PAUL EDWARDS
PROTOAGENT JOHN EAGLE 1
- Fünf Romane in einem Band -
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE TODESNADELN (Needles Of Death)
DIE GEHIRNDIEBE (The Brain Scavengers)
DER LACHENDE TOD (The Laughing Death)
FATIMAS FAUST (The Fist Of Fatima)
DIE MORDTEUFEL (The Death Devils)
Das Buch
Der Prototyp des modernen Geheimagenten ist ein Mann wie John Eagle: von den Apachen gehärtet, von Weißen geschult, unterstützt von den Waffen der Zukunft.
John Eagle erledigt ebenso gefährliche wie phantastische Missionen, wie es sie auf Erden kein zweites Mal gibt! Seine Befehle erhält er von Mr. Merlin - aus einer geheimen Kommandozentrale, tief verborgen unter einem Vulkan auf Hawaii; seine Gefährten sind Tod und Verderben, sein Ziel ist die ganze Welt...
Paul Edwards' legendäre Roman-Serie PROTOAGENT JOHN EAGLE - die US-Antwort auf James Bond - enthält sämtliche Zutaten, die das Genre des Agenten-Romans so unwiderstehlich machen: knallharte, spannungsgeladene Action vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, wunderschöne Frauen, exotische Schauplätze und Over-the-top-Science-Fiction-Elemente - sowie im Falle von JOHN EAGLE zusätzlich eine unübertroffen eingefangene 1970er-Jahre-Atmosphäre.
Dieser Band enthält die Romane Die Todesnadeln, Die Gehirndiebe, Der lachende Tod, Fatimas Faust und Die Mordteufel.
DIE TODESNADELN (Needles Of Death)
Prolog
John Eagles Vater hieß Dennis McTary und stammte aus dem Klan der Innes. Er wurde völlig verarmt in Schottland geboren. Mit siebzehn tötete er im Uisgebeatha-Rausch einen Mann mit bloßen Händen. Es war Notwehr, aber noch in derselben Nacht verließ Dennis McTary Schottland auf Nimmerwiedersehen.
Seine Mutter hieß Rose Townsend-Roberts, ein graziles, dunkelhaariges Mädchen, hübsch wie die Dorsetrose, nach der sie benannt worden war. Sie war ein stilles Mädchen mit der Zurückhaltung der aristokratischen Engländerin, bis sie Dennis McTary begegnete. Dann explodierte ihr Leben wie eine Bombe.
Dennis, der inzwischen Ingenieur geworden war, baute damals zwischen Bridgeport und dem Dorf Burton-Bradstock eine Straße am Kanal entlang. Am Abend nach der Fertigstellung wurde in der Gaststätte des Ortes gefeiert. Dennis trennte sich von seinen Kollegen, nachdem er ein Glas mit ihnen getrunken hatte, und machte einen Spaziergang unter den Klippen am Strand entlang. Die Arbeit war zu Ende, eine schottische Verdrießlichkeit erfüllte ihn. Er fühlte sich einsam, ruhelos, voller Sehnsucht nach Abenteuer und zu lange ohne weibliche Gesellschaft. Nichts in Bridgeport, dem Dorf oder auf den Nebenstraßen und Wegen hatte seine Aufmerksamkeit erregt.
Bis er Rose Townsend-Roberts begegnete. Als er sie zum ersten Mal sah, ging gerade der Mond auf. Sie rauchte, eine Zigarette und starrte aufs Meer hinaus. In diesem ersten Augenblick wusste Dennis, dass sie eine Lady war - und dass er sie besitzen wollte. Er war ein rauer Mann, in dessen Adern das Blut der alten schottischen Krieger kochte, und wenn er wollte, konnte er völlig unwiderstehlich sein. Jetzt wollte er.
Er tauchte aus der Nacht vor ihr auf, hochgewachsen und dunkel, und fragte in ziemlich rauem, schottischem Englisch, ob er vielleicht eine Zigarette haben könnte. Ohne zu wissen, wie ihr geschah, gab Rose ihm eine Zigarette, zündete sie für ihn an und teilte den Felsbrocken, auf dem sie saß, mit ihm. Als ihre Schenkel sich berührten, versuchte sie wegzurücken, wie es sich für eine wohlerzogene junge Dame gehörte, aber irgendwie konnte sie ihr Bein nicht bewegen. Diesmal war das Fleisch nicht schwach. Es war stark. Dennis McTary begann, in einem seltsam sanften Tonfall zu sprechen, und Rose war verloren.
Unrettbar verloren, selbst wenn sie den Wunsch gehabt hätte, gerettet zu werden. Aber daran dachte sie nicht einmal. Es war Vollmond in dieser Nacht, und der Zauber durchdrang ihren Körper, lange bevor Dennis McTary es tat. Eine Zeitlang, so dachte sie später, war sie wie im Rausch. Als er sie endlich küsste, kam sie stumm und willig in seine Arme. Sie fühlte eine Schwäche in sich, eine Lethargie, als sei sie tagelang ausgeblutet, und sie entdeckte, dass sie keinen eigenen Willen besaß, dass sie ein fast besinnungsloses Ding war, einzig von dem Wunsch besessen, von der wilden Gewalt durchdrungen zu werden, die sich in diesem massigen Mann verkörperte.
In den nächsten Minuten wurde der Mann gezeugt, der den Namen John Eagle tragen sollte. Eine Woche später waren sie verheiratet und auf einem Schiff unterwegs in die Staaten.
Eine amerikanische Gesellschaft hatte Dennis McTary angeworben, um in Arizona und Neumexiko eine Reihe von Straßen anzulegen. Der größte Teil des Landes war noch immer wild und unberührt, und obwohl es gute Hauptstraßen gab, herrschte Mangel an Nebenstraßen. Dennis McTarys erster Auftrag bestand darin, eine Straße in das wilde Land nahe dem größten Apachen- Reservat voranzutreiben. McTary war gerade damit fertig geworden, diese Straße zu planieren, als John Eagle, der Sohn, den er niemals unter diesem Namen kennen sollte, geboren wurde.
Zu dieser Zeit hafte man die Stämme der Apachen in einem ausgedörrten Reservat südlich des Gila River, zwischen den Galiuro- und den Pinaleno-Bergen, zusammengetrieben. Zahlenmäßig am stärksten waren die Be-don-ko-he, der Stamm Geronimos, und es war White Deer, Urenkelin dieses grimmigen, alten Kriegers, die die Erziehung des jungen John Eagle übernehmen sollte.
Dennis McTary traf White Deer und ihren Großvater - ihr Vater war bei einem Überfall in Mexiko getötet worden -, als er die geplante Straße zum erstenmal vermaß. Der alte Häuptling Ho-kwa-sikna, Weiser-alter-Hund-der-nicht-sterben-wird, akzeptierte Dennis' Geschenke und Gegenwart. White Deer, immer noch ein unverheiratetes Mädchen mit einer Haut wie brauner Samt, klaren, dunklen Augen und einem Körper wie ein Faun, hielt sich im Schatten des Tipi, beobachtete den großen rothaarigen Mann und machte sich ihre Gedanken.
Die Nacht, in der John Eagle geboren wurde, war voller Sturm und Raserei. Ein erstickend heißer Wind wehte über die Wüste und trieb Kakteen und Windhexen vor sich her, und in den Bergen sprangen die furchterregenden Flammenbündel eines elektrischen Gewitters um Grate und Vorsprünge. Dennis McTary hatte vorausgeplant und brachte Rose rechtzeitig aus dem primitiven Lager der Baustelle in das Apachen-Reservat. Rose wurde in das Tipi von White Deer getragen, und eine alte Squaw kam, um zu helfen.
Viele Stunden vergingen, bevor sie ihm seinen Sohn brachten. Dennis McTary blickte den karmesinroten Affen an, der sein Sohn war, und dann White Deer. Er wusste die Wahrheit schon, bevor sie in ihrem weichen, ausgezeichneten Englisch zu sprechen begann.
»Ihre Frau ist tot, Mr. McTary. Es tut mir leid. Wir konnten die Blutung nicht zum Stillstand bringen.«
Sie sahen Dennis McTary, wie er mit Roses Leiche in den Armen aus dem Lager in die Nacht und den Sturm hinauslief. Eine Woche lang kam er nicht zurück. Als er schließlich auftauchte, war er unrasiert, schmutzig und volltrunken. Er war zum Uisgebeatha zurückgekehrt. In der ersten Nacht nach seiner Rückkehr murmelte er im Delirium von einem Grab draußen in der Wildnis. White Deer behielt den fiebernden Mann und versorgte ihn - und machte sich ihre Gedanken.
White Deer nahm Dennis als Mann in ihr Tipi, wie es nach dem Stammesgesetz ihr Recht war. Ihr Großvater war dagegen, und sie drehte ihm den Rücken. Viele Krieger waren ebenfalls dagegen - nicht wenige hatten sie selbst seit langem zur Squaw begehrt. Aber schließlich schreckten sie alle vor ihrem Zorn zurück. Und vor dem Messer, das sie immer bei sich trug.
McTary behielt trotz dauernder Trunkenheit seinen Job, denn gute Ingenieure waren schwer zu finden. Er schaffte es irgendwie, drei Wochen im Monat zu arbeiten. Die Apachen akzeptierten ihn allmählich und nannten ihn den Whiskey-Mann.
White Deer weinte nicht, als sie ihr eines Tages seine Leiche brachten. Er hatte einem Arbeiter beibringen wollen, wie man einen Bulldozer fuhr; die Maschine war einen steilen Hang hinuntergestürzt und hatte ihn unter sich zermalmt. Dennis wurde in Fort Grant von dem Indianeragenten, einem Landsmann namens McPherson, begraben. McPherson war ein freundlicher, träger Mann, und nach einem langen Gespräch mit White Deer kamen sie überein, dass das Kind, das bis dahin noch keinen Namen hatte, bei den Apachen bleiben konnte. McPherson hatte Dennis McTary nicht gekannt, und es beschäftigte ihn auch nicht sonderlich. Er schrieb einen Bericht über die Angelegenheit und schickte ihn nach Washington, wo er bald darauf in den staubigen Akten verlorenging.
In der Nacht nach Dennis' Beerdigung kam Ho-kwa-sikna in den Tipi von White Deer. Er trug seinen Häuptlingskopfschmuck mit dem Sonnenmedaillon und den Adlerfedern.
»Wir müssen die Zeremonie durchführen«, sagte er zu seiner Enkelin. »Der Junge muss einen Namen haben. Sofort. Auch muss ein Zauber für ihn gemacht werden. Vielleicht akzeptiert das Volk ihn dann als deinen Sohn. Niemand akzeptiert ihn bisher. Es gibt Gerüchte. Man flüstert von bösem Zauber.«
White Deer, die in der Schule des weißen Mannes weitgekommen war, lächelte dem alten Mann zu. »Lass die Leute reden. Es stört mich nicht. Er ist mein Sohn und wird es immer sein. Ich werde ihn als Apachen und als weißen Mann erziehen, damit er von beidem das Beste bekommt. Ich fühle, dass mein Sohn ein großer Mann werden wird, in unseren Augen und in den Augen des weißen Mannes. Er wird unserem Volk helfen. Ich träume von diesem Jungen: was die Alten Zauber nennen würden. Medizin-Träume. Er wird ein großer Mann werden, ein großer Apache. Größer als Geronimo oder Cochise.«
Der alte Häuptling ging zu der winzigen Wiege in der Ecke. Er starrte aus schmalen, dunklen Augen auf das Baby hinunter. »Er muss einen Namen haben«, sagte er. »Welchen?«
White Deer runzelte die Stirn. »Kurz nachdem er aus der Wüste zurückgekommen war, trank sein Vater eines Nachts sehr viel und murmelte den Namen John. Später sagte er mir, dass der Vater der weißen Frau so hieß. Sie wollte ihren Sohn John nennen. Sie wusste, dass es ein Sohn würde.«
Ho-kwa-sikna bezweifelte ihre Worte nicht. Er war weise genug, um zu wissen, wie wenig er von Squaws verstand.
Während er unter den Adlerfedern nach einer Laus kratzte, sagte er: »In dieser Zeit ist es klug, den Namen eines weißen Mannes zu tragen. Zum Teil. Aber wenn er ein Apache werden soll, wie du sagst, muss er auch einen indianischen Namen haben. Außerdem wird der Rat des Stammes es verlangen.«
»Lass mich nachdenken«, sagte White Deer.
Bis jetzt hatte das Kind gekräht und vor sich hin gegurgelt. Nun schwieg es und starrte mit hellblauen Augen zu dem alten Mann auf. »Aiiiiih«, grinste der Alte. »Ein blauäugiger Apache! Er wird tatsächlich ein großer Krieger werden müssen, um das wettzumachen.« Er streckte einen knochigen Finger aus, um das Kind am Bauch zu kitzeln.
White Deer hatte dem Baby eine Adlerklaue als Spielzeug gegeben. Als der alte Mann den zarten kleinen Bauch berührte, quietschte das Kind und holte mit der Kralle aus. Es war nicht die Bewegung eines Säuglings - Kraft lag dahinter und Absicht, und die blauen Augen hatten sich zusammengezogen.
»Aiiiih!« Ho-kwa-sikna riss die knorrige Hand zurück und starrte auf sie herunter. Vier quer über den Handrücken laufende Kratzer begannen sich rot zu verfärben.
White Deer lachte. »Siehst du, alter Mann? Ich habe dir gesagt, dass er ein Krieger ist.«
Der alte Häuptling saugte Blut von seiner Hand und starrte das Kind an. Dann lachte er ebenfalls. »Du hast wahr gesprochen. Und er hat sich selbst einen Namen gegeben: John Eagle.«
Folgende Anzeige erschien in der New York Times:
GESUCHT: Junger Mann im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, der Gefahr liebt. Muss in Bestform sein und härteste Tests bestehen. Studium oder gleichwertige Ausbildung Voraussetzung. Unverheiratet und ohne engere Bindungen. Ausgewählter Kandidat muss sich langem und aufreibendem Training bei geringer Bezahlung und unter großer Gefahr aussetzen. Außerordentlich großzügige Entlohnung, falls der Kandidat überlebt. Er wettet sein Leben gegen die Zukunft. Seine Loyalität gegenüber den Vereinigten Staaten wird in keiner Weise beeinträchtigt. Ehemalige Mitglieder von CIA, FBI, Secret Service etc. sind nicht erwünscht. Handgeschriebene Bewerbungen, einschließlich kurzer Biographie, werden erbeten an Box XL 13.
John Eagle las die Anzeige noch einmal, diesmal sorgfältiger. Der Text war eigenartig abgefasst. Er roch nach Meuchelmord und Hinterlist, und Eagle fragte sich, ob so ein Job ihm liegen würde - und ob er der richtige Mann dafür war.
Erstes Kapitel
Sie warfen John Eagle an einem Spätsommermorgen kurz vor Tagesanbruch über 2.500 Quadratkilometern unberührter Wildnis ab. Das Flugzeug, aus dem er sprang, war schwarz gestrichen und flog ohne Licht. Außer dem Piloten war niemand an Bord; er und John sprachen nicht miteinander. Es gab nichts zu sagen. Alles war bereits vorbereitet. Alles.
Während er durch die Dunkelheit fiel - die Luft kalt an seinem fast nackten Körper, der Fallschirm ein flatternder Dom über ihm - bewegte Eagle den Kopf hin und her und versuchte, das Motorengeräusch weiterer Maschinen auszumachen. Aber er hörte nur das Singen des Windes. Trotzdem wusste er, dass die Flugzeuge da waren. Oder dagewesen waren: drei Maschinen. Jede hatte einen Mann abgeworfen: drei Männer.
Die drei Männer, die versuchen würden, ihn zu töten.
Kurz bevor er in das Piniengehölz fiel, bemerkte er die Gewitterblitze im Norden und Osten und das rauchig-rote Glühen von Waldbränden. Es würden noch mehr werden. Vielleicht war es möglich, die Waldbrände für sich arbeiten zu lassen, dachte er. Er brauchte Waffen. Außer einem Paar olivbrauner Shorts und kniehohen Mokassins besaß er nichts.
Die drei Männer, die ihn jagten, trugen Gewehre mit Zielfernrohren.
Als er in die Pinien fiel, kreuzte er die Beine, wie er es gelernt hatte, damit er nicht zerrissen wurde oder seine Hoden verlor. Er legte die Arme schützend vors Gesicht.
Eagles hundertachtzig Pfund Knochen und Muskeln brachen durch die obersten Zweige der Pinie. Er registrierte den Schmerz, ohne ihn wirklich zu fühlen, als der Baum die Haut seiner Arme und Beine abschürfte. Er wischte das Blut von seinem flachen Bauch, ohne sich viel darum zu kümmern, denn er wusste, dass die Verletzungen nur oberflächlich waren. Seine einzige Sorge war, dass ein größeres Tier seine Spur aufnehmen könnte. Es wehte genug Wind, um den Geruch weit zu tragen.
Er schlüpfte aus den Gurten und tastete nach der Verjüngungsrichtung des Astes, an dem er sich festhielt. Die Dunkelheit war vollständig, der Himmel bezogen, und die Feuer und Blitze am Horizont halfen ihm nichts. Nachdem er die Richtung gefunden hatte, glitt er auf dem langsam dicker werdenden Ast bis zum Stamm. Dort fand er eine Astgabel und machte es sich so bequem wie möglich. Er war jetzt wieder Apache. Wenn er diesen letzten, furchtbaren Härtetest überstehen wollte, dann als Apache und nicht als weißer Mann. Kein weißer Mann wäre dazu fähig gewesen.
John Eagle war zufrieden. Er war jung, kannte seine Stärken und Talente, seine Fähigkeiten und Schwächen. Er wusste, dass die berühmte Universität, deren Examen er summa cum laude bestanden hatte, ihm mehr geholfen als geschadet hatte. Wenn sie auch einige seiner Apachen-Instinkte geschwächt hatte, so hatte sie das durch hervorragende Ausbildung wiedergutgemacht. Die beiden Jahre als Rhodes-Stipendiat in Oxford hatten der Patina noch Glanzlichter aufgesetzt.
Aber er wusste, das Herz, das in seiner Brust schlug, war das Herz eines Apachen. Würde es immer sein. Dafür hatte seine Stiefmutter White Deer gesorgt, in deren Adern das Blut Geronimos floss. John Eagle machte es sich auf seinem primitiven Nachtlager bequem und fiel in einen leichten Schlummer.
