauen Puppenaugen. Ich glaube, dass dieses Gefühl zum Teil echt war, obwohl Lucys Gefühle nie sehr tief gingen. Sie gehörte zu jener Sorte Frauen, die einen starken, energiegeladenen Mann um sich brauchen. Wenn der eine verschwand, füllte ein anderer die entstandene Lücke. Courtney schien der letzte zu sein, und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass Lucy ihn nicht so leicht loslassen würde. Irgendwie unterschied er sich auch von der Schar, die sich vor ihm mit so erstaunlicher Schnelligkeit gegenseitig abgewechselt hatte.
Barney hob sein Glas. »Auf unser Wohl. Gilly und ich, wir feiern nämlich.«
»Was feiert ihr denn?«, fragte Lucy scharf.
»Nun, wir feiern halt mal«, grinste Barney sie an. »Man muss ja nicht immer einen besonderen Grund dafür haben.«
Lucy lehnte sich in ihren Sessel zurück und seufzte. Sie senkte die Lider und als sie uns wieder anschaute, schien der babyhafte Ausdruck ihrer Züge wie weggewischt. Ich war ein bisschen fassungslos, denn für einige wenige Sekunden blickten ihre Augen alt und resigniert ganz im Hintergrund glaubte ich sogar Furcht darin zu lesen.
Sie musste wohl bemerkt haben, dass ich sie beobachtete. Sie fuhr zusammen und lächelte. Es war wieder die alte Lucy, die mich anlächelte. Ich musste mir alles nur eingebildet haben.
»Es sollte Sie jemand vor Lucy warnen«, sagte Barney gerade zu Courtney. »Sie hat viel zu viel Energie. Sie ist ruhelos, stürmisch und unberechenbar.«
Courtneys Mund verzog sich zu einem Lächeln, aber seine Augen verrieten Kühle und Teilnahmslosigkeit. Gerade diese Reserviertheit musste auf Lucy anziehend wirken. Ein Mann, den sie nicht um den kleinen Finger wickeln konnte, musste entschieden reizvoll für sie sein.
Sie sprang auf. »Barney, Sie sind ein Biest, ich hasse Sie. Aber ich tanze für mein Leben gern mit Ihnen.« Sie zog ihn fort und ließ eine Wolke ihres aufreizenden Parfüms zurück.
Barney schnitt mir über ihre Schulter hinweg ein Gesicht, und ich musste lachen, weil ihre goldblonden Locken fortwährend gegen seine Brust pendelten. Lucy und Barney taten immerfort so, als hassten sie sich, um sich im nächsten Augenblick umso inniger zu lieben. Dieses endlose Spiel schien ihnen Spaß zu machen.
Courtney hatte sich zurückgelehnt und beobachtete das tanzende Paar. Zwischen uns herrschte peinliches Schweigen. Ich brach es endlich mit meiner linkischen Frage: »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie in die Zeitung bringe? Ausländer sind für uns hier in Australien immer interessant.«
Ich bemerkte sofort die steile Falte auf Courtneys Stirn und hatte das unbedingte Gefühl, soeben einen schrecklichen Fauxpas begangen zu haben. Er schien meine Verwirrung zu bemerken, denn er begann über Australien zu sprechen. Mit seiner angenehmen Stimme machte er eifrig Konversation, als ob er mich damit von meinem peinlichen Gefühl befreien wolle.
Also schön! Wenn er nicht in die Zeitung kommen wollte - dann eben nicht.
»Wie lange sind Sie schon in Australien?«, fragte ich ihn.
Er zögerte einen Augenblick. »Ungefähr ein halbes Jahr. Ich fühlte mich ziemlich einsam, bis ich Lucy traf. Sie ist wirklich wunderbar. Sie scheint einfach alle Welt zu kennen, nicht wahr?«
Ich nickte. Damit hatte er ganz recht. Sie kannte nicht nur alle Welt, sondern wusste auch, wie groß die einzelnen Bankkonten waren. Sie wusste sogar, welche Ehen glücklich waren und welche nicht.
