CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)
Der Wind des Todes
Sechs Romane in einem Band
Apex Western, Band 19
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Clay Fisher: DIE GEFÄHRTIN DES WOLFS (Yellowstone Kelly)
Kenneth Fowler: DER EINZELGÄNGER (Outcast Of Murder Mesa)
E. E. Halleran: MUSKETEN FÜR JUAREZ (Blazing Border)
Matt Braun: ZWEI GEGEN EL PASO (El Paso)
Dudley Dean: DER MANN AUS RIONDO (The Man From Riondo)
Lewis B. Patten: HEISS WEHT DER WIND DES TODES (Ride The Hot Wind)
Ein Six-Pack zum Lesen. Sechs Romane vom Leben an der Frontier -
Eine bibliographische Notiz von Dr. Karl Jürgen Roth
Das Buch
Die von Christian Dörge zusammengestellte und herausgegebene Sammlung Der Wind des Todes enthält sechs ausgesuchte und klassische Spitzen-Romane US-amerikanischer Autoren, perfekten Lesestoff also für alle Western-Fans und Leser der Reihe APEX WESTERN: Die Gefährtin des Wolfs von Clay Fisher, Der Einzelgänger von Kenneth Fowler, Musketen für Juarez von E. E. Halleran, Zwei gegen El Paso von Matt Braun, Der Mann aus Riondo von Dudley Dean sowie Heiß weht der Wind des Todes von Lewis B. Patten.
Ergänzt wird dieser Band durch eine bibliographische Notiz von Dr. Karl Jürgen Roth.
Clay Fisher: DIE GEFÄHRTIN DES WOLFS (Yellowstone Kelly)
Erstes Buch: JUDITH BASIN
1.
Die vier Felljäger waren weder alt noch jung. Sie waren vorsichtige Männer, mit wachsamen Gesichtern und fremd in dieser Gegend.
Der Tag war weit fortgeschritten, aber noch erstaunlich heiß, für Anfang September. Totale Einsamkeit hier oben in den Bergen von Montana, wo die Sommernächte eisig sein konnten.
Drunten im Cañon eine Staubschicht unter dem letzten Glanz der einfallenden Sonne. Um vier Uhr morgens waren sie aufgebrochen, und jetzt ließ Jepson, der Anführer, den Rucksack von den Schultern gleiten und setzte sich auf einen Baumstumpf. Keuchend wartete er auf die anderen.
»Bloß einen Moment zum Verschnaufen«, sagte er.
Die anderen nickten.
Big Anse Harper, der Mann mit dem Packesel, warf den Zügel über einen Ast und hockte sich neben Jepson.
»Ein ganz schöner Aufstieg«, sagte er. »Und das mit leerem Bauch! Meine Socken dampfen.«
»Da unten im Flachland Feuer zu machen, wäre Wahnsinn gewesen«, sagte Jepson und deutete mit dem Daumen über die Schulter.
Alex MacDonald, der dritte Mann, nickte. »Recht hat er«, sagte er mit seinem schweren schottischen Akzent.
Caswell, der vierte Mann, sagte nichts.
Sie saßen da, vier nachdenkliche Männer in ihren Wollhemden, zweitausend Meter über dem Meeresspiegel und siebenundzwanzig Meilen von der nächsten weißen Siedlung entfernt. Man schrieb den 2. September 1875.
Jepson holte einen Riegel Kautabak aus dem Rucksack, biss ein Stück ab und gab ihn weiter.
»Wieviel haben wir dabei?«, fragte Big Anse.
»Vier Dutzend«, sagte Jepson. »Das müsste für einen normalen Winter reichen.«
Big Anse grinste. »Sofern wir nicht unerwartet Gesellschaft bekommen.«
Jeder hatte begriffen, aber Caswell, der jüngste und unerfahrenste, musste es aussprechen.
»Meinst du die Sioux?«, fragte er.
»Wen denn sonst? Die und die Cheyenne. Aber eher die Sioux, und vor allem die Hunkpapa.«
»Das haben wir doch schon vorher gewusst«, sagte Jepson, der vermeiden wollte, dass bereits am ersten Tag Nervosität aufkam. »Im Fort haben sie uns gewarnt, und der alte Reed auch. Dass wir keinen Sonntagsausflug machen, war doch jedem von Anfang an klar.« Er überlegte, dann nickte er. »Wo es Wild gibt, gibt es Wölfe, und hinter denen sind wir her. Und Indianer gibt es auch, wo es Wild gibt. Das ist doch logisch. Wer sich einbildet, dass wir keine sehen, ist auf dem Holzweg.«
»Solang wir sie bloß sehen«, sagte Big Anse trocken, »habe ich nichts dagegen.« Er stand auf. »Los, Leute, schauen wir, dass wir noch über den Kamm kommen und dann unser Nachtlager aufschlagen.«
Jepson blieb hocken, sah sich um und schüttelte den Kopf. »Der Platz hier ist ideal«, sagte er. »Da unten gibt es Wasser, Holz liegt genug herum, und Gras für den Esel ist auch da. Ich schlage vor, wir bleiben hier.«
»Ja«, sagte MacDonald. »Jeder ist geschafft. Wir sind ganz schön weit gekommen. Das reicht.«
»Wir müssten tiefer in den Wald rein, bevor wir ein Feuer machen«, sagte Big Anse. »Du bist doch kein Anfänger, MacDonald. Das Unterholz schluckt den Schein.«
»Trotzdem«, sagte Jepson, bevor der Schotte den Mund aufmachen konnte. »Ich bin dafür, dass wir hier bleiben. Hier können wir wenigstens das Gelände überblicken, und es schleicht sich nicht so schnell einer an uns 'ran.«
»Finde ich auch«, sagte Caswell. »Jepson hat recht.«
»Ich bin auch dafür«, sagte MacDonald.
MacDonald war einfach müde. Von Indianern hatte er wenig Ahnung. In den Wäldern Kanadas geboren und aufgewachsen, war er ein ausgezeichneter Jäger und Trapper, aber die Gegend hier am Oberlauf des Missouri war ihm genauso fremd wie den anderen. Und wie die anderen hatte er nicht die blässeste Ahnung, wie tief der Hass der Indianer gegen die Weißen war, die immer wieder in ihre Jagdgründe eindrangen.
Nur Big Anse, der aus den Wäldern Georgias stammte, hatte einen Instinkt für dieses gefährliche Gebiet, aber auch er war hundemüde.
»Okay«, sagte er. »Ich gebe mich geschlagen. Los, Caswell, hilf mir, den Esel abzuladen. Das Kreuz hängt ihm ja schon durch.«
2
Das Feuer schwelte. Nicht ein Hauch von Rauch stieg in den mondhellen Nachthimmel auf. Den Bauch voll mit geräuchertem Schweinefleisch und dicken Bohnen, die Füße am Feuer, lagen Big Anse, Caswell und MacDonald auf dem Boden und schnarchten.
Außerhalb des schwachen Scheins saß John Jepson unter einer Zeder und hielt die erste Nachtwache.
Inzwischen war es klirrend kalt. In den vier Stunden seit Sonnenuntergang war die Temperatur um zehn Grad gefallen.
Jepson wickelte die Decke fester um sich.
Die Nacht war so klar, dass das weiße Licht des Mondes und das frostige Glitzern der Sterne fast unangenehm waren, aber Jepson war zufrieden. Nicht einmal ein Murmeltier oder eine Maus hätten ungesehen an ihm vorbeihuschen können, geschweige denn ein Indianer.
Der Schatten tauchte wie aus dem kahlen Boden gewachsen hinter ihm auf. Keinen Meter von ihm entfernt stand er wie ein böser Traum in der Stille. Als er jedoch sprach, klang die tiefe Stimme beruhigend. Trotzdem hätte John Jepson fast der Herzschlag getroffen.
»Langsam aufstehen und umdrehen. Das Gewehr bleibt liegen.«
Jepson gehorchte. Er schluckte, bevor er sich umdrehte.
Der Mann, der im kalten Licht des Mondes vor ihm stand, war wunderlich genug, aber nicht sein Äußeres verschlug Jepson vollends die Sprache.
Schreiben hatte Jepson nie gelernt, und das Lesen hatte er sich mühsam selbst beigebracht. Dass die Sprache etwas anderes sein konnte als ein Mittel zur Verständigung, war ihm unbekannt.
Deshalb stand er jetzt mit offenem Mund da und ließ den dramatischen Vortrag des seltsamen Vogels über sich ergehen, ohne ein Wort davon zu verstehen.
Zu seinem Glück unterbrach Jepson den Mann wenigstens nicht.
»So hob ich eine Kunde an, von der
Das kleinste Wort die Seele dir zermalmte,
Dein junges Blut erstarrte, deine Augen
Wie Stern' aus ihren Kreisen schießen machte,
Dir die verworr'nen krausen Locken trennte,
Und sträubte jedes einz'le Haar empor,
Wie Nadeln an dem zorn'gen Stacheltier!«
Der Unterkiefer sank Jepson noch weiter herunter.
»Mann«, brachte er schließlich hervor. »Wovon redest du da eigentlich? Bist du nicht ganz richtig im Kopf?«
Der Fremde lachte.
»Von den Sioux rede ich, mein Freund«, sagte er. »Und von deinem Feuer und davon, wie sicher du dich gefühlt hast und wie leicht es war, sich an dich heranzupirschen.«
Jepson konnte nur noch den Kopf schütteln. »Ich verstehe dich trotzdem nicht«, sagte er. »Und was das Ganze soll, erst recht nicht.«
»Nein? Dann erkläre ich es dir. Angenommen, nicht ich, sondern ein Indianer hätte sich von hinten an dich angeschlichen, dann wäre deine Seele jetzt zermalmt, dein nicht mehr ganz so junges Blut würde in der Gegend herumspritzen, und deine krausen Locken würden am Gürtel eines Sioux baumeln. Hast du jetzt kapiert?«
Jepson hatte nicht kapiert.
»Nein«, sagte er prompt. »Bloß dass bei dir eine Schraube locker sein muss.«
Wieder lachte der Fremde. »Das war doch Shakespeare, mein Freund. Hamlet. Erster Aufzug. Ich bin nämlich ein gebildeter Mensch.«
Die Stimme und das Lächeln des Fremden waren so sympathisch, dass Jepson sich überhaupt nicht mehr auskannte und eine Mordswut bekam.
»Deine Blödheit ist ja schon strafbar«, fauchte er. »Schleicht sich von hinten an einen heran! Du bist wohl lebensmüde?«
»Mein Freund«, sagte der Fremde höflich, »dasselbe könnte ich dich fragen. Aber nicht hier. Gehen wir ans Feuer, dann frage ich euch gleich alle auf einmal.«
An dem Lächeln des Fremden änderte sich zwar nichts, aber Jepson spürte plötzlich einen Gewehrlauf in der Seite und musste wohl oder übel gehorchen.
Auf den Befehl des Fremden hin weckte er die anderen und warf einen Arm voll trockener Zweige in das Feuer.
Als sich die anderen mit verklebten Augen aus ihren Decken schälten, flackerten die Flammen auf, und Jepson sah das Gesicht des »gebildeten Menschen« zum erstenmal richtig.
Der Fremde war mittelgroß, schlank, schwarzhaarig wie ein Zigeuner und schlitzäugig wie ein Sioux. Er war ein weißer Mann, aber einer, wie Jepson und die anderen ihn nie gesehen hatten.
Trotz des fast schmächtigen Körperbaus waren die Schultern unnatürlich breit, die Arme lang wie bei einem Affen und muskulös. Die Hüften schmal wie die eines Texaners und die Beine so krumm wie die eines reinrassigen Crow oder Blackfoot. Bei der kleinsten Bewegung spannten sich alle Muskeln seines Körpers. Trotz der ungemein angenehmen Stimme, der Wärme seines Lächelns und der Gepflegtheit seiner Sprache, wirkte er irgendwie primitiv, fast animalisch.
Seine Hose, das Hemd und die Jacke waren aus Elchleder. Er trug Arapahoe Mokassins, um den Hals wie ein Cheyenne eine Kette aus Bärenklauen, auf dem Kopf eine Mütze aus Biberfell, die gut ihre fünfzig Dollar gekostet haben musste, und um die Taille einen so kunstvoll mit Perlen bestickten Gürtel, wie ihn nur die Sioux anfertigen konnten. Und mit Waffen ausgerüstet war er wie ein Häuptling: die letzte Ausführung einer 73er Winchester, ein gut fünfzehn Zentimeter langes Jagdmesser und ein Beil aus Sheffield Stahl. Seine Haltung war einwandfrei die eines Indianers.
Er stand breitbeinig da, die Fußspitzen leicht nach innen gekehrt. Der muskulöse Rücken, die breiten Schultern und die gewölbte Brust waren wie aus einem Guss. Er hielt den Kopf hoch erhoben. Die Adlernase und das energische Kinn unterstrichen den noblen, fast arroganten Zug auf dem Gesicht. Eine wirklich seltsame Erscheinung. Kraftvoll wie ein junges Tier und gleichzeitig freundlich, gutmütig und ein wenig scheu wirkend.
Dem finsteren, vorwurfsvollen Stieren der vier Felljäger begegnete der Fremde mit einem Grinsen, das blendend weiße, gesunde Zähne zeigte.
»Und jetzt, meine Freunde«, sagte er, »gibt es eine Nachhilfestunde. Es geht darum, warum weiße Männer an einem Steilhang ohne dichten Baumbestand in Tashunka Witkos Jagdrevier kein Feuer anzünden dürfen.«
»Und wer, zum Teufel«, sagte Big Anse, »ist dieser Tashunka Witko?«
»Crazy Horse«, sagte der dunkeläugige Scout. »Ein hinlänglich berühmter und berüchtigter Oglala, von dem ihr vielleicht schon einmal etwas gehört habt.«
»Jesus, Maria und Joseph!« entfuhr es Big Anse.
»Allmächtiger!«, sagte Caswell und riss die Augen auf. »Ist das nicht der größte Sioux, den es gibt. Außer Sitting Bull, natürlich.«
»Außer niemand«, sagte der Fremde. »Sitting Bull ist Politiker und Medizinmann. Er kämpft nicht. Crazy Horse ist der eigentliche Anführer, und ein fanatischer Weißenhasser namens Gall ist der Kriegshäuptling. Damit ist Sitting Bull Nummer drei auf der Liste.«
Jepson sah den Fremden mit unverhohlener Abneigung an. »Und wer bist du, dass du hier Vorträge hältst?«, fragte er.
»Kelly«, sagte der Fremde ruhig. »Luther S. Kelly.«
Nun rissen alle vier den Mund auf.
Der Fremde lächelte. »Ja, Yellowstone Kelly«, sagte er.
3
»Mann-oh-Mann!«, rief Big Anse. »Das ist doch nicht zu fassen. Das ist ja genauso, als würde einem Jesse James die Hand schütteln. Oder Jed Smith.«
Die anderen sagten nichts, weil sie kein Wort herausbrachten.
Kelly lächelte. »Und ihr seid die vier Felljäger aus Fort Buford, oder?«
»Richtig«, sagte Jepson. »Hast du was dagegen?«
»Nicht im geringsten«, sagte Kelly. »Aber erst einmal der versprochene Vortrag. Thema: Wie man frühzeitig Kahlköpfigkeit verhindert oder Die abrupte Trennung eines Narren von seinem Skalp im Siouxland oder...«
»Sehr komisch«, sagte MacDonald. »Wirklich sehr komisch. Wie wär's, wenn du endlich damit anfangen würdest? Wir wollen weiterschlafen.«
Kelly tat es, und als er fertig war, hatten die vier Männer folgendes begriffen:
Erstens: Sie hätten Fort Buford nie verlassen dürfen.
Zweitens: Sie hätten davor schon St. Louis nicht verlassen dürfen.
Drittens: Sie sollten auf der Stelle umkehren und beten, dass die Indianer ihre Spur nicht entdeckten.
Und viertens: Am Fluss angelangt, sollten sie im Schilf versteckt auf das nächste Flussboot warten und bis St. Louis nicht mehr aussteigen.
Nachdem er seine Rede gehalten hatte, trat Kelly einen Schritt zurück und wartete auf die Reaktion der vier Männer.
»Und wenn wir nicht umkehren?«, fragte MacDonald.
»Dann müsst ihr jeden Moment damit rechnen, dass euch die Felle, die ihr erbeutet, die Haare auf dem Kopf kosten. Verlasst dieses Gebiet, sonst geht es euch schlecht.«
Der Schotte mit den silbergrauen Haaren nickte. »Ich nehme an, du hast einen Grund, dass du uns sagst, wir sollen umkehren.«
»Allerdings«, sagte Kelly.
»Und der wäre?«
»Dass ich mich auskenne - was für euch übrigens von Vorteil sein könnte.«
»Inwiefern?«, fragte MacDonald.
Kelly zuckte mit den Schultern. »Im Moment stehen die Chancen neunundneunzig zu hundert gegen euch. Wenn ich mich mit euch zusammentue, stehen sie fünfzig zu fünfzig, und ihr könnt damit rechnen, im Frühjahr mit einer ordentlichen Ladung von Wolfspelzen wieder ins Tal zu ziehen.«
»So, so«, sagte MacDonald. »Und der Preis?«
»Das Fünftel, das mir sowieso zusteht, und jeweils zehn Prozent von jedem weiteren Fünftel.«
Die Forderung war akzeptabel. Luther Kelly war schließlich der erfahrenste Mann am Oberlauf des Missouri, und die vier Männer wussten, dass seine Dienste unbezahlbar waren. Trotzdem brachte Jepson einen Einwand vor.
»Moment, Mister«, sagte er. »Erst erzählst du uns, was alles passiert, wenn wir nicht umkehren, und dann bietest du uns deine Hilfe an, wenn wir bleiben. Ich kann es nicht leiden, wenn einer nach zwei Richtungen redet. Du sagst, du hast deinen Grund, dass du uns wamst, aber genannt hast du ihn nicht. Also raus mit der Sprache.«
Kelly verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Gern«, sagte er. »Zehn Meilen südlich von hier habe ich durch mein Fernglas gesehen, dass genau neununddreißig Hunkpapa Sioux eure breite Spur verfolgen. Sie werden von einem Häuptling angeführt, der von den Black Hills bis zu den Big Horns berühmt und berüchtigt ist.«
Jepson runzelte die Stirn.
»Von welchem Häuptling?«, fragte MacDonald.
»Vom schlimmsten, den ihr euch denken könnt«, sagte Kelly.
»Mann!« explodierte Caswell, der bisher keinen Ton von sich gegeben hatte. »Sag doch endlich den Namen.«
»Seinen Namen wollt ihr wissen?« Kelly lächelte mit der Gleichgültigkeit eines Menschen, für den die akute Gefahr zu einer Art Droge geworden ist. »Sein Name ist für den weißen Bruder so bitter wie sein Herz schwarz ist. Selbst bei einem Hunkpapa hinterlässt er einen schlechten Geschmack auf der Zunge. Die Sioux sprechen den Namen nicht aus, sie spucken ihn aus.«
Kelly schaltete eine Kunstpause ein und sah von einem zum andern. Caswell stand der Angstschweiß auf der Stirn. Wenigstens einer von den vier Idioten hatte also den Ernst der Situation begriffen. Wenn die anderen drei nicht augenblicklich nachzogen, waren sie tote Leute.
»Sein Name«, sagte er, »ist Gall.«
4
Die vier Felljäger zuckten zusammen, und Kelly war zufrieden. So ahnungslos waren sie also doch nicht. Gall, der Hunkpapa, war ihnen ein Begriff. Sitting Bulls Kriegshäuptling Nummer eins war von denen, die den Vertrag von Laramie verletzten, weitaus mehr gefürchtet als seine berühmteren Stammesbrüder. Gall war für Sitting Bull und die Hunkpapa das, was Crazy Horse für Red Cloud und die Oglala war. Sitting Bull und Red Cloud machten Schlagzeilen in den Zeitungen, aber Gall und Crazy Horse waren diejenigen, die Wagenzüge plünderten und Truppen überfielen. Wenn Crazy Horse zum Beispiel als Weißer geboren worden wäre, hätte er Kellys Meinung nach den besten Präsidenten abgegeben, den man sich denken konnte. Er wäre ein Oglala Lincoln gewesen, denn sein Streben nach Freiheit und die ergebene Liebe zu seinem Volk waren einmalig.
Gall war das krasse Gegenteil. Er war ein roter Guerilla, Anführer in der mörderischen, weißen Tradition eines Poole, Quantrill, Anderson und Jesse Woodson James. Die Liebe zu seinem Volk war nicht ergeben, sondern tierisch. Sein Streben nach Freiheit war Instinkt, nicht Ideal. Gall kämpfte nicht für seinen Stamm, sondern für sein persönliches Recht, sich zu nehmen, was er gerade wollte, und wenn es der Skalp einer weißen Siedlersfrau war.
Kelly kannte den berüchtigten Hunkpapa nicht aus eigener Erfahrung, zweifelte aber nicht einen Moment daran, dass sein schlechter Ruf zu Recht bestand. Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer, besagte das alte Sprichwort, und ein Mann in Kellys Mokassins konnte es sich nicht leisten, daran zu zweifeln.
Jetzt beobachtete Kelly geduldig und leicht amüsiert, wie die vier Männer die Köpfe zusammensteckten und berieten. Die misstrauischen Blicke, die ihn dabei flüchtig trafen, ließen ihn zwar kalt, aber sie wunderten ihn. Schließlich bekam er von Big Anse die Erklärung dafür.
»Diese verfluchten Dickschädel«, schimpfte der Riese. »Sie sträuben sich, weil du einer von diesen Irländern bist.«
»Was?« Kelly konnte nur lachen.
»Ja, einer von den Speichelleckern. Von den Arschkriechern.«
»Moment einmal, Mister«, sagte Kelly, immer noch lachend. »Sollen dies vielleicht Beleidigungen sein? Wenn ja, dann vergeudest du deine Zeit. Ich bin andere Ausdrücke gewöhnt. Lass dich erst einmal von einer Ree oder Mandan oder einer Gros Ventre Squaw beschimpfen, wenn du mitreden können willst. Sag deinen Freunden, dass sie endlich zu einem Entschluss kommen und meine Herkunft in Frieden lassen sollen.«
»Darum geht es doch gar nicht, Kelly«, sagte Big Anse mit unglücklichem Gesicht. »Es geht nicht um deine Herkunft, sondern um deine Religion.«
»Meine was?« Kelly ging langsam die Geduld aus.
»Weil du eben katholisch bist«, sagte Big Anse. »Mir persönlich ist das egal, obwohl ich den Papst auch nicht leiden kann. Aber Jepson und MacDonald sind verbissene Freimaurer, und Caswell ist überzeugter Baptist und - verdammt, Kelly, du weißt doch selber, wie es ist.«
Natürlich wusste Kelly selber, wie es war, aber schon lange hatte er nichts mehr mit den sturen Vorurteilen zu tun gehabt, auf denen die Siedler mit so viel Ausdauer herumritten. Er hatte nicht das geringste Verständnis dafür.