Die ersten Lichtstrahlen aktivierten etwas wie eine photoelektrische Zelle im Gehirn des schlafenden Mannes. Er war sofort vollkommen wach, alle Sinne waren gespannt. Mit geschlossenen Augen und unbeweglichem Gesicht lag er da und ließ Nase und Ohren arbeiten. Er wusste, dass er Zeit hatte. Nicht viel, aber ein wenig. Und er wusste, dass er Pläne machen und die Zeit nutzen musste, so gut es möglich war. Die Männer, die ihn jagten, waren Mörder - deswegen waren sie eingesetzt -, aber er war ziemlich sicher, dass der Wald nicht ihre Heimat war. Nicht in der Weise, wie er es verstand.
John Eagle glitt am Stamm des Baumes hinunter und stand unbeweglich und unsichtbar im Piniengehölz. Langsam und ohne das Geringste zu übersehen, beschrieb sein Blick einen vollen Kreis. Er war von Kindheit an dazu erzogen worden, zu sehen wie ein Indianer sieht.
Vor der Piniengruppe senkte sich das Land, und am unteren Ende des langen Hangs plätscherte ein breiter, flacher Fluss in eine erlengesäumte Schlucht. Eagle sah eine Bisamratte davonschnellen und hörte von weitem einen Biber klopfen. Er lächelte. Der Biber erzählte ihm, dass kein weißer Mann in der Nähe war. Noch nicht.
Der Himmel über ihm war jetzt wolkenlos, und im Osten färbte die aufgehende Sonne den Rauch der Waldbrände rot. Für eine genaue Standortbestimmung musste er warten, bis er die Sonne sehen konnte. Aber das war im Moment nicht so wichtig. Was ihn weit mehr interessierte, war der Abhang vor ihm. Ein weißer Mann hätte es Schotter genannt; für einen Indianer bedeutete es Flint.
Mühelos und geschmeidig wie ein Affe kletterte John Eagle erneut den Baum hinauf und begann, den Fallschirm zu lösen. Fünf Minuten später hatte er ihn auf dem Boden. Er machte ein Bündel daraus und trug es den Hang hinunter zum Fluss. Dort ließ er es zurück und ging suchend, nahe am Wasser, den Hang entlang. Er brauchte eine halbe Stunde, um die richtigen Stücke zu finden.
Als er zurückkam, um den Fallschirm zu holen, sah er unter der Wasseroberfläche etwas Goldfarbenes blinken. Er hielt einen Augenblick lang den Atem an und glitt auf dem Bauch zur Uferböschung. Der goldene Pfeil schoss wieder an ihm vorbei. Noch nie hatte er solch eine Forelle gesehen: eine breitmäulige Schönheit, fast einen halben Meter lang, mit goldenem Rücken und Bauch und gesprenkeltem Schwanz.
Frühstück. Mit einem der kleineren und schärferen Flintsteine schlug Eagle einen Erlentrieb ab und machte einen primitiven Speer daraus. Er ging zum Ufer zurück. Die Forelle war jetzt scheu geworden. Der Mann lag unbeweglich und starrte den Fisch mit harten, blauen Augen an, in denen eine Spur von Heiterkeit blitzte. In dem Unterholz, das den Fluss säumte, bewegte sich etwas. Der Mann wartete. Als der große Grashüpfer zum zweiten Mal sprang, landete er nahe bei Eagles Hand. Er schnappte ihn mit der Faust. Der Grashüpfer spuckte ihm ein dunkles Klümpchen auf die Handfläche.
»Tut mir leid, alter Junge«, sagte John Eagle und drehte dem Grashüpfer den Kopf ab.
Fünf Minuten lang lag er still. Die große Forelle kam zurück. Eagle schnippte den Insektenkörper in die Strömung, dreißig Zentimeter vom Ufer entfernt. Die Forelle fuhr wild darauf los. Mit einer Bewegung, die sehr viel schneller als ein Herzschlag und sehr viel lautloser war, durchbohrte der Mann die Forelle. Der schimmernde Fisch zappelte und wand sich auf dem Speer, das Maul in verständnislosem Staunen weit aufgerissen.
Eagle hackte dem Fisch mit seinem Flint Kopf und Schwanz ab und nahm ihn aus. Er schnitt einen Streifen rohes Fleisch ab und stopfte es sich in den Mund. Einen Augenblick kaute er, dann begann er zu lächeln. Seiner weißen Hälfte wäre übel geworden; aber der Apache genoss sein Frühstück.
Immer noch kauend, legte er den Fisch und seine Feuersteine in den Fallschirm und verschnürte ihn zu einem kompakten Bündel. Es war inzwischen heller Tag geworden, und Eagle bewegte sich auf allen Vieren ebenso schnell am Ufer entlang, wie ein normaler Mensch aufrecht gegangen wäre. Er folgte dem Fluss in die Schlucht hinein und lief weiter. Fast unmittelbar veränderte sich der Charakter seiner Umgebung. Die Schlucht verbreiterte sich, wo der Fluss schmaler wurde, schneller und tiefer. Er schoss um phantastische Felsformationen herum, lief singend durch eine Wildnis aus glattpoliertem Stein. Es gab kleine, mit Unterholz und Stachelbirnbäumen bewachsene Inseln und Halbinseln. Hier gediehen keine Pinien mehr, nur noch Zwergeichen, kanadische Pappeln und Erlen.
Bald darauf richtete Eagle sich auf und begann, mit ausgreifenden Schritten zu laufen. Er lief mühelos wie ein Mann, der den Trick von den Navajos gelernt hat und den ganzen Tag laufen kann. Tagelang. In den alten Zeiten hatten die Apachen und die Navajos oft in Symbiose zusammengelebt; John Eagle war in seiner Kindheit mit Whao, dem Navajo, befreundet gewesen, der selber zu einem Viertel Hopi war. Es gab uralte Mysterien - ein weißer Mann hätte sie Tricks oder Kniffe genannt -, die einem Mann die Ausdauer und das Wissen vermitteln konnten, vierzig Meilen am Tag zu laufen, ohne sich umzubringen. John Eagle kannte alle Tricks.
Während er lief, suchte er nach etwas. Nach einer Stunde mühelosen Wolfstrotts fand er es: eine Stelle, wo die Schlucht sich verengte und scharf nach Osten abbog. Hier traten die Felswände mit zunehmender Höhe enger zusammen, und vor langer, langer Zeit hatte der Fluss flache Höhlen in den weichen Sandstein gegraben und sie später austrocknen lassen. In einer von ihnen ließ Eagle sein Fallschirmbündel zurück und ging zum Fluss, um Reisig zu sammeln. Innerhalb einer Stunde hatte er sich um die Einbuchtung in der Schluchtwand eine primitive Schutzhütte gebaut, von den Bergindianern manchmal jacal genannt. Der Überhang schützte ihn von oben; wer von Süden kam, musste zuerst über die baumlose Ebene vor der Schlucht, und diesen Eingang konnte er leicht verteidigen.
Die Sonne war jetzt über den Rauch im Osten gestiegen. Eagle stieß einen Stab in den Boden, las den Schatten ab und errechnete mit Hilfe des Datums den ungefähren Breitengrad. Wahrscheinlich irrte er sich um ein paar Grad, aber das machte nichts.
Schließlich kam er zu dem Schluss, dass er sich zwischen dem 40. und 42. Grad Nord befinden musste, möglicherweise in dem Gebiet, wo Idaho, Utah und Wyoming aufeinandertreffen. Es war unmöglich, nur mit Stock und Sonne eine Position genau festzulegen, aber es war ihm eigentlich auch gleich. Die genaue Kenntnis seiner Position würde ihm sicher nicht das Leben retten.
Er durchkämmte das Flussbett, bis er die richtigen Steine fand. Dann ging er zurück zu seiner Schutzhütte und begann, die Flintsteine zu bearbeiten. Nach ein oder zwei Stunden hatte er eine Messerklinge, eine Speerspitze und mehrere Pfeilspitzen. Mit dem Flintmesser hackte er auf eine Zwergeiche los. Die Arbeit war mühselig, und er brauchte lange dazu, aber schließlich hatte er, was er wollte, in genau der richtigen Größe.
Mit den Nylonschnüren des Fallschirms befestigte Eagle die Flintsteinklinge in einem gespaltenen Eichenschaft. Dasselbe machte er mit der Speerspitze. Sein primitiver Bogen war knorrig und unförmig, aber als er ihn mit einem weiteren Stück Nylonschnur spannte, gab die Sehne ein beruhigendes Sirren von sich. Er machte sechs Pfeile, setzte ihnen Flintspitzen auf und befiederte sie mit Eichelhäher-Federn, die er am Flussufer fand. Während er mit kräftigen, sicheren Händen arbeitete, wanderten seine Augen unaufhörlich umher, und seine feingemeißelten Nüstern witterten bebend, sooft der Wind die Richtung wechselte.
Der Rauch lag jetzt schwerer in der Luft, die Feuer kamen auf ihn zu. Es roch nach Bär, obwohl er weder Spuren noch Kratzbäume gesehen hatte, und jetzt kam noch ein neuer Geruch dazu: Katze. Große Katze. Mit dem Bärengeruch vermischt und nicht weit von ihm. John Eagle nahm seine neuen Waffen auf und verließ die Höhle. Mühelos folgte er seiner eigenen Spur auf dem Boden der Schlucht zurück. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie zu verwischen. Die Männer, die man geschickt hatte, um ihn zu töten, würden kaum imstande sein, sie zu lesen.
Er entdeckte einen Spalt, der teilweise von einem riesigen Felsbrocken verdeckt war. Er hockte sich hinter den Felsen, legte seine Waffen auf dem Boden neben sich aus und wartete geduldig. Sowohl der Katzen- als auch der Bärengeruch waren stärker geworden. Einen Augenblick später hörte er das hohe, zornige Knurren des Berglöwen. Dann die tiefen, wütenden Brusttöne des Bären. Eagle lächelte unmerklich. Bär und Katze hatten eine Meinungsverschiedenheit.
Er konnte sie noch nicht sehen, aber er wusste, was vorging. Die Katze hatte wahrscheinlich angefangen, weil sie durch die Waldbrände verstört war. Gewöhnlich wären die beiden Tiere friedlich ihrer Wege gegangen, aber heute nicht. Ein Bärenmännchen, dickfellig und schwer erregbar, konnte bösartig werden, wenn es gereizt wurde. Ein Weibchen sogar noch bösartiger.
Wenige Augenblicke später sah der Mann, dass er recht gehabt hatte. Der Bär, ein riesiges, braunes Ungetüm, kam am Ufer entlanggetrottet. Sein Fell war an mehreren Stellen aufgerissen und blutig. Hinter ihm her schlich ein gelbbrauner Luchs, den Bauch tief am Boden. Er war ungewöhnlich groß und blutete ebenfalls aus mehreren Wunden. Jetzt, als der Bär anhielt und sich umdrehte, wobei er sich auf richtete und mit den Tatzen durch die Luft schlug, begann die Katze, um ihn herumzuschleichen. Sie knurrte und fauchte, und ihre zurückgezogene Oberlippe enthüllte glitzernde, weiße Fangzähne. Der Bär bewegte sich schwerfällig auf seine Peinigerin zu. Die großen Tatzen ruderten wie bei einem unbeholfenen Boxer. Eagle sah das Glitzern der fünf Zentimeter langen Klauen. Ein Schlag dieser Tatzen konnte, wenn er richtig traf, einem Mann das Gesicht abreißen oder ihm den Bauch aufschlitzen.
Der Bär nimmt im Denken der Apachen einen Sonderplatz ein. Es gibt einen quasi-religiösen Glauben, dass aus dem Körper jedes getöteten Bären vier neue springen. Bärenfett heilt Wunden, und ein Halsband aus Bärenklauen besitzt große Zauberkraft.
John Eagle stand hinter seinem Felsen auf. Der Wind stand ihm entgegen, die Tiere hatten ihn deshalb noch nicht gewittert. Er murmelte ein kurzes, zweitausend Jahre altes Gebet zu Usen, dem Gott der Götter, und zu Kah, dem Stein, der tötet. Er bat den letzteren, seinen Flintstein zu segnen. Dann brüllte er die beiden Tiere an.
»Hauuuuiiiii!«, rief John Eagle. »Ahhhhkiiiiahhhhh!«, schrie er. »Komm, Bär! Sieh, ob du mich töten kannst!«
Der Luchs floh fauchend und knurrend, wie Eagle erwartet hatte. Der Bär sah der Katze nach, roch den fremden Geruch und wandte sich seinem neuen Feind zu. Seine Laune war ohnehin schon schlecht. Er war mehr als bereit, einen Kampf auf Leben und Tod anzufangen. Wenn er schon die Katze nicht hatte töten können, so würde er doch dieses neue Ding töten, das ihn jetzt bedrohte. Dieses Ding ohne Haar und Pelz, das einen Stock schwenkte und verrückt schreiend herumsprang.
Eine Minute lang wütete der Bär. Er schlug die Klauen in den Sand am Fluss und riss einen Brombeerbusch auseinander, wobei seine massive Brust ständig furchterregende Warnsignale ausstieß. Er begann, sich unbeholfen auf den Felsen zuzubewegen, hinter dem dieser seltsame neue Feind ihn herausforderte.
»Hoiiiiii - Bär! Kiiiiyiiiiiaaaaa, Bär! Du bist ein Feigling, Bär! Na, komm schon, Bär, komm schon!«
Das riesige Tier trabte auf ihn zu, die engstehenden Augen starrten den Mann an, die enormen Schultern schwankten von einer Seite auf die andere, als es auf allen Vieren näher kam.
Eagle stellte seinen Bogen auf die Probe. Mit einer schnellen, automatischen Bewegung legte er einen Pfeil auf, spannte den Bogen, bis seine Hand auf gleicher Höhe mit seinem Ohr war, und ließ die Sehne los. Er hatte schon den zweiten Pfeil aufgelegt, bevor der erste sein Ziel erreicht hatte.
Der erste Pfeil traf den Bären in die linke Schulter und blieb baumelnd hängen. Der zweite Pfeil traf das Tier in die Brust. Der Bär tobte vor Ärger über den leichten Schmerz. Er entledigte sich des Pfeils in seiner Schulter mit einem Prankenschlag und biss den anderen in zwei Stücke. Dazu hielt er nicht einmal an.
Der Mann hatte sich bewiesen, was er schon vermutet hatte: Er besaß nicht genügend Feuerkraft. Seine Pfeile mochten kleineres Wild oder einen Menschen töten, aber sie konnten diesen Bären nicht aufhalten. Er hatte auch nicht damit gerechnet.
»Yiiiiahhhhh - komm, Bär, komm!«
Eagle sprang vom Felsen, stieß das Ende des Speers in die weiche Erde und kniete sich hin. Der Bär griff an.
An seinem zehnten Namenstag war John Eagle mit einem Krieger namens Graues Wiesel auf die Jagd gegangen. Ein Grizzly überfiel sie, und John - von Angst gepackt, aber zu stolz, es zu zeigen - hatte zugesehen, wie Graues Wiesel den Grizzly tötete. An diesem Tag hatte er eine Menge gelernt. In den Jahren, die folgten, tötete er selbst viele Bären.
Als das geifernde Tier jetzt angriff, und Eagle Schaum und Speichel aus der schwarzbraunen Schnauze tropfen sah, hoffte er, dass das Leben der Weißen seine Fähigkeiten nicht abgestumpft hatte. Oder sein Zeitgefühl. Ein einziger Fehler, ein Schlag mit diesen massigen Tatzen, und er war verloren. Selbst wenn der Bär ihn nicht tötete, war er dann eine leichte Beute für die Männer, die ihn jagten.
Im letzten Moment richtete der Bär sich auf und warf sich über den Mann, um ihn zu zermalmen. Eagle, der noch immer kniete, rammte den Speer fester in den Boden und rückte ihn mit der Hand so, dass der Bär direkt auf die Spitze zukam. Der lange, scharfe Flintstein stieß direkt in das Herz des Tieres, und das Gewicht des Niederstürzenden nahm dem Mann die Arbeit ab.
Eagle machte sich so flach wie möglich und rollte zur Seite, um aus der Reichweite der schrecklichen Klauen zu kommen. Er war einen Bruchteil zu langsam. Die rechte Tatze des Bären hakte sich in seine Schulter, die grausamen Klauen schlugen ihm ins Fleisch. Oberflächlich. Aber zu knapp. Viel zu knapp!
Und dann war alles fast vorbei. Eagle saß dem Bären im Nacken, ritt außerhalb der Reichweite der Klauen und Reißzähne und stieß ihm sein Flintsteinmesser hinter der linken Schulter tief ins Fleisch. Bei seinem letzten Stoß brach der Flintstein aus dem eichenen Griff und blieb in der Wunde stecken. Der Bär schnaubte noch ein letztes Mal, rollte zur Seite und verendete.
John Eagle starrte auf das tote Tier hinunter. Triumph erfüllte ihn, und das Blut sang ihm mit einer neuen Wildheit in den Adern. Er war immer noch Apache, hatte nichts davon verloren. Bis jetzt, bis zu diesem letzten Moment, war er sich nicht völlig sicher gewesen. Sie hatten ihn auf die Probe gestellt und gequält. Ihn verhöhnt. Ihm zugemutet, was kein Durchschnittsmensch überstanden hätte. Aber er war kein Durchschnittsmensch und hatte es überstanden. Sie hatten ihn über der fürchterlichen Kalahari-Wüste abgeworfen, und nach einem Monat war er zu Fuß wieder aufgetaucht. Verdorrt und ausgetrocknet, mit vierzig Pfund Untergewicht, aber lebendig.
Sie hatten ihn im Dschungel Britisch-Guyanas ausgesetzt, wo der tropische Regenwald wie ein riesiger, grüner Schorf Hunderte von Quadratmeilen überzieht und wo die einzige Überlebenschance darin besteht, einen Fluss zu finden, der einen hinausträgt. Einmal hatte er, um am Leben zu bleiben, mit einem spitzen Stock eine Python getötet - hatte ihr die Spitze in die Augen gerammt - und sie aufgeschnitten, um an das kleine Tier zu kommen, das sie noch nicht verdaut hatte. Er fand ein Wai- Wai-Dorf, wurde von dem Stamm adoptiert und lernte ihre Sprache, schnitt sein Haar nach ihrer Sitte und bemalte sich mit roter Farbe. Er blieb drei Monate lang bei den Wai-Wai, weil er nicht in Eile war, weil er eine störrische Ader hatte und ein frisches, junges Wai-Wai-Mädchen in seine Hütte genommen hatte. Er entwickelte eine Vorliebe für Affenfleisch. Und als er die Lust dazu verspürte, als er soweit war, glitt er in einem Einbaum den Essequibo hinunter zu Gunn's Landing Strip am Äquator und wurde ausgeflogen.