Die Musik brach ab und es dauerte lange, bis Barney und Lucy wieder an unserem Tisch anlangten. Sie hatte sich in Barneys Arm eingehängt, aber ihre Augen suchten Courtney.
Die Luft war stickig und warm, aufatmend ließ sie sich in einen Sessel sinken und fächelte sich mit einem Spitzentuch Kühlung zu, während sie mich fixierte.
»Ich hoffe, Sie haben sich gut mit Jack unterhalten, während ich Barney gegenüber meine Pflicht erfüllt habe.«
Barney blickte sie drohend an. »Die Pflicht, meine Liebe, war auf meiner Seite. Und jetzt ist es Gott sei Dank überstanden.«
»Lucy lachte zufrieden, wie ein kleines Mädchen, das sich einen Schabernack erlaubt hat.
Ich wollte sie fragen, ob sie Ruth gesehen hatte - oder Larry. Aber ich fand nicht die rechten Worte. Ich lehnte mich zurück und hörte zu, wie Lucy und Barney die Vorzüge der Pferde beim Pokalrennen diskutierte. Große Chance, so hörte ich, war nichts weiter als eine alte Kracke, Unglücksrabe verdiente seinen Namen, und Freudentag war lediglich ein Freudentag für die Buchmacher.
»Ich setze alles auf Grauvogel«, verkündete Lucy.
»Warum?«, fragte Barney. Es klang gleichmütig, aber sein Blick verriet mir, dass er sehr interessiert war. »Wahrscheinlich haben Sie heute Nacht von Vögeln geträumt...«
»Oh, nein! Ich bin ja kein Hellseher«, unterbrach Lucy ihn schnell. »Ich wünschte, ich wäre es! Dann würde ich alle Siege voraussehen und für den Rest meines Lebens im Geld schwimmen... Nein, der wahre Grund ist, dass Grauvogel Ruth Cornell gehört, und Ruth hat immer und in jeder Hinsicht Glück gehabt - auch in der Liebe.« Sie schwieg plötzlich und schlug sich mit der Hand auf den Mund.
Zweites Kapitel
Ich blickte hastig auf meine Zigarette und verwünschte Lucy. Ich war mir nicht im Klaren darüber, ob ihre Bemerkung rein zufällig war oder ob sie die Absicht hatte, mein Reaktion zu beobachten.
Barney wechselte sofort das Thema. Aber ich fühlte, wie Courtney mich musterte. Diesen Blick aus seinen schwarzen, intelligenten Augen konnte ich nicht ertragen. Verlegen starrte ich auf den Tisch.
Ich wünschte, Lucy hätte nicht gerade in diesem Augenblick Ruth erwähnt, ob nun unabsichtlich oder böswillig. Jetzt musste ich an Larry denken und kam ins Träumen über jene Zeit, als Larry und ich gemeinsam zum Rennen um den Pokal von Melbourne waren. Genau vor einem Jahr... Wir hatten unser Geld verloren und darüber gelacht, weil uns damals Geld völlig gleichgültig war. Oder besser gesagt, mir war es gleichgültig. Ich war viel zu glücklich. Ich trug zum ersten Mal meinen Verlobungsring - Diamanten und Saphire, in Gold gefasst, ein Ring, den schon Larrys Mutter und davor seine Großmutter getragen hatten. Die Hochzeitsvorbereitungen waren bereits im Gange - für eine Hochzeit, die niemals stattfand, weil Larry die hübsche, reiche Ruth Marlowe kennenlernte...
Alle hatten mich bedauert, als Larry und Ruth heimlich heirateten. In den Zeitungen erschien nur eine winzige Anzeige. Mr. und Mrs. Larry Cornell! Als die Reporter endlich dahinterkamen, dass diese Mrs. Larry Cornell niemand anderes war als die reiche Erbin Ruth Marlowe, hatte sich das junge Paar bereits auf Ruths wunderschönen Landsitz oben in den Bergen zurückgezogen.