»Jetzt hört mir einmal gut zu«, sagte er, und auf seinem Gesicht war nicht mehr die Spur eines Lächelns. »Meine Religion ist euch also wichtiger als meine beruflichen Fähigkeiten. Mir scheint, ich muss euch so manches erklären. Erstens: In meiner Familie hat nie jemand unter Betsucht und den damit verbundenen Schwielen an den Knien gelitten. Zweitens: Wir stammen aus Nordirland. Der erste, der aus meiner Familie 1638 nach Amerika ausgewandert ist, war John Kelly, Kapitän zur See, charakterlich einwandfrei und Anhänger der Episkopalkirche. Ich für meine Person halte nichts von den verschiedenen Kirchen und gehe auch in keine. Trotzdem bin ich ein gläubiger Mensch und Anhänger des Christentums. Ich bin überzeugt davon, dass es einen Gott gibt, und hoffe, ihm eines Tages zu begegnen. Und schließlich zu drittens: Jeder hat das Recht, zu glauben, was er will. Ich respektiere den Großen Geist der Sioux genauso wie ich den Heiligen Geist der katholischen Kirche oder den Himmlischen Vater der Protestanten respektiere. Schlussfolgerung: Ich gebe euch jetzt noch genau fünf Minuten Zeit, euren Quatsch mit dem Papst zu beenden und euch zu entscheiden, ob ihr mein Angebot annehmen oder ablehnen wollt - Amen!«
Sie brauchten keine fünf Minuten dazu. Kelly wurde zum Partner der Firma gemacht, und es wurden ihm seine zehn Prozent zugesprochen.
Jeder kam zu Wort und jeder wollte erst einmal auf der Stelle umkehren, doch dann konnte Kelly sie davon überzeugen, dass ihnen von Seiten der Sioux keine ernstliche Gefahr drohe, wenn sie sich seinen strikten Anweisungen beugen würden. Dass es jedoch zu Auseinandersetzungen mit den Indianern kommen würde, ließ Kelly nicht außer Zweifel.
»Mit diesen wilden Kerlen verhält es sich wie mit Wildpferden, die zugeritten werden sollen«, erklärte Kelly. »Man weiß, was einen erwartet, man weiß aber nicht, wann es kommt. Vorbereitet darauf ist man aber. Ich bin schon manchen lieblichen Sommer und manchen harten Winter durch ihr Gebiet gezogen, und das immer allein. Überfallen worden bin ich nur ein einziges Mal, und das mit achtzehn. Später haben mich mein leichter Schlaf und meine Zielsicherheit vor derlei Ärger bewahrt.«
»Und wie war das damals?«, fragte Big Anse sofort.
Kelly lachte. »Ich war neu hier und hatte von nichts eine Ahnung«, sagte er. »Sie waren zu zweit. Broken Back und Shuffling Bear, beide Ogalala und beide miese Typen. Es war in der Nähe von Red Mike Welchs Farm, zwölf Meilen von Fort Stevenson entfernt. Ich sollte damals die günstigste Postroute zwischen Fort Stevenson und Fort Buford ausfindig machen. Wie dem auch sei, einer von den beiden, ich glaube Broken Back war es, hatte ein erstklassiges englisches Jagdgewehr. Der andere hatte kein Gewehr, war aber der geschickteste Typ mit Pfeil und Bogen, der mir je begegnet ist. Er pflanzte mir einen breitspitzigen Buffalopfeil ins Knie, bevor ich mich von meinem Pferd werfen und meine Artillerie in Aktion bringen konnte. Ich hatte damals einen nagelneuen Henry Repetierer, der mich ganze fünfundfünfzig Dollar gekostet hatte. Man überlege sich - fünfundfünfzig Dollar!«
»Mann!«, rief Big Anse mit kindlicher Ungeduld. »Was ist anschließend passiert?«
»Verzeihung, Anse«, sagte Kelly. »Ich wusste nicht, dass es dir pressiert. Nach dem ersten Pfeil verfehlten sie ihr Ziel.« »Und?«
»Und ich nicht.«
»Ach so«, sagte Big Anse, und damit war die Besprechung zur Gründung der neuen Judith Basin Pelzjäger Vereinigung Jepson, Harper, Caswell, MacDonald, Kelly & Co. beendet.
Dass nicht mehr Zeit darauf verschwendet wurde, war insofern von Vorteil, als die Firma sehr kurzlebig war. Sie existierte bloß knappe achtundvierzig Stunden lang.
5
Am nächsten Morgen brachen die Männer Richtung Judith Mountain auf, wo nach Kellys Erfahrung ideale Bedingungen für die Wolfsjagd herrschten. Gegen elf Uhr waren die paar Meilen geschafft, und es wurde Halt gemacht. Kaffee wurde gekocht und dann das Gelände nach einem günstigen Platz für ein festes Camp abgesucht.
Es sollte aus einer mit Schießscharten ausgerüsteten Blockhütte bestehen, mit einem Anbau für die Zubereitung der Mahlzeiten und die Aufbewahrung der Felle. Der Esel, in Montana geboren und aufgezogen, sollte sich wie jedes Sioux- oder Cheyenne-Packtier sein Futter und seinen Schutz vor der eisigen Kälte, die jeden Tag kommen musste, selber suchen.
Gegen Mittag hatte Kelly die ideale Stelle gefunden: eine kleine, ungefähr zehn Meter tief liegende Schlucht mit bewachsenen Wänden und einer kleinen Wiese auf dem Grund. Am Rande der Wiese eine Quelle, aus der selbst in dieser trockenen Jahreszeit Wasser sprudelte, das durch einen schmalen Spalt aus dem Berg floss.
Die Laune der Abenteurer stieg sofort. Und als dann Kelly jedem seiner neuen Freunde noch einen von seinen salzigen Pfannkuchen buk, die von Fort Berthold bis zu den Three
Forks berühmt waren, war die Freude groß.
Und zum Abendessen, versprach er, würde es frisches Fleisch geben.
Da den ganzen Morgen über nichts passiert war, war anzunehmen, dass die Indianer ihre Verfolgungsjagd aufgegeben und sich anderen Zielen zugewendet hatten. Sobald sich Kelly von der Richtigkeit dieser Annahme überzeugt haben würde, würde er ein Stück Wild erlegen.
Vorher aber wollte er noch den Plan für das Winterquartier festlegen, denn dann konnten sich die anderen einstweilen ans Bäumefällen machen, solange er jagte. Die Zedernstämme für die Blockhütte müssten mindestens dreißig Zentimeter dick sein, erklärte Kelly den Männern. Für den Anbau reichten Fichten- oder Föhrenstämme vom halben Durchmesser.
Jepson und die anderen ärgerten sich nicht eine Sekunde, dass Kelly bereits die Führung übernommen hatte und Befehle ausgab. Im Gegenteil, sie waren froh, dass ihnen alle Entscheidungen abgenommen wurden und sie sich an die Arbeit machen konnten.
Dieser Yellowstone Kelly hatte eine Ausstrahlung, die einem einfach Sicherheit gab. Seine Kenntnis der Gegend und der Tiere, die hier lebten, war erstaunlich. Und die Sprunghaftigkeit in dem, was er sagte, war zugleich interessant und amüsant. Von Shakespeare über Edgar Allan Poe und Sir Walter Scott bis zu den Erfahrenswerten des Mannes, der das Missourigebiet wie seine Westentasche kannte - die vier Männer hörten ihm gerne und aufmerksam zu.
Kelly gehörte zu den Menschen, die in anderen Interesse aufleben lassen konnten. Außerdem besaß er das Talent, Gefühle zu wecken, von der Freude bis zur nackten Angst. Er war ein echter Kelte, ein Mann, der weder Gott noch den Teufel fürchtete, aber beide respektierte. Er war bescheiden und glücklich und genauso einsam, frei und sauber wie der ruhelose Wind, der über die Ebenen des Westens fegte. Wer Kelly begegnete, spürte sofort seine starke und gleichzeitig zärtliche Liebe zu diesem wilden Land und war bereit, ihm zu folgen.
Seine neuen Gefährten machten sich also mit Lust an die Arbeit und schwangen die Axt, während Kelly den Grundriss der Blockhütte absteckte und dabei fröhlich vor sich hin pfiff.
Er für seinen Teil war auch zufrieden mit seinen neuen Freunden.
Gut, dieser Jepson war ein schwerfälliger und etwas einfältiger Geselle, und Caswell war offensichtlich feige bis in die Knochen, aber MacDonald schien ein prima Haus zu sein und Big Anse Harper so hilfsbereit und gutmütig wie Robinsons Diener Freitag.
Für einen Einzelgänger wie ihn, der selbst in einer Gesellschaft von Abenteurern, die auf nichts so großen Wert legten wie auf ihre Unabhängigkeit, als Eigenbrötler galt und der von den Indianern Lone Wolf genannt wurde, war die Aussicht auf einen Winter mit Freunden zusammen mehr als erfreulich. Obwohl Kelly erst sechsundzwanzig war, hatte er schon sieben Winter hinter sich, die er einsam und allein durchwandert hatte, und wollte keinen achten hinzufügen.
Beim Gedanken an den Zufall, der ihn hierhergeführt hatte, runzelte Kelly nachdenklich die Stirn.
Auf seinem Weg zu einem der Flussposten hatte er kurz bei dem alten Reed reingeschaut und zufällig erfahren, dass vor kurzem vier Trapper in die Judith Mountains auf gebrochen waren. Sofort hatte ihn die Lust überkommen, mit den Männern zu ziehen. Und als er dann aus reiner Gewohnheit mit seinem Fernglas die Gegend abgesucht und gesehen hatte, wie Galls Trupp angehalten und mit dem alten Reed palavert hatte, war sein Entschluss schon halb gefasst gewesen, als Gall plötzlich der Spur gefolgt war, der er selbst folgte - nämlich der der vier ahnungslosen Narren von Fort Buford.
Anschließend war es eigentlich nur noch seine Pflicht als guter Christ gewesen, die Männer zu warnen. Jeder hätte so gehandelt.
Grinsend trieb Kelly den letzten Markierungspflock in den Boden. Warum machte er sich eigentlich selbst etwas vor? Christenpflicht und Nächstenliebe - alles lahme Entschuldigungen. Er war hier oben, weil er genau wie damals, als er mit fünfzehn von Zuhause weggelaufen und zur Union Army gegangen war, immer noch nach den zwei Dingen suchte, ohne die er nicht leben konnte: nach Freiheit und Abenteuer.
Das wilde, freie Land schneebedeckter Berge, die dunklen, bewaldeten Abhänge, die sich windenden Täler mit den kristallklaren Flüssen und die endlosen Weiten mit dem goldenen Buffalogras waren das Opium in Luther Kellys Leben. Er brauchte die uneingeschränkte Freiheit, durch dieses jungfräuliche Land streifen zu können. Die Freiheit und das damit verbundene prickelnde Gefühl von Gefahr und Tod.
Wer das Leben kennen und begreifen wollte, musste wissen, was der Tod bedeutete. Er musste ihm ins Auge geblickt haben, und das hatte Kelly in den letzten neun Jahren oft genug getan.
Nicht neun Jahre, sondern genau neun Minuten später wurde er wieder dazu gezwungen.
6
Der weiße Scout erstarrte. Hier stand er am Rand der kleinen Wiese wie ein Rehbock auf einer Lichtung, und hielt die Luft an. Hatten ihn die Sioux gesehen oder nicht?
Er hörte ihre tiefen Stimmen und sah ihre Gesten, wie sie erst miteinander in ihrem Dialekt und dann auf Englisch mit den vier weißen Trappern sprachen. Nach wenigen Sekunden wusste Kelly Bescheid.
Die Indianer hatten ihn zwar nicht gesehen, aber sie suchten ihn.
Wo der einsame Wolf sei, fragte Gall die vier ängstlichen Männer. Der weiße Bruder, den man Yellowstone Kelly nannte?
Die vier Männer schwiegen.
Sie sollten nicht wagen, mit falschen Zungen zu reden, drohte Gall. Er wisse, dass Kelly zu ihnen gestoßen sei und habe es außerdem eilig. Er brauche den Scout dringend.
Die vier Männer standen wie Elendsfiguren neben ihrem Feuer. Jeder wollte zu Kelly halten, aber keiner hatte den Mut dazu. Als die Indianer plötzlich auf getaucht waren, hatten sie die Waffen zwar an sich gerissen, aber keine Zeit gehabt, auch nur einen Schuss abzugeben. Und jetzt wagten sie es nicht mehr. Sie saßen in der Falle.
Kelly war nicht weiter erstaunt, als Jepson in seine Richtung deutete. Er nahm es dem Mann auch nicht übel. Was hätte er sonst tun sollen?
»Da drüben ist er«, sagte Jepson. »In der Schlucht.«
»Sayapi, Red Paint!«, rief Gall, und ein junger Mann ritt aus dem Kreis der Krieger und blieb vor dem Häuptling stehen. »Nimm ein Dutzend Männer mit«, befahl Gall auf Hunkpapa, »und bring mir den einsamen Wolf.«
Der junge Mann tippte mit den Fingerspitzen der linken Hand an die Stirn, um dem Häuptling seinen tiefen Respekt zu zeigen, und riss sein Pferd herum.
»Sayapi!«, rief Gall hinter ihm her. »Nicht ein Schuss wird fallen, verstanden? Lone Wolf wird keinen Widerstand leisten. Wir haben seine Freunde, und er ist ein Ehrenmann. Sag ihm, dass Gall ihn sprechen will.«
»Hau«, entgegnete der junge Mann. »Meine Ohren sind unbedeckt. Ich habe dich gehört.« Er machte eine weite Handbewegung, und zwölf Männer lösten sich aus dem Kreis und preschten hinter ihm her.
Zum hundertsten Male war Kelly somit Zeuge, dass die Indianer das gesprochene Wort nicht brauchten, sondern sich perfekt durch Gesten verständigen konnten, hatte aber im Moment keine Zeit, den Instinkt seiner roten Brüder zu bewundern, sondern war mit sich selbst und seiner Strategie beschäftigt.
Während Gall seine Befehle ausgegeben hatte, hatte sich Kelly lautlos im Halbkreis um den Ort des Geschehens geschlichen und befand sich jetzt keine zehn Meter von der Feuerstelle entfernt im Dickicht. In der unnatürlichen Stille, die dem Aufbruch der dreizehn Krieger folgte, war das metallische Klicken, das beim Spannen seiner Winchester entstand, gespenstisch laut.
Kelly trat hinter den roten Besuchern aus dem Dickicht.
»Hohahe!«, rief er in der Sprache der Sioux. »Willkommen an meinem Feuer.«
Gall blieb völlig bewegungslos.
Auch von seinen Männern rührte sich nicht einer. Sie saßen wie die Ölgötzen auf ihren kleinen, dickbäuchigen Pferden. Nicht ein Auge zuckte nervös.
Die dreizehn Krieger reagierten genauso weise. Von der einen Sekunde zur anderen standen ihre Pferde. Nicht einer drehte sich um. Bis auf den jungen Anführer.
Red Paint war wütend.
Kelly, dieser weiße sunke, dieser dunkelhäutige Wasicum-Hund, hatte vor den anderen einen Trottel aus ihm gemacht. Er hatte ihn durch seine Hinterlist und durch die spöttische Bemerkung persönlich beleidigt.
Der junge Krieger riss sein Pferd herum und brachte gleichzeitig seinen Karabiner in Anschlag.
Aber Kelly ließ sich die Schau nicht verderben. Er brauchte bloß den federleichten Abzug seiner Winchester zu berühren, und der Schuss saß.
Hätte Kelly das Ziel verfehlt und den Indianer verwundet oder gar getötet, so hätten er und seine vier Freunde keine dreißig Sekunden mehr gelebt. Aber er hatte sein Ziel nicht verfehlt. Der Karabiner des jungen Indianers flog mit zersplittertem Schaft und zerbeultem Abzugsbügel zu Boden.
Die Indianer trauten ihren Augen nicht. Nur ein Mann von Lone Wolfs Mut konnte einen solchen Schuss wagen. Seine Medizin war immer noch die stärkste, seine magische Kraft, zu verletzen, die größte und sein Selbsterhaltungstrieb der beste. Nicht nur, dass niemand so einen Schuss gewagt hätte, niemand hätte mit dieser Präzision getroffen. Kein Wunder, dass Crazy Horse ihn The-Little-Man-With-The-Big-Heart nannte.
Sogar Gall war beeindruckt.
»Hopa, hopa! Phantastisch!«, rief der große Häuptling. »Lone Wolf hat ein Auge wie Wanbli K'leska, der gefleckte Adler.«
»Wowicake, du sprichst Wahres«, sagte einer der beiden Männer direkt neben dem Sioux-Häuptling. Er unterschied sich von seinen Stammesbrüdern durch einen beachtlichen Bauch. »Aber Lone Wolf war im Vorteil und besitzt die stärkere Waffe.«
»Ha-a-u«, sagte Kelly, bevor Gall antworten konnte. »Owotanla! Die Zunge von Frog Belly ist gerade wie immer.«
Kelly hatte den Sioux vor Jahren einmal gesehen und erinnerte sich an ihn. Der Durchschnittsindianer war eitel, und Frog Belly war ein Durchschnittsindianer. Seinen Namen von einem weißen Mann von Kellys Kaliber ausgesprochen zu hören, entlockte ihm ein fast kindliches Strahlen.
Gall jedoch blieb finster.
»Heb dein Gewehr auf!«, befahl er Red Paint. »Und du, Lone Wolf, reitest vor mir her. Steig auf den Esel. Du musst für uns arbeiten, und das schnell. Verstanden?«
»Arbeiten?«, wiederholte Kelly erstaunt. »Dann seid ihr also nicht den vier Männern hier gefolgt, sondern mir?«
»Dir sind wir gefolgt, Lone Wolf. Steig auf den Esel. Wir reiten zurück nach Süden in unser Camp. Hopo, Hookahey.«
Kelly wusste, dass er gehorchen musste. Es gab genau zwei Möglichkeiten: zu tun, was von ihm gefordert wurde und sich anschließend erschießen zu lassen, oder sich weigern und sich gleich erschießen zu lassen.
Er entschuldigte sich mit kurzen Worten bei seinen neuen Geschäftspartnern. »Tut mir leid, Freunde«, sagte er. »Diesmal habe ich mich geirrt. Sie waren nicht hinter euch her, sondern hinter mir, und ich habe sie euch auf den Hals gehetzt. Ich werde mein Bestes tun, sie euch jetzt wieder vom Hals zu schaffen. Und etwas noch: kommt bloß nicht auf die Idee, weglaufen zu wollen. Bleibt, wo ihr seid. Macht's gut. Ich glaube nicht, dass wir uns je Wiedersehen. Und falls doch, dann bin ich bestimmt kein erfreulicher Anblick. Alles Gute...«
»Aufsteigen«, sagte Gall mit tonloser Stimme. »Ich bitte dich nicht noch einmal.«
»Brauchst du auch nicht, mein Freund«, sagte Kelly und schwang sich grinsend auf das knochige Tier. »Für einen Wasicum begreife ich erstaunlich schnell. Hopo! Machen wir uns auf den Weg.«
Jepson, mit seinem Spatzenhirn, hatte die Bemerkung mit dem sicherlich nicht erfreulichen Anblick natürlich nicht begriffen und kam sich verlassen und betrogen vor.
»Kelly!«, rief er hinter dem Scout her. »Du kannst uns doch nicht einfach im Stich lassen. Was soll denn jetzt aus uns werden?«
Luther Kelly drehte sich noch einmal um und lachte. »Das kann ich euch auch nicht sagen«, rief er. »Aber ihr könnt eurem Schöpfer danken, dass ihr nicht in meiner Haut steckt.«
7
Kein Lüftchen regte sich. Nichts rührte sich. Sogar die Vögel schwiegen.
»Du weißt sicher«, sagte Gall in die sonnenüberflutete Stille hinein, »dass du stirbst, wenn du keinen Erfolg hast.«
»Natürlich«, sagte Kelly. »Für Misserfolg hat es noch nie eine Belohnung gegeben.«
Der weiße Scout wusste nicht, ob der Häuptling lediglich seine Nerven testen wollte oder ob die Bemerkung ernst gemeint war. Die Gedanken der Indianer waren nicht zu erraten. Ihre Reaktionen erst recht nicht.
In den acht gefährlichen Jahren am Yellowstone hatte Kelly gelernt, wie man mit den Sioux und ihren noch unberechenbareren Vettern, den Cheyenne, umzugehen hatte, wenn man am Leben bleiben wollte. Das Gesetz Nummer eins war, man durfte keine Angst zeigen. Gelang einem das nicht, war man unrettbar verloren.
Aber den Trick zu kennen und ihn auch anwenden zu können, das waren zwei völlig getrennte Dinge.
Gall hatte Kelly inzwischen erklärt, was von ihm erwartet wurde.
Er hatte mit seinen Kriegern eine Weide der Crows überfallen und dabei eine stattliche Anzahl von Pferden erbeutet. Im letzten Moment war ein halbes Dutzend Crows dazwischengekommen, und es hatte eine kleine Schießerei gegeben. Resultat: fünf Crows tot und einer verwundet.
Einen lebenden Zeugen zurückzulassen, wäre unklug gewesen. Außerdem wurde es als Bravourstück angesehen, wenn es einem gelang, einen gefangenen Crow mit nach Hause zu bringen.
Dass es sich in diesem Fall um ein ganz spezielles Bravourstück handelte, konnte Kelly in diesem Augenblick noch nicht ahnen.
Die drei Tage harten Reitens, um den Verfolgern zu entkommen, waren dem verletzten Knie des Gefangenen schlecht bekommen. Sehr schlecht sogar. Die Wunde musste behandelt werden, sonst starb der Gefangene, und das wollte Gall vermeiden. Der Gefangene sollte lange leben. Gall hatte seine ganz persönlichen Gründe dafür, aber die gingen Kelly nichts an.
Der Hunkpapa hatte bei dem alten Reed nach einer Medizin gefragt, die das Knie des Gefangenen heilen würde, und erfahren, dass Lone Wolf vor ein paar Stunden in die Berge aufgebrochen sei. Er hatte sofort seine Spur verfolgt.
Warum? Das müsste Lone Wolf doch selbst wissen. Wenn jemand in der Lage war, das Gift aus der Wunde zu ziehen, dann er. Falsche Bescheidenheit sei fehl am Platz. Gall wisse schon lange von Lone Wolfs Heilkraft. Er hoffe nur für alle Beteiligten, dass sie noch so wirksam war wie eh und je.