Sein Chef, der Mann, den er nur als Mr. Merlin kannte, hatte ihn für tot gehalten.
Dann kam das Inferno von Lager III im Death Valley. Hier hatte Eagle neue Folterungen erlebt, hatte eine neue Rasse finsterer, hartgesichtiger Männer kennengelernt, die er nur als Nummern kannte - Nummer Sieben zum Beispiel war der Bastard, der ihm Karate, Judo, Savate und was es sonst noch gab, beibrachte: ein riesiger, wuchtiger Franzose, der fast drei Zentner wog und im alten Indochina aufgewachsen war. Er mochte John Eagle nicht besonders. Eines Tages waren sie beide wütend geworden und hatten versucht, einander zu töten, Eagle, der einen indianischen Griff benutzte, wäre Sieger geblieben, wenn sie ihn nicht heruntergeholt hätten. Sie waren noch nicht soweit, ihn töten zu lassen oder ihn zu töten. Das sollte später kommen.
So überlebte er beinahe zwei Jahre lang, hielt durch, errang Sieg auf Sieg, über sich selbst und andere, und stand nun hier vor seiner letzten Prüfung: Tod oder Leben.
Als er den toten Bären betrachtete, wusste er, dass er leben würde. Er würde die drei Männer töten, die ihn jagten. Jetzt war er wieder in seinem Element, einem Land, das nach Denkweise der Apachen immer noch den Indianern gehörte. Er hatte mit Flintsteinmesser und -speer einen sechs Zentner schweren Bären getötet. Jetzt war er ohne jeden Zweifel wieder John Eagle, der Apache.
Er holte die Flintsteinklinge aus dem Nacken des Bären und begann, ihn zu enthäuten. Als er das Fell abgezogen hatte, segelten bereits drei Bussarde über seinem Kopf. Eagle warf ihnen einen Blick zu, als er begann, sich ein dickes Steak aus der Bärenlende zu schneiden. Die Männer, die ihn jagten, würden die Aasfresser ebenfalls sehen, aber das war belanglos. Sie waren sicher nicht dumm genug zu glauben, dass die Wildnis oder ein Tier ihnen die Arbeit abnehmen würde.
Er wickelte das Steak in die feuchte Haut, sammelte seine Waffen auf und ging zurück zu seiner Höhle. Ihm fiel ein, dass er eigentlich gar nicht wusste, was für Männer auf ihn angesetzt waren. Mr. Merlin hatte kein Wort darüber verloren. Um ehrlich zu sein, Mr. Merlin sagte nie viel. Er gab die Befehle, und man gehorchte. Oder man hörte auf. Sprang ab, nachdem man ein Schweigegelübde abgelegt hatte. Darüber allerdings hatte Mr. Merlin gesprochen, hatte die Sache gründlich erklärt. Man konnte aufhören, aber man konnte niemals darüber sprechen. Wenn man darüber sprach, trotz des Papiers, das man unterzeichnet hatte, dann bedeutete das lebenslängliche Gefangenschaft. Nicht den Tod. Gefangenschaft. Man wurde in eine Zelle geworfen - wo, blieb ungesagt -, um dort lebenslänglich zu verfaulen. Mr. Merlin war in diesem Punkt sehr deutlich geworden.
John Eagle hatte nicht vor, abzuspringen oder zu reden. Beides ging ihm gegen die Natur, und er hatte ohnehin seine eigenen Pläne. Pläne, von denen Mr. Merlin nichts wusste. Pläne, die sich nur verwirklichen lassen würden, wenn er die vollen fünf Jahre abdiente, für die er sich verpflichtet hatte.
Eagle begann, Reisig zu sammeln, und entzündete an der Schluchtwand ein winziges, fast rauchloses Feuer. Was sich an Rauch bildete, verschmolz mit dem Sandstein und verschwand beim Aufsteigen. Apachen können einen Häuserblock von einem weißen Mann entfernt Fleisch braten, ohne entdeckt zu werden.
Er sengte das dicke Bärensteak oberflächlich an und grub die starken, weißen Zähne hinein. Blut lief ihm am Kinn herunter, er wischte es mit einer fettigen Hand fort.
Der heutige Tag war leicht gewesen. Morgen würde es anders sein. Die Jäger waren unten und wussten, wo sie sich befanden. Eagle unterschätzte sie nicht. Er nahm nicht an, dass sie Waldläufer oder Präriemänner waren, aber er konnte nicht sicher sein. Mr. Merlin hatte nichts darüber gesagt. Mr. Merlin war sehr kurzangebunden gewesen. Er hatte gesagt, dass drei Berufskiller auf John Eagle angesetzt worden seien, um ihn, wenn möglich, zu töten. Hatten sie Erfolg, winkte ihnen eine großzügige Belohnung - John Eagles Belohnung war der Tod. Er hatte schriftlich seine Zustimmung dazu gegeben und Mr. Merlin von aller Verantwortung befreit.
John Eagle hörte auf, über Mr. Merlin nachzudenken. Oder über den morgigen Tag. Oder über gestern. Ein Indianer weiß, wie man im Heute lebt. Er ging zu seiner Höhle zurück. Es regnete jetzt, und der Wind trieb das Wasser selbst in diesen engen Teil der Schlucht, aber er war trocken und warm in seinem schützenden Nest aus Strauchwerk und Stein. John Eagle wickelte sich in das stinkende Bärenfell, die blutige Seite nach außen, und schlief ein. Er stellte sein Gehirn auf Mitternacht.
Zweites Kapitel
Der Mann, dessen Name Mr. Merlin war, drückte auf einen Knopf an seinem Rollstuhl. Der Motor summte leise, der Rollstuhl glitt lautlos zu der Glaswand hinüber, die den Blick auf den erloschenen Krater von Makaluha freigab. Von diesem Aussichtspunkt konnte Mr. Merlin sein gesamtes Miniaturkönigreich überblicken. Er tat das, indem er einen weiteren Knopf drückte, der in die Wand eingelassen war. Der Raum begann, sich auf einem hydraulischen Gelenk um seine Achse zu drehen. Er konnte ihn nach oben oder unten schwenken. Es war nur eins der über vierzig Zimmer in dem aus Granit gebauten Haus, das wie eine Kreuzritter-Festung hoch über dem gähnenden schwarzen Rachen des alten Vulkans hing.
Mr. Merlin genoss die Aussicht, als der Raum sich drehte. Er wurde dessen nie müde. Er befand sich auf einer kleinen Insel vor Maui, und jetzt, als der Raum den Blick nach Osten freigab und Maui mit seinen tiefgrünen Hängen und dem Pasticcio aus blütenüberladenen Büschen und hochgewachsenen Bäumen in Sicht kam, stieß er einen langen Seufzer der Genugtuung aus. Kein Grün der Welt kam dem Grün von Hawaii gleich, auch nicht das von Irland. Er konnte das beurteilen, denn er hatte auch in Irland einen Landsitz, obwohl es jetzt schon Jahre her war, seit er dort gewesen war.
Der Raum drehte sich weiter. Als er einen vollkommenen Kreis beschrieben hatte und Mr. Merlin wieder auf die Mondlandschaft von Makaluha hinunterstarrte, klickte es kaum merklich, und der Raum stand still. Mr. Merlin seufzte noch einmal. Er hatte genug Zeit mit Landschaftsbetrachtungen und Tagträumereien vertan. Es gab Arbeit. Er fuhr den Stuhl zu einem reichverzierten Schreibtisch - einst Eigentum eines venezianischen Dogen - und griff nach einem der sechs Telefone, die dort standen. »Polly?«
»Ja, Mr. Merlin?«
»Schon von John Eagle gehört?«
»Nichts Genaues. Vor etwa einer halben Stunde kam ein Telex. Einer der Beobachter will Gewehrschüsse gehört haben. Er ist aber nicht sicher. Die Waldbrände sind immer noch nicht unter Kontrolle.«
»Hm.« Mr. Merlin griff nach einer langen Zigarre und entzündete sie an einem goldenen Tischfeuerzeug. »Welches Datum haben wir, Polly?«
»Sonntag, den dritten September.«
»Lassen Sie mich wissen, wenn etwas hereinkommt.« Er legte auf.
Mr. Merlin glitt zum Fenster zurück. Zigarrenasche rieselte auf sein Jackett, und er wischte sie achtlos fort. Während er in den Krater hinabstarrte, dachte er an die vielen Spalten und Höhlen, die von ihm ausgingen. Viele führten bis unter das Meer; einige verliefen unter dem Haus und reichten, tief unter der Meerenge, bis hinüber nach Maui. Sehr wenige Menschen kannten die Wahrheit über diese Höhlen. Er und Polly und ein paar andere. Nur sie wussten, wieviel Geld er in diese Höhlen gesteckt hatte. Und wofür.
Und nur Mr. Merlin und zwei weitere Männer auf der ganzen Erde kannten den Grund, warum das Geld ausgegeben worden war.
Der Präsident der Vereinigten Staaten und der Verteidigungsminister. Sie kannten und billigten sein Vorgehen. Das Geld, das ausgegeben wurde, kam von Mr. Merlin. Jeder Cent. Und es war Mr. Merlins langgehegter Traum, der endlich wahr zu werden begann.
Ein Telefon klingelte. Mr. Merlin glitt zum Schreibtisch und nahm den schwarzen Hörer ab. Es war Polly Perkins: »Eben ist ein Telex über John Eagle gekommen. Soll ich vorlesen?«
»Nein. Bringen Sie es herein.«
Mr. Merlin wartete, bis Polly den Raum verlassen hatte, bevor er das Telex las. Sie kannte fast alle seine Geheimnisse, aber dieses nicht. Nur das Komitee der Drei: er selbst, der Präsident und der Verteidigungsminister wussten von dem Protoagenten.
Nach dem üblichen Telex-Vorlauf begann der Text:
AN MERLIN - VON SAMSON - BETR. EAGLE -
GLAUBE, ER HAT ES GESCHAFFT –
DREI GRÄBER GEFUNDEN - IN JEDEM EIN STRÄFLING –
GRÄBER TRAGEN KREUZE - FINDE DAS EINE NETTE GESTE
- BIS JETZT LEIDER NOCH KEINE SPUR VON EAGLE –
ERWARTE ANWEISUNGEN –
SAMSON.
Mr. Merlin griff nach dem roten Telefon. Die Kommunikationszentrale meldete sich. Mr. Merlin sagte: »Schicken Sie Samson folgenden Text: Bleiben Sie am Treffpunkt - Bin sicher, dass Eagle kommt - So schnell wie möglich her mit ihm - Sagen Sie mir vorher Bescheid - Gut gemacht - Mr. Merlin.«
Es war am späten Nachmittag und Mr. Merlin war völlig in seine Briefmarkensammlung versunken, als ein weiteres Telex eintraf:
EAGLE HIER - ALLES O.K. -
KOMMT SCHNELLSTENS -
SAMSON.
Mr. Merlin legte seine Briefmarkensammlung beiseite und beschäftigte sich damit, Befehle zu geben und verschiedene Dinge vorzubereiten. Er war ein wenig überrascht, dass er tatsächlich aufgeregt war. Das war befremdlich. Mit fünfundsiebzig Jahren sollte ein Mann sich durch nichts mehr aus der Ruhe bringen lassen. Und doch wusste er, dass seine Erregung berechtigt war. Denn er, Mr. Merlin, hatte dieses Superwesen, das er nun zum erstenmal in Person sehen sollte, zum größten Teil selbst geschaffen.
Mr. Merlin lächelte ein wenig wehmütig, als er seinen Rollstuhl herumschwang und zu dem Aufzug fuhr, der dem Aussichtsfenster gegenüberlag. Dieser junge Mann, John Eagle, dieses Superexemplar, das Mr. Merlin gefunden, trainiert und zu einer scharfen Klinge geschliffen hatte, war wie Mr. Merlin selber. Er war sich schon jetzt eines seltsamen, fast beängstigenden Gefühls der Verbundenheit mit dem jungen Mann bewusst.
Als er einen Knopf im Aufzug drückte und zum ersten Tiefgeschoss unter dem Haus hinunterfuhr, dachte Mr. Merlin kurz an die drei Männer, die John Eagle getötet hatte. Es waren Verbrecher gewesen, Mörder, die kurz vor ihrer Hinrichtung standen. Mr. Merlin hatte mit seinen schier unbegrenzten Möglichkeiten erreicht, dass sie freigesetzt und mit weittragenden Waffen und Proviant in die Wildnis geschickt wurden, um John Eagle zu jagen und zu töten. Das war der endgültige Test, der Höhepunkt eines zweijährigen Trainings, das die Hölle gewesen war. Es musste so sein. Nur ein Supermann hätte überlebt. Nur ein Supermann konnte Mr. Merlins Protoagent werden.
Mr. Merlin schmunzelte leicht, als der Aufzug das erste Tiefgeschoss erreichte. Die Kreuze waren, wie es Samson bereits gesagt hatte, eine nette Geste. Er würde seine Freude daran haben, die Tonbänder zu hören, die Samson gemacht hatte. Samson war ein ehemaliger General der US Army und ein Fachmann für Verhöre. Er war gespannt zu hören, wie John Eagle die Männer getötet hatte, die ihn hatten umbringen sollen.
Mr. Merlin rollte seinen Stuhl aus dem Aufzug und nickte einem bewaffneten Posten zu. Der Mann salutierte und legte einen Hebel um. Mr. Merlin steuerte über die schmalen Geleise, die auf dem Betonboden des Tunnels verliefen, und wartete. Er konnte den Zug kommen hören.
Der kleine Zug bog um eine Kurve in dem langen Korridor. Ein weiterer bewaffneter Posten fuhr die Maschine. Die Miniaturwaggons hatten bequeme Ledersitze. Die beiden Wachen hoben den alten Mann aus dem Rollstuhl in einen der Wagen, der Fahrer ging zurück zur Lokomotive und wartete auf Anweisungen.
»Zum mongolischen Raum«, sagte Mr. Merlin. Es war vielleicht keine schlechte Idee, noch ein letztes Mal die erste Mission des ersten Protoagenten zu rekapitulieren.
Drittes Kapitel
Memorandum
An: John Eagle
Von: Mr. Merlin
Dieses Memorandum wird von beiden Parteien als rechtsgültiger und bindender Vertrag betrachtet. Der Vertrag ist bis zu dem unten angegebenen, rechtsverbindlichen Datum unkündbar, falls nicht die freiwillig gegebene und gemeinsame Kündigung beider Parteien vorliegt.
Die Partei des Erstgenannten, John Eagle, wird im Folgenden Protoagent genannt. Die Partei Mr. Merlins wird im Folgenden wie bisher Mr. Merlin genannt.
Die Partei des Erstgenannten gibt ihre Zustimmung, dass sie niemals, durch irgendwelche Mittel oder Methoden, auf irgendeine Weise oder zu irgendeiner Zeit, während oder nach ihrer Arbeit versuchen wird, die wahre Identität Mr. Merlins in Erfahrung zu bringen.
Die Partei des Erstgenannten akzeptiert (nach Vorlage ausreichender Beweise), dass Mr. Merlin ein Bevollmächtigter der Regierung der Vereinigten Staaten ist.
Der Protoagent unterzeichnet dieses Dokument in vollem Bewusstsein der Tatsache, dass seine Tätigkeit seiner physischen und psychischen Gesundheit außerordentlich gefährlich werden kann; indem er dieses Dokument unterzeichnet, entlässt er sowohl Mr. Merlin als auch die Regierung der Vereinigten Staaten aus jeglicher Verantwortung für irgendwelche Verletzungen oder für den Verlust seines Lebens, falls dies sich in Ausübung seines Dienstes ergeben sollte.
Der Protoagent ist vollständig über die militärischen und diplomatischen Realitäten der derzeitigen Weltlage unterrichtet worden und stimmt durch seine Unterschrift zu, im Falle seiner Gefangennahme, Folterung oder Hinrichtung allen Rechtsansprüchen gegenüber Mr. Merlin und der Regierung der Vereinigten Staaten zu entsagen. Der Protoagent verzichtet durch Unterschrift ebenfalls auf seine Rechte auf Amnestie, Beistand, diplomatische Immunität, Anerkennung als amerikanischer Staatsbürger, oder auf alle irgendwie geartete Hilfe und Unterstützung durch eine in- oder ausländische Vertretung der Vereinigten Staaten.
Durch seine Zustimmung erklärt der Protoagent, dass er eine staatenlose Person ohne Rechtsanspruch gegenüber den Vereinigten Staaten oder Mr. Merlin ist.
Die vorstehende Klausel ist auch für die Erben und Rechtsnachfolger des Protoagenten verbindlich.
Der Protoagent wird, nachdem er dieses Dokument unterzeichnet und alle Bedingungen erfüllt hat, das Folgende als Entschädigung erhalten:
1. Nach erfolgreicher Beendigung des Vertrages erhält der Protoagent eine Million Dollar (1.000.000.-) in bar.
2. Dem Protoagenten wird durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten die Congressional Medal of Honor mit allen Ehren und Privilegien verliehen.
3. Der Protoagent erhält siebentausend (7.000) Morgen Land seiner Wahl, zu wählen aus der Gesamtheit des Grundbesitzes, der sich zur Zeit des Vertragsendes in der Verfügungsgewalt der Regierung befindet.
4. Der Protoagent zahlt keine Einkommenssteuer für ein jährliches Einkommen von einhunderttausend Dollar (100.000.-), und wird nach Ablauf dieses Vertrages auf Lebenszeit von jeglicher Besteuerung seines Einkommens oder Vermögens befreit.
5. Sollte der Protoagent männliche Nachkommen haben, so erhalten sie nach Erreichung des notwendigen Alters eine automatische Berufung nach ihrer Wahl an eine der Militärakademien der Vereinigten Staaten. Im Falle weiblicher Nachkommenschaft, entweder ausschließlich oder zusätzlich zu männlicher Nachkommenschaft, werden die beiden unterzeichnenden Parteien eine Alternativlösung gleichen Werts ausarbeiten.
Der Protoagent versichert durch seine Unterschrift, dass er die Bedingungen dieses Vertrages niemals einem Dritten bekanntmachen wird. Er versichert ebenfalls, dass er niemals und in keiner Weise, sei es in Wort oder Schrift, irgendeine noch so geringfügige Einzelheit seiner Arbeit für Mr. Merlin anderen zugänglich machen wird, ausgenommen denjenigen Personen, die von Mr. Merlin autorisiert sind, diese Informationen zu empfangen.