Im vergangenen Jahr hatte ich Ruth einige Male zufällig getroffen. Es ließ sich ja nicht vermeiden. Sie war sehr selbstsicher und stets nach der neuesten Mode gekleidet. Die Schlagzeilen im Gesellschaftsteil der Zeitungen galten fast immer ihr: Die entzückende - Mrs. Larry Cornell von ihrem Landsitz in Viktoria auf kurzem Besuch in Sydney! Mrs. Larry Cornell, Besitzerin von Hexenritt, beobachtet den Sieg ihres Pferdes um den Pokal von Sydney... Ich blickte Lucy an. In ihren blauen Babyaugen stand Reue. Sie lachte gekünstelt auf. »Ich bin ein taktloses Biest.
Ich zuckte die Achseln und hoffte, dass es sehr nonchalant wirkte. »Aber nicht doch, Darling. Larry ist mir doch jetzt gleichgültig.« Barney bestellte neue Drinks.
Courtney bat mich um den nächsten Tanz, aber ich fing gerade noch rechtzeitig Lucys Blick auf und lehnte schnell ab. »Das ist eine meiner Lieblingsmelodien«, sagte Lucy fröhlich, und damit entführte sie ihn auf die Tanzfläche. Ich hatte den Eindruck, dass er nur widerstrebend folgte, aber Lucy schien es nicht zu bemerken. Sie blickte verliebt zu ihm auf und legte ihre schmalen Hände fest auf seine Schultern.
Barney bemerkte meinen abwesenden Blick. »Ich dachte gerade über Courtney nach«, sagte ich erklärend. »Wo mag Lucy ihn wohl getroffen haben? Ich finde ihn ein bisschen - seltsam.«
»Unsinn!«, meinte Barney. »Scheint ein ganz sympathischer Bursche zu sein. Und im Übrigen ist Lucy alt genug, um selbst auf sich aufzupassen.«
Von Zeit zu Zeit sah ich Lucys goldblondes Haar zwischen den tankenden Paaren aufschimmern. Courtney schien ein sehr sicherer Tänzer zu sein, und ich dachte im Stillen: Deshalb also mag ich ihn nicht - er tanzt gut, ist gut gekleidet, alles an ihm ist vollkommen. Er wirkt beinahe wie ein Gigolo, oder was ich mir eben unter einem Gigolo vorstelle.
Ich verlor sie für eine Minute aus den Augen, dann tauchten sie dicht an unserem Tisch wieder auf. Lucys gelbes Taftkleid wehte um ihre Fesseln und enthüllte die zierlichen Füße in den Goldsandaletten. Sie sprach eifrig auf Courtney ein. Aber er schien sie nicht zu hören. Er schaute wie gebannt nach der großen Schwingtür, die in die Halle führte.
Ich folgte seinem Blick und verstand sofort, warum er Lucy nicht beachtete, warum er so fasziniert nach der Tür starrte...
Mit einer Hand an die große Glasscheibe gelehnt, stand dort das anziehendste Mädchen, das ich jemals gesehen hatte. Sie war hochgewachsen und ungewöhnlich schön. Ihr ovales Gesicht mit den hohen Wangenknochen war von aschblondem Haar eingerahmt, das ihr in breiten Wellen bis auf die Schultern herabfiel; das Abendkleid aus schwerem, schimmerndem Brokat umschloss ihre gertenschlanke Gestalt, der tiefe, quadratische Ausschnitt enthüllte die mäkellose, weiße Haut.
Wer mochte sie sein? Ich wusste genau, dass ich sie noch nie gesehen hatte, sonst hätte ich mich bestimmt daran erinnert. Sie war viel zu auffallend, als dass man sie jemals wieder vergessen könnte.
Ich blickte wieder zu Courtney.