Kurz vor Ankunft im Camp der Indianer machte Kelly einen letzten Versuch, die Situation zu klären.
»Mir ist bloß eines nicht klar, mein Bruder«, sagte er zu Gall, »woher weißt du, dass ich Heilkräfte besitze? Ich habe mir immer eingebildet, dass ich es niemand verraten habe.«
Zu behaupten, er besitze nicht die Wunderkraft, die man ihm andichtete, wäre Wahnsinn gewesen, und dieser Wahnsinn hätte ihm die schulterlangen Haare gekostet.
Der Hunkpapa Häuptling sah ihn an. »Du erinnerst dich also nicht?«, fragte er.
Kelly schüttelte den Kopf. Das Gesicht des Mannes war ihm zwar vom ersten Moment an bekannt vorgekommen, aber mehr auch nicht.
»Es ist lange her«, sagte Gall. »Viele, viele Jahre, im Camp der Pemmikanmacher am Red River.«
Jetzt fiel es Kelly wie Schuppen von den Augen. »Natürlich!«, rief er. »Mit Sitting Bull zusammen. Wie habe ich das vergessen können?«
»Ich war damals noch sehr jung und ein ganz einfacher Krieger«, sagte Gall. »Ich saß in der letzten Reihe von Tatankas Kriegern. Du hast mich nicht gesehen, aber ich habe dich gesehen. Du warst damals noch fast ein Knabe und hattest große Angst. Du hast gedacht, dass wir dich töten. Erinnerst du dich?«
Und ob sich Kelly erinnerte. Sieben ganze Jahre war es her. Er hatte gerade seine drei Jahre bei der Union Infanterie hinter sich gebracht und war mit einer Bande von Mischblut Büffeljägern von Kanada aus in Richtung Westen gezogen. Sie waren die Pemmikanmacher vom Red River gewesen, von denen Gall gesprochen hatte.
Die Büffeljäger, die streng genommen von den Sioux abstammten, hatten ihm geraten, sich genauso zu kleiden wie sie, damit er bei eventuellem Zusammentreffen mit Indianern nicht als Weißer auffallen würde, aber das scharfe Auge Tatanka Yotankas hatte sich nicht täuschen lassen.
Nur die schnelle Reaktion eines alten Halbbluts hatte Kelly das Leben gerettet. Der Enkel des Alten hatte sich ein paar Wochen vorher den Arm gebrochen, und Kelly - der während seiner drei Jahre Militärzeit neunzig Tage im Lazarett gedient hatte - hatte dem Kind den Arm geschient.
Man hatte Sitting Bull das Kind vorgeführt und Kellys Wunderkräfte gepriesen. Der Häuptling war beeindruckt gewesen und hatte dem leichenblassen jungen Kelly befohlen, ihn von einem Furunkel am Hals zu befreien, was Kelly getan hatte.
Seit jenem Tag trug Kelly zur Vorsicht immer seine Standardausrüstung bei sich: Lanzette, Pinzette, einen Satz Sonden, eine Spritze, eine Rolle Katzendarmfaden, ein Fläschchen Karboltinktur und mit Kampfer versetztes Opium, das noch aus Armeebeständen stammte. Das Ganze befand sich in einem Lederbeutel, der nicht größer war als seine Hand, und immer in seinem Gürtel steckte.
8
Die Pferde verfielen in Schritt.
Kelly biss die Zähne zusammen. In wenigen Momenten sollte er seine chirurgischen Fähigkeiten unter Voraussetzungen beweisen, die wohl keinem Arzt Spaß gemacht hätten - sein eigenes Leben hing vom Leben des Patienten ab.
Dieses Indianerverfahren, dachte Kelly, auf die moderne Medizin angewandt, würde vielleicht zu großem Fortschritt führen. Oder wenigstens zu höchster Vorsicht.
Der Gedanke amüsierte Kelly, und er lachte laut auf.
Gall sah ihn erstaunt an. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Situation damals besonders lustig war«, sagte er. »Höchstens die Tatsache, dass du Sitting Bull mit deinem kleinen Messer in den Nacken geschnitten hast.«
Auch das hatte Kelly nicht als lustig empfunden, er lachte aber trotzdem schnell noch einmal.
»Genau!«, sagte er. »Ich habe eben daran denken müssen, was für eine Heidenangst ich hatte. Erst, weil ich glaubte, dass jetzt alles aus ist, und dann, weil ich Sitting Bull kurieren sollte. Erinnerst du dich daran, wie es war? In einem großen Kreis um mich herum die Krieger, die Gewehre auf mich gerichtet. Sie hatten den Befehl, auf mich zu schießen, wenn der Häuptling bei der Operation auch nur den kleinsten Laut von sich geben sollte. Du hast recht, das war wirklich recht lustig.«
»Ich bin froh, dass du so denkst«, sagte Gall.
»Wieso, mein Bruder?«
»Weil du bald die Gelegenheit haben wirst, die gleiche Situation zu erleben. Genau die gleiche.«
»Wie bitte?«
Der Sioux-Häuptling sah Kelly volle zehn Sekunden an. »Genau wie damals«, sagte er dann ruhig, »wirst du in einem Kreis von Gewehrläufen stehen, wenn du dein kleines Messer ansetzt.«
Sie waren inzwischen in dem Camp angekommen, dessen Anlage sich Kelly mit einem schnellen Blick eingeprägt hatte. Da es sich um ein Kriegscamp handelte, sah man weder Hütten noch Packtiere. In der Mitte, offensichtlich extra für den Verwundeten errichtet, ein aus Farnwedeln geflochtenes Dach auf vier Pfosten. Die Seitenwände bildeten vier purpurrote Wolldecken.
Kelly konnte nur hoffen, dass der Indianer, den sie hier gefangen hielten, in einem noch heilbaren Zustand war. Wenn nicht -
Der Teufel soll diese roten Hunde holen, dachte Kelly. Ganz gleich, wie die Sache ausgeht, jetzt gebe erst ich einmal den Ton an.
Er rutschte von seinem Esel und trat schnell zwischen Gall und die Hütte. »Ich gehe allein rein«, sagte er, »oder gar nicht.«
Galls Gesicht umwölkte sich. »Warum sagst du das?«, fragte er.
»Weil meine Medizin nur wirkt, wenn ich den Kranken erst allein sehe.«
»Das glaube ich dir nicht.«
Kelly zuckte mit den Schultern. »Es ist mir egal, was du glaubst. Meine große Medizin wird nicht wirken, wenn man mich beobachtet.«
»Bei Tatanka hat sie auch gewirkt, und es haben hundertsiebzig Krieger zugesehen.«
»Das war anders.«
»Wieso?«
»Weil die Luft rein war. Kein böser Geist schwebte über allem.«
Kelly musste Zeit gewinnen und eine Fluchtmöglichkeit finden, falls dem Verwundeten nicht mehr geholfen werden konnte. Da er die Ängste und den Aberglauben der Indianer nur zu gut kannte, spielte er seinen letzten Trumpf aus.
»Ich rieche den Tod in diesem Camp«, sagte er.
Der Häuptling fuhr zurück, als habe ihn der Teufel persönlich angesprungen. Die Krieger, die Kellys Bemerkung gehört hatten, verzogen sich hinter ihren Anführer.
»Geh hinein«, sagte Gall schließlich. »Aber vergiss nicht, dass hier draußen die Gewehre auf dich warten.«
Kelly nickte und schob eine der Decken zur Seite.
In der nächsten Sekunde wurde er blass, denn jetzt roch er den Tod wirklich. Wer einmal den süßlichen Gestank faulenden Menschenfleisches gerochen hatte, würde sich immer daran erinnern. Noch bevor er die Wolfsdecke von dem Verwundeten zog, wusste er, was er vorfinden würde: Wundbrand. Der verwundete Gefangene war bereits vom Tod gezeichnet. Und mit ihm Luther S. Kelly.
Das war jedoch erst der erste Schock für den weißen Scout an diesem sonnigen Herbstnachmittag.
Der zweite kam einen Moment später, als er die Hand auf die fiebrige Stirn des Patienten hielt. Ein flüchtiges Lächeln ging über das gequälte Gesicht.
»Hohahe«, sagte eine Stimme, die so weich war wie der erste Schnee. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Ich habe auf dich gewartet.«
Kelly brachte keinen Ton heraus.
Galls Gefangener war eine Frau. Eine sehr junge und seltsam schöne Frau.
Zweites Buch: CROW-GIRL-LICHTUNG
9
Kelly wusste, dass das Mädchen nicht mehr zu retten war.
»Alles wird wieder gut«, sagte er und legte ihr die Hand auf die Stirn. »Wehre dich nicht und hab keine Angst. Ich lasse dich ins Freie tragen. Das saubere Licht der Sonne wird mir helfen, dein Bein zu sehen. Ich bin gekommen, um dich wieder gesund zu machen. Glaubst du es mir?«
»Ich glaube es dir, Wasicum«, sagte das Mädchen und presste die glühende Stirn an seine kühlende Handfläche.
»Und ist dein Herz mir gut, Crow Girl?«, fragte Kelly.
»Ja, mein Herz ist dir gut, Lone Wolf.«
Kelly zog die Hand zurück und spürte die Tränen auf den braunen Wangen.
Mit angespanntem Gesicht trat Kelly vor die Hütte und gab seine Anordnungen. Die Krieger gehorchten nicht sofort, sondern warteten erst auf das Einverständnis ihres Häuptlings.
»Tut, was Lone Wolf sagt!«, befahl dieser mit so drohender Stimme, dass die Krieger zusammenfuhren.
Kurz darauf wurde das Crow Mädchen aus der Hütte getragen.
»Legt sie auf diesen sauberen Stein«, befahl Kelly und deutete auf eine vom Regen weiß gewaschene Felsplatte neben der Quelle, in deren nächster Nähe die Indianer ihr Camp aufgeschlagen hatten.
»Schneidet mir vier Zedernpflöcke«, befahl Kelly als nächstes. »Sie müssen lang sein und an einem Ende zugespitzt. Ihr müsst sie an den vier Ecken des Steins in den Boden treiben. Außerdem brauche ich vier gut gefettete Lederriemen. Alte Riemen, die weich und geschmeidig sind, aber trotzdem noch halten. Hopo! Hopo!«
»Was hast du vor?«, fragte Gall mit steinernem Gesicht, während sich die Krieger mit finsteren Mienen an die Ausführung von Kellys Befehlen machten. »Willst du sie hier draußen in der Sonne anbinden wie einen räudigen Hund?«
»Ich muss sie anbinden«, sagte Kelly ruhig. »Wenn ich mein kleines Messer ansetze, kann das leichteste Zucken eine Frage von Leben und Tod sein. Das Mädchen darf sich nicht bewegen.« Kelly sah dem Häuptling fest in die Augen. »Vor allem dann nicht, wenn derjenige, der das kleine Messer führt, von neununddreißig Hunkpapa-Gewehren bedroht ist.«
Als die Krieger das Mädchen auf den nackten Stein legten, wurde Gall dunkelrot vor Wut.
»Idioten!«, schrie er. »Holt eine Decke und legt sie vorsichtig darauf. Sie ist doch kein Sack Hafer.«
»Keine Decke!«, befahl Kelly ruhig. »Der Stein ist sauber, und so will ich es.«
Gall fuhr mit glühenden Augen zu ihm herum.
Red Paint war mit einem Sprung neben dem Häuptling und zog das Messer. Die übrigen Krieger legten die Gewehre an. Ihre Lippen wurden schmal.
»Was sagst du?«, fragte Gall zischend.
»Dass dem Mädchen keine Decke untergelegt wird«, antwortete Kelly ruhig, und die Stille, die seinen Worten folgte, wurde immer intensiver.
Red Paint war der erste, der die Nerven verlor. Mit einem Satz stand er neben den Kriegern an der Felsplatte.
»Gebt sie her!«, schrie er und entriss das fiebrige Mädchen den Männern. Mit wildem und zugleich zärtlichem Ungeschick presste er es an die breite Brust.
»Los, holt endlich die Decke!«, befahl er. »Hookahey!«
Der weiße Scout blieb völlig ruhig. Er hob nicht einmal die Stimme. »Es wird viel Blut geben, meine Brüder«, sagte er. »Und wir werden viel sauberes Wasser brauchen, um es wegzuwaschen. Ich bestehe darauf, dass das Mädchen nicht auf eine Decke gelegt wird, sondern auf den nackten Stein. Unter ihr der nackte Stein, über ihr die Sonne. Hört, meine Brüder. Ich werde nur dann mein kleines Messer einsetzen, wenn man mir auf der Stelle gehorcht.«
Die Worte waren zwar an die Krieger gerichtet gewesen, galten aber Gall.
Es folgte bedrückende Stille. Red Paint hielt das Mädchen an sich gepresst, und Gall sah von ihm zu Kelly. Schließlich beugte der Häuptling den Kopf und machte ein Zeichen mit der linken Hand.
»Binde sie an, wie es Lone Wolf befohlen hat«, sagte er zu Red Paint.
Im ersten Moment sah es so aus, als wollte sich der junge Mann dem Befehl des Häuptlings widersetzen, doch dann legte er das inzwischen unruhig gewordene Mädchen auf die Felsplatte. Dann sah er Kelly direkt ins Gesicht.
»Tu, was Gall sagt.« Das Gesicht des jungen Hunkpapa war völlig ausdruckslos. »Aber bete zu deinen Göttern, dass er nicht Falsches sagt.«
Kelly ignorierte die Bemerkung. »Ich brauche Seife«, sagte er. »Yuccaseife. Und ein sauberes Tuch.«
Das Tuch war kein Problem. Es wurde gebracht. Aber Seife schien keiner zu haben. Plötzlich jedoch meldete sich Red Paint noch einmal.
»Ich habe etwas Besseres als Yuccaseife«, sagte er. »Ich habe Wasicum-Seife.«
»Was?«, rief Kelly. »Echte Seife?«
»Von dem alten Mann im Tal«, erklärte Gall. »Er hat gesagt, dass sie gute Medizin für das Bein des Mädchens ist. Wir wussten, dass er lügt, haben sie aber trotzdem genommen, weil wir nicht wollten, dass er uns für dumm hält.«
»Er hat nicht gelogen«, sagte Kelly in scharfem Ton. Das Hin- und Hergerede ging ihm langsam auf die sonst so unerschütterlichen Nerven. »Bringt mir die Seife.«
»Hol' sie!«, befahl Gall, und diesmal gehorchte Red Paint auf der Stelle und war innerhalb von Sekunden mit der Seife zurück.
»Und jetzt geht an euer Feuer und wendet die Augen ab«, sagte Kelly. »Ich muss etwas tun, was niemand sehen darf.«
»Was?«, fragte Gall misstrauisch.
Red Paint hatte schon wieder das Messer in der Hand, und seine Augen sprühten Feuer.
Kelly streifte die beiden Männer mit arrogantem Blick. »Würdet ihr euren eigenen Frauen Zusehen, wenn sie nach einem langen, heißen Ritt in einem kühlen Bach baden?«
Die beiden Indianer wurden dunkelrot, und Gall beugte beschämt den Kopf. »Natürlich wenden wir uns ab«, sagte er und wandte sich an seine Krieger. »Geht an euer Feuer. Lone Wolf hat Recht. Ein Krieger sieht nicht zu, wenn eine Frau badet.«
Als ihm alle den Rücken zugewandt hatten, machte sich Kelly an die riskante und unfreiwillige Arbeit. Als erstes schnitt er dem Mädchen das schmutzige Kleid auf, zog es unter ihrem Körper weg und warf es auf den Boden. Den nackten Körper versuchte er zu übersehen. Das Mädchen sagte keinen Ton und versuchte nicht, sich zu wehren. Es war viel zu schwach und fiebrig, um sich Gedanken darüber zu machen, dass es von einem fremden weißen Mann mit Seife und frischem Quellwasser gewaschen wurde.
Kelly arbeitete wie besessen, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Sein Atem ging immer schneller. Irgendwie fühlte er sich schuldig, konnte aber nichts gegen die Gefühle unternehmen, die ihn plötzlich überfielen. Noch nie in seinem Leben hatte er den nackten Körper einer Frau gesehen, und das Crow-Mädchen hatte einen so schönen Körper, wie ihn sich Männer auch nur erträumen konnten. Als der junge Scout fertig war, zitterten seine Hände wie Espenlaub.
Jetzt wandte er seine ganze Aufmerksamkeit zum erstenmal dem zerschmetterten Knie zu, und der Magen stülpte sich ihm fast um.
Die Wunde war vier Tage alt und so entzündet, dass Kelly nicht die geringste Hoffnung hatte. Wildes Fleisch, Eiter, Knochensplitter - der Anblick war grauenvoll. Die Entzündung hatte sich bereits gut handbreit über dem Knie ausgebreitet. Das Bein unter dem Knie war völlig formlos.
Amputation, die einzig mögliche Behandlung, wenn das Leben des Mädchens gerettet werden sollte, kam nicht in Frage. Die Hunkpapa waren, wie alle reitenden Stämme, eine körperstolze Rasse. Für sie war der Tod wünschenswerter als die Verstümmelung.
Kellys Hände waren plötzlich wieder völlig ruhig. Er legte das Tuch so über den Körper des Mädchens, dass das Knie frei war.
»Lasst sie anbinden«, rief er Gall und Red Paint zu.
Gall gab den Befehl an vier Krieger weiter, die sich mit ungerührten Gesichtern an die Arbeit machten, während Kelly an der Quelle hockte und mit dem feinen Sand seine Instrumente abrieb. Anschließend wusch er sie mit Seife und legte sie zum Trocknen in die Sonne.
Aus dem Ledersäckchen machte er eine Rolle und steckte sie dem Mädchen zwischen die Zähne.
»Damit du dir nicht die Zunge abbeißt«, sagte er, »wenn der große Schmerz kommt.«
Gall und Red Paint nahm er zur Seite und bat sie, sich hinter dem Kopf des Mädchens aufzustellen und aufzupassen, dass sie die Lederrolle nicht ausspuckte.
Die beiden Männer nickten und gehorchten.
Und dann begann Kelly zu arbeiten. Ersparen konnte er dem Mädchen nichts, er konnte nur versuchen, dass es die Tortur möglichst schnell hinter sich hatte.
Als erstes schnitt er das bereits tote Fleisch in Schichten ab. Nicht ein Laut entrang sich der Kehle des jungen Mädchens. Das Messer glitt weiter. Beim siebten Schnitt traf es auf noch lebendes Fleisch.
Crow Girl schrie auf, spuckte den Knebel aus, bäumte sich auf und verlor die Besinnung.
10
Danach ging alles sehr schnell. Kelly entfernte die Knochensplitter und brachte die heil gebliebene Kniescheibe in die Lage, die er für die richtige hielt. Die frisch ausgeschnittene Wunde blutete heftig, was Kelly nur recht war, denn so reinigte sie sich selbst. Als der Blutfluss langsam nachließ, tupfte er die Wundränder mit Back-Soda ab, das er für seine berühmten gesalzenen Pfannkuchen immer bei sich hatte, und ließ das Bein in der Sonne trocknen.
Inzwischen legte er Katzendarmfaden in die Nadel, tauchte beides in das kochende Wasser, das er sich von einem Krieger hatte bringen lassen. Er nähte die Wunde zusammen, so gut es ging, schiente das Bein mit Weidenzweigen und verband es vom Knöchel bis zur Mitte des Oberschenkels mit Stoffstreifen, die er vorher hatte auskochen lassen.
Als er den letzten Knoten gemacht und die Enden abgeschnitten hatte, trat er einen Schritt zurück und gab seinen Zuschauern durch ein einfaches Zeichen mit der Hand zu verstehen, dass er fertig war.
Die Bewunderung der Sioux war grenzenlos.
Gall kam mit hocherhobenem Arm und nach außen gekehrter Handfläche auf Kelly zu. Das Zeichen bedeutete Friede aus Respekt und Freundschaft. Dass selten ein Weißer diese Auszeichnung von einem Indianer bekam, war Kelly nur zu klar, und er versuchte sofort, den günstigen Moment auszunützen.
»Vielen Dank«, sagte er und beugte vorsichtig den Kopf. »Ich habe getan, worum du mich gebeten hast, mein Bruder. Das Mädchen lebt, und seine Qual ist gelindert. Jetzt ist es für dich an der Zeit, dein Versprechen zu halten.«
Gall nickte, aber bevor er etwas sagen konnte, fiel ein großer Schatten zwischen ihn und den weißen Scout.
»Welches Versprechen?«, fragte Red Paint mit tonloser Stimme. »Wir haben lediglich versprochen, ihn zu töten, wenn er sie nicht retten kann.«
»Der unausgesprochene Teil eines solchen Versprechens lautet, dass ihr mich freilasst, wenn es mir gelingt«, sagte Kelly, und plötzlich bekam seine Stimme einen scharfen Klang. »Bist du ein Mandan Hundefresser oder ein Hunkpapa Krieger? Schleichst du dich um dein Wort herum wie ein Pawnee Pferdedieb, oder stehst du dazu wie ein Sioux Häuptling?«
Kelly dachte plötzlich nicht mehr an seinen Skalp. Sein irisches Blut war ins Wallen geraten, und er hatte genug von Red Paint und den Wortspaltereien der Hunkpapa.
»Antworte, Sayapi!«, fuhr er Red Paint an. »Hörst du nicht, dass ich mit dir rede?«
Das Gesicht des jungen Mannes verzerrte sich, die Augen wurden zu mongolischen Schlitzen. Zum dritten Mal zog er das Messer, aber diesmal blieb es nicht dabei. Mit der blinden Wut eines Tiers wollte er sich auf den unbewaffneten Scout stürzen, doch Gall war schneller. Er sprang Red Paint von hinten an, packte ihn, hob ihn hoch über den Kopf, wirbelte ihn in einem vollen Kreis um die eigene Achse und schleuderte ihn mit einer unglaublichen Wucht auf den Boden.
Kelly hatte nie in seinem Leben eine solche Kombination aus Schnelligkeit und brutaler Kraft gesehen.
Gall ließ keinen Moment verstreichen. Er packte Red Paint an den Schultern, zog ihn in die Höhe und stellte ihn zurück auf die Beine.
»Heb dein Messer auf!«, befahl er. »Und danke Wakan Tanka, dass du Lone Wolf, der ohne Waffe ist, nicht getötet und somit Schande über meinen Stamm gebracht hast.« Er wandte sich an Kelly. »Lone Wolf«, sagte er. »Ich bedaure den Zwischenfall und entschuldige mich für meinen Neffen.«
Kelly nickte. Dass Red Paint der Neffe des Häuptlings war, war ihm neu, aber er machte keine diesbezügliche Bemerkung.