Der Protoagent ist sich ebenfalls bewusst - und stimmt durch seine Unterschrift zu dass er im Falle der Verletzung der vorhergehenden Geheimhaltungsvorschriften lebenslängliche Gefangenschaft an einem von Mr. Merlin zu bestimmenden Ort zu erwarten hat; dass diese lebenslange Gefangenschaft Einzelhaft sein wird, für immer ohne Ende und Milderung, und dass diese lebenslange Gefangenschaft außerdem willkürlich und ohne ordentliche Gerichtsverhandlung über den Protoagenten verhängt werden kann.
In voller Kenntnis und klarem Verständnis der obenstehenden Klauseln, ihrer Absicht, ihrem Zweck, der Belohnungen und Strafen, unterzeichnen die beiden Signatoren diese Übereinkunft am...
Protoagent Mr. Merlin für die US-Regierung
Mr. Merlin überflog das Memorandum. Sehr ordentlich. Klar und einfach, mit einem Minimum an juristischem Kauderwelsch. John Eagle hatte es zweimal sehr sorgfältig durchgelesen, bevor er es Unterzeichnete. Das gefiel Mr. Merlin. Um ehrlich zu sein, ihm hatte fast alles an John Eagle gefallen: seine Kaltblütigkeit, seine Haltung, die Andeutung verborgener Kraft. Auch Eagles gelegentliche Anzeichen von Starrsinn, Eigenwillen und Unabhängigkeit hatten ihm gefallen. Und sein tiefer Argwohn. Hier war ein Mann, der nichts in gutem Glauben annahm, nichts unbezweifelt ließ. Ein Mann, der Beweise wollte. Dieser Charakterzug hatte Mr. Merlin ganz besonders gefallen.
Sie hatten sich natürlich nicht persönlich getroffen. Während seiner endgültigen, fünftägigen Instruktions- und Orientierungsphase hatte John Eagle viele Stunden in dem komfortablen Befragungsraum verbracht. Hier hatte Mr. Merlin seine Interviews geführt, wobei er Eagle auf einem Fernsehschirm beobachtete, mit ihm per Lautsprecher sprach und jede Veränderung in den gutaussehenden, sonnengebräunten Gesichtszügen studierte, um vielleicht irgendwo doch noch eine winzige Kleinigkeit zu finden, die ihm mehr sagen konnte als Worte.
Es war in gewisser Weise ein Wettstreit, und Mr. Merlin gab zu, dass John Eagle gewonnen hatte. Er war froh darüber. Er hatte gehofft, dass der junge Mann gewinnen würde, aber auf der anderen Seite war er enttäuscht. Er war immer überzeugt gewesen, hatte es oft genug gesagt, dass jeder Mensch irgendwo einen schwachen Punkt hatte. Seine eigenen hatte er sich schon vor langer Zeit selbst eingestanden. Aber John Eagle schien keine Schwäche zu haben. Etwas stimmte da nicht...
Während der fünf Tage war das Verhör zeitweise hart und gnadenlos gewesen. Es wurde vorsätzlich und mit böser Absicht von einem weltbekannten Psychologen geführt, der speziell für diese Aufgabe eingeflogen worden war. Hinterlistig, verschlagen, brutal und gnadenlos, war der Mann doch nicht imstande gewesen, John Eagles innere Ausgeglichenheit, sein ruhiges Wesen, sein absolutes Selbstvertrauen zu brechen.
Als er den hohen Scheck von Mr. Merlin entgegennahm, sagte der Psychologe: »Ein vollkommenes Exemplar, in jeder Hinsicht. Physisch perfekt. Psychisch perfekt. Der I.Q. eines Genies. Ein vollkommen einwandfreies Ergebnis im Lügendetektor. Und doch...«
Mr. Merlin wurde sehr wachsam. »Ja? Und doch - was?«
Der Mann schüttelte ratlos den Kopf. »Ich kann es Ihnen nicht mit Bestimmtheit sagen, Sir. Selbst seine Unvollkommenheiten sind vollkommen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber das stört mich nicht einmal so sehr.«
Mr. Merlins Augen fixierten den Psychologen. »Ich zahle Ihnen sehr viel Geld für diesen Bericht, Sir. Also, was stört Sie?«
Der Psychologe zuckte die Schultern. »Ich habe noch nie so versagt. Meine gesamte Methode ist darauf ausgerichtet, einen Menschen völlig umzukrempeln, ihm keine Geheimnisse zu lassen, ihm, wenn möglich, sein seelisches Gleichgewicht und seine Menschenwürde zu nehmen, ihn zu einem schwitzenden, sich krümmenden Wrack zu reduzieren. Es ist brutal, es ist grausam, aber das soll es ja auch sein. Wenn es eine Schwäche in ihm gibt, dann finde ich sie.«
Mr. Merlin lächelte. »In John Eagle haben Sie keine gefunden?«
»Nein, keine. Und ich habe das Gefühl, dass ich versagt habe und nicht mein Objekt. Außerdem habe ich das Gefühl, als hätte ich nicht die richtigen Fragen gestellt. Oder wenigstens nicht die eine richtige Frage. Ich glaube, es hat irgendetwas mit seinen
Beweggründen zu tun.«
»Er tut's für Geld«, sagte Mr. Merlin. »Obwohl nicht ausschließlich. Auch aus Patriotismus, aus Abenteuerlust, aus Lust am Kampf - um der schieren Herausforderung willen. Er hat alle diese Wesenszüge. Ich weiß das, weil ich ihn sehr sorgfältig ausgewählt habe.«
Der Psychologe nickte, wirkte aber nicht überzeugt. »All das vielleicht. Aber auch noch anderes. Etwas, das ich nicht einmal erraten kann, obwohl ich weiß, dass es da ist. Etwas, das Eagle erfolgreich verborgen hat. Ich habe das Gefühl, als sei es ihm leicht gefallen. Sie haben mitgehört, Sir. Hatten Sie nicht manchmal den Eindruck, als führe Eagle das Interview statt meiner?«
Mr. Merlin lächelte. »Ja. Es gefiel mir.«
»Natürlich. Von Ihrem Standpunkt aus - aber ich will mich darüber jetzt nicht aufhalten, weil ich Ihren Standpunkt nicht kenne und auch kaum daran interessiert bin, ihn zu erfahren. Ich bin mir voll bewusst, dass die Höhe meines Honorars nicht allein von meinem Können abhängt - Sie kaufen damit ebenfalls meine Diskretion und mein Schweigen.«
Mr. Merlin streckte die Hand aus. »Ich hatte gehofft, dass Sie es so verstehen würden.«
Der Psychologe warf Mr. Merlin einen fragenden Blick zu. »Ich habe von Ihnen gehört, Sir. Nicht viel, aber ein wenig. Ich nehme an, dass Sie diesen Mann für sich arbeiten lassen wollen. Ohne anmaßend sein zu wollen, möchte ich Sie warnen.«
Mr. Merlins Gesicht spannte sich fast unmerklich. »Warnen?«
»Ja. Ich bezweifle, dass Sie es nötig haben, aber ich sage es Ihnen trotzdem - Eagle wird immer etwas zurückhalten. Seinen innersten Kern. Sie können seine Dienste kaufen, aber nicht ihn selbst. Ich glaube, dass er Ihnen treu dienen wird, aber nie sklavisch. Kurz gesagt, Mr. Merlin, John Eagle ist ein Musterexemplar, wie ich es nie zuvor gesehen habe, aber er ist ein hundertprozentiger Mann und Mensch. Sie kaufen keinen Automaten.«
»Freut mich, das zu hören«, sagte Mr. Merlin. »Wenn es nicht so wäre, könnte ich ihn nicht brauchen.«
Jetzt, als er den Federhalter aufnahm und in die grüne Tinte tauchte, lag in Mr. Merlins Lächeln eine Spur von Grimm; er unterschrieb das Memorandum. Wenn Eagle nur lange genug lebte, um den Lohn in Empfang nehmen zu können. Fünf Jahre waren eine lange Zeit im Leben eines Protoagenten.
Es war dunkel geworden, Mr. Merlin drehte das Licht aber nicht an. Er rollte zu dem großen Fenster und starrte über einer frischen Zigarre in die Nacht hinaus. Ein roter Funkenregen sprühte aus dem Rachen des Vulkans. Harmlos. Der Makaluha bluffte nur. Versuchte, so zu tun, als sei er noch am Leben, immer noch gefährlich. Schwindel. Mr. Merlin schüttelte die Asche von seiner Zigarre. Es war nicht der Makaluha, der ihm Sorgen machte, sondern ein anderer Vulkan. Der Vulkan namens Erde.
Er seufzte und blies Rauch aus. Vielleicht konnte John Eagle etwas daran ändern. Vielleicht gelang es ihm, den Deckel zuzuhalten und die Explosion ein wenig aufzuschieben. Er musste jetzt schon auf seinem Weg zu B-l in Nep sein: Basis Eins in Nepal. Dort wartete die umgebaute U-2 auf ihn. Sie würde den Protoagenten über der Mongolei abwerfen und weiterfliegen, um in Alaska zu landen. Falls alles klappte.
Die Mongolei: einsames, ödes Land des Karakorum und des Dschinghis Khan, wo unaufhörlicher Wind den schwarzen Sand vor sich hertreibt. Ein Wind, der niemals schweigt, ein Wind, der die weißen Knochen der Toten poliert und raunend zu denen spricht, die noch sterben werden.
Die Mongolei. Wo sich ein neues Unwetter zusammenbraute und vor dem alten Wind heraufgezogen kam.
Viertes Kapitel
Zwischen der Chinesischen Mauer, die sich wie eine altersgraue Schlange an der nördlichen Landesgrenze entlangwindet, und der weniger bedeutenden Mauer Dschinghis Khans, die das nordöstliche Steppenland der Mongolei abschließt, liegt die riesige zentralasiatische Hochebene. Es ist ein grausames Land mit grausamen Stürmen, grausamen Gebirgen und grausamen Menschen. Ein Land, das Eroberer ausgesandt hat und selbst erobert worden ist. Aus diesem vertrockneten, glühenden, eiskalten, nach Dung riechenden Land kamen die schrecklichen Khans, Erzmörder und Geißel der Menschheit.
Die alte Hauptstadt Dschinghis Khans liegt heute totenstill und verlassen, bis auf den unaufhörlichen Wind, der heulend durch die Ruinen peitscht. Eidechsen kriechen, und wilde Esel trampeln, nach den Worten Omars, über die Schädel der Mächtigen. Eine kleine Gruppe Lamas kommt ab und zu aus ihrem Versteck in den nördlichen Vorbergen des Altai, um durch die Ruinen zu wandern, Weihrauch zu verbrennen, Gebetsmühlen zu drehen und Litaneien zu singen. Ihre Motive verschließen sich abendländischem Verständnis, und man fragt sich verwundert, worum die Lamas wohl beten. Sicher nicht um die Rückkehr des alten Khan - er würde ihnen die Köpfe abschlagen. Und auch nicht, um seinen Geist zu besänftigen - denn die Legende berichtet, dass nichts den Geist des Dschinghis Khan besänftigen oder ihm Ruhe geben kann, bis die Mongolenhorde noch einmal die Erde erobert hat.
Etwa zweihundert Meilen südwestlich von Karakorum, quer durch das trostloseste Land der Welt, von, dem Gott schon vor langer Zeit das Gesicht abgewandt hat, erreicht man das Altai-Gebirge. Es bildet eine Barriere zwischen Chinas entlegener Provinz Sinkiang und der äußeren Mongolei. Der Altai ist ein furchterregendes Gebirge voll wüster Stürme, Schneefälle und Steinlawinen: eintausend Meilen gezackte graue Fangzähne, die geduldig wie die Zeit selbst auf den unachtsamen Wanderer warten.
Aber es gibt einen Zentralpass durch den Altai, den ein paar Lamas und mongolische Hirten und vielleicht einige der alten Männer kennen, die immer noch die Kamelkarawanen durch das endlose Land von China nach Turkestan und von der Mongolei nach Tibet bringen. Am nördlichen Ende des Passes, wo sich die mittlere und die westliche Gobi auflösen und überschneiden, liegt das winzige Dorf Bogdo. Es besteht aus einer trübsinnigen Ansammlung von Lehmhütten und Jurten; die Karawanen sind heutzutage selten geworden.
Aber das winzige Bogdo besitzt etwas, was das mächtige Karakorum niemals hatte: ein Telegraphenbüro. Die einsamen Masten marschieren wie eine lange Reihe von Kruzifixen nach Norden und Süden, ein Eindruck, der ab und zu von einem Kopf verstärkt wird, den man mit den Ohren an den Mast genagelt hat. Es gibt kaum Gesetze in diesem Niemandsland, und auch keine Regierungsbeamten in Bogdo, aber gelegentlich kommen die Soldaten vorbei, und dann fallen zwei oder drei Köpfe. Wenn jemand sich ohne Befugnis an der Telegraphenleitung zu schaffen gemacht hat, dann wird sein Kopf an einen der Masten genagelt. Deshalb passiert nicht viel mit der Telegraphenleitung.
Orientalen haben es nie sehr eilig. Die Mongolen sind ein neugieriges Volk, aber nur, wenn es Dinge betrifft, die sie unmittelbar angehen. Ein neuer oder schnellerer Weg, um Stutenmilch zu fermentieren, würde sie außerordentlich beeindrucken; Lastwagen, die in den südlichen Eingang des Passes hineinfahren, am nördlichen Ende aber niemals herauskommen, und Horden von chinesischen Arbeitern, die sich in ein verborgenes Tal im Altai ergießen, erregen nicht viel Aufmerksamkeit. Die wenigen, die diese Vorfälle beobachteten, kümmerten sich nicht darum. Es war die Politik der mongolischen Regierung, ausländische Arbeiter zu importieren. Jeder wusste das. Was immer im Altai vor sich ging, war Sache der modernen Khans in Ulan Bator. Sollten die sich Sorgen darüber machen. Ein Mongole hatte genug damit zu tun, seine Jurte warmzuhalten, seine Fettschwanzschafe und Ziegen vor den Wölfen zu schützen, seine zottigen Ponys und Hunde zu versorgen, die wenigen Patronen für die alte Mauser zusammenzuhalten und dafür zu sorgen, dass in jedem Frühjahr ein fettes Baby in der Jurte krähte.
So lag es in der Natur der Dinge, dass es Mittsommer wurde, bevor eine Nachricht stockend Bogdo verließ - Ochbal, der Telegraph, war nachts zuvor betrunken gewesen, und tausend Teufel tanzten in seinem Schädel. Die Nachricht war für eine gewisse Studentin an der Universität von Peking bestimmt. Ihr Name war Mary Choija - in den alten Tagen hatte ein einsamer christlicher Missionar in Bogdo gelebt und alle Mädchen Mary genannt; die Nachricht kam von ihrem Bruder. Es war eine harmlose Nachricht, und sie passierte die Zensur in Ch'it'ai, Paotow und Peking ohne Schwierigkeiten. Die Beamten traf keine Schuld. Die Nachricht besagte lediglich, dass Großmutter gestorben war, und dass man sie nach der vorgeschriebenen Zeremonie an den Ort der Toten gebracht hatte, um ihre sterblichen Überreste den Hunden zu überlassen. Die Mongolen können Leichen nicht ausstehen und werden sie so schnell wie möglich los.
Die Chinesen, die diese Sitte kannten, dachten sich nichts dabei. Sie wussten nicht, dass die alte Dame, von der die Rede war, schon vor zwanzig Jahren gestorben war, lange bevor die Telegraphenleitung gebaut wurde.
Mary Choija war jung, sehr hübsch und noch Jungfrau. Sie war Stipendiatin an der Universität - die Chinesen ließen gewöhnlich jedes Jahr einige Mongolen zu, in der Hoffnung, sie zu Mao bekehren zu können - und galt als politisch zuverlässig. Oder doch wenigstens nicht als anti-Mao. Und das stimmte auch. Mary Choija war nicht anti-Mao; sie war anti-chinesisch. Sie war mit Herz und Seele Mongolin und, wenn sie wollte, so wild wie die Wölfe, die ihre Heimat durchstreiften.
Mary war gerade erst angeworben worden, als sie das Telegramm von ihrem Bruder bekam. Sie war nicht einmal ganz sicher, für wen sie eigentlich arbeitete. Sie nahm an, dass es die Amerikaner oder gar die Briten waren. Aber das war ihr nicht so wichtig, solange sie nur gegen die chinesischen Kommunisten arbeitete. Und obwohl ihr Bruder nie ein offenes Wort zu ihr gesprochen hatte, konnte sie jetzt verstehen, was sie vorher nie verstanden hatte: seine langen Abwesenheiten von Zuhause, die unerklärlichen Reisen, von denen Turkan erschöpft zurückkam.
Sechs Wochen, nachdem sie die Nachricht weitergegeben hatte, erhielt sie Antwort. Man flüsterte sie ihr zu, als sie aus einer Vorlesung kam: Sie sollte nach Hause zurückgehen und warten. Jemand würde kommen. Alles weitere später.
Am nächsten Tag verließ Mary Choija die Universität und bestieg einen klapprigen Bus nach Paotow, wo sie einen Platz auf einem Frachtsampan fand, der sie den Gelben Fluss hinauf bis nach Yuman brachte, wo die Chinesische Mauer endete. Dort konnte sie sich vielleicht einer Karawane anschließen - im Sommer gab es noch ein paar -, die durch die südliche Gobi wollte; oder sie konnte Vorräte und zwei robuste Ponys kaufen und es auf eigene Faust versuchen. Man hatte ihr genügend Geld mitgegeben. Und, so hatte ihr Kontaktmann geflüstert, es mochte das Beste sein, allein und so unauffällig wie möglich zu reisen.
Sie sollte auf jemanden warten. Jemand, der das Zeichen gab.
Mr. Merlin hatte die Air Force und die CIA dazu gebracht, ihm eine der letzten U-2 herauszugeben. Beide sträubten sich, aber Mr. Merlin hatte eine besondere Art, mit dem Bürokratismus fertig zu werden, und blieb Sieger. So überholt sie auch sein mochte, die U-2 war genau richtig für dieses Vorhaben. Seine Ingenieure machten sich in dem geheimen Stützpunkt in Nepal an die Arbeit. Die schlanke Maschine wurde auseinandergenommen und umgebaut, um mehr Treibstoff und einen Passagier aufnehmen zu können. Dass der Passagier unbequem sitzen würde, kaum in der Lage, Finger und Zehen zu bewegen, war unwichtig.
Wichtig war, dass das Flugzeug von dem Stützpunkt in Nepal bis zur Spitze Alaskas einen Winkel fliegen musste. In mehr als fünf Meilen Höhe. Wo die Schenkel des Winkels aufeinandertrafen, südlich von Bogdo und nahe dem Zentralpass in den Altai, würde es den Passagier durch eine bombenschachtähnliche Öffnung abwerfen. Plötzlich und mit einer Vorwarnzeit von knapp einer Minute.