Und da geschah etwas Seltsames. Nicht mehr als ein unbedeutender Zwischenfall, aber er prägte sich unauslöschlich in mein Gedächtnis. Courtney stand plötzlich still, wie angewurzelt; Lucy geriet dadurch ins Stolpern und wäre fast hingefallen, aber er schien es nicht zu beachten. Seine Augen hingen noch immer an der blonden Unbekannten, und jetzt war sein Blick voller Anbetung, und noch ein Ausdruck lag darin, den ich nicht enträtseln konnte. Courtney schien Lucy und alles andere um sich herum vergessen zu haben.
Das Mädchen blickte sich wie suchend um. Mochte ihre Aufstellung vor der funkelnden Glasscheibe eine bewusste Pose oder unbeabsichtigt sein - sie gab ein vollendetes Bild ab.
Plötzlich wandte sie sich um und ging wieder hinaus in die Halle. Auf ihrem Abendkleid blitzten silberne Sterne.
Ich schaute nach Lucy und Courtney aus, aber sie waren verschwunden.
Als die Musik endete und sie zurückkamen, lächelte Courtney Lucy an, seine Augen hatten wieder ihre normale tiefe Schwärze - aber ich fand sie ein wenig erschreckend.
Courtney rückte ihr den Sessel zurecht. »Recht schwül hier drin«, murmelte er dabei und erntete ein strahlendes Lächeln.
Ich nahm den winzigen Spiegel aus meiner Abendtasche und prüfte meine Frisur, strich eine Locke zurück...
In diesem Augenblick beugte sich Barney so dicht zu mir herüber, dass ich seinen Atem spüren konnte. »Jetzt pack die Lanze, fest und bereite dich zur Schlacht, liebe Gilly«, flüsterte er.
Ich verstand ihn sofort, denn ich hatte Larry in meinem Spiegel entdeckt. Ich hatte ihn im selben Augenblick bemerkt wie Barney. Larry - an einem Arm Ruth und am anderen ein wunderschönes blondes Mädchen - ein hochgewachsenes Mädchen in einem Abendkleid aus schimmerndem Brokat. Das Mädchen, das Courtney so sehr aus der Fassung gebracht hatte.
Ich schob den Spiegel zurück in die Handtasche. Meine Hände zitterten leicht. Jeden Augenblick musste Larry uns sehen. Er kam direkt auf unseren Tisch zu. Den ganzen Abend hatte ich auf diesen Augenblick gewartet - und nun war es also soweit!
»Ruth! Althea! Da seid ihr ja endlich«, rief Lucy mit heller, aber etwas schriller Stimme. »Wir warten schon die ganze Zeit auf euch. Hallo, Larry... Ruth sieht heute Abend entzückend aus, nicht wahr?«
Barney und Courtney erhoben sich, und da entdeckte ich auch schon Larrys Hand auf der Lehne meines Sessels.
Ich blickte auf Ruth, die uns begrüßte. Aber in Wirklichkeit sah ich sie gar nicht. Ich sah nur Larry, der neben ihr stand und auf mich herablächelte. Mein Herz machte einen wilden Sprung.
Ich wollte etwas erwidern, brachte aber kein Wort heraus.
»Wie in den alten Zeiten, stimmt’s?«, sagte Ruth. Ich sah und hörte alles wie durch einen Schleier, aber dieser Hauch Bosheit in ihrer Stimme - dieser Triumph entging mir nicht.
Stolz wie ein Zauberkünstler, der ein Kaninchen aus dem Zylinder zieht, machte Lucy Courtney mit den anderen bekannt.
Ich brachte es nicht fertig, Larry anzusehen, obwohl ich danach fieberte. Ich fühlte, wie er darauf wartete, in meinen Augen Vergebung und Freundschaft zu lesen, aber ich konnte seinen Blick nicht erwidern - noch nicht -, denn ich hatte ihm nicht vergeben, dass er Ruth geheiratet hatte. Eine Woge Hass kam in mir hoch. Sie war viel zu hübsch, viel zu gewandt, viel zu reich. Und ich hasste sie wegen all dieser Vorzüge. Aber am allermeisten hasste ich sie, weil sie mir Larry vor der Nase weggeheiratet hatte.