»Sayapi ist jung«, fuhr Gall fort, »und hasst den weißen Mann. Aber er ist kein Feigling. Das Mädchen ist der Grund, verstehst du? Er hat sie angesehen und ist wütend, weil sie seinen Blick nicht erwidert hat. Nohetto, so ist es. Verstehst du?«
Kelly hätte am liebsten den Kopf geschüttelt, fand es aber doch klüger zu nicken.
Red Paint war also eifersüchtig, aber Kelly, der über keine Erfahrung in Liebesdingen verfügte, hatte es nicht bemerkt. Er hatte lediglich gedacht, dass der Neffe des Häuptlings Crow Girl für seinen persönlichen Besitz hielt, weil er es gefangen genommen hatte.
»Hau, mein Bruder«, sagte er höflich, ohne sich durch den Vorfall von seinem eigenen Ziel abbringen zu lassen. »So ist das Leben. Als Mann verstehe ich es.« Seine Stimme wurde gleichgültig. »Mit deiner Erlaubnis, Gall, werde ich jetzt wieder weiterziehen.«
Der berüchtigte Hunkpapa sah ihn eine ganze Weile an. Sein Gesicht blieb ausdruckslos.
11
»Ziehe in Frieden«, sagte der Sioux-Häuptling schließlich.
»Vielen Dank«, sagte Kelly und tippte mit den Fingerspitzen der linken Hand gegen die Stirn. »Haben meine Freunde und ich auch deine Genehmigung, den Winter über hier zu jagen?«
»Was wollt ihr jagen?«
»Den Pelz des Wolfs. Den Wolf zu jagen wird gut sein für den Wildbestand.«
»Das stimmt. Ihr könnt bleiben.«
»Vielen Dank.«
»Hör auf mir zu danken. Geh.«
»Noch etwas. Wenn ihr weiterzieht, müsst ihr aufpassen. Wegen dem Mädchen, meine ich.«
Der weiße Scout erklärte dem Sioux-Häuptling, wie man eine Tragbahre anfertigte, die vorn an ein Packtier geschnallt, aber hinten von zwei Männern zu Fuß getragen werden musste.
Gall bedankte sich bei Kelly und versicherte ihm, dass er für den bequemen Transport des Mädchens sorgen werde.
»Und dann noch diese Medizin gegen die Schmerzen«, sagte Kelly und hielt das Fläschchen mit der Opiumtinktur in die Höhe. »Es dauert nur einen Moment.« Ohne auf das Einverständnis des Häuptlings zu warten, ging Kelly zu der Steinplatte.
Das Mädchen war inzwischen wieder zu Besinnung gekommen. Kelly gab ihr die Medizin und holte in der hohlen Hand Wasser zum Nachtrinken.
»Ich habe gehört, was du von der Tragbahre gesagt hast«, flüsterte sie ihm zu und sah ihm so tief in die Augen, dass ihm ein Schaudern über den Rücken lief. »Ich danke dir. Es tut sehr weh.«
»Bald wird es weniger weh tun«, sagte Kelly und senkte den Blick. »Die Medizin wird dich deine Schmerzen für Stunden vergessen lassen.«
Sie lächelte, und Kelly wurde rot wie ein Schuljunge.
»Ich muss jetzt gehen«, stotterte er. »Kann ich noch etwas für dich tun?«
»Ja«, sagte das Mädchen schnell. »Nimm eine Nachricht mit.«
»An wen?«, fragte Kelly und beugte sich tiefer zu dem Mädchen herunter. »Schnell! Die anderen können jeden Moment kommen.«
»Ich habe einen Bruder«, flüsterte das Mädchen. »Er ist Scout bei den Pony Soldaten. Ich weiß nicht, wo er im Moment ist, aber du wirst ihn finden. Er ist nicht unbekannt.« Sie lächelte stolz.
»Wie heißt er?«
»Du kannst seinen Namen nicht aussprechen. Nicht in meiner Sprache. Aber die Wasicum nennen ihn Curly.«
Jetzt fiel es Kelly wieder einmal wie Schuppen von den Augen. Als er eben die makellosen Züge Crow Girls betrachtet hatte, hatte er das bestimmte Gefühl gehabt, ihr schon einmal begegnet zu sein, hatte aber gleichzeitig gewusst, dass man so ein Gesicht nicht vergisst.
Curly war der beste Vollblutscout, den die Armee je gehabt hatte. Er war ein intelligenter, freundlicher und ausnehmend gut aussehender junger Mann.
»Ich kenne deinen Bruder«, sagte Kelly. »Ich finde ihn bestimmt. Was soll ich ihm ausrichten? Dass dich Gall gefangen hält?«
»Nein, nicht Gall, sondern Sayapi. Gall ist gut. Red Paint ist der Teufel, der auf mich geschossen hat. Er hat gewusst, dass er das Gewehr auf eine Frau richtet. Er hat es mir selbst gesagt und dabei gelacht. Er hat gesagt, dass er im Dunkeln meinen Körper gesehen hat und ihn besitzen wollte. Deshalb hat er mich ins Bein geschossen. Ich wollte, er hätte mich getötet.«
»Wissen die anderen, dass Red Paint absichtlich auf dich geschossen hat?«
»Nein. Er hat behauptet, dass es ein Missgeschick war. Er hat Gall dazu überredet, mich mitzunehmen. Gall hat ein gutes, stolzes Herz, aber wenn es um seinen Neffen Sayapi geht, ist er blind.«
»Und was soll ich deinem Bruder sagen?« drängte Kelly. »Dass dich Galls Leute gefangen halten?«
»Ja. Curly wird kommen. Er wird die Pony Soldaten mitbringen und diese Sioux-Hunde bestrafen.«
Kelly warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und sah Gall näherkommen. »Ich muss weg«, sagte er. »Möge Wakan Tanka neben dir gehen.«
»Lone Wolf...«
»Was denn?«
»Gall hat dir gesagt, dass dieser Sayapi mich angesehen hat?«
»Ja.«
»Und auch, dass ich ihn nicht angesehen habe?«
»Ja.«
»Aber dich habe ich angesehen, Lone Wolf«, sagte das Mädchen und sah ihm so tief in die Augen, dass er den Blick bis in die Fußspitzen zu spüren glaubte.
Kelly wusste nicht, was er antworten sollte, er hätte aber auch keine Zeit mehr gehabt, dem Mädchen noch etwas zu sagen, denn Gall legte in dem Moment eine Hand auf seine Schulter.
»Beeil dich, Lone Wolf«, sagte der Häuptling. »Lind schau dir Sayapis Pferd an.«
Kelly drehte sich um, konnte das Pferd aber nirgends sehen.
»Wo ist es denn?«, fragte er.
»Weg«, sagte Gall mit undurchdringlichem Gesicht. »Und Sayapi ebenfalls.«
»Ich habe verstanden«, sagte Kelly. Er hatte die Anspielung genau verstanden. Er ging zu seinem Packesel, stieg auf und ritt zu Gall zurück.
»Sayapi hat zehn Krieger mitgenommen«, sagte er.
»Zwölf«, sagte Gall. »Die zwölf, die das Gesicht verloren haben, als du dich von hinten an dein Feuer angeschlichen hast.«
12
Erst dachte Kelly, dass sich seine Freunde aus dem Staub gemacht hätten. Als er jedoch zwei Sekunden später den rhythmischen Schlag einer Axt hörte, hellte sich sein finsteres Gesicht auf.
»Achtung!«, drang Big Anse Harpers Stimme zu ihm herüber, und im selben Moment hörte er einen Baumstamm fallen.
Die Männer hatten also beschlossen zu bleiben. Sie besaßen mehr Mut, als er ihnen zugetraut hatte.
Vor zwei Stunden, als ein schneller Entschluss gefasst werden musste, hatte MacDonald dem schwerfälligen Jepson einfach die Führung abgenommen und jedem seine Arbeit zugeteilt. Big Anse, als der größte und stärkste, fällte das Holz, er und Jepson bauten an der Hütte, deren vier Wände schon einen Meter hoch waren, und Caswell stand Wache.
Kelly trat vorsichtig aus dem Unterholz. »Schieß bloß nicht, Caswell!«, rief er über die Wiese. »Ich bin's, Kelly!«
Caswell kam sofort auf ihn zu gerannt. Die Erleichterung sprang ihm aus sämtlichen Poren.
Die anderen waren wenige Sekunden später auch da.
»Mann!«, rief Big Anse und grinste. »Bin ich froh, dass der Esel wieder da ist. Ich habe schon gedacht, dass ich die großen Stämme fürs Dach allein aus dem Wald schleifen muss.«
»Keine Rede davon«, sagte MacDonald lachend. »Jetzt können wir euch beide zusammenspannen - wenn der Esel nichts dagegen hat.«
»Du Zwerg«, sagte Big Anse und packte den Schotten am Kragen. »Pass bloß auf, dass ich dich nicht unangespitzt in den Boden ramme.«
»Was war denn los?«, fragte Jepson.
Kelly gab den vier Männern einen kurzen Bericht.
»Heißt das, dass wir jetzt weg müssen oder bleiben können?«, fragte Jepson, als der Scout geendet hatte.
»Moment«, sagte Big Anse. »Das wird von allen entschieden, finde ich. Es wird abgestimmt. Jepson - deine Meinung?«
Jepson überlegte nicht lang. »Ich bin dafür, dass wir abhauen«, sagte er.
»Und du, MacDonald?«
Der Schotte brauchte etwas länger, aber auch er kam zu dem Schluss, dass er mit Galls roten Brüdern nichts zu tun haben wollte. »Ich bin auch dafür, dass wir uns verziehen.«
»Und Yank?«
Caswell war wenigstens ein ehrlicher Feigling. »Nichts wie weg!«, sagte er.
»Und Kelly?«
»Ich bin dafür, dass wir bleiben, Anse.«
»Ich auch«, sagte der Riese aus Georgia prompt.
»Und Phineas?«
»Also, alles was Recht ist!«, rief der humorlose Jepson, aber sein Protest kam zu spät.
Big Anse hatte sich bereits den Halsstrick des Esels um die große Hand gewickelt. »Phineas«, sagte er und zog an dem Strick. »Willst du abhauen oder bleiben?«
Der Esel nickte wohl oder übel und gab somit sein automatisches Ja ab.
»Damit steht es drei zu drei«, sagte Big Anse, und die Opposition war sauer.
13
Es folgte Schweigen. Die fünf Männer starrten dickköpfig in die Gegend, der Esel glotzte Big Anse vorwurfsvoll an.
»Wir werfen eine Münze, Leute«, sagte Kelly schließlich. »Kopf - bleiben wir, Adler - gehen wir.«
»Okay«, sagte MacDonald. »Mir ist es übrigens mittlerweile auch recht, wenn wir bleiben. Je länger ich mir die Gegend anschaue, desto besser gefällt sie mir.
»Hast du einen Silberdollar in der Tasche, Scotty?«, fragte Kelly. »Mit eurem kanadischen Blech will ich nichts zu tun haben. Gutes US-Silber muss es sein.«
»Nur, wenn ich zehn Prozent Zinsen bekomme«, sagte MacDonald. »Wofür bin ich denn Schotte?«
Kelly lachte, griff in die Tasche, holte zehn Cents heraus und warf sie MacDonald zu. Der Schotte fing die Münze aus der Luft auf, steckte sie ein und warf Kelly einen nagelneuen Silberdollar zu.
»Also, Kopf heißt bleiben, Adler Rückzug antreten«, sagte Kelly und legte die Münze auf Daumen und Zeigefinger.
»Aber richtig hochschmeißen«, sagte Jepson schnell. »Euch Iren ist nicht zu trauen.«
Kelly lachte und warf die Münze hoch in die Luft. Im selben Moment peitschte ein Schuss über die Wiese. Kurz darauf trudelte die durchlöcherte Münze auf den Boden.
Big Anse Harper hob sie auf. »Nicht schlecht«, sagte er lakonisch und drehte sich in die Richtung, aus der geschossen worden war. »Für eine Rothaut«, setzte er hinzu.
Am Waldrand, auf ihren kleinen, nervösen Präriemustangs sitzend, zwölf kriegsbemalte Hunkpapa-Indianer. Vor ihnen, Luther Kellys Winchester in der Hand und mit steinerner
Miene Nummer dreizehn, ihr Anführer.
»Ouhey!«, schrie Red Paint und schwang Kellys kostbares Gewehr über den Kopf. »Der erste gehört mir.«
Die zwölf Krieger antworteten mit schrillem Geheul und trieben wie ihr Anführer die Pferde an und stürmten auf die weißen Männer zu.
»Was hat er gesagt?«, rief Big Anse, als sich die fünf weißen Männer hinter die niedrigen Hüttenwände hechteten.
»Dass er der erste sein will, der sein Messer an einen weißen Schädel setzt«, rief Kelly zurück und nahm Caswell die alte Springfield ab.
»Tief halten«, rief er. »Auf die Pferde zielen.«
Es fiel jedoch nicht ein einziger Schuss, denn von einem Moment auf den anderen hatte sich die Situation total verändert. Wie aus dem Boden gewachsen preschte Gall mit vierundzwanzig Kriegern in die Lücke zwischen seinen Neffen Sayapi und die fünf weißen Männer.
Red Paint, der ein genauso aufbrausendes Temperament hatte wie Gall, war aber auch genauso intelligent wie dieser und wusste, wann er aufzugeben hatte. Als sei der Trupp seiner Krieger aus einem Guss, brachte er die Männer vor ihren Stammesbrüdern zum Stehen.
»Warum kreuzt Gall meinen Weg?«, rief er dem Häuptling zu.
»Höre mich, Sayapi!«, rief Gall zurück. »Nachdem du mit deinen Kriegern im Zorn das Lager verlassen hast, habe ich diesem Wasicum erlaubt, den Winter über in unserem Gebiet zu jagen. Ich habe Lone Wolf zu verstehen gegeben, dass er und seine Freunde von den Sioux nicht belästigt werden. Dir gebe ich jetzt das Gleiche zu verstehen und sage es nicht noch einmal... Und noch etwas, Sayapi. Ich behalte das Mädchen. Es wird bei mir bleiben, bis es gesund ist und selbst entscheiden kann, mit wem es reiten will.«
»He-hau«, rief der junge Sayapi. »Ich höre dich, mein Onkel. Aber jetzt höre auch du mich. Lone Wolf hat mich zweimal gedemütigt, und ich habe beschlossen, ihn deshalb zu töten. Du kannst mich nicht davon abhalten, denn ich beuge mich nicht länger deinem Befehl... Und auch für dich noch etwas. Ich will das Kangi Wicasi-Mädchen. Es gehört mir. Ich habe es gefangen genommen und will es auf der Stelle haben. Hörst du mich?«
»Wenn du das Kangi Wicasi-Mädchen willst, dann musst du es dir holen«, entgegnete Gall trocken und deutete auf den Wald hinter ihm.
Jetzt erst sah Kelly, dass die zwei Krieger, die in Galls Trupp fehlten, hinter einem Packtier standen und die Enden einer Tragbahre hochhielten.
Sayapis schwarzer Blick ging mehrmals von dem Mädchen zu Gall und zurück. Plötzlich hob er zum Zeichen des Aufbruchs den rechten Arm mit Kellys Gewehr hoch in die Luft und galoppierte ohne ein weiteres Wort Richtung Norden davon. Innerhalb von zehn Sekunden lag wieder die Stille des Gebirgsnachmittags auf der Wiese.
»Das Glück war auf deiner Seite«, sagte Gall, als er sein nervöses Pferd vor den niedrigen Wänden der Blockhütte zum Stehen gebracht hatte. »Sayapi hätte dich getötet.«
»Schon möglich«, sagte Kelly trocken. »Er hatte ja auch ein ausgezeichnetes Gewehr, während ich mir diesen alten Schießprügel leihen musste.«
»Ich habe ihm dein Gewehr gegeben«, sagte Gall und machte eine entschuldigende Handbewegung, »weil du seines zerschossen hast. Ich dachte, dass durch diese Tat etwas von der Bitterkeit aus seinem Herzen weicht. Aber er ist zu sehr wie ich. Das Glück war wirklich auf deiner Seite. Ich glaube, es gibt nur zwei Gründe, die Sayapi einen begonnenen Kampf abbrechen lassen.«
»Gall ist einer davon«, sagte Kelly und grinste. »Was ist der zweite?«
»Der Tod.«
Der weiße Scout nickte. Für ihn persönlich bedeuteten die beiden Begriffe ungefähr dasselbe. Gall war ein sehr gefährlicher Mann; jemand, mit dem man nicht zu freundschaftlich verkehren durfte und den man immer in gewissem Abstand von sich halten musste. Und diesen gewissen Abstand wollte Kelly jetzt genau abstecken.
»Ich bin froh«, sagte er deshalb, »durch diesen Zwischenfall gelernt zu haben, dass dein Wort mehr gilt als dein Zeichen.« Er tippte sich mit den Fingerspitzen der linken Hand an die Stirn. »Ich danke dir, dass du dein Wort gehalten hast.«
Galls Gesicht war steinern. »Was meinst du mit meinem Wort und meinem Zeichen?«, fragte er.
Gall darauf hinzuweisen, dass er als Indianer der weißen Rasse unterlegen war, war für Kelly kein arrogantes Vergnügen, sondern in der augenblicklichen Situation eine seiner Meinung nach dringliche Notwendigkeit.
»Du warst doch in Laramie dabei, oder?«, sagte Kelly.
»Meinst du damals, als Makhpiya Luta uns angelogen hat?«
»Ja. Aber Red Cloud hat seine Brüder nicht angelogen. Er wollte Frieden und hat das Papier des weißen Mannes für die Sioux unterzeichnet. Und andere haben es auch unterzeichnet.«
Galls Gesicht umwölkte sich. Sein Blick wanderte in die Feme.
»Es stimmt, dass ich die Feder in der Hand gehalten habe«, sagte er mit seltsam weicher Stimme. »Aber ich verstand nicht, was ich tat. Ich wusste nicht, was das Papier den Sioux wegnimmt.« Er machte eine hilflose Handbewegung. »Ich war als Sitting Bulls Delegierter in Laramie. Es war seine Schuld. Er hätte mich nicht dorthin schicken sollen. Ich bin Krieger. Ich kann nicht lesen.«
»Aber du hast gewusst, dass das Papier Frieden bedeutet und du den Weißen Mann nicht mehr töten darfst.«
»Ja.«
»Aber trotzdem hast du ihn weiterhin getötet. Stimmt das?«
»Ja.«
»Das habe ich damit gemeint, als ich sagte, dass dein Wort mehr gilt als dein Zeichen.«
»Ich habe gewusst, was du meinst, mein Bruder.«
Kelly nickte und ließ die Stille wachsen.
Die Erwähnung des Friedensvertrages von Laramie von 1868 hinterließ einen schlechten Geschmack im Mund des Hunkpapa-Häuptlings, und genau das hatte Kelly beabsichtigt. Ein Weißer musste einem Indianer gegenüber immer den Eindruck erwecken, dass er ihm mindestens einen Schritt voraus war.
»Wie dem auch sei«, sagte Kelly schließlich, »ich bin froh, dass ich dein Wort habe und weiß, dass ich mich darauf verlassen kann.«
Galls Reaktion auf diese letzte Bemerkung erstaunte Kelly. Damit hatte er nicht gerechnet. Auf dem Gesicht des großen Sioux-Häuptlings lag plötzlich ein tieftrauriger Ausdruck. Sein Blick glitt in unendliche Femen ab, und seine Stimme klang noch weicher und bescheidener als vorhin.
»In all der Zeit«, sagte er, »in der ich ein erwachsener Mann bin, in all der Zeit, in der mein Vater ein erwachsener Mann war und vor ihm sein Vater, bis zurück zu den frühesten Zeiten, als die Sioux noch jenseits des Big Muddy lebten und keine Pferde hatten, in all den Zeiten war nie ein Indianer derjenige, der einen Vertrag als erster gebrochen hat. Sei froh, dass du mein Wort hast, mein Bruder. Es ist noch nie entehrt worden.«
Damit gab Gall seinen Kriegern das Zeichen zum Aufbruch und ritt weg, ohne sich noch einmal umzusehen.
Die Erleichterung, die Kelly bisher immer empfunden hatte, wenn ihm Indianer den Rücken zugedreht hatten, blieb aus. Gall war der erste Mann seiner Rasse, dem sich Kelly nicht überlegen fühlte.
14
Es war nicht der Moment, weißes Unrecht gegen rotes Recht abzuwägen; Kelly stand vor dringlicheren Problemen.
Dass Red Paint am Morgen zurück sein und dann kein Gall auftauchen würde, um die weißen Männer zu beschützen, stand für Kelly fest. Der Häuptling hatte es eilig, mit dem verwundeten Mädchen in das Hauptlager der Hunkpapa zu kommen, das gute drei Tagesritte ostwärts am Musselshell lag.
Weswegen sich der Häuptling plötzlich für die hübsche Gefangene seines Neffen interessierte, wusste Kelly nicht, und es war ihm auch egal. Er versuchte nicht einmal den Grund zu erraten, was ihn teuer zu stehen kommen sollte.
Ihn interessierten im Moment nur sein eigener Skalp und die seiner vier Freunde.
»Ob wir nun den Winter über bleiben oder nicht«, sagte er, »wir müssen uns erst einmal eine kugelsichere Festung bauen. Das Beste ist, wir machen uns sofort wieder an den Hüttenbau. Hat jemand einen anderen Vorschlag?«
Sie schüttelten die Köpfe.
Big Anse griff nach seiner Axt und drückte Kelly den Halsstrick des Esels in die Hand. »Ich fälle das Holz«, sagte er, »und ihr und Phineas erledigt den Rest. Los, Leute, an die Arbeit.«
Die Dämmerung begann bereits, den Tag zu vertreiben. Zwölf Stunden blieben ihnen, die Wände hochzuziehen und das Dach daraufzusetzen. Wenn sie bis zum Morgengrauen, an dem der junge Sayapi zurückkommen würde, fertig sein wollten, mussten sie schuften, was ihre Muskeln hergaben.
Kelly setzte sein ermutigendstes Grinsen auf. »Nach Ihnen, Mr. Harper«, sagte er mit einer Verbeugung und stapfte dann hinter dem Riesen in den Wald hinein, den Esel am Strick hinter sich herziehend.
Und plötzlich fing er laut zu singen an:
»Legt, ihr Menschen, euch nun schlafen doch!
Oder bleibt hübsch leise, wacht ihr noch.
Auf den Spitzen eurer Zehen geht.
Sprecht so leis', wie etwa im Gebet.«
»Der spinnt total«, sagte Jepson kopfschüttelnd.
»Vielleicht«, meinte MacDonald. »Aber manchmal denke ich, uns würde es auch nichts schaden, wenn wir etwas mehr spinnen würden.«
In den nächsten neun Stunden bauten die fünf Männer und der Esel im Schweiße ihres Angesichts und im Sternenlicht am Fuße der Judith Mountains eine Blockhütte von dreißig Quadratmetern Grundfläche mit Feuerstelle und einem wind- und wetterfesten Dach.