John Eagle hatte nichts gegen den engen Raum und die Unbeweglichkeit. Er besaß die indianische Gabe, stundenlang bewegungslos zu sitzen. Sie war unbedingte Voraussetzung, wenn man auf Wild wartete. Also saß er in der Dunkelheit, eingezwängt in seine Einzelzelle, und wartete. Wartete auf das Alarmzeichen im Kopfhörer. Danach hatte er noch eine Minute, um die letzten Vorbereitungen zu treffen: die Kopfhörer abzuschalten, die Fallschirme ein letztes Mal zu überprüfen, sich zu vergewissern, dass der winzige Höhenmesser an seinem Handgelenk mit dem der Maschine übereinstimmte. Das war wichtig. Eagles Lächeln wurde ein wenig grimmig. Er hatte Mr. Merlins maßstabsgetreues Geländemodell gründlich studiert - sie luden ihn über einer Gegend ab, die im wahrsten Sinne das Dach der Welt war. Sie ließen ihn in einen Schlitz zwischen hochragenden Graten fallen, hinein in einen Wirbel aus Böen und unberechenbaren Strömungen, Aufwinden und Luftlöchern, die sich niemals auf einer Karte verzeichnen ließen. Es musste beim erstenmal klappen. Einen zweiten Versuch gab es nicht.
Er musste mindestens vier Meilen frei fallen. Mehr, wenn er den Mut dazu hatte. Je näher er dem Boden war, wenn der Fallschirm sich öffnete, desto größer war seine Chance, das Zielgebiet zu erreichen. Auch das musste er in der einen Minute schaffen, die man ihm zugestanden hatte: seine Höhe und die Länge des freien Falls errechnen. Er...
»Noch eine Minute«, sagte der Pilot in sein Ohr.
»Verstanden«, antwortete John Eagle. »Höhe?«
»Einunddreißigtausendsechshundertneunzig Fuß - tut mir leid. Musste weiter hinten über einen Gipfel springen.«
»Verstanden.« Die Leuchtziffern seines Armbandhöhenmessers zeigten dieselbe Höhe. Etwas mehr als sechs Meilen über dem Meeresspiegel.
Eagle kontrollierte rasch seine Ausrüstung. Alles in Ordnung. Sein Rücken- und sein Brustfallschirm, der Lastenfallschirm unter seinem Gesäß, den er kurz vor der Landung auslösen würde. Er hatte im Kopf mitgezählt. Jetzt drehte er den Sauerstoff ab und ließ den Schlauch fallen. Während des freien Falls atmete er aus Sauerstoffflaschen. Er griff nach dem Ventil knapp über der Halsdichtung seines Helms. Die Klappe öffnete sich, und er fiel in die asiatische Nacht.
Eagle breitete Arme und Beine aus und ging mit dem Gesicht nach unten in die konventionelle Fluglage der Fallschirmspringer. Er fühlte sich wohl in dem geheizten Anzug. Außer dem Höhenmesser, der an seinem Handgelenk leuchtete, war nichts zu sehen. Er brachte das Instrument näher an die Augen. Er hatte vor, mehr als fünf Meilen zu fallen, den Schirm bei etwa zweitausend Fuß auszulösen und den Lastenfallschirm in tausend Fuß Höhe zu öffnen. Damit reduzierte er das Risiko, gesehen zu werden, auf ein Minimum, und der Lastenfallschirm würde nahe genug landen, dass er ihn ohne Schwierigkeiten finden konnte.
Es störte ihn, kein Gefühl des Fallens zu haben. Der Druckanzug und der Helm schützten ihn zu gut. Seine Augen ließen den kleinen Höhenmesser nicht los, diesen Himmelskompass, von dem sein Leben abhing. Er war schon eine Meile gefallen, aber ohne das Instrument hätte er es nicht gewusst. Er wirbelte durch einen finsteren Abgrund, durch Leere, und drehte sich schwebend im Nichts.
Zwei Meilen. Noch kein Grund zur Sorge. Wenn Mr. Merlins Modell maßstabsgetreu war, dann lag der Gipfel da irgendwo unter ihm, 13.123 Fuß über dem Meeresspiegel. Er war sicher, dass Mr. Merlins Angaben stimmten. Wenn jetzt noch das Flugzeug seinen Kurs exakt geflogen war, wenn die Triangulation exakt gewesen war und die Parallaxe - wenn das ganze Arsenal der Methoden exakt eingesetzt worden war -, dann hatte er eine gute Chance, den Boden lebend zu erreichen. Wenn nicht, dann würde sein Kopf in wenigen Minuten an irgendeinem gottverlassenen Stück Stein zerplatzen, und niemand würde jemals auch nur seine Knochen finden.
Drei Meilen. Eagle schnitt hinter seinem Helm eine Grimasse. Jetzt konnte er anfangen, sich Sorgen zu machen. Er war schon tiefer als die Gipfel. Irgendwo da draußen streckten sich ihm Felszähne entgegen.
Etwas klatschte gegen seinen Helm und raubte ihm die Sicht auf den Höhenmesser. Er wischte es ab: Schnee. Er fiel durch einen Schneesturm.
Vier Meilen. Immer noch am Leben. Eagle stellte den Sauerstoffdruck ein wenig nach. Er war jetzt aus dem Schnee heraus.
Fünf Meilen, und immer noch nicht tot. Eagle wusste, dass er grinste. Das gab ihm ein zwar törichtes, aber gutes Gefühl. Sie hatten es geschafft. Sie hatten den Faden durch das Öhr gefädelt und ihn in den Pass fallen lassen. Jetzt blieb ihm nur noch, sicher herunterzukommen. Wenn er ein Bein brach - was leicht geschehen konnte -, dann war die Mission ebenso sicher zum Teufel, als hätte er sich an einer Klippe aufgespießt. Mr. Merlin brauchte einen gesunden Apachen da unten, keinen Krüppel.
In zweitausend Fuß Höhe zog er die Reißleine. Das schwarze Nylon füllte sich und riss ihn mit einem gnadenlosen Schlag aus dem Fall. Nichts hatte sich je so gut angefühlt. In tausend Fuß Höhe machte er den Lastenfallschirm los, ließ ihn von sich wegfallen und öffnete ihn dann mit einer langen Reißleine. Der kleinere Schirm schwebte rechts unter ihm zu Boden.
Eagle schlug auf und rollte sich ab. Er konnte nicht das Geringste sehen. Er befand sich in einer brodelnden Wüstenei aus Wind und Dunkelheit. Der Wind blies mit der Gewalt eines Sturms und warf ihn fast um, als er aufstand. Sein Visier wurde von Millionen winziger Geschosse bombardiert. Er stemmte sich gegen den Wind und zog einen Handschuh aus. Sand floss um ihn herum wie Wasser. Er war mitten in einem Gobi-Sandsturm gelandet!
Er bekam den Fallschirm unter Kontrolle, indem er sich darin einwickelte wie eine Raupe in ihren Kokon. Das war eine brauchbare Lösung. Die Stoffhülle schützte ihn vor dem Sandsturm, und er hatte genug Sauerstoff bis zum Morgen, wenn er sparsam damit umging. Es gab ohnehin nichts zu tun, bis der Tag anbrach. Er hatte keine Ahnung, wann das sein würde, und fragte sich, wie wohl ein Tagesanbruch in einem mongolischen Bergpass voller Sand aussehen würde.
Eagle streifte den Höhenmesser vom Handgelenk und drehte ihn um. Jetzt hatte er eine Kombination von Uhr und Kompass, die unter dem schwarzen Fallschirmzelt beruhigend leuchtete. John Eagle stellte sein Gehirn auf sechs Uhr und schlief ein.
Er machte sich keine Sorgen um den Lastenfallschirm. Der war schwer und musste sich früher oder später irgendwo an den Felsen verfangen. Er würde ihn finden.
Ein Würgen weckte ihn vor der gesetzten Zeit. Er erstickte! Eine Mikrosekunde lang kam Panik in ihm auf, dann erkannte er, was geschehen war, und machte sich an die Arbeit. Jemand hatte einen Fehler gemacht, oder er hatte sich verrechnet. Sein Sauerstoff war zu Ende. Er griff nach dem Messer an seinem Werkzeuggürtel und schlitzte den Schirm über sich auf. Er schob seinen Helm nach draußen. Sand! Er war zugeweht. Seine Lungen begannen schon zu schmerzen. Er legte die Hände zu einem Pflug zusammen und begann zu graben. Sekunden später stand er auf, warf den Sand von sich und starrte durch das Kunststoffvisier auf eine Chiaroscuro-Welt. Die Dämmerung hatte ihn überrascht. Der Wind war schwächer geworden. Eagle schraubte den Helm ab und warf ihn zur Seite, um die saubere, eiskalte Luft in tiefen Zügen zu trinken. In diesem Moment wusste er, dass er nicht gern einen Tod durch Ersticken sterben würde. Höchst unerfreulich.
John Eagle versank wieder bis zum Hals in seinem Nylonkokon. Er konnte noch immer das ärgerliche Heulen des Windes hören, aber es kam jetzt aus einiger Entfernung. Der Sand um ihn herum lag vollkommen still. Langsam und vorsichtig, unbeweglich bis auf Kopf und Augen, begann Eagle, seine Umgebung zu mustern.
Er sah den Lastenfallschirm schlaff und zusammengefallen etwa hundert Meter weiter links liegen, wo er sich in einer grauen Felsgabel verfangen hatte. Eagle zog ein saures Gesicht. Er hatte Hunger und Durst, und in dem Paket gab es Tabletten, die seine Bedürfnisse stillen konnten, aber er würde nie lernen, sie zu mögen. Er dachte an das Bärensteak, das er gegessen hatte, kurz bevor er die drei Sträflinge tötete, und sein Mund wurde wässrig. Der Gedanke an einen klaren, funkelnden Bergbach schob sich in sein Bewusstsein, aber er verdrängte ihn. In diesem Teil der Mongolei gab es sehr wenig Wasser, und er hatte keine Zeit, danach zu suchen. Die Tabletten mussten genügen.
Eagle verbrachte die nächsten fünf Minuten mit einer sorgfältigen Einschätzung des Windes und der Landschaft, des Himmels, der Wolken- und Felsformationen. Er lag auf einem engen, steinigen Plateau, das an drei Seiten von senkrecht aufsteigenden Felswänden begrenzt wurde. Rechts von ihm, östlich auf dem Kompass, fiel der Boden jäh ab. Ostwärts erhob sich eine weitere Felswand. Also befand sich der Pass östlich von seinem Standort. Er studierte die Felswälle, die ihn umgaben, und verzog das Gesicht. Es war wirklich ein Nadelöhr gewesen. Und er hatte Glück gehabt!
Nichts bewegte sich auf dem Plateau. Er hätte ebenso gut auf dem Mond gelandet sein können. Seine Umgebung sah ohnehin aus wie eine Mondlandschaft. Und doch wusste er aus seinen Instruktionen, dass Lamas und Banditen, buriats, in den Hügeln um den Pass lebten. Einer der Männer, die ihn in den Tunnels unter dem Vulkan eingewiesen hatten, war Mongole gewesen -Mr. Merlin übersah nichts - und hatte Eagle vor allem vor den schwarzen Mongolen gewarnt, die hoch in den Bergen lebten und auf ihren Raubzügen bis in die Pässe und die große Wüste kamen. Für die schwarzen Mongolen gab es kein Gesetz außer ihrem eigenen, sie waren außerordentlich brutal und grausam.
Nichts davon beeindruckte John Eagle übermäßig. Als Apache war er mit Grausamkeit vertraut. Er hatte sie selbst gelegentlich angewandt. Dies war einer der Wesenszüge, die sein weißes Ich zu vergessen suchte.
Er grub den Fallschirm aus dem Sand, zog den Druckanzug aus und warf ihn mit dem Helm auf den Fallschirm, machte ein Bündel daraus und trug es zu dem Lastenfallschirm, der sich in dem erneut aufkommenden Winde blähte. Er löste das Paket und wickelte den Lastenfallschirm um das Bündel. Dann vergrub er es zwischen zwei überhängenden Felsen. Der Boden bestand aus bröckligem Löß, vermischt mit Sand und Kies, und nach fünfzehn Zentimetern traf er auf Stein. Das bestätigte ihm seine Position. Während er die Erde über dem Bündel festtrat, sah er suchend zum Himmel. Er wartete auf die Sonne, denn ohne sie war der Miniatursextant, den er bei sich trug, nutzlos.
Ohne den unförmigen Druckanzug stand John Eagle schlank und breitschultrig da, in einem enganliegenden Overall aus stumpfweißem Kunststoff, der seinem Körper nachgebildet worden war. Nachts ließ sich die schwarze Innenseite nach außen kehren. Die Plastikhaut schien weder Nähte noch Taschen zu haben, aber es gab viele davon, sorgfältig verborgen. Einem zufälligen Betrachter schien der Anzug so glatt und frei von Ausbuchtungen zu sein wie eine Schlangenhaut. Aber er war kugelsicher und so geschickt gebaut, dass jede Oberfläche konvex gerundet war, um auftreffende Geschosse abzulenken.
Eagle kletterte einen Abhang aus losen Schieferplatten hoch und kam durch einen kurzen, zum Himmel offenen Tunnel zu einer Höhle. Er hielt an und witterte. Aber der Wind stand ihm im Rücken und war nutzlos. Er setzte sein Bündel ab und nahm eine eigenartig aussehende Pistole aus der Kunststofftasche an seinem Werkzeuggürtel. Auf den ersten Bück wirkte sie wie eine Luger, aber viel länger und mit einem Ringvisier an der Mündung. Es war eine Gaspistole, die mit CO2 arbeitete und eine schlanke, metallgefiederte Nadel abfeuerte, die noch auf fünfzig Meter Entfernung tödlich war. Es gab keine Explosion, nur ein fast unhörbares Hauchen, ein leises Pschhhhh.
Er ließ das Bündel zurück und ging mit der Gaspistole in der Hand vorsichtig auf den Höhleneingang zu. Die letzten Meter kroch er auf dem Bauch. Ein sehr deutlicher Geruch machte sich bemerkbar, aber Eagle wusste, dass er tot und harmlos war. Am Höhleneingang hielt er an und nahm eine bleistiftdünne Stablampe mit einem starken Lichtstrahl zur Hand. Er ließ den grellweißen Schaft in die Höhle fallen und knurrte befriedigt über das, was er sah.
Die Höhle war geräumig, mit einer Decke, die sich hinter dem Eingang hoch emporwölbte. Ihre Rückseite lag außerhalb der Reichweite seiner Taschenlampe. Der Boden bestand aus feinem Sand, hier und da durch Absätze und kleine Felsen unterbrochen, die dem Ganzen ein wenig den Anschein von Mobiliar gaben. Eagle lächelte über den Gedanken. Die Höhle sah gemütlich aus.
Sie hatte mit Sicherheit schon andere Bewohner gehabt, sowohl menschliche als auch tierische. Ein paar blankgenagte Knochen lagen umher - die Überreste kleiner Tiere -, und neben einem größeren Felsbrocken sah er den dunklen Ring einer Feuerstelle. Eagle kroch ein Stückchen weiter hinein und witterte wieder. Der Geruch war ihm neu, aber er ahnte, was es sein musste: verbrannter Dung. Argul. Die Mongolen sammelten ihn Stückchen weise und benutzten ihn wie Holzkohle.
Eagle zog sein Bündel in die Höhle und ging zurück zu den Felsen, wo er genügend mongolischen Salbei fand, um einen kleinen Handbesen daraus zu machen. Mit ihm verwischte er sorgfältig alle Spuren seiner Ankunft. Hier waren schon einmal Menschen gewesen, vielleicht kamen sie zurück. Er wollte sie nicht vorzeitig warnen.
Er hatte Hunger und einen wütenden Durst. Mit einer Zange aus seinem Gürtel riss er die Drahtverschnürung von dem segeltuchumhüllten Paket. Darunter lag eine Plastikhaut. Er riss sie ebenfalls ab. Jedes Teil, oder besser jede zusammengehörige Gruppe von Objekten, war getrennt in Plastik verpackt. Eagle fand zwei lange Röhrchen mit der Aufschrift Wasser und Nahrung und schüttelte sich aus jedem Röhrchen eine große Tablette in die Handfläche. Er starrte sie einen Augenblick lang angewidert an, zuckte dann die Schultern und schluckte die Wasserpille. Die Nahrungstablette kaute er langsam, wie man ihm geraten hatte. Die Tabletten erfüllten ihren Zweck. Er hatte sie schon früher benutzt. Aber sie gefielen ihm immer noch nicht.
Während er methodisch das Paket durchsortierte, kam ihm der Gedanke, dass er hier das neue Zeitalter, die moderne Zeit, die Raumfahrtära in Miniatur, vor sich hatte. Mr. Merlins Experten hatten das Neueste an Ausrüstung, was die mechanisch-kybernetisch-elektronische Ära zu bieten hatte, zusammengetragen. Ein Do-it-yourself- und Soforthilfe-Baukasten für Agenten und Spione, der James Bonds Speicheldrüsen zum Triefen gebracht hätte. Da war ein kleines Motorrad, das aussah wie ein Kinderspielzeug, aber einen zwei Zentner schweren Mann mit nur einer Gallone Benzin hundert Meilen weit fahren konnte. Er besaß vier Gallonen. Zusammengesetzt war die Wüstenmaus derart niedrig, dass der Fahrer knapp einen Meter vom Boden entfernt blieb, wenn er sich über die Lenkstange beugte. Die Maschine war in neutraler Sandfarbe gestrichen, die kein Licht reflektierte. Die Reifen, deren synthetisches Material weit härter war als Gummi, enthielten ein farb- und geruchloses, tödliches Gas. Die Reservekanister sahen aus wie Fahrradpumpen und ließen sich durch eine Drehung mit der Hand in Molotow-Cocktails verwandeln.
John Eagle legte die Motorradteile beiseite. Er hatte noch Zeit genug, sie später zusammenzusetzen. Die Maschine war im Gebirge nicht viel wert, aber auf offener Strecke gab sie ihm einen großen Vorteil an Geschwindigkeit und Beweglichkeit. Er hatte die Wüstenmaus in Lager III ausprobiert, während Scharfschützen die Reifen beschossen. Niemand hatte je einen Treffer erzielt.