Als sie mich mit Althea Graham bekannt machte, sagte ich lächelnd: »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Althea blitzte mich aus ihren grünen Augen an. »Ich habe Sie heute Abend schon einmal gesehen. Ich glaube, unsere Zimmer liegen direkt gegenüber - am Ende des Korridors. Sie gingen unmittelbar vor mir die Treppe hinab.« Sie ließ ein kehliges Lachen hören. »Ich muss allerdings gestehen, dass es Ihr Kleid war, das ich wiedererkannte. Es ist entzückend.«
Althea Graham hieß sie also! Ich hoffte, dass wir uns gut verstehen würden.
Lucy bewunderte Ruths neue Frisur, Barney und Larry schleppten zwei Sessel vom Nachbartisch herbei. Ein- oder zweimal tasteten Ruths Augen prüfend Courtney ab, ruhten anerkennend auf seinen breiten Schultern, auf seinem dichten, schwarzen Haar. Aber Courtney beachtete Ruth nicht. Er lächelte Althea an - der typische Engländer, höflich, charmant.
»Als ich Sie zuerst sah«, begann er, »glaubte ich, Sie schon einmal gesehen zu haben. Vor langer Zeit.«
Althea zog leicht die Stirn kraus. »Da müssen Sie sich irren.« Dann lachte sie. »Man könnte beinahe glauben, Sie wollten auf die übliche Art meine Bekanntschaft machen. Aber das ist ja nun wirklich nicht nötig, wir sind uns ja ordnungsgemäß vorgestellt worden. An eine frühere Begegnung kann ich mich leider nicht besinnen. Ich habe in den letzten Jahren in Perth gelebt und mich schließlich entschlossen, nach dem Osten zu gehen. Und nun bin ich hier. Ein absolut nicht aufregendes Leben.«
»Dann habe ich mich geirrt«, sagte Courtney galant. »Aber Sie erinnerten mich an eine Dame, die ich einst im guten alten England kannte. Nur, dass Sie noch viel schöner sind.«
»Wie schrecklich, eine Doppelgängerin zu haben«, lachte Althea. »Die Dame, die ich kannte, trug stets einen Smaragdring. Er passte zu ihr.« Er seufzte. »Sie war reizend.«
Althea legte ihre Hände auf den Tisch - lange, schlanke Finger mit dunkelroten Nägeln, ohne Ring. Mir fiel auf, dass sie keinerlei Schmuck trug.
Sie zuckte ihre eleganten Schultern. »Leider besitze ich keinen Smaragd, Mr. Courtney. Ihre Freundin muss Glück gehabt haben. Schöne Smaragde sind selten.«
Courtney betrachtete ihre Finger, ein Lächeln umspielte seinen Mund.
»Solche Hände haben keinen Schmuck nötig«, sagte er mit der Galanterie eines alten Höflings.
Ich blickte zu Lucy hinüber. Sie unterhielt sich mit Ruth, aber ich hätte schwören können, dass ihr keins von den Worten entgangen war, die Courtney und Althea wechselten.
Dann setzte sich Larry neben mich, und ich vergaß Courtney und Lucy und Althea und alles um mich. Ich sah nur noch Larry, er war so nah, dass ich ihn hätte berühren können.
»Gilly, es ist so schön, dich wiederzusehen.«
Ich riss mich zusammen.
»Ja, es ist lange her...«, fuhr er leise fort.
Endlich fand ich meine Stimme wieder. »Ich komme nicht oft nach Melbourne - nur wenn ich beruflich hier zu tun habe.«
Seine braunen Augen, die ich so geliebt hatte, lächelten mich an. »Du solltest öfter kommen«, sagte er. »Wir vermissen dich.«
Bei diesen Worten begann mein Herz so laut zu klopfen, dass ich Angst hatte, es könne jemand hören. Es war eine Erlösung, als Ruth uns unterbrach. »Larry, Darling, wir wollen oben in unserem Appartement etwas trinken. Hier unten ist es ja furchtbar überfüllt.«
»Aber Ruth!«, entgegnete Larry mit ungeduldiger, fast scharfer Stimme. »Wir sind doch gerade erst heruntergekommen. Nun lass uns doch um Gottes willen bleiben.« Und wie zur Entschuldigung für seinen barschen Ton wandte er sich an uns alle. »Ruth kann nicht fünf Minuten lang stillsitzen.«
Barney lachte und meinte, das sei bei einer Frau nichts Ungewöhnliches.