Kelly war stolz auf sich und seine Freunde, die, von seinem Auftrieb angestachelt, ungeahnte Talente entwickelt hatten. Jeder hatte das Letzte aus sich herausgeholt, und es war plötzlich ein Zusammengehörigkeitsgefühl aufgekommen, das sich Kelly nie hätte träumen lassen.
»Es ist ungefähr vier Uhr«, sagte Kelly schließlich und brach damit die andächtige Stille, in der die Männer, auf ihr Werkzeug gestützt, ihr Werk betrachtet hatten. »Ihr habt noch zwei Stunden Zeit bis zum ersten Morgenlicht, das die Sioux mögen. Schaut, dass ihr etwas Schlaf nachholen könnt.«
»Und du?«, fragte Jepson.
Kelly lächelte. Der Mann, der ihm noch vor ein paar Stunden gesagt hatte, dass einem Iren nicht zu trauen war, war völlig verändert.
»Mach dir meinetwegen keine Sorgen, Jepson«, sagte Kelly. »Ich bin es gewöhnt, drei Tage hintereinander kein Auge zuzutun, wenn es sein muss.«
»Wer spricht denn von Sorgen«, sagte Jepson schnell. Offensichtlich war es ihm peinlich, einen Anflug von Gefühl gezeigt zu haben. »Ich will bloß nicht, dass du plötzlich wieder abhaust.«
»Richtig«, sagte MacDonald. »Vergiss nicht, dass wir dir stolze zehn Prozent für deine Dienste bezahlen. Wir haben ein Recht zu wissen, was du mit deiner Zeit anfängst.«
»Das habt ihr allerdings«, sagte Kelly und setzte sich mit dem Seufzer eines geplagten Angestellten auf einen Baumstumpf. »Sobald ich zurück bin, bekommt ihr einen genauen Bericht.«
»Sobald du zurück bist?«, rief Jepson entsetzt.
»Moment«, schaltete sich Big Anse ein. »Wenn du einen Spaziergang machst, komme ich mit. Ich möchte endlich auch einmal ein paar von deinen Indianertricks lernen.«
Kelly schüttelte den Kopf. »Niemand kommt mit«, sagte er. »Ihr legt euch hin und schlaft. Wache braucht ihr keine, denn die Sioux rühren sich während der Nacht nicht von der Stelle. Wenn ich bei Tagesanbruch nicht zurück bin, dann müsst ihr allerdings auf der Hut sein.«
»Aber du kannst doch nicht...« MacDonald brach mitten im Satz ab. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. »Kelly!«, rief er. »Kelly?«
Er bekam keine Antwort.
Die vier Männer liefen wie die Hühner um die Blockhütte herum und suchten die nähere Umgebung ab, aber der Scout war und blieb spurlos verschwunden.
»Mann-oh-Mann!«, sagte Big Anse schließlich und wischte sich über die Stirn. »Er ist tatsächlich weg.«
15
Kelly verfolgte sowohl einen Zweck als auch einen Plan. Sayapis Nachtlager zu finden durfte nicht schwierig sein. Er war unter Garantie der Spur seines Onkels gefolgt. Zumindest, bis er die Gewissheit hatte, dass der Häuptling tatsächlich auf dem Heimweg in das Hauptlager war. Anschließend war Red Paint wieder umgekehrt und hatte wahrscheinlich im Osten der Blockhütte sein Camp auf geschlagen. Der Wind, der in diesem Teil des Gebirges fast immer von Osten nach Westen wehte, sollte Kelly die Suche erleichtern.
Kellys Vermutungen erwiesen sich als richtig.
Er hatte sich noch keine drei Meilen durch das Unterholz gepirscht, als er den schwachen Geruch von Holzfeuer wahrnahm. Nach zwei weiteren Meilen hatte er Sayapis Nachtlager erreicht.
Nach Nomadensitte campierten die Indianer am Rande eines Bachs. Die Pferde waren an die hundert Meter stromabwärts in einer Mulde angebunden. Soweit Kelly sehen konnte, wurden sie nicht bewacht. Die Krieger lagen, die Füße zum Feuer und in gestohlene Armeedecken gewickelt, im Kreis um die Feuerstelle herum.
Kelly stand auf einer Erhebung über dem Lager. Hinter ihm dichter Wald, vor ihm der Abhang. Bis hinunter zum Bach waren es ungefähr achtzig Meter.
Kelly machte den Zeigefinger feucht und hielt ihn in die Luft. Der Wind stand nicht günstig. Er strich genau auf ihn zu. Wenn der Wind nur um ein paar Grad drehte, bekamen die Pferde den ihnen fremden Geruch des Weißen in die Nase und wurden nervös. Kelly konnte also nur hoffen, dass der Wind nicht drehte.
Lautlos schlich er sich an das Lager heran.
Nach knappen drei Minuten kauerte er keine neun Meter von dem Feuer entfernt hinter einem Felsblock. Nach weiteren dreißig Sekunden hatte er einen kleinen Lederbeutel mit Sand gefüllt und an seinem Gürtel befestigt. Er war so weit.
Jetzt kam der Teil des Unternehmens, der es erst richtig spannend machte.
Welches von diesen formlosen schlafenden Siouxbündeln war das gewünschte?
Es blieb Kelly keine andere Wahl, als bei irgendeinem beliebigen anzufangen und sich im Kreis herum weiterzuarbeiten.
Vier Krieger und fünf kostbare Minuten hatte Kelly hinter sich, als er am Ziel war.
Sayapi lag friedlich in sich zusammengerollt auf der Seite und hielt die Winchester wie eine Squaw mit liebenden Armen umschlungen.
Luther Kelly schätzte und achtete seine roten Brüder deshalb mehr als der Durchschnitt seiner weißen Kollegen, weil er mehr von ihnen wusste. Trotzdem konnte er diesem speziellen Indianer einen gewissen Schmerz nicht ersparen, wenn er ihm die unverdiente Beute abnehmen wollte.
Kelly betrachtete sich die Lage von Red Paints Kopf mitleidlos. Genau richtig. Das Gesicht war von dem weißen Scout abgewandt, das linke Ohr mit dem berühmten empfindlichen Punkt dahinter lag frei.
Der kleine Sandsack traf sein Ziel fast lautlos, der Körper des jungen Hunkpapa wurde schlaff.
Kelly nahm Sayapi die Winchester aus den Armen und drückte sich flach auf den Boden.
Nichts rührte sich.
Nach einer vollen Minute wagte es Kelly endlich, aufzustehen. Mit eingezogenem Oberkörper schlich er sich aus dem Kreis schlafender Indianer. Automatisch ließ er den Blick ein letztes Mal durch die Runde gehen und hielt plötzlich wie versteinert inne. Bevor er auf Sayapi gestoßen war, war er über vier Indianer hinweggestiegen. Das machte also zusammen fünf. Und eben war ihm aufgefallen, dass nach dem besinnungslosen Anführer nur noch sieben Gestalten kamen und nicht acht.
Aus solchen Fehlern wurden Skalpgürtel gemacht. Die Indianer hatten eben doch eine Pferdewache aufgestellt.
Kelly fuhr instinktiv herum.
»H'g'un!«, fauchte der Indianer, der direkt hinter Kelly stand und versuchte, dem Scout das Buffalomesser in den Bauch zu stoßen.
Kelly konnte gerade noch ausweichen und kam mit einer Fleischwunde zwischen Hüftknochen und Brustkorb davon. Der Indianer fiel durch die Wucht seines eigenen Stoßes nach vorn, und Kelly nützte den Moment aus und rammte ihm den Gewehrkolben ins Gesicht. Im selben Augenblick war im Camp der Indianer die Hölle los, und Luther Kelly rannte um sein Leben.
Die Verfolger in der Finsternis des Unterholzes abzuschütteln, war ein Kinderspiel.
Die Indianer mit ihrer Sucht, aus allem eine große Schau zu machen, rannten, schrien und schossen ziellos und planlos durch die Gegend, aber einen Mann von Luther Kellys Fähigkeiten konnten sie in der stockdunklen Nacht nicht fangen.
Innerhalb von Sekunden konnte es Kelly wagen, kostbare Kraft zu sparen und seinen berühmten Wolfstrott einzuschlagen, mit dem er Riesenstrecken zurücklegen konnte, ohne müde zu werden.
Fünfundvierzig Minuten später hatte er ohne weiteren Zwischenfall die Blockhütte erreicht. In dem gespenstischen Zwielicht, das einem neuen Tag vorangeht, sah der Rauch, der aus der Hütte aufstieg, pechschwarz aus. Die vier Männer waren also bereits auf den Beinen und kochten offensichtlich gerade Kaffee.
»Dreimal dürft ihr raten, wer hier kommt!«, rief Kelly zur Begrüßung.
Die gutgelaunte Bemerkung brachte nicht den Erfolg, den Kelly erhofft hatte. Die vier Männer begegneten Kelly mit sauren und zugleich besorgten Gesichtern, und der Scout wusste, dass sich der Wind in seiner Abwesenheit wieder einmal gegen ihn gedreht hatte.
»Und du darfst dreimal raten, wer bereits hier ist«, sagte Alex MacDonald trocken und deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Noch dazu in deine Decke eingerollt!«
Kelly drehte den Kopf. In der dunklen Ecke richtete sich eine Gestalt auf, stützte sich auf den Ellbogen und begrüßte ihn mit dem strahlendsten Lächeln, das sich ein Mann wünschen konnte.
Peinliche Stille. Kelly brachte keinen Ton heraus, und Crow Girl sah sich offensichtlich nicht veranlasst, etwas zu sagen.
Ganz im Gegensatz zu Alex MacDonald.
»Wenn ich sie richtig verstanden habe«, brummte der Schotte, »dann hat sie gesagt, dass sie gekommen ist, um für immer bei dir zu bleiben. Sie will an deinem Feuer sitzen und mit dir das Bett teilen.«
16
Wie immer, wenn er vor einem schwerwiegenden Problem stand, stierte Kelly erst einmal auf den Boden, strich sich über das Kinn und schwieg. Dem Mädchen hatte er den Rücken zugekehrt.
Dass es völlig sinnlos war, einen Indianer von seinem Entschluss abbringen zu wollen, wenn dieser einmal ausgesprochen war, wusste Kelly. Es war auch sinnlos, das Mädchen zu fragen, was es zu diesem Entschluss veranlasst hatte, aber eines stand fest: bleiben konnte es nicht. Vor allem dann nicht, wenn die fünf Männer ihren Aufenthalt in Galls Jagdrevier nicht erheblich verkürzen und auf der Stelle nach Fort Buford aufbrechen wollten.
Und dazu hatte Kelly nicht die geringste Lust.
Er hatte schon immer einmal einen Winter hier oben verbringen wollen und fing gerade an, die Gesellschaft seiner neugewonnenen Freunde und die Aussicht auf ein gemütliches Hüttenleben zu genießen. In seinem Gepäck befanden sich seine geliebten Bücher, kleine, handliche Bände aus ganz dünnem Reispapier: Scott, Poe, Burns, Tennyson, Shakespeare und die Bibel.
Nein, er würde sich seine Pläne von einer kleinen Indianerin und ihre unmoralische Art von Dankbarkeit nicht durchkreuzen lassen.
»Also, hört zu, Leute«, sagte Kelly schließlich und sah vom einen zum anderen. »Sobald es hell ist, bringe ich sie zu Gall zurück. Vorher wird sie wohl kaum vermisst, und außerdem treffe ich die Typen unterwegs, wenn sie ihre Spur verfolgen. Damit habe ich meine Pflicht getan, die Indianer verlieren kein Gesicht - was ihnen ja immer das Wichtigste ist -, und wir können endlich in Ruhe jagen.« Er überlegte kurz. »Wenn die Indianer allerdings hier eintreffen, und ich bin mit dem Mädchen noch nicht unterwegs, dann wird es brenzlig. Die Indianer denken immer erst einmal das Schlechteste von einem weißen Mann, besonders wenn es um ihre Frauen geht. Also, wie gesagt, sowie es hell wird, breche ich mit ihr auf. Einverstanden?«
Alles nickte.
»Okay. Dann schlage ich vor, dass ich zum Frühstück erst einmal eine Ladung Pfannkuchen backe. Hat dagegen jemand etwas einzuwenden?«
Alles grinste und schüttelte die Köpfe, und Kelly machte sich an die Arbeit.
Bald roch es in der Hütte nach Kaffee und Pfannkuchen, und die Männer aßen mit großem Appetit. Sogar Jepson machte ein zufriedenes Gesicht.
Als Kelly fertig war, brachte er Crow Girl eine Tasse Kaffee und einen Pfannkuchen. »Hier, iss«, sagte er auf Sioux. »Das gibt dir Kraft. Wenn die Sonne aufgegangen ist, bringe ich dich zu deinen Leuten zurück. Es muss sein. Du bist Indianerin und weißt genau, dass sie dich holen werden. Ich habe keine andere Wahl, es muss sein.«
Das Mädchen sagte immer noch nichts; Kaffee und Pfannkuchen ignorierte sie.
»Du sollst essen«, sagte Kelly. »Oder trinke wenigstens diese gute schwarze Medizin. Ich habe sie selbst gebraut. Und ich habe extra viel vom Zucker des Weißen Mannes hineingetan.«
Das Mädchen reagierte immer noch nicht. Kelly kniete sich neben ihr auf den Boden, mit dem Erfolg, das sich Crow Girl sofort zur Wand drehte und die Decke noch fester um die schmalen Schultern zog.
Kelly stellte die Tasse auf den Boden, klatschte den Pfannkuchen daneben, packte das Mädchen recht unsanft am Arm und zwang es, sich wieder umzudrehen.
»Wenn ein weißer Mann mit dir spricht, Crow Girl...«
Er brach mitten im Satz ab, denn gegen die älteste Waffe der Frauen war er machtlos. Das Mädchen weinte.
Kelly wusste nicht, warum, aber der Anblick des schönen, tränenfeuchten Gesichts und der Gedanke, welche Qualen diese kleine Gestalt, die fast noch ein Kind war, hatte durchstehen müssen, machten ihn krank.
Seine raue Hand strich wie von selbst über das blauschwarze Haar des Mädchens, während er vergebens nach den richtigen Worten suchte.
Kelly hatte noch nie eine Indianerin weinen sehen, nicht einmal ein Kind, und das brachte ihn völlig aus dem Konzept.
Bloß nichts überbewerten, dachte er. Bloß kalt und nüchtern bleiben.
Reitende Indianer weinten nicht, wenn sie körperliche Schmerzen empfanden. Das Mädchen hatte geweint, als es ihn zum erstenmal gesehen und er ihr aufmunternde, tröstende Worte zugesprochen hatte. Es hatte also geweint, weil er freundlich gewesen war. Und jetzt, weil er unfreundlich gewesen war und ihm unverhohlen gesagt hatte, dass er es zu Gall zurückbringen würde, weinte sie wieder.
Aber - Unfreundlichkeit hin oder her - wenn er nachgab und dem Mädchen den Schutz gab, den es offensichtlich bei ihm suchte, riskierte er sein Leben und das Leben der vier Männer, die zu seinen Freunden geworden waren. Er kannte die Indianer und wusste, dass man mit ihnen keine Kompromisse schließen konnte. Gall würde das Mädchen suchen und unter Garantie auch finden.
Beim Frühstück hatten ihm die anderen erzählt, dass das Mädchen plötzlich vor der Hütte gestanden sei. Mit ihrer aus Weidenzweigen geflochtenen Krücke habe sie dem Pferd einen Schlag auf die Hinterhand versetzt und es zurückgeschickt. Gall hatte also auch noch diese zweite Spur, um sicher zu seinem Ziel zu kommen. Wenn es Kelly nicht gelingen sollte, ihm unterwegs zu begegnen und somit seine guten Absichten zu demonstrieren...
Kelly wusste nur zu gut, was dann passieren würde.
»Hör auf zu weinen«, sagte er. »Iss und schlaf dann ein wenig. Ich werde auch schlafen. Wenn die Sonne aufgegangen ist, sprechen wir weiter.«
Er ging zu den anderen zurück und senkte die Stimme.
»Passt auf sie auf«, sagte er. »In einer Stunde geht die Sonne auf, und bis dahin lege ich mich hin. Gall bricht nicht vor Tagesanbruch auf. Weckt mich, wenn der erste Sonnenstrahl auf diesen Gipfel trifft.« Er deutete nach Westen. »Ist das klar?«
»Wie Quellwasser«, sagte Big Anse und grinste. »Bestehen irgendwelche Chancen, dass ich mitkommen kann? Nur für den Fall, dass die Rothäute grob werden.«
»Okay«, sagte Kelly. »Gute Idee. Also, eine Stunde und nicht länger. Verstanden?«
Die vier Männer nickten.
Kelly schlief nach kürzester Zeit wie ein Stein. Das Mädchen atmete in seiner Ecke. Das Feuer knackte und verbreitete eine angenehme Wärme, und die vier Pelzjäger waren vollauf zufrieden. So ließ es sich leben. Ein anständiges Frühstück, anschließend starker Tabak und erholsame Ruhe. Als Kellys Stunde verstrichen war und Big Anse ihn wecken wollte, wehrte MacDonald ab.
»Mann, lass den armen Teufel doch noch ein wenig schlafen«, sagte er leise. »Ganze drei Nächte hat er sich um die Ohren geschlagen. Der muss ja halb tot sein.«
»Aber, er hat es doch extra gesagt.« Big Anse zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht so recht...«
»So eilig wird es schon nicht sein. Gönn ihm noch einen Moment. Und der Kleinen da hinten auch. Das arme Ding ist ganz schön fertig.«
»Eben«, sagte Jepson. »Was soll denn schon passieren? Lass sie schlafen.«
»Wie ihr meint«, sagte Big Anse. »Es ist auch noch nicht einmal ganz hell, und der Gipfel da hinten hat heute noch keinen Sonnenstrahl gesehen. Vielleicht schadet es wirklich nicht, wenn die beiden noch einen Moment schlafen.«
Von einem Moment konnte keine Rede sein. Eine volle Stunde später wachte Kelly von selbst auf und fuhr wie angestochen in die Höhe. Draußen war es taghell.
»Ihr Idioten!« schimpfte er, sprang auf und ging zur Tür.
Keine sechs Meter vor ihm stand Gall. Seine Krieger bildeten einen Halbkreis hinter ihm.
»Guten Morgen«, sagte Gall mit ausdruckslosem Gesicht. »Wir sind dir dankbar, dass du dem Mädchen Unterkunft gewährt hast. Bring es jetzt heraus.«
17
Kelly setzte eine möglichst überlegene, arrogante Miene auf. »Ich wollte gerade aufbrechen und sie dir zurückbringen«, sagte er. »Meine Freunde haben mich dummerweise etwas zu lange schlafen lassen, sonst hätten wir uns unterwegs getroffen.«
»Du lügst«, sagte Frog Belly, der fette Unterhäuptling, der im Kampf Galls rechte Hand war.
»Deine Zunge ist krumm wie die Spur einer kranken Schlange«, sagte Tokoya Sapa, der schwarze Fuchs, Galls linke Hand im Kampf, »Ich kann über deine Schulter in dein kleines Haus sehen. Das Mädchen schläft noch.«
Gall ritt neben Black Fox und sah in die Hütte. Seine Augen wurden schmal.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du mich anlügst, Lone Wolf«, sagte er langsam. »Ich habe gedacht, dass wir uns ins Auge gesehen und wie Brüder gesprochen haben.« Gall schüttelte den Kopf. Sein Blick war nicht wütend, sondern verletzt.
»Ich habe Gall nicht angelogen«, sagte Kelly. »Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich wollte mit dem neuen Tag aufbrechen, aber ich war sehr müde. Ich hatte drei Sonnen nicht geschlafen.«
»Bring das Mädchen heraus«, sagte Gall mit tonloser Stimme, und Kelly hatte begriffen, dass das Gespräch zu seinen Ungunsten ausgegangen und beendet war.
Kelly wusste im Moment nicht, was er sagen sollte, und rührte sich nicht vom Fleck.
»Es ist nicht nötig, sie herauszubringen«, sagte plötzlich eine müde Stimme hinter ihm. »Sie bringt sich selbst heraus.«
Kelly drehte sich um. Direkt hinter ihm stand Crow Girl. Ihr Gesicht war aschfahl, die grauen Augen waren voll Qual und Scham und sahen durch ihn hindurch.
Gall bedachte das Mädchen mit einem kurzen, harten Blick, dann wandte er sich wieder Kelly zu. »Weil uns Lone Wolf angelogen hat, nehmen wir seinen Esel für die Kangi-Wicasi-Frau. Wenn sie mit einem verletzten Knie auf einem SiouxKriegspony durch die Nacht reiten kann, dann kann sie auch auf einem Wasicum-Maulesel durch den Tag reiten.«
»Du schlitzäugiges, rotes Schwein«, hörte Kelly hinter sich Big Anse schimpfen. »Rühr den Phineas an, und ich jag dir eine Kugel durch den Kopf.«
Kelly hatte im Augenblick keine Zeit, sich auch noch um Big Anse zu kümmern. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Gall, dessen ruhige und fast traurige Haltung nur einen Grund haben konnte: er hatte Kelly und Crow Girl vertraut, und beide hatten dieses Vertrauen unwissentlich entehrt.
Kelly, der in dem Ruf stand, sich mit den Indianern besser auszukennen als sonst jemand, hatte in den letzten Stunden mehr über sie erfahren als in Jahren. Trotzdem durfte er das nicht vergessen, was er vorher schon gewusst hatte: Indianer waren und blieben Indianer. Ein aggressives Wort in der augenblicklichen, sehr schwierigen Situation, oder eine falsche Bewegung, und fünf weiße Skalps trockneten in der kühlen Luft der Judith Mountains.
Kelly wollte Gall den Maulesel und Crow Girl übergeben und sich gleichzeitig noch einmal bestätigen lassen, dass er mit seinen Freunden in Galls Gebiet jagen durfte, er kam aber nicht dazu.
Crow Girl ging mit stolz erhobenem Kinn an ihm vorbei. Über das blasse Gesicht liefen Tränen.
Und damit stand für Luther S. Kelly plötzlich der Entschluss fest.
Er packte das Mädchen am Arm. »Bleib, wo du bist«, sagte er ruhig. »Ich habe es mir anders überlegt.«
Das verletzte Mädchen sah Kelly mit einem Blick an, den der weiße Scout sein Leben lang nicht mehr vergessen sollte.
Durch die Reihen der Sioux-Krieger ging ein metallisches Klicken, und Kelly war plötzlich wieder Kelly. Der Hunger nach Aufregung und Abenteuer sang in ihm wie das gefiederte Flüstern eines Kriegspfeils oder das böse Zischen einer Kugel.