Eine ganz normal aussehende Feldflasche der US-Army enthielt in ihrem falschen Boden ein starkes Funkgerät. Die Batterien waren winzig, aus massivem Silber und einer neuen Legierung, die Mr. Merlins Wissenschaftler entwickelt hatten - sie nannten sie Bauxitian. Wenn die Zeit gekommen war, konnte er Kontinente, Ozeane und Gebirge damit überspannen und einen Funkspruch direkt zu Mr. Merlins vulkanischer Zitadelle senden. Der Funkspruch war das Signal, dass die Arbeit getan war und er herausgeholt werden wollte: der einzige Fluchtweg für ihn. Eagle tätschelte die Feldflasche sanft, als er sie zur Seite legte.
Er nahm einen kleinen, in Plastik verpackten Gegenstand auf und sah ihn vergnügt an. Von all dem Superspielzeug war ihm dies das liebste. Er glaubte immer noch nicht so recht daran. Es hieß Chamäleon-Element. Eagle warf die hauchdünne Gebrauchsanweisung fort, die um das Gerät gewickelt war. Er hatte das Element schon früher benutzt.
Knapp hinter seinem linken Knie befand sich in dem Plastikanzug eine kleine Tasche. Er öffnete sie und ließ das Element hineingleiten. Zwei Drähte verbanden es mit den Langzeit-Batterien, die den Anzug beheizten.
Eagle verschloss die kleine Tasche und sah zu, wie der Anzug die Farbe wechselte. Er begann, dunkler zu werden und die Farbe des Sandes anzunehmen, auf dem er saß. In weniger als einer Minute war er nicht mehr von dem Sand zu unterscheiden. Nur die Bewegungen des Mannes verrieten ihn - und der Kopf mit den kurzgeschnittenen Haaren. Ein geschlossener Schutzhelm, den er später tragen würde, ließ sich an das Chamäleon-Element anschließen und nahm dann ebenfalls die vorherrschende Farbe der Umgebung an.
Diese Erfindung war ein kleines Juwel. Eagle, der über seine kindliche Freude selbst lächeln musste, probierte den Anzug draußen aus. Er kroch aus der Höhle und durch die Felsen und sah zu, wie sich die Farbe der Plastikhaut veränderte. Der alte Ho-kwa-sikna hätte seine helle Freude an diesem Ding gehabt.
Während er auf einem graubraunen Felsen lag und zusah, wie der Anzug die Farbe wechselte, bohrte sich ein Sonnenstrahl durch die graue Wolkendecke über ihm. Der Wind hatte jetzt ganz aufgehört, selbst das Heulen war nicht mehr zu hören. Es war Zeit, mit der Arbeit anzufangen.
Eagle fand den Miniatursextanten und machte eine Sonnenpeilung. Er breitete ein ganz normal aussehendes Taschentuch auf dem Sandboden aus, ließ ultraviolettes Licht darauf fallen und errechnete seine genaue Position anhand der Karte, die auf dem Tuch sichtbar wurde.
Indem er vom Wendekreis des Krebses nach Norden und von der Datumsgrenze nach Osten ging, kam er zu dem Schluss, dass er sich auf etwa 95 Grad und 6 Minuten östlicher Länge befinden musste. Die geographische Breite war schwieriger - schließlich kam er auf ungefähr 45 Grad, 9 Minuten nördlich. Er machte einen Punkt mit dem Spezialstift und benutzte ein Plastiklineal. Bogdo lag etwa fünfundsiebzig Meilen nordöstlich von ihm, jenseits des Passes. Irgendwo in einem Umkreis von fünfzig Meilen um Bogdo stand eine uralte Steinfigur, die Statue einer riesigen Schildkröte, bei der er seinen mongolischen Kontaktmann treffen sollte. Er hatte keine Ahnung, wer das sein würde. Er brauchte nur das Zeichen zu machen; derjenige, der antwortete, war sein Mann.
Eagle drückte einen Knopf an der dünnen Stablampe. Das ultraviolette Licht wechselte zu gewöhnlichem Licht, die Karte verschwand.
Eagle wusste, dass der erste Kontakt nur ein Zwischenglied, ein »Bruch« zwischen ihm und dem Mann sein würde, den er eigentlich erreichen musste. Dieser Mann würde ihn zu der mysteriösen chinesischen Anlage bringen, mit der alles angefangen hatte. Mr. Merlins knappe Anordnungen gingen ihm durch den Kopf:
»Finden Sie es. Finden Sie heraus, was es ist, was da geschieht, wie es geschieht, und wer es macht. Dann urteilen Sie selbst. Zerstören Sie es, sollte es erforderlich sein.«
Zerstören Sie es, sollte es erforderlich sein!
Eagle sah zu den Sohlen seiner Stiefel nieder. Sie enthielten genug Plastiksprengstoff eines neuen Typs, um einen ganzen Häuserblock in die Luft zu jagen.
Wind war aufgekommen und blies ihm vom Pass her ins Gesicht. Glockentöne kamen deutlich quer über das Plateau zu ihm herüber, ein angenehmes Klingeln. Irgendeine Karawane, dachte er, die nach Norden oder Süden durch den Pass zog.
John Eagle ließ den Helm einschnappen und klappte das Visier herunter. Er überprüfte die Gaspistole und kroch aus der Höhle. Das war eine gute Gelegenheit, um seine Ausrüstung unter Gefechtsbedingungen zu testen. Er wollte sich an die Karawane heranpirschen und sehen, wie nahe er kommen konnte, ohne bemerkt zu werden. Nicht zu nah, natürlich, er wollte keinen Ärger. Der kam ohnehin früh genug. Er begann, auf allen Vieren über das Plateau zu laufen, ein seltsames Tier mit einem noch seltsameren Fell, das die Farbe wechselte, während es sich bewegte.
Er näherte sich gerade dem Überhang des Passes, als er die Gewehrschüsse und das wilde Kriegsgeschrei hörte.
Fünftes Kapitel
Die mongolische Sonne, ein lodernder Ball aus gelbweißen Flammen, hatte die Wolken weggebrannt und verwandelte den Pass in einen Feuerofen, als Eagle den Rand der Schlucht erreichte und hinuntersah. Die Felswand senkte sich hier in einer Reihe von Absätzen bis zum felsigen, engen Boden, der vor Millionen Jahren ein Flussbett gewesen war. Genau unter Eagle bog der Pass fast rechtwinklig ab, auf beiden Seiten von zwei großen Felsformationen eingeschlossen. Perfekt für einen Hinterhalt.
Viele Kamele der Karawane, zottige, zweihöckrige Tiere, lagen bereits auf dem Boden. Die verwundeten Tiere traten mit den Beinen und stießen klagende, seltsam menschliche Laute aus. Der Führer der Karawane hatte noch versucht, die Tiere zu einem Kreis zu schließen, ähnlich wie Siedler ihre Wagen gegen die Indianer zu Ringburgen zusammengestellt hatten, aber es war ihm nicht gelungen. Die Angreifer, wilde, kleine Männer auf stämmigen Ponys, stürmten aufs Geratewohl schießend und mit langen Schwertern um sich schlagend zwischen den Kamelen durch. Ein Pony lag am Boden und dahinter die ausgestreckte Gestalt eines Reisenden. Aber sonst gehörte das Feld ganz den Banditen.
John Eagle, der die Situation mit einem Blick erfasste, sah, dass die meisten Opfer Lamas waren, buddhistische Priester. Sie lagen wie blutige Puppen in gelben und scharlachroten Gewändern umher. Die noch Lebenden, machten keine Anstalten, sich zu verteidigen. Eagle sah zu, wie eine kleine Gruppe von Priestern, die sich kniend zusammendrängten und ihre Gebetsmühlen drehten, von einer Attacke der Reiter auseinandergerissen wurde. Lange Schwerter flammten in der Sonne. Ein Kopf, der noch eine rote, tellerförmige Kappe trug, prallte auf und rollte über die Steine wie ein Ball.
Der Apache hatte nicht die Absicht, sich einzumischen. Er fühlte keinen Zorn und kein Mitleid mit denen da unten. Und doch war die Gelegenheit zu günstig, um nicht seine Waffen und seine Ausrüstung zu probieren. Er war sicher, dass niemand zwei oder drei mongolische Banditen vermissen würde.
Eine Minute später begann er, anders über die Sache zu denken. Er war schlangengleich den Felshang hinunter bis zum letzten Absatz gekrochen und lag nun kaum hundert Meter von dem Gemetzel entfernt wie ein menschliches Chamäleon unsichtbar zwischen grauen Felsbrocken.
Der Kampf war fast zu Ende, aber hinter dem toten Pony feuerte immer noch jemand auf die Banditen. Seltsamerweise schossen die Banditen nicht zurück. Sie hatten sich zerstreut und hinter Felsen auf der gegenüberliegenden Seite Deckung gesucht. Viele waren von ihren Pferden gestiegen. Und immer noch feuerten sie nicht auf den Schützen hinter dem toten Pony.
In diesem Augenblick zeigte sich einer der Banditen und rief dem Mann etwas zu. Der Mann feuerte, und der Bandit fiel vornüber aufs Gesicht. Eine Salve von Flüchen kam von den restlichen Banditen, aber kein Schuss löste sich.
Auf seinem Beobachtungsposten nickte Eagle anerkennend. Gut gezielt. Obwohl der Schuss durch die Wände der Schlucht gedämpft und verzerrt wurde, klang das Gewehr wie eine alte Mauser. Er beobachtete die weitere Entwicklung mit Interesse und wunderte sich, warum die Banditen, die nun noch einen Mann verloren hatten, nicht einfach das Feuer eröffneten und den letzten Überlebenden der Karawane mitsamt seinem Pony durchlöcherten. Der Schütze feuerte jetzt nicht mehr oft. Nur ein gelegentlicher Schuss, dann ein langes Schweigen, während die Banditen im Schutze eines Felsens zusammenhockten und mit heftigen Gesten aufeinander einredeten. Eagle nahm an, dass seine Munition zu Ende ging.
Derselbe Gedanke war auch den Banditen gekommen. Sie begannen, sich vorsichtig und mit kurzen, schnellen Bewegungen sehen zu lassen, um das Feuer auf sich zu ziehen. Der Schütze feuerte zweimal und schwieg dann wieder.
Die Banditen nahmen den Mann jetzt in die Zange. Während ein Hagel von Pfeilen ihn zwang, hinter seinem Pony in Deckung zu bleiben, krochen einige Banditen auf dem Bauch durch die Felsen, bis sie sich auf beiden Seiten des toten Tieres befanden. Sie würden ihr Opfer überwältigen, wenn der Zeitpunkt gekommen war.
Eagle zog die Gaspistole aus dem Halfter und schätzte die Entfernung. Er spielte nur damit herum, wie er sich selber einredete. Er hatte nicht die leiseste Absicht, in die Sache verwickelt zu werden. Es stimmte, dass der einsame Schütze großen Mut bewiesen hatte und einen großartigen Kampf geliefert hatte, obwohl die Chancen gegen ihn standen, aber das war nicht Sache des Apachen. Seine Befehle waren klar und äußerst unmissverständlich. Und doch legte er die langläufige Pistole auf und visierte den nächsten Banditen an. Die Entfernung betrug etwa fünfundsiebzig Meter. Es gab kaum Wind. Eagle verstellte die Kimme ein wenig und wünschte, er hätte den Kolben mitgebracht, der sich in den Pistolengriff einklinken ließ und die Waffe zum Gewehr machte. Oder noch besser seinen Aluminiumbogen mit den Pfeilen aus rostfreiem Stahl. Beides lag oben in der Höhle. Er hatte nicht so schnell mit einem wirklich ernsten Test gerechnet.
Mit schrillen Schreien stürzten sich die Banditen auf den Mann hinter dem Pony. Das Gewehr knallte zweimal, und ein Bandit fiel um sich schlagend zu Boden, dann wurde der Schütze überwältigt. Eagle sah einen Moment lang, wie der für einen Mongolen hochgewachsene Mann mit dem Gewehrkolben um sich schlug, bevor er in einer Woge stämmiger Körper unterging. Eagle seufzte. Pech. Er wäre dem Mann gern zu Hilfe gekommen. Aber Befehl war Befehl, und es stand zu viel auf dem Spiel. Für ihn selbst und für Mr. Merlin. Er konnte es einfach nicht riskieren.
Sie schleiften den Überlebenden in die Mitte des Passes. Weitere Banditen sprangen aus der Deckung. Der Gefangene wurde an eine ebene Stelle gezerrt und zu Boden geworfen. Seine spitze Pelzkappe fiel ab. Dunkles, zu langen Zöpfen geflochtenes Haar leuchtete in der Sonne. Einer der Banditen beugte sich lachend nieder und riss die wattierte Jacke auf. Zwei kleine, hellbraune Brüste wölbten sich unterm Sonnenlicht.
John Eagle presste ein schmutziges Wort zwischen den Zähnen heraus. Eine Frau! Nicht einmal das - ein Mädchen!
Es hätte ihm wenig Freude gemacht, Mr. Merlin in diesem Moment zu erklären, warum sich damit alles geändert hatte. Er wusste nur, dass es so war. Jetzt war es doch seine Sache. Und er wollte verhindern, was da unten geschah.
Ein wenig Zeit blieb ihm noch. Die Banditen, die offensichtlich von Anfang an Bescheid gewusst hatten, waren nicht in Eile. Sie hatten ihren Spaß und machten sich fertig für eine Bandenvergewaltigung, die weiter und weiter gehen würde, bis sie nicht mehr konnten oder das Mädchen tot war.
Der Apache griff in eine Tasche seines Plastikanzuges und nahm einen langen, schlanken, geschwärzten Metallstab heraus. Der Stab war teleskopisch zusammengeschoben. Eagle zog ihn auseinander und ließ ihn entlang des Pistolenlaufs einschnappen. Er hatte das Zielfernrohr eigentlich noch nicht benutzen wollen. Unter anderem, weil er sehen wollte, was die Pistole auf lange Entfernung allein leistete. Aber jetzt konnte er sich keine Fehler mehr erlauben. Er richtete die Pistole wieder auf dem Felsen aus und legte das Auge ans Zielfernrohr.
Es gab kein stärkeres Glas als dieses. Er hätte die Hand ausstrecken können, um die zarte Scham des Mädchens zu berühren, die jetzt bloßgelegt war. Bevor Eagle das Zielfernrohr weiterwandern ließ, um nach seinem ersten Opfer zu suchen, fiel sein Blick auf dunkles Flaumhaar und feuchtrosa Haut, zuckend und wehrlos der bevorstehenden Invasion preisgegeben.
Das Mädchen hatte jetzt aufgehört, sich zu wehren. Seine Augen waren resigniert geschlossen. Vier Banditen hielten es fest. Je einer kniete auf jedem Arm, und zwei andere spreizten ihr die Beine weit auseinander. Ein fünfter Bandit kam nach vorn: ein untersetzter, kleiner Mann mit narbigem, grausamem Gesicht, hängendem Schnurrbart und dünnem Kinnbart. Offensichtlich war er der Anführer und beanspruchte jetzt sein Recht.
Er machte sich nicht die Mühe, die gekreuzten Patronengurte von den Schultern oder das Messer und den Revolver aus seinem Gürtel zu nehmen. Er grinste mit seinen Zahnlücken und kniete sich zwischen die Beine des Mädchens, zerrte an seiner Hose und entblößte sich. Als einer der Banditen in diesem Moment etwas sagte, brüllte alles vor Lachen.
John Eagle hielt die Pistole mit beiden Händen ruhig. Er hatte den Hinterkopf des Mannes im Visier. Der stützte sich rechts und links von dem Mädchen auf und lehnte sich nach vorn. Seine Rückenmuskeln spannten sich, als er sich fertigmachte, in sie hineinzustoßen.
Plonk.
Der Pfeil drang ihm im Nacken kurz unter dem Haaransatz in den Kopf. Die Spitze riss das Gehirn auseinander. Der Mann fiel nach vom auf das Mädchen. Ein Schweigen entstand, als die Banditen auf ihren Anführer hinunterstarrten - eine Leiche mit einer Metallbrosche hinten im Nacken. Die gestiefelten Füße des Toten zuckten reflexartig.
Eagle hatte seinen Plan schon gefasst. Wenn er hier gewinnen wollte, dann musste er außer Gewalt auch List und Terror anwenden. Er zielte und schoss in rascher, ununterbrochener Folge, ohne eine Nadel zu verschwenden.
Plonk - plonk - plonk - plonk - plonk - plonk...
Wie ein Schwarm zorniger Hornissen schlugen die Pfeile in die wild umherlaufenden, schreienden und verwirrten Banditen. Ein Auge hier, eine Kehle da, mehrere Herzschüsse, ein Stahlspieß zur einen Schläfe hinein und zur anderen wieder hinaus. Das Magazin lief leer, der Apache knallte ein neues hinein, ohne aus dem Takt zu kommen. Er ließ den tödlichen Hagel weiterprasseln.
Das Chaos war jetzt vollständig. Ein Bandit, der bessere Nerven hatte als der Rest, erkannte die Richtung, aus der die kleinen Geschosse kamen, und streckte schreiend den Arm aus. Im nächsten Augenblick ging er zu Boden. Zwischen seinen Augen blinkte Metall.
Das Mädchen war vergessen. Eagle, der ständig feuerte, zielte, wieder feuerte, sah es aufspringen, seine Kleider an sich reißen und in seine Richtung laufen. Gut. Sie hatte nicht die Nerven verloren.
Einer der Banditen, die jetzt in heilloser Flucht auf die Felsen und die Ponys auf der gegenüberliegenden Seite zuliefen, hob einen kurzen Bogen und schickte dem Mädchen einen Pfeil nach. Er traf es am Arm und baumelte dort. Eagle tötete den Mann.
Die Banditen sprangen schreiend und drängelnd auf ihre stämmigen Ponys. Eagle schob ein drittes Magazin in die Gaspistole und beobachtete sie aufmerksam. Die erste Runde hatte er leicht gewonnen, die buriats waren nur noch ein wirrer Haufen, aber es konnte immer noch anders kommen. Das Mädchen arbeitete sich laufend, fallend und wieder aufstehend die Felsen hoch auf Eagle zu.
Es gab Ärger. Einer der Banditen, ein breitschultriger Bursche, versuchte, seine verschreckten Kumpane zu sammeln. Eagle fluchte leise. Man hatte ihm den mongolischen Charakter ausführlich erklärt: primitiv, abergläubisch, freundlich, aber wahre Teufel im Kampf, wenn sie einmal wütend geworden waren. Wo ein Chinese die Flucht ergriff, leistete ein Mongole Widerstand.
Ker-wapp - ker-wapp - uingiiiiiiuuu...