»Also schön. Dann bleiben wir eine Stunde hier und tanzen«, sagte Ruth schließlich. »Aber dann müsst ihr alle mit nach oben kommen.«
Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück und glättete das lange, blaue Kleid. »Morton wird bald kommen. Der Arme, er musste noch geschäftlich nach Sydney. Aber« - sie blickte auf ihre zierliche, mit Diamanten und Saphiren besetzte Armbanduhr - »wenn sein Flugzeug pünktlich ist, muss er ungefähr in einer Stunde hier sein. Er ist um sieben abgeflogen.«
Morton war ihr Halbbruder und wahrscheinlich der einzige Mensch außer Larry, den sie wirklich gern hatte.
»Er wird sich riesig freuen, wenn er Sie und Barney hier vorfindet, Gilly«, fuhr sie mit ihrer kühlen, angenehmen Stimme fort. »Dieses Rennen wird bestimmt ein Erfolg. Es hat ja alles schon so gut angefangen.«
Sie lächelte wie ein verhätscheltes Kätzchen und zeigte ihre kleinen weißen Zähne.
»Für Sie hat es auf jeden Fäll gut angefangen«, meinte Barney. »Grauvogels Probelauf heute Morgen war wirklich vielversprechend. Sie haben allen Grund, in Hochstimmung zu sein.«
Ruth lächelte ihn an, dabei schimmerten ihre braunen, gelbgefleckten Augen hart und kalt wie zwei gläserne Murmeln. Wer hat Ihnen denn das über Grauvogel erzählt?« Ihre Stimme klang eisig.
Barney hielt ihrem Blick stand. »Ich bin Reporter, Ruth. Schließlich ist es meine Aufgabe, derartige Dinge herauszufinden.«
Sie nahm sich eine Zigarette aus Larrys Etui.
»Sie waren sich doch wohl darüber im Klaren, dass es nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war?« Ihre Augen funkelten Barney grimmig an.
»Ich wünschte, ich hätte das früher gewusst«, seufzte Barney heuchlerisch. »Jetzt ist es leider zu spät. Die Nachtausgabe der Daily Times wird die Meldung bereits bringen - genau gesagt, in spätestens einer Stunde wird die Ausgabe in Sydney auf der Straße verkauft.«
Ruth öffnete gerade den Mund zu einer Entgegnung, aber Larry rief schnell dazwischen: »Ich wüsste nicht, dass das etwas ausmacht, Ruth.«
Sie riss sich zusammen und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. »Ich hatte wirklich ganz vergessen, dass Sie ja beruflich hier sind, Barney. Es ist entnervend, wenn man sein Privatleben immer in der Zeitung nachlesen kann.«
Barney lachte. »Aber liebste Ruth! Ich habe nicht das geringste Interesse an Ihrem Privatleben. Nur an Grauvogel bin ich interessiert.«
Die Kapelle begann einen Rumba, und ich hörte Larrys Stimme: »Wir wollen tanzen, Gilly.« Ich stand auf, steif und eckig wie ein Automat, und lag gleich darauf in seinen Armen. Ich vergaß, dass die winzige Tanzfläche überfüllt und stickig war, die Luft so dick wie Londoner Nebel. Ich wusste nur, dass Larrys Kopf dicht bei mir war, und wenn ich zu ihm aufblickte, strahlten mich seine braunen Augen an. Ich wollte nicht sprechen, wollte nicht aus meinem Traum aufwachen.