Das Grinsen verjagte die Spannung auf seinem Gesicht. Seine dunklen Augen tanzten. Er ließ das Mädchen los, sah Gall herausfordernd an und wartete.
Hinter sich das verzweifelte Stöhnen von Jepson, Caswell und MacDonald. Big Anse Harper allerdings schien erfreut zu sein.
»Völlig richtig!«, rief er. »Lenk die roten Schweine ab, Kelly, bis ich die anderen in Stellung gebracht habe.«
Gall drehte den Kopf zu Frog Belly, dann zu Black Fox.
»Die Sache gefällt mir nicht«, sagte Frog Belly.
»Es ist ein Trick«, murmelte Black Fox.
Gall nickte und wandte sich wieder an Kelly. »Ich will das Mädchen«, sagte er. »Gib es heraus.«
»Das ist es ja gerade, Bruder«, sagte Kelly.
»Was?«, fragte Gall.
»Ich will sie auch«, sagte Kelly und war über seine spontane Antwort ebenso erstaunt wie Gall.
Gall überlegte. Black Fox hatte Recht. Irgendwie war das ein Trick.
»Und was macht Lone Wolf glauben, dass er sie nehmen kann?«, fragte er.
»Das!«, sagte Kelly und hatte im selben Moment die Winchester in der Hand, die gleich neben dem Türrahmen an die Wand gelehnt gewesen war.
Galls Augen wurden groß. »Hast du Sayapi getötet?«, fragte er schnell.
»Nur halb«, sagte Kelly. »Ich habe ihn im Schlaf betäubt. Als ich wieder ging, war er telanunwela. Er war tot und auch am Leben.«
»Warum hast du ihn nicht getötet?«, fragte Gall, der diese Art von Nächstenliebe nicht verstehen konnte. »Er hätte dich getötet und wird es auch eines Tages tun.«
»Würdest du einen schlafenden Feind töten?«, fragte Kelly, um für Big Anse und die anderen Zeit zu gewinnen.
»Ich habe es schon getan.«
»Würdest du auch mich im Schlaf töten?«
»Natürlich.«
»Siehst du, mein Bruder. Das ist der Unterschied zwischen einem Wasicum und einem Shacun.«
»Der Unterschied ist schlecht für dich, Lone Wolf. Er wird dich eines Tages töten.«
»Ich schlafe nicht sehr oft«, sagte Kelly und grinste.
»Das habe ich gehört«, sagte Gall. »Und dein Schlaf soll sehr leicht sein.«
»Sehr leicht, ja.«
Gall zwang sein Pferd zwei Schritte nach links. Die Krieger hinter ihm rückten nach, so dass sie freies Schussfeld hatten.
»Lone Wolf«, sagte Gall. »Wir haben genug geredet. Ich will jetzt sehen, was du tun willst.«
»Gern«, sagte Kelly, legte das Gewehr an und richtete den Lauf auf Galls Brust.
Es folgte ein langer, nervenaufreibender Moment. Gall erwies sich als echter Kriegshäuptling. Die Schießscharten in der Vorderwand der Hütte waren ihm längst aufgefallen. Die vier Gewehrläufe ebenfalls. Dazu die Winchester von Kelly - die Antwort auf das Problem stand fest.
Fünf weiße Gewehre schussbereit, das bedeutete mindestens fünf Siouxsättel leer. Gall war nicht umsonst der oberste Kriegshäuptling der wilden Sioux-Indianer. Er war weder hitzköpfig noch dumm. Sein schnell aufbrausendes Temperament hatte ihn zu einem berühmten und gefürchteten Mann im Einzelkampf gemacht, aber seine Fähigkeit, das mörderische Blut nicht aufwallen zu lassen, wenn es taktisch falsch war, machten ihn zum Schrecken seiner weißen Feinde.
Jetzt lieferte er eine Kostprobe dieser Fähigkeit.
Es würde der Zeitpunkt kommen, wo er mit Lone Wolf abrechnen konnte, sagte er sich. Mit der Rache verhielt es sich wie mit Büffelfleisch. Je älter und abgehangener, desto besser.
Aber Gall war außerdem noch absolut ehrlich und gerecht. Die Wortspaltereien eines Sitting Bull waren ihm fremd. Er sprach eine offene Sprache und sprach immer aus, was ausgesprochen werden musste.
»Ich schulde dir ein Leben, Lone Wolf«, sagte er. »Das ist der Grund, warum ich jetzt nicht mit dir kämpfen werde.«
Kelly wusste, dass er seinen Neffen Red Paint meinte, äußerte sich aber nicht dazu.
»Du sollst aber wissen«, fuhr der Häuptling fort, »dass du in unserem Gebiet nicht mehr willkommen bist. Wenn wir das nächste Mal Zusammentreffen, werde ich gegen dich kämpfen. Dann werde ich versuchen, dich zu töten. Ich gehe jetzt und schließe Frieden mit Sayapi. Sei achtsam, wenn du ein Feuer machst, Wasicum.«
»Und das Mädchen?«, fragte Kelly.
Gall sah den weißen Scout mit steinernem Blick an. »Was soll mit dem Mädchen sein?«, fragte er.
»Willst du sie noch?«
Galls Blick wanderte zu dem Mädchen. Er sah es an, bis es die Augen senkte. »Ich werde sie immer wollen«, sagte er. »Solange ich lebe und zur Sonne aufsehen kann, wird sie in meinem Herzen sein. Ich werde diesen Ort nie vergessen. Meine Krieger auch nicht. Von jetzt an wird er unter meinen Leuten Crow Girl Lichtung heißen.«
Er riss sein Pferd herum und hob den Arm hoch in die Luft.
»Hopo! Hookahey!«
Und damit stürmten sechsundzwanzig Sioux-Indianer in den Wald hinein, und schon nach kürzester Zeit hörte man vor der Blockhütte nur noch das tiefe Aufatmen der fünf weißen Männer.
18
Und wieder einmal wurde in dem kleinen weißen Camp Kriegsrat gehalten. Zu bleiben oder zu gehen war mittlerweile eine Frage von Leben und Tod geworden. Gall hatte keinen Zweifel daran gelassen. Und seine Versöhnung mit Sayapi bedeutete, dass er mit dem gesamten Trupp zurückkommen würde und das Kräfteverhältnis dann acht zu eins stand.
Sogar Big Anse war deprimiert. Die Abstimmung - diesmal ohne Phineas - ergab, dass alle außer Kelly sofort aufbrechen wollten.
Dem weißen Scout war das Lachen vergangen. Sich wie Don Quijote kindlich fröhliche Gedanken über Gefahr und Abenteuer zu machen, war jetzt nicht mehr angebracht. Dass er allerdings das Mädchen zurückgehalten hatte, war nicht falsch platzierter Heroismus gewesen, sondern reine Menschlichkeit. Das Mädchen war nicht transportfähig.
Als Gall mit seinen Kriegern abgezogen war, hatte Kelly erst die Gelegenheit gehabt, sich die Kranke genauer anzusehen. Was er zu tun hatte, stand im selben Moment fest.
Das Fieber war wieder gestiegen, der Fäulnisgestank zurückgekehrt. Kelly hatte keine andere Wahl. Er musste das Knie noch einmal auf schneiden.
Die nervösen Felljäger drängten Kelly, das Mädchen zu nehmen und mitzukommen. Sie boten sich an, ohne Ausnahme, sich im Tragen abzuwechseln.
»Und so eine Tragbahre ist doch schnell gemacht«, meinte Big Anse, aber Kelly lehnte entschieden ab. »Dann lass mich wenigstens mit dir und der kleinen rothäutigen Lady hierbleiben«, sagte Big Anse mit fast flehender Stimme, aber Kelly blieb hart.
Er sei daran schuld, wiederholte er ruhig, dass die Sioux ihr erstes Nachtlager in den Bergen aufgespürt hätten und auch daran, dass das Mädchen die Sache von eben heraufbeschworen habe. Wenn sie Reeds Ranch nicht lebend erreichen würden, dann sei er auch noch daran schuld.
»Nein, Leute«, sagte er. »Es kommt nicht in Frage. Haltet euch an Big Anse und nehmt die Beine unter die Arme, dann seid ihr morgen bei Tagesanbruch beim alten Reed.«
Big Anse Harper war der einzige von den vier Männern, der Spuren lesen, den richtigen Pfad wählen und es riechen konnte, wenn etwas in der Luft lag. Kellys Meinung nach hatte er das angeborene Gespür, das man brauchte, wenn man seinen Skalp behalten wollte.
»Wenn Big Anse auf mich hört, und ihr auf ihn, dann kann euch nichts passieren«, sagte Kelly mit einem Nachdruck, als sei damit für ihn das Thema erledigt.
Aber die anderen diskutierten weiter, bis am Nachmittag endlich ein Kompromiss geschlossen wurde. Big Anse erklärte sich bereit, Jepson, MacDonald und Caswell zum alten Reed zu bringen, wollte aber dann auf der Stelle mit Phineas zurückkommen und Kelly Nachschub an Munition, Salz, Zucker und Tabak bringen. Sämtliche Vorräte, auch die tödlichen kleinen Fläschchen mit der Aufschrift Strychnin-Alkaloid sollten hierbleiben.
Und sie sollten sich aber bloß nicht einbilden, erklärte Kelly, dass er hier den Helden spielen wolle oder seine Lage hoffnungslos sei. Er bliebe hier oben in den Bergen, weil er bleiben wolle und überzeugt davon sei, dass ihm schon nichts passieren würde.
Gall sei mit Sicherheit auf dem Weg zum Hauptlager am Musselshell, um dort für seinen angedrohten Kampf Verstärkung zu holen. Eine Übermacht von acht zu eins sei den Indianern nicht genug, wenn es gegen weiße Männer ging. Gall brauche für den Hin- und Rückritt mindestens seine acht Tage, und bis dahin sei Big Anse längst zurück. Außerdem sei dann auch das Mädchen wieder in besserem Zustand und könne mit Big Anse zu Reed hinunterreiten.
Als das Zwielicht, das die Abenddämmerung ankündigte, die Blockhütte einhüllte, waren sich die Männer einig, und man wartete nur noch auf den Einbruch der Dunkelheit.
»Ihr müsst schon deswegen noch heute aufbrechen, weil es nach Schnee riecht«, sagte Kelly ahnungslos.
»Dann bleibe ich doch«, sagte Big Anse prompt.
»Moment!«
Kelly hätte sich auf die Zunge beißen können. Warum hatte er davon angefangen? Das kam davon, wenn man redete, bloß um sich die Zeit zu vertreiben.
»Jetzt lass mich erst einmal aussprechen, bevor du wie ein Bulle losbrüllst, der von einer Mücke gestochen worden ist.«
Kelly holte tief Luft und begann, das Blaue vom Himmel herunterzulügen.
Sie seien zwar in zweitausendvierhundert Metern über dem Meeresspiegel, erklärte er, und ziemlich weit oben im Norden, und er habe auch schon erlebt, dass der Winter Ende August über das Gebirge hergefallen sei, aber so, wie die Luft jetzt roch, sei der Sturm noch gut drei Tage weg. Und wenn es dann in drei Tagen Schnee geben würde, dann bestimmt bloß ganz wenig. An die fünf Zentimeter. Allerhöchstens zehn. Aber, wie dem auch sei, Big Anse habe genug Zeit, mit seinem Nachschub an Verpflegung wieder heraufzukommen, und die anderen seien längst in Fort Buford, bevor es schlecht Wetter würde.
Big Anse, der Montana und die gnadenlose Plötzlichkeit nicht kannte, mit der hier der Winter einbrechen konnte, ließ sich überzeugen, und die Diskussion endete in einer seltsamen Stille.
Und schließlich schüttelten sich die Männer die Hand.
Hinter den knappen, fast barschen Abschiedsworten der Felljäger versteckten sich die Achtung und das Gefühl der Freundschaft. Es war typisch für Kelly, dass er sich relativ schnell mit jemandem befreundete, dem anderen aber nicht zugestehen wollte, dass er sich mit ihm befreundete. Vielleicht hatte er in seinem tiefsten Innern Angst, zurückgewiesen zu werden, und verstand deshalb die Hunkpapa und Oglala so gut.
Die Dunkelheit hatte sich inzwischen über das Land gesenkt.
»Alles Gute«, sagte Kelly, als die vier Männer in die Nacht hineingingen. »Ihr schafft es schon.«
»Klar«, rief Big Anse über die Schulter. »Kunststück, wenn es immer bergab geht.«
Kelly lachte, und das war das letzte, was ein Weißer von ihm in diesem eisigen Winter 1875-76 hörte.
Drittes Buch: SOUTH PASS
19
Fünf Stunden, nachdem die Felljäger die kleine Blockhütte auf der Crow Girl Lichtung verlassen hatten, ging ein unruhiges Stöhnen durch die Baumkronen.
Es war ein Nordwestwind, der aus den Aleuten kam und an der zu Fels erstarrten Wirbelsäule der Canadian Rockies entlangfegte. Anfangs war er seltsam warm und friedlich. Das hielt eine Stunde an, dann war es plötzlich unheimlich still.
Kelly, der erst vor ein paar Minuten von der seltsamsten Jagd seines Lebens zurückgekommen war, sah von Crow Girls Knie auf.
Die Stille wurde hörbar. Die Kälte, die durch die offene Hüttentür kroch, schien Gestalt anzunehmen.
Kelly horchte.
Erst diese seltsame Wärme in der Luft und die Sanftheit des Windes? Und jetzt diese absolute Stille. Aii-ce würden die Sioux sagen. Kein gutes Zeichen.
Das Mädchen, das die Augen geschlossen hatte, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr das Entfernen des vereiterten, verklebten Verbandes schmerzte, sah ihn plötzlich an.
»Wanitu«, flüsterte sie.
Kelly schüttelte den Kopf. »Nein, Wasiya«, sagte er.
Angst schlich sich auf das Gesicht des Mädchens. Wanitu war der normale Winter, während Wasiya der Blizzard war, der Gott der wilden Schneestürme.
»So früh kommt er schon?«, fragte das Mädchen und schauderte zusammen. »Der Schneeriese ist schon da?« Ein flüchtiges Lächeln streifte das blasse Gesicht. »So früh?«
»Je früher, desto besser«, sagte Kelly und biss die Zähne zusammen. Das Knie bot einen ekelerregenden Anblick. »Bete zu dem Gott, den deine Leute Wakan Tanka nennen, dass er noch heute Nacht kommt. Und dass er lange bleibt.«
»Warum, Lone Wolf?«
Wieder das flüchtige Lächeln. In Kelly krampfte sich alles zusammen. Die Schmerzen, die der grünlich violette Fleischklumpen verursachte, der einmal ein Knie gewesen war, mussten unerträglich sein. Solange es ihre Nerven ertragen würden, würde sie es ihm jedoch nicht zeigen, um »sein Herz nicht traurig zu machen«.
»Wenn der Schneeriese heute Nacht kommt und richtig zuschlägt«, sagte Kelly, »dann sind wir gerettet, du und ich. Zumindest leben wir dann ein bisschen länger.«
»Aber«, sagte das Mädchen, »wenn er den Südpass mit Schnee füllt, dann kann dein Freund, der so groß ist wie ein Buffalo Bulle, nicht mit dem Packesel zurückkommen. Und wir können dann nicht fliehen.«
Kelly zwang sich zu einem Lächeln und legte dem Mädchen eine Hand auf die Stirn. Das Fieber stieg immer noch.
»Wenn der Südpass voll Schnee ist«, sagte er, »wird dann nicht auch der Nordpass voll Schnee sein?«
Das Gesicht des Mädchens hellte sich auf. »Hau, tahunse - ich verstehe dich, einsamer Wolf.«
Sie hatte begriffen, dass nicht nur Big Anse und Phineas durch den Schnee gezwungen sein würden, den ursprünglichen Plan aufzugeben, sondern Gall und seine Krieger ebenfalls.
Kelly unterdrückte ein Seufzen. Das Knie sah bös aus. Schlimmer als er erwartet hatte. Trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig, als die heidnische Kur zu versuchen, um die ihn das Mädchen gebeten hatte. Seine Pony Soldaten-Kenntnisse der Heilmedizin hatten sich als nicht ausreichend erwiesen. Vielleicht schlug ihre primitive Kangi Wicasi Hexenkunst besser an.
Aber das war nicht möglich. Und völlig widernatürlich außerdem. Die Behandlung, an die sich Crow Girl plötzlich erinnert hatte, war die Ausgeburt von Aberglauben und indianischer Einbildungskraft.
Ganze fünf Stunden war Kelly mit dem Gewehr draußen gewesen, um den zur Behandlung nötigen jungen männlichen Elch zu erlegen.
Gott vergebe einem guten Christenmenschen, der sich in der Not heidnischer Mittel bediente, aber Kelly hatte sich an den alten Dr. John K. Blake erinnert, der immer wieder betont hatte, man solle einem Patienten das geben, was er verlange.
»Wenn so ein junger Farmer«, hatte er zu Kelly einmal während dessen Lazarettdienstzeit gesagt, »zur Linderung seiner Schmerzen einen Maiskolben hinter dem Ohr haben will, dann bekommt er seinen Maiskolben. Sogar zehn, wenn es sein muss.«
Kelly nahm die Hand von der Stirn des Mädchens. Wenn ihre Kangi Mcasi-Medizin nicht half, war sie verloren. Sie würde keinen Sonnenuntergang mehr erleben.
»Wenn ich etwas falsch mache, musst du es mir sagen«, sagte Kelly mit erzwungener Ruhe und stand auf.
Im Türrahmen hing der frisch erlegte junge Elch.
Vielleicht würde ja das irre Glück, das ihn die letzten vierundzwanzig Stunden begleitet hatte, anhalten. Es war im Grunde nicht zu fassen. Erst hatte er Sayapi die Winchester abnehmen können, und dann war es ihm auch noch gelungen, zu entkommen, obwohl er direkt in den Indianer hineingerannt war, der die Pferde bewacht hatte. Anschließend hatte er Gall mit eben dieser Waffe so bluffen können, dass dieser mit seinen Kriegern wieder abgezogen war. Und dass seine vier Freunde noch vor dem ersten Schnee aufgebrochen waren, grenzte auch fast an ein Wunder.
Dass Kelly nach fünf Stunden Pirsch tatsächlich auf den jungen Elch gestoßen war, der sich von seinem Rudel abgesondert hatte, das war ein echtes Wunder gewesen. Obwohl es stockdunkel gewesen war, hatte Kelly das Tier mit einem einzigen Schuss erlegt - aber das wenigstens hielt er für völlig normal.
Jetzt glitt sein Shoshone Messer geräuschlos von der Brust des Tieres durch den Bauch bis zu den Brunftkugeln. Die dampfenden Eingeweide quollen ihm entgegen. Er löste den Pansen von der Speiseröhre und den Gedärmen. Anschließend schärfte er ihn auf und entleerte ihn.
»Habe ich alles richtig gemacht?«, fragte er, als er damit zu dem Mädchen ging.
Crow Girl lächelte ihm entgegen und nickte.
»Und muss der Pansen jetzt so auf das Knie gelegt werden, dass seine Innenwand die Wunde umschließt?«
»Ja«, sagte das Mädchen. »Du musst ihn fest aufdrücken, dass seine natürlichen Säfte den Weg in die Wunde finden und die Gifte herausziehen, die Sayapis Kugel hinterlassen hat.«
Kelly kniete sich neben Crow Girl auf den Boden und legte den noch warmen, dampfenden Pansen des jungen Elchbullen um das Knie des Mädchens und band ihn mit den noch einigermaßen sauberen Streifen des früheren Verbandes fest.
»Nein«, sagte das Mädchen, als er das Bein wieder schienen wollte. »Ich brauche die Weidenzweige nicht. Weder im Schlaf noch wachend werde ich das Bein bewegen. In drei Tagen wird der schlechte Geruch weg sein. Und die gelbe Krankheit auch. Das ist nur ein Geheimnis meines Volks. Ich werde dir noch mehr verraten.«
Der Schneesturm kam noch in derselben Nacht.
Achtundvierzig Stunden lang raste er durch das Gebirge, dann brach er so plötzlich ab, wie er aufgekommen war.
Am Morgen des dritten Tages strahlte die Sonne vom Himmel. Sie schien auf eine unberührte weiße Gebirgswelt herunter. Gegen zehn Uhr war es so angenehm warm, dass Kelly die Elchdecke zur Seite schlagen konnte, mit der er die Tür verhangen hatte. Die klare Luft drang in die Blockhütte und vertrieb den zwei Tage und drei Nächte alten Geruch, der sich angestaut hatte.
Als jedoch das helle Licht des Morgens auf seine kleine Patientin fiel, traute Kelly seinen Augen nicht.
Crow Girl schlief noch. Ihr Atem war nicht mehr flach und gequält, sondern tief und regelmäßig. Ihr Gesicht war weder blutrot vom Fieber, noch grau wie ein Fischbach; ihre Stirn war kühl, fast kalt. Kelly fühlte ihren Puls. Er ging regelmäßig.
Großer Gott! Sollte dieser stinkende Elchpansen tatsächlich geholfen haben? Sollte er wirklich das Gift aus der Wunde gezogen haben? Sollten das schlanke Bein und das wilde Leben des Mädchens gerettet sein?
Nein, unmöglich!
Das Mädchen lag in jener gnadenvollen Ohnmacht, aus der der Sterbende nicht mehr aufwachte. Wenn Kellys Herz auch noch voll Hoffnung war, seine Nase betrog ihn nicht. Der Gestank war schlimmer denn je. Das Fieber hatte sich zu spät gesenkt, der Puls war zu spät normal geworden. Diese seltsam schönen grauen Augen würden ihn nie wieder anblicken. Crow Girl lag im Sterben.
Doch dann bewegte sich plötzlich die Decke unter Kellys großer Hand.
Crow Girl seufzte zufrieden, öffnete die seltsam schönen grauen Augen und gähnte wie ein junges Tier.
20
Kellys Nase hatte ihn doch betrogen.
Was er gerochen hatte, war nicht das Knie gewesen, sondern der Pansen, der in den sechzig Stunden warmer Abgeschlossenheit unter der Wolldecke aufgegangen war wie Hefeteig.
Nachdem Kelly ihn abgenommen und in hohem Bogen in den Schnee hinausgeworfen hatte, wusch er das Knie des Mädchens ab und wollte dann nicht glauben, was er sah.
Heidnische Hexenkunst oder nicht, die Wunde war so sauber; wie Kelly sich es nie hätte träumen lassen. Die Entzündung war völlig verschwunden, die Wundränder zogen sich bereits zusammen, und das Bein hatte wieder seine normale, schlanke Form.