Der breitschultrige Bandit feuerte jetzt auf die Felsen. Er schoss von seinem Pony aus und versuchte gleichzeitig, seine Freunde durch Zurufe zu beruhigen. Eagle versuchte es mit der Gaspistole und verfehlte den Mann. Zu weit weg. Er hatte plötzlich ein ungutes Gefühl im Magen. Das Blatt konnte sich nur allzu leicht wenden. Und er musste ohnehin versuchen, sie in Panik davonzujagen. Er konnte sich nicht leisten, dass jemand seinen Spuren folgte.
Er würde sich zeigen müssen, ein bisschen Entsetzen verbreiten. Er hatte sich mit Plastikanzug und Helm im Spiegel gesehen und wusste, dass er für einen primitiven Eingeborenen aussehen musste wie ein Dämon aus der Hölle. Jedenfalls hoffte er das. Wenn es ihm nicht gelang, überzeugend auszusehen, dann konnte die Situation verdammt ungemütlich werden.
Das Mädchen war jetzt fast bei ihm. Es stolperte und fiel über einen flachen Felsen, nicht weit unter ihm. John Eagle entschied, dass es Zeit für seinen Auftritt war. Er kam aus seiner Deckung hervor und sprang gewandt zu dem Felsen hinunter, auf dem das Mädchen keuchend und erschöpft liegengeblieben war. Sein Visier war hochgeklappt, und er sprach, ohne zu ihr hinunterzusehen.
»Ich bin Ihr Freund, haben Sie keine Angst. Tun Sie genau, was ich Ihnen sage. Verstehen Sie?« Er sprach englisch, weil sein Mongolisch sehr dürftig war, und verließ sich mehr auf den Tonfall als auf die Worte. Gleichzeitig ließ er die rechte Hand sinken, so dass sie sie sehen konnte, und hielt den rechten Daumen hoch. »Sai - sai - sai - verstehen Sie? « fügte er hinzu.
Er hatte keine Zeit, über ihre Antwort erstaunt zu sein. Sie kam in fast perfektem Englisch. »Verstehe. Ich rühre mich nicht. Tun Sie etwas, um die Banditen noch mehr zu erschrecken. Schnell! Das sind keine Dummköpfe oder Feiglinge. Wenn Sie es schaffen, auszusehen wie ein Dämon...«
»Genau das hatte ich vor«, sagte Eagle. Er spreizte die Beine weit, reckte sich auf dem Felsen zu seiner vollen Größe von 1,95 Metern und hielt die Arme mit gespreizten Fingern ausgestreckt, als kralle er sich in den Himmel. Er schwenkte die Gaspistole in der rechten Hand und sah auf den kleinen Haufen Banditen hinab, die wortlos und mit offenen Mündern diese Erscheinung aus den Felsen, diese Verkörperung ihres schweigenden Todes anstarrten.
Eagle hatte eine machtvolle Stimme. Eine gute Stimme. Auf der Universität hatte er in studentischen Musikveranstaltungen gesungen und seine Stimme vervollkommnet. Jetzt verzerrte er das Gesicht zu einer schrecklichen Fratze. Er bleckte die Zähne, dass die Sonne auf ihnen funkelte. Er rollte die Augen und den Kopf und lachte tief aus dem Zwerchfell heraus. Der Widerhall in dem engen Pass war enorm. Das unirdische Gelächter rollte vor und zurück und hallte von einer Felswand zur anderen.
»Ho-ho-ho... Ha-ha-ha-ha-ha... Ho-ho-ho... Ha-ha-ha!«
Der kleine Haufe buriats duckte sich. Einige rutschten von ihren Ponys und warfen sich zu Boden. Manche begannen, hysterisch zu weinen.
Aber es war immer noch nicht vorbei. Der breitschultrige Bandit stieß einen herausfordernden Schrei aus und zielte sorgfältig auf das Gespenst in dem Felsen. Eagle sah ihm zu und wartete, denn wenn der Mann nicht zufällig einen Glückstreffer ins offene Visier landete, spielte er Eagle in die Hände. Das war alles, was die Banditen noch brauchten.
Zu seinen Füßen keuchte das Mädchen: »Gehen Sie doch in Deckung - schießen Sie!«
»Keine Bewegung«, sagte er. »Machen Sie sich nicht zur Zielscheibe.«
Er musste die Zeit genau abpassen. Der Mann mit dem Gewehr feuerte. Die Kugel klatschte gegen den Plastikanzug und trudelte davon. Im gleichen Moment griff Eagle mit der freien Hand zu, als fange er die Kugel. Er tat, als sähe er sie verächtlich an und warf sie dann zur Seite. Dann stemmte er die Hände in die Hüften und begann aufs Neue zu lachen: »Ho-ho-ho-ho-ho-ho...« Das Gelächter brach sich brüllend im engen Pass.
Sein Anzug war am Hals elastisch genug, um den Kopf hineinducken zu können. Das tat er jetzt, nahm den Helm ab und schwang ihn durch die Luft. Den bebenden buriats schien es, als nähme er seinen Kopf ab und winke ihnen damit. Der Mann, der geschossen hatte, ließ sein Gewehr fallen und floh mit den anderen den Pass hinunter. Nichts blieb außer dem Schweigen der Toten. Über ihren Köpfen erschienen wie durch Zauberei drei große schwarze Vögel und begannen, träge im Kreise zu fliegen: Geier, die wussten, wo ihre nächste Mahlzeit auf sie wartete.
Mary Choija hielt ihre zerrissene Hose zusammen und starrte den hochgewachsenen Mann über sich an. Sie war gebildet und aufgeklärt genug, um den Plastikanzug und den Rest der Ausrüstung in etwa verstehen zu können (obwohl die Kugelsicherheit des Anzugs sie ebenso überrascht hatte wie die Banditen), aber sie musste doch zugeben, dass er wirklich wie ein Dämon aussah. Oder wie ein Gott. Jedenfalls sah er gut genug aus, um sich mit jedem Gott messen zu können, von dem sie je gelesen oder geträumt hatte. Sie hielt ihn für einen Amerikaner, obwohl seine Haut so dunkel war, dass er als Mongole hätte gelten können, wenn seine hellblauen Augen nicht gewesen wären; und sie erriet auch, wer er war und was er suchte. Und doch brauchte sie noch Beweise.
Er streckte die Hand aus, um sie hochzuziehen. Seine weißen Zähne blitzten, und in seinen blauen Augen lag Verwunderung. Verwunderung und ein wenig Argwohn. Als er sprach, verschwanden ihre letzten Zweifel. Er hatte eine amerikanische Stimme mit einer dünnen Schicht Oxford-Patina, die Stimme eines gebildeten Mannes, ein weicher Bariton voll Selbstvertrauen und Gelassenheit.
Er versuchte ein Lächeln. »Wie wär's, meine liebe englischsprechende Freundin, wenn Sie mir jetzt erklären würden, wer Sie sind und was, zum Teufel, Sie hier suchen?«
Mary Choija lächelte. Ihre Zähne waren kleine Perlen in dem dunklen Oval ihres Gesichts. Ihre zerrissene Hose notdürftig zusammenhaltend, stützte sie sich auf ihn und fühlte den Schmerz des Pfeils in ihrem Arm. Jetzt war sie sicher. Aber noch war das Zeichen nicht gegeben und beantwortet. Ihre Anweisungen waren in diesem Punkt unmissverständlich.
Der Mann sah den Pfeil an, der aus ihrem Arm hing. »Kommen Sie, wir bringen das in Ordnung. Ich habe nicht weit von hier eine Höhle.« Er sah nach Süden in den Pass hinein. »Wir können es uns nicht leisten, hier zu bleiben. Vielleicht überwinden sie ihren Schreck und kommen zurück.«
Das Mädchen ließ ihn los und lächelte erneut. »Kein Grund zur Sorge. Die Banditen kommen nicht mehr zurück. Sie werden nicht aufhören zu laufen, bis sie zu Hause sind - im Tal des Roten Sandes.« Sie nickte in Richtung des toten Anführers. »Das ist Namsun, ihr Hauptmann. Ohne ihn werden sie eine Weile kopflos sein.«
John Eagle ließ den Helm wieder einschnappen, behielt aber das Visier offen. »Sie scheinen ja eine Menge zu wissen«, sagte er.
Sie nickte. »Genug. Ich glaube, ich werde Ihnen nützlich sein. Aber das kann warten - ich muss erst etwas anderes tun. Warten Sie bitte.«
Schweigend sah er zu, wie sie aus ihrer Jacke ein kleines Messer zog. Sie hatte es fertiggebracht, ihre Kleider so überzustreifen, dass er nur einmal flüchtig ein Stück glatten braunen Schenkels zu sehen bekam, als sie den felsigen Abhang hinunter zur Passsohle stieg. Jetzt, nachdem das Entsetzen vorbei war, bewegte sie sich zwischen den Toten so sicher und leicht wie eine heimische Gazelle. Er sah, wie sie mit dem Messer in der Hand auf den toten Bandenchef zuging. Eine Vorahnung stieg in ihm auf. Er hatte Apachen-Frauen gesehen...
Das Mädchen hielt neben dem toten Bandenhäuptling und spuckte auf die Leiche hinunter. Dann beugte es sich vor und machte sägende Bewegungen mit ihrem kleinen Messer. Schließlich richtete es sich wieder auf und drehte sich mit einem starren Lächeln zu ihm, damit er es sehen konnte. Sie spuckte darauf, warf das tote Fleisch von sich und wischte sich die Hände ab.
Der Apache verstand und billigte ihr Handeln, obwohl er wusste, dass der Weiße in ihm nicht einverstanden war. Er rief: »Beeilen Sie sich. Wir müssen machen, dass wir hier wegkommen!«
»Noch ein oder zwei Minuten. Es gibt noch zu tun.« Sie hob das Gewehr eines Toten auf und lud es von seinem Patronengurt.
Dann bewegte sie sich zwischen den Priestern umher und hielt ab und zu an, um einen von ihnen näher zu untersuchen. Sie fand drei, die noch am Leben waren, und gab ihnen den Gnadenschuss.
Eagle nickte beifällig. Sie war grausam, wie auch er manchmal grausam war. Und es gab Barmherzigkeit in ihr, wie auch in ihm.
Ihre Erklärung war einfach. »Sie waren schwer verletzt. Wir hätten sie hier nicht versorgen können.«
Er stimmte ihr zu. »Wer waren sie?«
»Priester aus den Bergen, auf einer Pilgerfahrt nach Karakorum. Sie gehen jedes Jahr, obwohl ich den Grund nicht kenne. Einer der Kameltreiber stammte aus Bogdo, einem Ort, der nahe bei meinem Zuhause liegt. Ich habe ihn gekannt, deshalb erlaubte man mir, mich der Karawane anzuschließen. Vielleicht wäre all dies nicht geschehen, wenn ich ihnen die Wahrheit erzählt hätte. Aber ich log - und jetzt sind sie alle tot.«
John starrte sie an. Seine blauen Augen waren eiskalt. »Aber mir werden Sie die Wahrheit erzählen?«
Ihre dunkelbraunen Augen hielten den seinen stand. Sie war sich seiner sehr sicher. Wie wäre er sonst in diese Wildnis gekommen? Doch es blieb noch das Zeichen zu geben.
»Vielleicht«, sagte sie. »Das hängt davon ab.«
»Wovon?«
»Davon.«
Mit ihrem Fuß glättete sie ein Stück Erde. Darauf zog sie mit dem Messer eine dreißig Zentimeter lange gerade Linie. Nichts sonst. Sie sah ihn an. »Ich glaube, ich weiß, wer Sie sind. Aber ich muss sichergehen.«
»Sie haben Recht«, sagte er. Er nahm ihr das Messer aus der Hand, zog eine Diagonale und dann eine Gerade, die beide Linien kreuzte und daraus eine 4 machte: das große Medizinzeichen der Be-donke-he-Apachen. Er gab ihr das Messer zurück und streckte ihr seine große Hand entgegen. Ihre lag klein und warm in der seinen, schlank und feminin und - hilflos? Er unterdrückte ein Lächeln, als er sich erinnerte, was er gerade gesehen hatte.
»Ich bin John Eagle. Wie heißen Sie?«
»Mary Choija. Ich bin die Schwester Turkan Choijas, des Mannes, den Sie suchen.«
Er ließ ihre Hand fallen und sah sie streng an. Sie merkte, dass er ihr nicht völlig traute.
»Was machen Sie hier?«, verlangte er zu wissen. »Dies ist nicht unser Treffpunkt. Sie sollten bei der Steinschildkröte auf mich warten.«
Sie wandte den Blick nicht ab. »Das weiß ich. Ich werde alles erklären. Aber später.« Sie zeigte auf den baumelnden Pfeil. »Es schmerzt mich sehr. Wollen Sie mir bitte helfen?«
Er nickte kurz. »Selbstverständlich, entschuldigen Sie. Gehen wir also. Können Sie es allein schaffen?«
»Ja, nur das Klettern geht nicht gut. Ich kann den Arm kaum benutzen.«
Als er ihr über die Felsen zurück zum Plateau half, kam all sein Argwohn zurück. Sicher, sie hatte das Zeichen gegeben, aber war das genug? Es gab ein zweites Zeichen, doch das kannte nur sein eigentlicher Kontaktmann. Turkan Choija, wie das Mädchen gesagt hatte, der Bruder. War das etwa eine Familienangelegenheit? Und wo steckte Turkan Choija? Warum war er nicht hier statt des Mädchens?
Als sie die Höhle erreichten, weiteten sich ihre Augen vor Staunen über die herumliegenden, größtenteils noch sauber in Plastik verpackten Ausrüstungsgegenstände. Er setzte Mary auf einen Felsen am Eingang, wo das Licht gut war, und durchsuchte den Haufen, bis er den Erste-Hilfe-Kasten fand. Er enthielt alles Notwendige, einschließlich Morphium-Ampullen und einer chirurgischen Nadel nebst Nähdarm.
Das Mädchen beobachtete schweigend, wie Eagle seine Vorbereitungen traf. Er lächelte ihr ohne Fröhlichkeit zu. »Es wird wehtun«, sagte er. »Der Pfeil hat Widerhaken. Ich muss ihn durch das Fleisch nach oben stoßen und den Kopf abschneiden, um den Schaft herausziehen zu können. Ich habe ein schmerzstillendes Mittel hier, wenn Sie wollen - in fünfzehn Minuten spüren Sie nichts mehr.«
Mit unbeweglichem Gesicht sagte sie: »Ich brauche nichts. Fangen Sie an. Je schneller es vorüber ist, desto schneller heilt die Wunde.«
Es war unmöglich, ihr die Jacke auszuziehen, ehe der Pfeil nicht entfernt war. Er umschloss ihren Arm fest mit einer Hand und ergriff den Pfeil mit der anderen und spürte ein wenig Mitleid mit ihr. Fast das gleiche war ihm selbst einmal passiert - nur dass er den Pfeil ins Bein bekommen hatte, während er versuchte, einem mexikanischen Apachen-Stamm Pferde zu stehlen -, und es hatte höllisch wehgetan. Er trug die Narbe noch immer an der Innenseite des Schenkels, so breit wie die Pfeilspitze, die sie verursacht hatte.
Mary hatte das Gewehr und einen Patronengürtel des toten Banditenchefs mitgebracht. Er nahm eine Patrone aus dem Gürtel und klemmte sie ihr zwischen die kleinen, weißen Zähne. »Beißen Sie drauf.«
Das Mädchen schloss die Kiefer um die Kugel, die Augen fest auf seine gerichtet.
»Fertig?«
Sie nickte und schloss die Augen.
Mit einer schnellen Bewegung seiner kraftvollen Arme zog und schob Eagle gleichzeitig. Die Pfeilspitze stieß mit einem blutigen Schmatzgeräusch durch den fleischigen Teil des Oberarms. Mary zitterte und hielt die Augen geschlossen. Ihre Zähne knirschten auf dem Metall. Eine Träne löste sich aus jedem Auge und glitt die Wangen herunter.
Sie wurde ihm wieder sympathischer. Selbst wenn sie sich als Feindin erweisen sollte, besaß sie doch wenigstens Würde und Mut, die beiden meistgeschätzten Eigenschaften eines Apachen-Kriegers. Aus ihr wäre eine gute Squaw geworden, dachte er.
Er arbeitete schnell, kniff die Pfeilspitze mit einer Zange ab und zog den Schaft aus der Wunde. Es floss viel Blut, aber ohne Puls. Er bestreute eine sterile Wundauflage mit antiseptischem Puder und verband den Arm fachmännisch. Aus einem weiteren Stück Bandage machte er eine Schlinge. Er gab Mary eine Tablette, die die Blutgerinnung beschleunigte. Als sie über Durst klagte, gab er ihr eine Wassertablette und lachte über den Ausdruck auf ihrem Gesicht.
Sie lachte zurück. »Dann ist es also wahr, was ich über die Amerikaner gelesen habe? Alles ist synthetisch?«
»Nicht alles«, sagte er.
Ihre Blicke kreuzten sich einen Augenblick. Sie sah zuerst von ihm fort, die weiche, bronzefarbene Haut rot überflutet. Er musste zugeben, dass sie eine Schönheit war mit ihrem ovalen Gesicht, den hohen Backenknochen und den wohlproportionierten Augen, denen die Mongolenfalte fehlte. Ihre Familie musste aus dem Norden stammen, wo der chinesisch-tibetanische Einfluss noch nicht so stark war. Richtig angezogen hätte sie ein Indianermädchen sein können, aber er nahm an, dass sie ihre schlanke Figur länger behalten würde als die meisten Indianerinnen.
Der Augenblick ging vorüber. Mary sah sich erneut in der Höhle um. Am längsten blieb ihr Blick auf dem demontierten Motorrad haften, dann schüttelte sie verwundert den Kopf. »Das
werden Sie hier kaum brauchen können. In der Gegend von Ulan Bator schon eher. Fahrräder sind das neue Pferd des Mongolen geworden.«
John Eagle machte es sich auf einem Felsen bequem und begann, seine Gaspistole zu reinigen. »Erzählen Sie mir von Ihrem Bruder Turkan. Warum sind Sie hier und nicht er? Was ist schiefgelaufen?«
»Die Banditen haben Turkan gefangengenommen und wollen Lösegeld für ihn. Sie haben einen seiner Finger zu unserer Jurte bei Bogdo geschickt und verlangt, dass ich Gold bringe, um ihn zu befreien. Sie haben versprochen, jede Woche einen Finger zu schicken, bis ich das Gold abliefere. Deshalb war ich hier bei der Karawane und nicht bei der Steinschildkröte, um Sie zu erwarten.«
Er sah nicht von seiner Arbeit auf. »Ein Finger? Woher wussten Sie, dass er Ihrem Bruder gehörte?«
»Der Familienring steckte noch daran.« Ihre Stimme klang flach, ruhig, unbewegt.