»Wir müssen uns jetzt öfter sehen, Gilly«, flüsterte mir Larry ins Ohr. »Du musst uns besuchen...«
Ich antwortete nicht. Was sollte ich dazu sagen? Es war das letzte, was ich mir gewünscht hätte, diesen Landsitz zu besuchen, der jetzt Larrys Heim war, das Heim, das er mit Ruth teilte.
»Ruths Haus ist sehr schön. Es hat eine wunderbare Aussicht. Es würde dir gefallen, Gilly. Es ist schön lind ein Vermögen wert, wie alles, was Ruth besitzt. Offengestanden, es ist schon ein wenig zu schön, zu vollendet.
Ich blickte ihn an, erschrocken und überrascht über die Bitterkeit seines Tones. Über sein Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln, ein hartes, freudloses Lächeln, das ihn ganz fremd machte. Was war in diesem einen Jahr aus Larry geworden? Seine unbeschwerte Fröhlichkeit schien völlig verschwunden. Seine Züge waren hart, mit strengen Falten um Mund und Nase. Es war direkt eine Erleichterung für mich, als die Musik abbrach und wir zu den anderen an den Tisch zurückkehren konnten.
Wenn ich mich später an diese Stunden im Kabarett des Austral zu erinnern versuchte - an diese Stunden, bevor das Furchtbare geschah -, so war es mir, als hätte der ganze Abend nur aus verschwommenen Bildern bestanden. Ich sah und erlebte alles wie durch einen Schleier, seltsam unbeteiligt und beziehungslos zu mir selbst - und trotzdem blieb jedes dieser Bilder klar und mit blendender Schärfe in meinem Gedächtnis haften...
Da war Lucy, unaufhörlich redend, gestikulierend und sich so vertraulich an Courtney schmiegend, dass es mich peinlich berührte; Ruth, schön und bezaubernd, mit lockenden, sanften Augen, in deren Tiefe man Härte und Grausamkeit lesen konnte; Althea, kühl und unnahbar, in eine Wolke Parfümduft gehüllt; Larry, um den Mund einen müden, resignierten Zug, und Barney, warm und hilfsbereit, der mich nicht aus den Augen ließ.
Und dann jener peinliche Zwischenfall. Am Nebentisch saß ein junges Mädchen mit glasigen, trunkenen Augen und wies mit dem Finger auf Ruth. »Ich möcht’n Halsband wie die da.« Ihr Begleiter, ebenfalls nicht mehr ganz nüchtern, erwiderte lachend: »Aber Kindchen, das ist doch nur Glas, sind ja gar keine Diamanten!« Dabei grabschte er vergeblich mit seinen großen Händen nach dem Mädchen, das ihm geschickt auszuweichen verstand.
»Ich will aber eins aus Diamanten!« Ihre trunkene Stimme war schrill, als sie sich über den Tisch lehnte und gierig auf die Diamanten starrte, die an Ruths schlankem, weißem Hals funkelten.
An unserem Tisch herrschte betretenes Schweigen. Ruth griff an ihr Halsband, und ein selbstzufriedener Ausdruck trat auf ihr Gesicht. Die wunderbar geschliffenen Diamanten funkelten wie tausend Sterne.
»Ein kostbares Halsband, Ruth.« Althea sprach aus, was ich gerade dachte.
Ich wusste, dass Ruth sich innerlich vor Stolz blähte, aber sie bemühte sich, in einem möglichst gleichmütigen Ton zu sprechen. »Ja, es ist ganz hübsch«, sagte sie nachlässig. »Es gehörte meiner Mutter. Ein Teil des Marlowe’schen Schmuckes.«
»Warum sind die Frauen eigentlich so vernarrt in Diamanten?«, fragte Barney trocken.
Lucy riss ihre Augen weit auf, überrascht
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Heather Gardiner/Apex-Verlag/Successor of Heather Gardiner.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx/123rf.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Dr. Birgit Rehberg.
Translation: Olga Otto und Christian Dörge (OT: Money On Murder).
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 05-18-2020
ISBN: 978-3-7487-4175-6
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