Von der Stunde an erfolgte die Genesung Crow Girls so schnell wie die eines Tieres. Der den Indianern angeborene Lebenswille war bei ihr so stark, dass sie schon nach einer Woche in der Hütte hin und her humpelte. Als Kelly nach einer weiteren Woche den frisch ausgekochten Verband abmachte, auf dem er bestanden hatte, war die Wunde völlig geschlossen. In der dritten Woche konnte Crow Girl das Knie bereits wieder biegen und das leichte Hinken, das ihr wahrscheinlich lebenslänglich bleiben sollte, merkte nur noch der, der davon wusste.
Jetzt begann die glücklichste Zeit in Luther Kellys Leben: die trauten Wintermonate, die er - wie die Legende flüsternd erzählt - mit der jungen Absaroka-Frau in der kleinen Blockhütte in den Judith Mountains verbrachte.
Der erste der endlos vielen wundervollen Tage war der Montag der dritten Woche.
Kelly war inzwischen hundertprozentig sicher, dass er richtig vermutet hatte. Gall und Sayapi waren zum Hauptlager am Musselshell geritten, um Verstärkung zu holen, und saßen jetzt dort fest. Nicht eine Fußspur zog sich durch die jungfräuliche Schneedecke der Zedernwälder über dem Judith Basin. Dem ersten Schneesturm waren zwei weitere gefolgt, die zwar weniger stark gewesen waren, aber trotzdem die kleine Blockhütte zu einer richtigen Schneefestung gemacht hatten. Wenn nicht im Januar oder Februar ein warmer Wind aufkam, womit man in Montana immer rechnen musste, dann waren Kelly und seine kleine Indianerin eingeschneit, bis Ende Frühling das Tauwetter einsetzte und die Berge von ihrer weißen Last befreite.
Kelly machte sich also keine Sorgen und hatte seine eiserne Ruhe wiedergefunden. Außerdem war er in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen. Er hatte für sich ein Paar Schneeschuhe angefertigt, wie die Sioux sie trugen, und für seinen kleinen Gast aus Zedernholz und Weidenzweigen einen Schlitten.
Der Montag der dritten Woche brachte strahlenden Sonnenschein. Es roch nach Schnee und Harz, und die Luft prickelte. Konnte man sich bessere Verhältnisse wünschen, um auf die
Jagd zu gehen? Kelly schnallte sich die Schneeschuhe unter die Füße, packte Crow Girl auf den Schlitten und stapfte los. Die Blockhütte lag noch keine hundert Meter hinter ihm, als Kelly bereits fröhlich vor sich hin pfiff und mit sich und der Welt restlos zufrieden war.
Das zierliche Mädchen hinter ihm, bis zu den Ohren in eine Wolldecke gewickelt, lachte und plapperte wie ein Kind.
Kelly musste es schließlich bitten, endlich den Mund zu halten.
Sie brauchten dringend Fleisch, sagte er, und wenn sie den ganzen Morgen schnatterte wie eine Elster, dann müssten sie die Knochen des Elchs auskochen, denn mehr war von dem Tier nicht mehr übrig.
Crow Girl machte einen Schmollmund, verstand aber, warum Kelly streng sein musste. Sie gehorchte und war mäuschenstill.
Kurz darauf stieß Kelly auf frische Schaflosung und schoss nach zehn Minuten ein fettes einjähriges Schaf. Er weidete es sofort aus, schlitzte die Hinterläufe auf und steckte die Vorderläufe durch, um es besser transportieren zu können. Bei der Eiseskälte durfte er keine Zeit verlieren, wenn er nicht riskieren wollte, dass das Tier sofort zu einem Stock erstarrte, bevor er den Körper in diese gerundete Lage gebracht hatte.
Kelly war gerade damit fertig, als Crow Girl wieder zu plappern anfing. Sie stand auf dem gut fünf Meter hohen Felsüberhang, von dem der Scout das Schaf heruntergeschossen hatte.
»Ich glaube, du musst mich auch so zusammenbinden, Lone Wolf«, rief die kleine Indianerin lachend. »Ich bin so schwach vom vielen Gehen, dass ich es nicht mehr bis zum Schlitten...«
Bevor Kelly Crow Girl warnen konnte, machte sie einen unglücklichen Schritt, das Knie gab nach, und sie fiel kopfüber in die kleine Schlucht unter dem Überhang.
Kelly war mit einem Satz neben dem Mädchen und hob es auf. Und so kam es, dass Luther Kelly das Mädchen plötzlich in den Armen hatte. Sie hatte keinen Laut von sich gegeben, wie es eine weiße Frau getan hätte, und lag nun an seiner Brust, beide Arme um seinen Hals geschlungen. Und Kelly stand einfach da, unfähig, etwas zu sagen. Er spürte ein seltsames Schwächegefühl in den Kniekehlen. Crow Girl sah mit einem scheuen Blick zu ihm auf, errötete, stieß einen kleinen Seufzer aus und schmiegte den Kopf noch fester an seine Schulter. Kellys Puls raste, das Herz drohte ihm aus dem Leib zu springen, und Crow Girl lachte. Es lachte und lachte und presste den schmiegsamen Körper an Kelly. Sie rieb das seidige Gesicht an Kellys stoppeliger Wange, streichelte sein Ohr mit den geöffneten Lippen und biss ihn plötzlich in den Nacken.
Kelly fuhr zusammen, als sei er gebrandmarkt worden, machte beide Arme auf und ließ Crow Girl einfach fallen. Sie landete genau auf dem hübschen Hinterteil.
Kelly war nicht schockiert, er war überrannt.
Erstens hatte er noch nie ein junges Mädchen in den Armen gehalten, und zweitens hatte noch nie jemand den Körper absichtlich und verführerisch an seinem gerieben, von einem Biss in den Nacken ganz zu schweigen. Und dann noch das übermütige Lachen!
Kelly war sein Leben lang zu sehr mit männlichen Abenteuern beschäftigt gewesen, um auch nur die blässeste Ahnung zu haben, mit welchen Mitteln das feindliche Geschlecht kämpfte.
Seit dem Alter, in dem die meisten Jungen sich plötzlich für die knospenden kleinen Brüste der Schwester Sue oder das runde Hinterteil der Base Clara Mae interessieren, gab es für den jungen Luther Kelly bloß die Welt des Mannes.
Er hatte davon geträumt, Tempelritter zu werden oder Malteser oder Captain unter Cromwell oder Ranger unter dem großen Sam Houston, der Texas zu einem Imperium hatte machen wollen.
Als jedoch Kellys eigene Stunde geschlagen hatte, war es zu spät gewesen. Selbst der Bürgerkrieg zwischen den Staaten, wo Helden en gros gemacht wurden, war fast vorbei gewesen. Er hatte sich sogar um drei Jahre älter machen müssen, um die Gelegenheit nicht ganz zu versäumen und bei der Musterung überhaupt genommen zu werden. Und dann waren erst einmal sechs Monate Kasernenleben nördlich des Potomac gekommen, und die kämpferischen Auseinandersetzungen hatten lediglich aus Raufereien am Zahltag bestanden.
Als seine dreijährige Militärzeit vorbei gewesen war, hatte es nur noch eine Grenze zu erforschen gegeben, nur noch ein Land war dem Träumer von Seefahrern, Königmachern, Edelräubern, Freibeutern und Erbauern von einsamen Luftschlössern geblieben - der Westen.
Ein Mann, der die großen Ebenen liebt, die endlosen Weiten absoluter Stille, das Gewölbe des Himmels und die Herrlichkeit der Berge, ist nie ein Frauenheld. Er ist ein Einzelgänger.
Und Luther Kelly war in den Jahren am Yellowstone zum Einzelgänger geworden. Er hatte wenig Kontakt zu Menschen gehabt, zu Frauen schon gar nicht. Er hatte ein frauenscheues und somit absolut sicheres Leben gelebt.
Und das war jetzt plötzlich in größter Gefahr.
Er runzelte die Stirn, strich sich über den Nacken und sah mit finsterer Miene auf das Mädchen hinunter, das im Schnee saß und sich ausschütten wollte vor Lachen. Er wandte sich ab und kümmerte sich um sein frisch erlegtes Schaf, das an der sonnenlosen Seite des Nordhangs lag und fast schon tiefgefroren war.
»Los, steh auf!«, rief er über die Schulter. »Wir müssen zurück. Hier ist es zu kalt. Das Schaf ist schon völlig steif.«
»Hilf mir!« bat das Mädchen und streckte die Hand aus.
Er tat es, aber ohne jede Galanterie. Wie einen Mehlsack zog er sie in die Höhe, wütend auf das kleine Biest und sich selbst.
»Lone Wolf?« Ihre Stimme war weich.
»Was willst du denn?«, fragte Kelly ungeduldig und schlang das Schaf über die Schulter. »Los, red' schon. Bei der verfluchten Kälte wird das Tier von Sekunde zu Sekunde steifer.«
Crow Girl nickte gehorsam und sah ihn mit einem Blick an,
der ihm durch und durch ging.
»Vor einem kleinen Moment«, sagte das Mädchen, »als du mich in den Armen gehalten hast, so stark und so fest, und wie ich mich an dich gedrückt habe, da habe ich gespürt, dass an deinem Körper auf einmal etwas steif geworden ist. War das auch die Kälte, Lone Wolf?«
21
Das Zedernholzfeuer prasselte und tanzte. Kelly saß davor und starrte in die Flammen. Nachdem sie von der Jagd nach Hause gekommen waren, hatte Crow Girl den ganzen Nachmittag damit zugebracht, die Schafsdecke zu schaben und von der letzten Fleischfaser zu befreien, damit sie zum Gerben aufgespannt werden konnte. Eben war sie hinausgegangen, um die Abfälle wegzuwerfen, und Kelly wartete darauf, dass sich die Flammen beruhigten und er die Rippen, die es zum Abendessen geben sollte, auf die Holzkohle legen konnte. Er stand auf und ging in der Hütte hin und her.
Er fand das Leben wieder angenehm.
Vielleicht hatte er dem Mädchen Unrecht getan. Vielleicht hatte ein zärtlicher Biss in den Nacken bei den Indianern eine Bedeutung, die er nicht kannte. Vielleicht hatte er sich auch bloß eingebildet, dass sie den Körper lüstern an seinen gepresst hatte. Vielleicht war das Ganze bloß ein kindisch spontaner Ausdruck ihrer Dankbarkeit gewesen.
Genau, die letzte Erklärung war die richtige, und er, Luther Kelly, war ein Mann, der zu lange allein gelebt hatte.
Die kleine Indianerin konnte noch keine achtzehn sein und war in demselben leicht zu beeindruckenden Alter wie er damals, als er zum erstenmal an den Ufern des Missouri stand und glaubte, auf einem anderen Planeten zu sein. Genauso schien es dem armen kleinen Ding zu gehen. Sie war überwältigt von der Tatsache, dass sie mit dem großen Lone Wolf in einer Hütte wohnte, dass sie von dem gefürchtetsten und berühmtesten Wasicum-Scout umsorgt und umhegt wurde und ihr die Ehre zuteil war, dem legendären Yellowstone- Kelly als Frau zu dienen - wenn auch ohne den sonst üblichen Gegenwert dafür zu erhalten.
Ihre Reaktion war durchaus verständlich.
Dazu kam ja noch, dass er ihr das Leben und das Bein gerettet hatte. Ob daran nun der Elchpansen schuld war oder sein aus dem Lazarett gestohlenes Lederetui mit den Instrumenten, spielte keine Rolle.
Beim Donner, je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass Crow Girl nichts mit den Frauen ihrer Rasse gemeinsam hatte, die sich wie schwanzwedelnde Lagerhunde benahmen, wenn sie unter die Decke des Auserwählten kriechen wollten. Vor allem wenn der Auserwählte ein Weißer war. Nein, dieses grauäugige Absaroka-Kind war anders. Das hatte er ja von Anfang an gewusst, und es stimmte auch.
Er hörte ihren leichten Schritt draußen vor der Hütte und drehte den Kopf zur Tür.
Und da stand sie vor der Elchdecke und wartete darauf, dass sich ihre Augen nach dem Glühen der untergehenden Sonne draußen an das gemütliche Dunkel der Hütte gewöhnten. Sie war in Sayapis purpurrote Wolldecke gehüllt und sah mit den bloßen Füßen aus, als sei sie einem Bilderbuch entsprungen.
Das blauschwarze Haar war hochgesteckt und mit einer Nadel aus Büffelhorn zusammengehalten. Allein das war ein reizvoller Anblick für einen Mann, der acht Jahre lang alle Arten von Indianerinnen gesehen hatte, und nicht eine davon war frisiert gewesen. Immer nur Zöpfe oder eine ungekämmte Zottelmähne. Crow Girl dagegen sah aus, als käme sie geradewegs aus einem modernen, eleganten Badehaus.
Was, wie Kelly kurz darauf erfahren sollte, kein Vergleich war, der nur seiner Phantasie entsprungen war.
Crow Girl kam plötzlich auf Kelly zu, und der Scout wich unwillkürlich zurück.
Aber er kam nicht weit, denn genau einen Schritt hinter ihm war die Hüttenwand und zwischen ihm und der Tür war Crow Girl. Zum erstenmal in seinem Leben fand sich Lone
Wolf Kelly von einer Frau bedrängt - noch dazu von einer Indianerin, die ihm nicht einmal bis zur Schulter ging und nicht mehr wog als eine einjährige Antilope.
Er wollte schimpfen, brachte aber kein Wort heraus.
»Hab keine Angst, Lone Wolf«, sagte das Mädchen und lächelte. »Ich habe nur im Schnee gebadet. Das ist eine alte Sitte meines Stammes, wenn jemand lange krank gewesen ist und nicht ins Freie gehen konnte. Es säubert den Körper und schickt brennendes Feuer durch das Blut. Das Schneebad macht eine Frau nutzbar für ihre Stammesbrüder oder für den Mann, den sie liebt.«
Nur mühsam konnte Kelly den Blick von dem Mädchen abwenden. Dann wollte er die Schafsrippchen vom Haken nehmen und aufs Feuer legen.
»Das ist gut«, murmelte er. »Und jetzt braten wir...«
Weiter kam er nicht.
Crow Girl rührte sich nicht vom Fleck, sie ließ bloß Sayapis Wolldecke ein Stückchen sinken. Der Anblick der kupferfarbenen Rundung der Schultern und der vollen Reife der Brüste darunter hätte jeden normalen Mann von seinem Vorhaben abgehalten. Luther Kelly war ein normaler Mann. Er ließ die Hände sinken und konnte den Blick nicht abwenden.
Crow Girl lächelte ihm entgegen.
Es war kein lüsternes oder freches Lächeln, sondern ein süßes, weibliches und fast scheues Lächeln, das jahrhundertealte wortlose Versprechen der Hingabe.
»Ich habe mich für dich vorbereitet, Lone Wolf«, sagte Crow Girl und ließ Sayapis Decke vollends zu Boden gleiten.
Darunter war sie, wie Gott sie geschaffen hatte.
Sie lagen vor dem Feuer, dessen niedrige Flammen ihre Schatten grotesk verzerrt über den festgetretenen Lehmfußboden warfen. Es war sehr warm und still in der Blockhütte.
»Bist du glücklich, Lone Wolf?«, fragte Crow Girl nach langem Schweigen.
»Hm-mm.«
»Und nicht böse?«
»M-mm.«
»Du schämst dich nicht, oder?«
Auf diese Frage antwortete Kelly nicht mit einem Brummen. Er musste überlegen, denn er wusste nicht, ob er sich schämte oder nicht. Zumindest war er bis jetzt noch nicht auf die Idee gekommen. Er starrte in das Feuer.
»Wie viele Winter bist du eigentlich alt?«, fragte er schließlich.
»Wance zaptan.« Das Mädchen lächelte und beobachtete ihn. Es wusste, dass er schockiert sein würde.
Er war es, und zurecht.
Herr im Himmel! Crow Girl war nicht achtzehn, wie er vermutet hatte. Es war auch keine siebzehn und keine sechzehn. Gott vergebe ihm, sie war fünfzehn!
»Dann schäme ich mich«, sagte er und wagte nicht, sie dabei anzusehen.
»Du brauchst dich nicht zu schämen, Lone Wolf. Noch einen Mond, und ich sollte mein tanke yanke isnati bekommen.«
»Du hast es aber nicht bekommen«, sagte Kelly. »Und das ist entscheidend.«
Crow Girl meinte die Sitte vieler Stämme, das körperliche Ausgereiftsein einer Frau dadurch zu demonstrieren, dass sie den elterlichen Herd verließ und innerhalb der Ansiedlung für eine bestimmte Zeitspanne allein lebte. War diese Zeitspanne abgelaufen, dann erst durften die Männer sie offen ansehen.
Wenn ich das gewusst hätte, dachte Kelly und schüttelte den Kopf. Es hätte überhaupt nichts geändert, wenn er es gewusst hätte. Als Crow Girl die Decke hatte zu Boden gleiten lassen, kein Mann in ganz Montana hätte anders gehandelt. Kelly hasste Entschuldigungen vor sich selbst und brach den Gedanken ab, starrte aber weiterhin ins Feuer.
»Ich schäme mich trotzdem«, sagte er, »aber ich bin gleichzeitig glücklich. Solche Worte gehen mir nicht leicht über die Lippen. Ich kann mit Frauen nicht gut reden.«
»Du brauchst keine Sprache«, sagte das Mädchen. »Eine Frau weiß das ohne Worte.«
»Eine Frau vielleicht«, sagte Kelly in seiner Hilflosigkeit.
»Aber ich bin doch eine Frau!«, rief das Mädchen. »Eine richtige Frau!«
Sie stützte sich auf einen Ellbogen, ließ wieder die Decke von der Schulter rutschen und zeigte zum Beweis stolz die voll entwickelten Brüste.
»Sieh mich an und behaupte dann noch, dass ich keine richtige Frau bin!«
Kelly hütete sich. In so einem Moment tat ein Mann gut daran, den Blick auf das Feuer gerichtet zu halten und die Gedanken an die Zukunft.
Sie schien seine Gedanken zu lesen und lachte. »Du hast Angst mich anzusehen. Der große Lone Wolf fürchtet sich vor dem Körper einer Frau. Und die Sioux nennen dich The-Little- Man-With-The-Strong-Heart. Sie wollten dich The-Little-Boy- With-The-Weak-Heart nennen!«
»Bedecke dich!«, sagte Kelly prüde. »Mit dem Körper freizügig und schamlos zu sein, ist nicht die Art einer richtigen Frau.«
Er war erleichtert, als sie die Decke schnell wieder über die Brust zog.
»Verzeih mir, Lone Wolf.« Ihr Erröten war genauso echt wie eben ihr Aufbrausen. Aber ehe Kelly einhaken konnte, gab sie schon die nächste Bemerkung von sich. »Ich habe mich eben als richtige Frau gefühlt. Ha-a-u! Pte h'caka!«
Und das war Kelly zu viel.
Von seiner New Yorker Erziehung und den dazu gehörigen Begriffen von Moral und Anstand steckte doch noch eine Menge Puritanismus in ihm. Selbst die acht Jahre am Yellowstone hatten ihn nicht so verändert, dass er sich über das Kompliment einer nackten fünfzehnjährigen Indianerin freute, ein »echter Buffalo Bulle« zu sein.
Er musste dem Geplapper ein Ende machen. Die Tatsache, dass er einmal den Kopf verloren hatte, war noch lange kein Grund, eine Gewohnheit daraus zu machen, und das musste er diesem Absaroka-Mädchen auf der Stelle klar machen. Sie musste begreifen, dass alles bloß ein leidenschaftlicher Zwischenfall gewesen war, der sich in ihrem Zusammenleben auf Gedeih und Verderb nicht wiederholen würde. Aber wenigstens freundlich wollte er es ihr sagen.
»Ich habe dich Crow Girl genannt«, sagte er betont nüchtern und stierte dabei in das Feuer, als habe er weitaus wichtigere Dinge im Kopf als ihren Körper. »Aber wie heißt du eigentlich wirklich? Wie nennen dich deine Leute?«
Sie bedachte ihn mit einem kurzen Blick und zuckte mit den Schultern. Wenn Lone Wolf über etwas anderes reden wollte, ihr sollte es recht sein. Sie brauchte deshalb ja nicht gleich alle Hoffnung aufzugeben.
»H'tayctu Hopa«, antwortete sie. »Der Name kommt daher, dass mein Vater gesagt hat, meine Augen hätten die Farbe des Zwielichts an einem klaren Sommerabend. Gefällt dir der Name?«
»Sehr gut«, sagte Kelly, der schon immer die Erfindungsgabe und Phantasie der Indianer bewundert hatte, was ihre Namen anbelangte.
»Ich mag Crow Girl lieber«, sagte das Mädchen. »Es ist mein schönster Name.«
»Wie kannst du denn so etwas sagen!« Kelly lachte vergnügt auf. Er war heilfroh, dass die Unterhaltung normale Formen angenommen hatte. »Für ein so zierliches, hübsches Mädchen ist das ein ganz plumper Name.«
»Vielleicht, aber ich liebe ihn, weil du ihn mir gegeben hast, Lone Wolf.«
»Ich?«, fragte Kelly erstaunt. Er war der Meinung gewesen, dass der Name von Gall stammte.
»Ja«, sagte das Mädchen und senkte scheu den Blick. »Es war in dem Zelt, das die Hunkpapa für mich gemacht haben. Als ich dich zum erstenmal gesehen habe. Erinnerst du dich? Du hast mich gefragt, ob mein Herz dir gut ist und hast mich Crow Girl genannt. Seit dem Moment hatte ich einen neuen Namen.«
»Willst du wirklich, dass ich dich Crow Girl nenne?«
»Ja.«
»Tust du mir dann auch einen Gefallen?«
»Wenn ich nicht das tue, was du willst, dann will ich tot umfallen.« Ihre Augen wurden feucht.
»Nenn mich Kelly«, sagte der Scout schnell. »Lone Wolf, oder Little-Big-Heart, oder Man-Who-Never-Lays-Down-His-Gun - die Namen mag ich alle nicht. Verstehst du?«
»Ja.«
»Kannst du Kelly sagen?«
»Ja.«
»Dann sage Kelly.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich möchte es auf meine Weise sagen.«
»Und was ist deine Weise, du dickköpfiger Wildfang?« Er lächelte und ging in die Falle, die er nicht einmal ahnte.
»So...«, flüsterte sie, und ihr Körper verschmolz mit seinem, ihr Kuss war heißhungrig und nahm das leidenschaftliche Verlangen seines Kusses auf wie der warme Sand die stürmische See aufnimmt.
22
Von der Stunde an wurde das Verhältnis zwischen dem weißen Scout und dem Indianermädchen wie der Schnee hier oben in den Bergen immer tiefer. Abgesehen von der verständlichen Freude, gesund, allein und verliebt zu sein, brachte fast jeder Tag etwas, was die beiden jungen Menschen enger zusammenschmiedete.