Eagle nickte. »Und das Gold?«
»Es gibt kein Gold. Wir sind arme Leute. In den alten Tagen waren meine Vorväter eine Art regionaler Oberherren, heute leben wir weit verstreut und kommen nicht oft nach Bogdo. Wir haben genügend Jurten und Rinder, Schafe und Ponys, aber wir haben kein Gold. Das wenige Geld, das wir hatten, wurde für meine Erziehung ausgegeben - ich ging zehn Jahre lang zur Schule in Ulan Bator, bevor ich nach Peking kam.«
Eagle war mit dem Reinigen der Pistole fertig und steckte sie weg. Er zählte nach und stellte fest, dass er noch zwölf Magazine mit Pfeilen hatte. Er musste sparsam sein. Dem Mädchen warf er einen harten Blick zu.
»Kein Gold, und doch gingen Sie in die Berge zu dem Lager der Banditen. Warum? Was hatten Sie vor?«
»Ich hatte vor zu zahlen - auf meine Art. Die einzige Art, die mir zur Verfügung stand. Ich wollte mich an seiner Statt anbieten. Ich liebe Turkan - er ist mein älterer Bruder -, aber er ist auch zwanzig Jahre älter und kahl. Und ein Mann. Ich bin ein junges Mädchen. Eine Jungfrau. Ohne unbescheiden sein zu wollen - glauben Sie nicht, dass Kubla, der Banditenhäuptling, ein Dummkopf gewesen wäre, den Tausch nicht zu machen?«
»Allerdings«, grinste Eagle. »Erzählen Sie mir von diesem Kubla. Wir sprechen später über Ihren Bruder. Und wie steht es mit dem toten Mann da unten im Pass, Namsun? Wie viele Banditenhäuptlinge laufen denn eigentlich hier herum?«
»Namsun!« Sie spuckte aus. »Er war Kublas jüngerer Bruder. Sie hassten einander. Ich muss jetzt raten, aber ich glaube, Namsun hörte Gerüchte und legte der Karawane einen Hinterhalt, um das Gold noch vor Kubla zu bekommen.«
»Na schön. Und was wollen Sie jetzt tun? Namsun ist tot, seine Männer sind in alle Winde verstreut. Die Karawane ist zerstört. Das alles ist zwar nicht meine Sache, aber Sie haben Ihren Kontaktauftrag abgebrochen, mich nicht am vorgeschriebenen Ort getroffen, und doch sitzen Sie jetzt hier. Ich will und brauche aber nicht Sie, sondern Ihren Bruder Turkan. Er hat Informationen für mich. Falls er sie nicht an Sie weitergegeben hat, bevor die Banditen ihn gefangen nahmen.«
Er beobachtete sie genau. Ihre braunen Augen waren halb geschlossen, ihr glattes, reizendes Gesicht zeigte ruhige Selbstzufriedenheit.
»Er hat mir etwas gesagt, bevor er auf seine letzte Reise ging. Es war das erste Mal, dass er so etwas tat. Ich weiß nicht, ob er mir alles gesagt hat, aber er verriet mir Dinge, von denen er nie zuvor gesprochen hat.«
Eagle blieb geduldig. »Was, zum Beispiel?«
Das Mädchen schloss die Augen und wechselte die Stellung des verwundeten Armes.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es Ihnen sagen soll oder nicht. Jedenfalls nicht, bevor wir uns über etwas geeinigt haben.«
Er hatte schon damit gerechnet.
»Sie wollen, dass ich Ihren Bruder befreie? Dass ich Turkan vor den Banditen rette?«
Sie nickte schnell. »Was bleibt Ihnen übrig? Er hat mir einiges gesagt, nicht alles. Er weiß das eigentliche Erkennungszeichen, nicht ich. Also werden Sie mir nie wirklich trauen. Und nur Turkan weiß, wo die Chinesen sind und was sie im Schilde führen. Nicht ich. Also müssen Sie meinen Bruder retten, um die Informationen zu bekommen, die er hat. Sonst können Sie nicht das tun, wozu Sie gekommen sind. Und was sollten Sie schon dabei verlieren? Sie schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe, retten meinen Bruder und dienen sich damit selbst, John.«
Das Dumme an der Sache war, dass sie Recht hatte. Also gut.
»Wissen Sie, wo das Lager der Banditen ist? Kennen Sie Kublas Hauptquartier?«
»Nein. Ich weiß nur, dass es im Tal des roten Sandes liegt. Ich kann Ihnen die Karawanenstraße zeigen, die südwärts durch den Pass führt, das ist alles. Wir werden danach suchen müssen.«
Er meinte, auf eine Lüge gestoßen zu sein. »Wie wollten Sie Kubla dann finden und sich gegen Ihren Bruder eintauschen?«
Sie sah ihm gerade ins Gesicht. »Ich wollte mich von der Karawane trennen. Einer der Kameltreiber kannte einen kleineren Pass, der zum Tal des roten Sandes abzweigt. Oder jedenfalls behauptete er das. Ich hatte vor, in diesen Pass hineinzuwandern, bis Kublas Männer mich fanden. Ich glaube nicht, dass es lange gedauert hätte. Die Banditen sind sehr vorsichtig und bewachen ihr Lagergut.«
Er musste das akzeptieren. »Okay. Also, was hat Ihr Bruder Ihnen über die Chinesen erzählt? Und halten Sie sich an die Tatsachen. Erfinden Sie nichts, nur weil Sie vielleicht denken, dass ich es gern hören würde.«
Sie lächelte. »Dann kennen Sie den mongolischen Charakter also ein wenig. Nun gut, ich werde es Ihnen erzählen. Es ist nicht viel. Die Chinesen kamen in großer Zahl von Süden her durch den Pass, in kleinen Gruppen und nachts. Turkan sagte, die Regierung in Ulan Bator wüsste einiges von dem, was die Chinesen hier treiben, aber nicht alles.«
Eagle nickte. Das war immer so. Die chinesischen Kommunisten schützten irgendeine Tätigkeit vor, die von der mongolischen Regierung genehmigt war, um ihre wahre Absicht zu vertuschen.
»Sie sind in einem großen Tal«, fuhr das Mädchen fort, »das auf keiner Karte steht. Sie haben sich dort in einem alten Lama-Kloster eingerichtet. Ein riesiges, uraltes Gebäude, in dem einst Tausende von Lamas lebten. Das war vor langer Zeit, im alten chinesischen Reich, als die Lamas gefördert wurden. Turkan sagte mir, dass die Chinesen lastwagenweise Material herantransportiert hätten, um damit neue Gebäude zu bauen und alte zu renovieren. Es gibt einen Flugplatz, aber es kommen kaum Maschinen an. Und doch gibt es Flugzeuge dort. Die Chinesen bauen sie an Ort und Stelle. Und dann zerstören sie sie wieder. Ihre eigenen Maschinen! Turkan nannte die Flugzeuge Drohnen. Was ist das, John? Ich verstehe das Wort Drohnen nicht.«,
Eagle hörte jetzt voll Spannung zu. Das war zweifellos der Grund, warum Mr. Merlin ihn hergeschickt hatte.
»Flugzeuge, die ohne Piloten fliegen können«, sagte er. »Turkan sagte, dass die Chinesen sie zerstören. Hat er auch gesagt, wie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe ihn genau beobachtet, als er davon sprach, und ich sah - ich kenne Turkan sehr gut -, dass er beeindruckt war und sich ein wenig fürchtete. Mir ging es ebenso. Ich fragte ihn noch einmal, um mehr zu erfahren, aber er schüttelte den Kopf und sagte nur, es sei eine furchterregende Szene: ein Flugzeug flog durch die Luft - und plötzlich war es verschwunden. Einfach so. Weg.«
Eagle lehnte sich vor. »Hat er etwas von Kanonen gesagt? Irgendeine Art Waffe?«
»Nein. Danach sprach er nicht mehr viel. Er war nur für ein paar Tage nach Hause gekommen, bevor er wieder in die Berge zurückging. Ich glaube, er wartete auf eine Nachricht. Sie muss gekommen sein, obwohl ich nicht weiß, wie; denn eines Tages machte er sich wortlos fertig, um fortzureiten. Bevor er ging, gab er mir die Anweisung, Sie zu erwarten und zu ihm zu führen.«
Eagle hatte etwas übersehen. »Wohin sollten Sie mich führen, um ihn zu treffen?«
Sie zögerte nicht. »Zur Gebetsmühle. Sie steht etwa auf halbem Weg durch den Pass nach Sinkiang. Alle Reisenden kennen sie. Sie drehen das Rad, das verschafft ihnen Gebete für den Rest der Reise.«
Er wechselte unvermittelt das Thema. »Die Lösegeldforderung - hat Turkan sie geschrieben oder die Banditen? Haben Sie den Brief noch?«
»Nein, ich habe ihn verbrannt. Und Turkan hat ihn nicht geschrieben. Er kann nicht schreiben.« Sie war plötzlich abwehrend und trotzig. »Das Geld reichte nur, um einen von uns zur Schule zu schicken: mich. Aber Turkan ist sehr intelligent. Sehr, sehr, intelligent.«
Der Apache glaubte es ihr, aber er reizte sie trotzdem, brachte sie aus dem Gleichgewicht, immer noch auf der Suche nach einer Lüge. Er war allein inmitten einer Wüste, die einem fremden Planeten glich, und er vertraute niemandem.
»So intelligent, dass er sich von den Banditen fangen ließ?«
Sie grub die kleinen, weißen Zähne in die rote Unterlippe. »Das verstehe ich auch nicht. Turkan ist sehr erfahren, er kämpfte gegen die Nordkoreaner. Er hat Tausende von Wölfen und viele Bergtiger getötet. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es geschehen konnte. Aber ich habe eine Theorie.«
»Welche?«
»Wenn Turkan von den Chinesen wusste, dann wussten es die Banditen sicher auch. Denen entgeht nichts. Kubla beobachtete die Chinesen bestimmt auch und plante vielleicht einen Überfall. Sie haben sicher viele Dinge, die Kubla gern besäße. Er muss Turkan gesehen haben, als er die Chinesen beobachtete, und hat ihn in einem unbedachten Moment gefangengenommen.«
John Eagle stand auf und streckte sich. Mary beobachtete ihn noch immer. Er lächelte ihr zu und legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie erwiderte sein Lächeln nicht, aber sie zuckte auch nicht vor der Berührung zurück. »Noch kein Fieber«, sagte er. »Aber ich gebe Ihnen trotzdem eine Tablette. Wenn wir Ihren Bruder mit seinen noch verbliebenen Fingern aus dem Banditennest holen wollen, dann müssen wir gesund sein. Also schlafen Sie ein wenig. Ich gebe Ihnen auch dafür eine Tablette.«
Ihre Lippen versuchten, ein Lächeln zurückzuhalten. »Ihr Amerikaner habt Tabletten für alles.«
»Nicht für alles, das habe ich Ihnen schon gesagt. Muss ich es Ihnen beweisen?«
Einen langen Moment starrte sie in seine Augen. Ihr Blick war ernst, und doch meinte er, irgendwo in den braunen Tiefen eine Spur von Fröhlichkeit zu entdecken.
»Wann Sie wollen«, sagte sie endlich. »Sie sind jetzt mein Gebieter, ich gehöre Ihnen. Sie können mit mir tun, was Ihnen gefällt.«
Er war ehrlich erstaunt. Seine große Hand lag leicht auf ihrem glatten, dunklen Kopf. »Was reden Sie da?«
Sie konnte ihr Kichern nicht länger unterdrücken. »Eine alte mongolische Sitte«, lachte sie. »Sehr alt und nicht mehr sehr respektiert, aber es ist eine echte Tradition. Wenn Sie das Leben eines Menschen retten, dann gehört Ihnen dieser Mensch für immer. Natürlich sind Sie verantwortlich für ihn. Sie müssen gut für ihn sorgen.«
Eagle fand nie die Zeit, darauf zu antworten. Sie hörten es beide gleichzeitig: das tiefe Brummen eines näherkommenden Flugzeugs.
Sie verließen die Höhle und schlängelten sich durch die Felsen. Eagle hatte das Zielfernrohr der Pistole bei sich. Es war eine kleine Maschine, die von Norden her in den Pass geflogen kam. Er richtete das Fernglas darauf, und sie sprang klar und zum Greifen nahe ins Bild. Es war ein altes, einsitziges Aufklärungsflugzeug, die russische Version der alten LC-4. Der Pilot, ein kleiner Mann mit mongolischen Gesichtszügen, trug eine Lederjacke und sprach in ein Mikrophon, als das Flugzeug über sie hinwegflog.
Mary Choija lag neben Eagle, den Mund an seinem Ohr, den schlanken Körper dicht an seinen gepresst. »Eins unserer Patrouillenflugzeuge«, sagte sie. »Sie kommen fast nie in diese Gegend. Zufall, nehme ich an. Es hat jedenfalls nichts mit uns zu tun.«
Die Maschine stieg, wendete, stieß herunter und kam wieder zurück. Sie begann, über den Resten der Karawane im Pass zu kreisen. Schwarze Geier erhoben sich flügelschlagend und stießen heisere Schreie aus, ärgerlich über den großen, neuen Raubvogel. Eagle hielt das Fernglas auf das Flugzeug gerichtet. Der Pilot sprach noch immer.
»Er meldet das Massaker«, sagte er. »Glauben Sie, dass sie Soldaten schicken werden?« Das hätte ihm noch gefehlt. Die Mongolen würden ihn vielleicht nicht sofort töten wie die Chinesen, aber bestimmt auf lange Zeit ins Gefängnis werfen. Mr. Merlin würde keinen Finger rühren, um ihn herauszubekommen.
Neben ihm sagte Mary Choija: »Sie werden Soldaten schicken, irgendwann. Es kann Wochen dauern. Die Zeit vergeht hier langsam, John, sie werden uns nicht stören. Wenn wir Turkan nicht gefunden und Ihren Auftrag erledigt haben, bevor die Soldaten kommen, dann werden sie unsere Knochen zusammen mit den anderen vergraben.«
Das Flugzeug kreiste ein letztes Mal und brummte in südlicher Richtung davon.
»Sucht jetzt sicher nach den Banditen«, sagte sie. »Nicht dass sie irgendetwas unternehmen werden; Banditen sind ein Teil des Alltags. Aber der Pilot hat die Leichen gesehen und weiß, dass die Banditen dafür verantwortlich sind. Wenn er sie finden kann, funkt er es zurück, und damit ist seine Pflicht getan. Die Nachricht wird irgendwo in Ulan Bator in einem Aktenschrank abgelegt, das ist alles.«
Eagle gab ihrem Ohr einen kleinen, freundlichen Kuss. »Sie sind eine Zynikerin«, sagte er.
»Nein, Mongolin.« Sie bot ihm nicht die Lippen und sah ihn nicht an.
Sie beobachteten beide das Flugzeug, das jetzt nur noch wie ein kleiner Vogel war, und sahen es beide: nichts. Das war alles.
Nichts. Eben war das Flugzeug noch dagewesen, im nächsten Moment nichts mehr. Es war verschwunden. Hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Nur dass Eagle, der noch immer sein Fernglas darauf gerichtet hatte, einen Regen kleiner Teilchen auf die Gipfel herunterrieseln sah, darunter etwas wie ein großes Stück Ledermantel.
Eagle und das Mädchen sahen sich an. Der Apache nickte grimmig. Diesen Teil der Geschichte konnte er ihr glauben: Die Chinesen waren da. Er hatte weder Strahlen gesehen noch eine Explosion oder Kanonendonner gehört. Nichts, das ihm weitergeholfen hätte. Nichts, um ihm einen Anhaltspunkt zu geben. Und doch war das Flugzeug dagewesen - und jetzt verschwunden.
»Kommen Sie«, sagte er zu dem Mädchen. »Nehmen Sie Ihre Schlaftablette. Wir machen uns auf den Weg, sobald die Sonne untergeht.«
Es gab also Augen in den uralten Bergen. Augen, die man jedoch vermeiden konnte, wenn man erfahren und vorsichtig genug war.
Sechstes Kapitel
Sie waren meist nachts im Licht des riesigen, kalten Mondes unterwegs. Mary hatte darauf bestanden, noch einmal zu der niedergemetzelten Karawane zurückzugehen, bevor sie aufbrachen; sie hatte ihr eigenes, kleines Gepäck geholt und ein bisschen geplündert, unter anderem einen dicken Ziegenfellmantel und ein zweites Paar Filzstiefel. Eagle, dem es in seinem beheizten Chamäleon-Anzug immer warm war, verstand sie gut. Die Sonne war glühend heiß; aber der Mond brachte klirrende Kälte; der Wind, der ständig von Norden her durch den Pass heulte, brachte außer seinem arktischen Eis-Atem auch Sand mit. Manchmal mehr, manchmal weniger, aber immer Sand. Auch darunter litt Mary mehr als der Apache. Der Sand scheuerte ihre zarte Haut wund und drang ihr unter die Kleidung.
Ihre Wunde war ein wenig entzündet, sie hatte leichtes Fieber, aber sie beschwerte sich nicht. Was den Vormarsch am meisten behinderte, war das Motorrad mit der gesamten Ausrüstung. Der zerklüftete Boden des Passes war alles andere als eine ideale Straße, aber Eagle brauchte das Motorrad wegen des Giftgases in den Reifen und wegen der Treibstofftanks. Meist fuhr das Mädchen darauf und folgte dem großen Mann in einer halben Meile Entfernung vorsichtig zwischen den Felsen.
Eagle hatte seinen Bogen nicht auf die Wüstenmaus gepackt. Er trug ihn bei sich, dazu den Kunststoffköcher mit den Pfeilen aus rostfreiem Stahl über die Schulter geschlungen. Der Bogen war nicht nach indianischen oder asiatischen Vorbildern konstruiert, sondern eine Weiterentwicklung der englischen Langbögen des Mittelalters. Er bestand aus drei Teilen, die man zusammenschraubte. Das Material war eine Speziallegierung, und sehr wenige Männer waren imstande, den Bogen zu spannen. Eagle war mit dem Bogen zufrieden, obwohl ein indianischer mit kürzeren Pfeilen es auch getan hätte. In Lager III hatte er mit dem Langbogen auf hundert Meter ständig ins Schwarze getroffen. Bis
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Paul Edwards/Apex-Verlag.
Images: Christian Dörge/123rf.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Dr. Birgit Rehberg.
Translation: Tilman Lichter, Sydney Towne und Christian Dörge.
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 08-27-2019
ISBN: 978-3-7487-1399-9
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