Obwohl Kelly die Indianer auf seine Weise schätzte und achtete - von den skalpgierigen, kriegerischen Sioux über die Cheyenne, die Arapahoe, die Crow und Blackfoot, bis zu den friedlichen Mandans, den Arikaras und den Gros Ventres, die als friedlich, aber nicht vertrauenswürdig angesehen wurden - waren sie bisher für ihn, wie für jeden weißen Mann, der Feind gewesen.
Jetzt geriet dieses Vorurteil schwer ins Wanken, zumindest, was den Stamm der Crows anbelangte, die sich selbst Absaroka nannten und von den Sioux Kangi Wicasi genannt wurden.
Während der ruhigen, ereignislosen Wintermonate 1875/76 vermittelte ihm H'tayctu Hopa, das grauäugige Absaroka-Mädchen, ein völlig neues Bild des Nomadenstammes, zu dem es gehörte. Er begriff die völlige wortlose Unterwürfigkeit dem Mann gegenüber, dem Jäger und Beschaffer alles dessen, was zum Leben nötig war. Diese Entdeckung allein genügte, um aus einem Mann einen Überläufer zu machen. Eine Gesellschaft wie die, in der Kelly aufgewachsen war und die auf der Heiligen Kuh oder der Bienenkönigin, also der gebärfreudigen Frau auf gebaut war, bereitete einen Mann nicht auf Dienste vor, wie Crow Girl sie mit schlagender Selbstverständlichkeit und Geschick bot.
Brauchte er ein Paar neue kniehohe Winterstiefel aus Wolfsfell - er hatte sie innerhalb einer Woche. Und obendrein waren sie besser und schöner und reicher verziert als jeder Stiefel, den man im Laden kaufen konnte. Brachte er andererseits mit Hilfe seiner strychninpräparierten Köder eine besonders anstrengend zu erlegende Beute nach Hause, so half ihm das zierliche Mädchen mit einer Selbstverständlichkeit beim Enthäuten des Tiers, beim Schaben der Decke und beim Zerwirken des Fleisches. Lasten bis zu fünfunddreißig Kilo zu tragen, bei jedem Wind und Wetter im Freien ein Feuer ohne Streichhölzer anzuzünden oder draußen aus Fichten- und Weidenzweigen eine Notunterkunft anzufertigen, war alles kein Problem für Crow Girl. Sie war eben wie Kelly gewöhnt, in der Wildnis zu leben und dabei glücklich zu sein.
Und, was Crow Girl selbst anbelangte, sie dankte ihren Absaroka-Göttern, dass sie es ihr erlaubt hatten, die Frau des einsamen Wolfs zu sein. Mehr noch als ihm zu dienen machte es ihr Freude, die vielen wundervollen Geschichten zu hören, die ihr Wasicum aus der Welt des weißen Mannes zu erzählen hatte. Wenn Kelly von ihr viel über die Indianer erfuhr, so erfuhr Crow Girl alles über den weißen Mann, was es je erfahren sollte. Und trotzdem, im Gegensatz zu dem irischen Scout veränderte sie sich überhaupt nicht. Sie liebte dieses Bleichgesicht mit einer Hingabe, einer Blindheit, einer Leidenschaft und Loyalität, die ohne Grenzen war. Aber was den weißen Mann als Rasse schlechthin anbelangte, ging Crow Girl keinen Millimeter von ihren Vorurteilen ab.
Obwohl sie aufmerksam zuhörte, wenn Kelly vor dem Feuer saß und ihr aus seinen Büchern vorlas und sie bald seine Lieblingsstellen auswendig kannte und sie ihm mit ihrem komischen Akzent vorsprach, verstand sie nicht ein Wort von dem, was sie hörte oder zitierte, aber sie war selig, ihren Herrn vor Freude aufspringen und sie glücklich umarmen zu sehen. Für kleine Gegendienste dieser Art wäre sie jederzeit gestorben oder hätte zumindest alles getan, was in ihren Kräften stand.
Und genau die Grenzen dieses Vermögens waren es letztlich, die Kelly bedrückten. Je weiter der Winter fort schritt und je mehr er gewahr wurde, dass Crow Girl schwanger war, desto deutlicher merkte Kelly, dass die kleine Indianerin unzufrieden war. Und er war völlig hilflos, weil er weder etwas dagegen tun noch es verstehen konnte.
Die Wolfsjagd war sehr erfolgreich gewesen. Ködertiere zu schießen hatte auch nicht das geringste Problem ergeben. An Schafen, Elchen, Rehwild und dergleichen hatte es nicht gefehlt, und in einer Nacht hatte Kelly mit einem strychninpräparierten Kadaver ganze zweiundzwanzig ausgewachsene Wölfe erbeutet. Als der Februar in den März und der März in den April überging, lagen in dem Anbau die herrlichsten Pelze gestapelt und warteten darauf, dass das Tauwetter einsetzte und der Südpass aufging, der in das Judith Basin hinunterführte. Kelly hörte auf zu jagen und widmete seine ganze Zeit Crow Girl, das inzwischen im sechsten Monat war und viel Aufmerksamkeit brauchte.
Aber nichts schien ihre immer tiefere Melancholie durchdringen zu können. Kelly wusste, dass er das Mädchen verlieren würde, wenn es ihm nicht gelang, zu ihrem primitiven, sich immer weiter verschließenden Geist vorzudringen. Ihr Blick war entweder leer oder in weite Femen gerichtet.
Als der Mai begann und die Schneeschmelze ernstlich einsetzte, musste Kelly jeden Morgen damit rechnen, dass der Pass offen und das Bett neben ihm leer war. Und das durfte nicht passieren. Er musste herausfinden, was das Mädchen bekümmerte - und zwar bevor es zu spät war.
Wie meistens bei jungen verliebten Männern kam das Naheliegendste Kelly erst spät am Abend. Natürlich! Er musste sie einfach fragen. Kelly bekam seine Antwort in genau der Zeit, die er gebraucht hatte, um seine Frage zu stellen.
Crow Girl brach in Tränen aus und sagte, sie habe Heimweh. Sie sehne sich nach den Hütten ihrer Leute. Sie könne nicht mit Lone Wolf in einer der Siedlungen des weißen Mannes leben und sich ihres Blutes schämen. Sie wolle ihr Kind in der Freiheit ihres Stammes zur Welt bringen. Es sei eine Rothaut und solle als solche aufwachsen. Ob Lone Wolf das denn nicht verstehen könne?
Kelly sagte, er könne es verstehen und legte den Arm beruhigend um die Schultern von Crow Girl.
Die Bemerkung, ihr Kind sei eine Rothaut, drang seltsamerweise nicht weiter zu ihm vor. Er hielt sie für ein Zeichen typisch indianischer Denkungsweise und maß ihr keine Bedeutung bei. Es war völlig natürlich, dass für sie das Kind nur Indianerblut hatte. Die Tatsache, dass es genauso sein Kind war, hatte in ihrem wilden Vorstellungsvermögen keinen Platz. Wenn sie damit glücklich war, wollte er ihr die Illusion nicht nehmen.
Auch dass sie nach Hause wollte, verstand er völlig. Dazu kam, dass er sich in letzter Zeit mehrmals überlegt hatte, wie unmöglich und grausam es wäre, dieses ursprüngliche Kind der Natur in die verlogene Verderbtheit einer weißen Gesellschaft einordnen zu wollen.
Dass Crow Girl ihm nicht weiter auf seinen Streifzügen durch Ebenen und Gebirge folgen konnte, war ihm genauso klar. Nicht mit dem Kleinen, das bald zur Welt kommen sollte.
Warum sie also nicht zu ihrem Stamm zurückkehren lassen? Und warum sollte er nicht mit ihr zusammen zu den Crows gehen und dort als Mitglied des Stammes leben?
Das war bei weitem nicht so abwegig, wie es klang.
Schon andere weiße Männer hatten es getan. Und mit großem Erfolg. Cetan Mani, zum Beispiel, und Walking Hawk bei den Oglala Sioux. Auch North Star, der Kriegshäuptling einer Crazy Horse Bande. Der Gedanke war prickelnd.
Mit glühenden Ohren erzählte Kelly Crow Girl von seinem Entschluss, versprach ihr, dass er nie davon abkommen und sie bis ans Ende ihrer Tage wie Indianer leben würden. Sie würden aufbrechen, sobald der Pass frei sei und er schnell bei dem alten Reed eine Nachricht für Big Anse hinterlassen habe, der die Wolfspelze abholen sollte.
Die Art, wie ihn das Absaroka-Mädchen ansah, die Leidenschaftlichkeit, mit der sie ihn, küsste und sich in seine Arme schmiegte und wie ein vertrauensvolles Haustier vor der Feuerstelle schlief, war alles Entgelt, das sich ein Mann für die Aufgabe seiner weißen Überlegenheit wünschen konnte.
Am darauffolgenden Morgen, man schrieb den siebenundzwanzigsten Mai, suchte Kelly den Südpass von dem Steilhang über der Blockhütte aus mit dem Feldstecher ab und beschloss, mit Crow Girl aufzubrechen. Langes Reden hatte keinen Sinn und brachte nichts, handeln musste man.
Kelly weckte Crow Girl und sagte ihr, sie solle sich zum Aufbruch fertig machen. Er wolle inzwischen noch schnell einen Bock erlegen, damit sie für unterwegs frisches Wild hätten. Er würde nicht länger als eine halbe Stunde weg sein. Wenn er in der Zeit kein Glück habe, käme er zurück, und sie würden sich eben mit Kaffee und Pfannkuchen begnügen müssen.
Crow Girl war glückselig. Kelly sprang das Herz im Leib, als er sich auf den Weg machte. Den Bock hatte er nach zehn Minuten erlegt. Weitere zehn Minuten brauchte er, dann hatte er ihn aufgebrochen, abgezogen und den Ziemer herausgeschält. Und nach weiteren zehn Minuten stand er auf dem Steilhang über der Blockhütte.
Und fünf Sekunden später, Sekunden, die er sein Leben lang nicht vergessen würde, lag er flach im Schnee.
Der Anblick, der sich ihm bot, sollte ihn bis ins Grab verfolgen.
Dreizehn Sioux-Pferde ohne Reiter standen vor der offenen Tür der Blockhütte auf der Crow Girl Lichtung.
23
Kelly überlegte schneller als je zuvor, aber jeder Gedanke führte in eine Sackgasse.
Sayapi kannte die Tücken des Wetters in Montana offensichtlich besser als er und schien einmal die Angst der Sioux vor Nachtritten überwunden zu haben. Dass er ohne Gall gekommen war, war für Kelly der Beweis, dass er sich mit seinem Onkel wieder zerstritten hatte und auf eigene Faust handelte.
Das war gefährlich.
Kelly hatte Red Paint unterschätzt. Jetzt hatte der junge Teufel das Crow Girl und wartete bloß noch auf die zweite Beute, auf Luther S. Kelly, den zu töten er geschworen hatte.
Nett, dachte Kelly, dass er wenigstens auf mich wartet und nicht Jagd auf mich macht.
Plötzlich standen Kelly sämtliche Haare zu Berg. Von wegen! Crow Girl war gefesselt und geknebelt und wurde von drei Kriegern bewacht. Sayapi und der Rest machten tatsächlich Jagd auf ihn.
Kelly ließ den Blick von links nach rechts gehen. Nichts. Der nächste Schritt war rein akademisch. Kelly zog die Beine unter den Leib.
Er hatte noch fünf Schuss. Den sechsten hatte er auf den Rehbock abgefeuert. Kelly hätte sich ohrfeigen können. Seinen sechzehnschüssigen Repetierer nur mit sechs Patronen zu laden, war sträflicher Leichtsinn gewesen.
Kelly fuhr herum, brachte das rechte Knie als Auflage unter den rechten Arm und eröffnete den Kampf.
Die Indianer hatten sich von hinten an ihn herangeschlichen. In dem Moment, wo Kelly sich umdrehte, tauchten sie aus dem Wald auf, Sayapi furchtlos an der Spitze.
Dieser Indianer, schoss es Kelly durch den Kopf, ist ein sehr tapferer, idiotischer und toter Indianer. Man hat fast Hemmungen, ihn abzuschießen.
Und im selben Augenblick schoss Kelly.
Wie es möglich war, konnte der weiße Scout später nicht erklären. Er, als anerkannt bester Schütze am ganzen Oberlauf des Missouri, in hockender Stellung und mit aufgelegtem Gewehr, hatte einen Indianer zu Fuß auf etwa zwanzig Meter Entfernung verfehlt.
Die nächsten vier Schüsse allerdings trafen ins Schwarze, und vier Schreie gellten durch die Luft, was für Kelly der endgültige Beweis war, dass Sayapi nichts abbekommen hatte. Der ernsthaft getroffene Indianer schreit, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil er stolz ist, eine gefährliche Wunde im Leib zu haben und zweitens, weil er den anderen dadurch mitteilen will, dass er aktionsunfähig ist.
Von Sayapis zwölf Kriegern waren also nur noch acht im Gefecht.
Und der junge Sioux selbst setzte zum Nahkampf an. Die Mündung seiner einschüssigen Springfield vom Kaliber .50 tanzte keine eineinhalb Meter vor Kellys Gesicht.
Der weiße Scout tat, was er konnte. Er warf dem Angreifer die leere Winchester an den Kopf.
Sayapi musste sich ducken und schießen. Die Kugel pfiff zehn Zentimeter über Kellys eingezogenen Schultern hinweg. Im selben Augenblick landete Kelly seinen stahlharten Faustschlag auf dem Kinn des Indianers, und Galls stolzer Neffe ging zu Boden.
Kelly war mit einem Satz über dem Hunkpapa hinweg, der bereits versuchte, sich aufzurappeln, schnappte sich seine Winchester und lief auf den gefährlichen Steilhang zu, unter dem die Crow Girl Lichtung lag. Aber der Scout hatte noch keine drei Schritte gemacht, als er einen dumpfen Schmerz in der Seite spürte. Das Zischen hatte Kelly zwar gehört, sich aber nicht mehr zur Seite werfen können. Kelly taumelte, konnte jedoch das Gleichgewicht halten und rannte weiter. Der Pfeil, der ihn ungefähr fünfzehn Zentimeter über der Hüfte getroffen hatte, machte jeden Schritt zur Qual.
Hinter den fluchenden Bogenschützen sprangen die anderen vier von Sayapis Männern aus der Deckung und luden nach. Sie schrien den drei Kriegern zu, die das Mädchen bewacht hatten und beim ersten Schuss vor die Hütte gelaufen waren, dem Scout unten den Weg abzuschneiden. Bellend wie Bluthunde rannten sie los.
Kelly jedoch dachte nicht daran, sich der Hütte auch nur zu nähern.
Diesmal hatte Sayapi die Runde gewonnen. Crow Girl gehörte ihm - wenigstens vorläufig. Kelly hatte nur dann eine Chance, das Mädchen zurückzuerobern, wenn er am Leben blieb. Und die einzige Chance, am Leben zu bleiben, war die Flucht.
Ungefähr in der Mitte des Steilhangs ging nach rechts ein zugewachsener Hohlweg ab. Er führte nicht zur Lichtung hinunter, sondern auf Umwegen zurück auf den oberen Rand des Steilhangs. Kelly sprang über die Böschung und fast drei Meter in die Tiefe und rannte durch den Hohlweg wieder hinauf. Oben angekommen riskierte er einen Blick zurück. Seine Verfolger standen an der Stelle, wo seine Spur im Schnee plötzlich aufhörte, und berieten.
Damit hatte Kelly die Chance, die er brauchte, wenn er seinen Skalp retten wollte. Es würde Zeit kosten, bis Sayapi dazugekommen und auch seine Meinung zu dem wundersamen Verschwinden der Spur geäußert und schließlich begriffen haben würde, dass Kelly nicht vom Boden verschlungen worden war.
Die Hoffnung erwachte von neuem in Kelly. Wenn sie seine Spur gefunden hatten, würde Sayapi die Verfolgung mit allen acht Kriegern aufnehmen, und dann war die Hütte unbewacht.
Wenn es ihm gelingen sollte - Kelly biss die Zähne zusammen und brach den Gedanken ab. Erst einmal das Nächstliegende.
Er griff nach unten und zog den Pfeil durch die Wunde nach vorn, bis die Federn an seinem Ende die Wunde in seinem Rücken berührten. Er brach die eiserne Pfeilspitze ab, hielt die Luft an und schob den Schaft rückwärts durch den Wundkanal. Anschließend vergrub er die beiden Teile unter einem Haufen von Tannennadeln. Sayapi und seine Leute brauchten nicht zu wissen, dass er sich von dem hinderlichen Ding befreit hatte.
Das war innerhalb von zehn Sekunden erledigt, und Kelly verschwand in den tiefen Schatten des Waldes.
24
Die Verfolgungsjagd war mittlerweile eine Stunde alt, und Kelly hatte wieder Oberwasser.
Die Wunde hatte stark geblutet und sich somit selbst gereinigt und gleichzeitig, wie beabsichtigt, eine deutliche Spur im Schnee hinterlassen. Der Blutverlust war allerdings nicht so stark gewesen, dass Kelly davon geschwächt gewesen wäre.
Kelly hatte seine Verfolger mittlerweile weit genug von der Hütte weggelockt. Es war langsam Zeit, Vorsprung zu gewinnen und außer Hörweite ihres Geschreis zu kommen.
Kelly schätzte, dass sich die Krieger an die drei Meilen von dem Steilhang über der Hütte hatten weglocken lassen. Das musste reichen. Er war bisher absichtlich in Schussweite der Rothäute geblieben, aber er durfte das Glück nicht zu lange herausfordern. Der Scout schlug seinen berühmten Wolfstrab an und ließ den Kopf unaufhörlich hin- und hergehen, bis er die rettende Lösung gefunden hatte.
Er kam zu einem gut siebenundzwanzig Meter langem Zedernstamm, der erst vor kurzem umgefallen sein musste, denn er war weder mit Schnee bedeckt noch war die Rinde weich und am Faulen. Dahinter ein kleiner Bach, der den Wildpfad kreuzte, dem Kelly folgte.
Perfekt! Wirklich ideal!
Kelly sprang über den Stamm, ohne den Schritt zu verlangsamen, und holte das Moos aus der Tasche, das er im Laufen von einem Baum gezupft hatte, und stopfte damit beide Enden des Wundkanals zu. Am Rande des Baches blieb er stehen und ging rückwärts zu dem umgefallenen Baumstamm zurück, wobei er vorsichtig in die alten Fußspuren trat. Er hockte sich auf den Stamm, hob beide Beine in die Luft und zog sich die nassen Mokassins aus. Dann sprang er auf den Stamm, lief barfuß bis zu dem Wurzelballen und sprang in das Erdloch, das er hinterlassen hatte. Genau drei Sekunden später tauchte Sayapi mit seiner Meute auf dem Wildpfad auf.
Am Bach angekommen, teilten sich die Indianer. Eine Gruppe suchte bachaufwärts, die andere in entgegengesetzter Richtung nach seiner Spur, während sich Kelly den Schneestaub aus den Augen rieb, seine nassen Mokassins wieder anzog, aus dem Loch kletterte und sich in westlicher Richtung davonmachte. Schon nach ein paar Metern hatte er wieder den Wolfstrab eingeschlagen.
Luther Kelly war sehr zufrieden mit sich.
Mit der Zeit würden die Hunkpapa den Knoten, den er gemacht hatte, entwirrt haben, aber genau diese Zeit brauchte der weiße Scout, um Crow Girl aus der Hütte zu holen, auf eines der Indianerponys zu setzen, sich selbst auf eines zu schwingen, die übrigen zu erschießen und mit seiner geliebten kleinen Frau durch den Südpass zu fliehen.
Zum erstenmal erlaubte sich an diesem Tag der irische Scout bei dem Gedanken den Luxus eines Lächelns.
Sayapi war auf den Köder, den er ausgelegt hatte, hereingefallen wie eine zahnlose alte eiteräugige Squaw, die im Kolonialwarenladen blind nach dem Becher mit braunem Zucker griff und sich einbildete, weißen zu bekommen.
Kelly lachte.
Das Glück schien ihn nicht verlassen zu haben. In spätestens zehn Stunden würde er mit Crow Girl bei dem alten Reed sein. Und anschließend ging es dann durch das liebliche Tal des Yellowstone in das Land der Absaroka.
Zwanzig Minuten später stand Kelly zum zweitenmal an diesem Morgen auf dem Steilhang und sah auf die Blockhütte hinunter. Und zum zweitenmal warf er sich im Bruchteil einer Sekunde flach auf den Bauch.
Der verwitterte Schlund des Südpasses spuckte gerade eine endlose Kette von bemalten Hunkpapa-Kriegern aus. An ihrer Spitze ritt Gall.
Danach ging alles sehr schnell.
Der Kriegshäuptling blieb vor der Hütte stehen, musterte die zurückgelassenen Pferde, stieg ab und ging in die Hütte. Kurz darauf kam er wieder heraus. Er trug Crow Girl in den Armen.
Kelly hörte den Befehl an Black Fox klar und deutlich: »Feure die Signalschüsse ab. Der Narr soll zurückkommen.«
Dann sah Kelly, wie Gall etwas zu Frog Belly sagte. Verstehen konnte er es nicht. Der dicke Indianer stieg vom Pferd, rollte auf dem Boden eine prachtvolle Decke aus Büffelfell aus, und Gall legte das Mädchen vorsichtig darauf. Er nahm ihr die Fesseln an Händen und Füßen ab.
Kelly zog die Mundwinkel nach unten. Gall liebte das Absaroka-Mädchen offensichtlich auf viel achtungsvollere Weise als sein brutaler Neffe.
Black Fox zog eine Winchester 66 aus dem reich verzierten Sattelschuh, hielt den Lauf des glänzenden Repetierers in die Luft und gab die fünf Schüsse ab, die bei den Sioux das Zeichen für »schlechter Zauber« war. Kelly stellte in dem Moment mit Entsetzen fest, dass die ganze Bande von über hundertfünfzig Mann mit 66iger Modellen der Marke Winchester oder mit sechzehnschüssigen Henrys ausgestattet war.
Das Echo der Signalschüsse wurde noch zwischen den Gipfeln der Berge hin- und hergeworfen, als bereits die Antwort von Sayapi kam: vier Schüsse, also »guter Zauber«. Das bedeutete, dass sich Sayapi auf erfolgreichem Pfad glaubte und sich nicht abrufen ließ. Wahrscheinlich hatte also Red Paint den Knoten entwirrt und saß auf der neuen Fährte. Kein angenehmes Gefühl für Kelly, der nicht ahnen konnte, dass im selben Augenblick Hüfe von seinem Gegner kam.
Beim Klang des Signals seines Neffen schnappte sich Gall die eigene Winchester und feuerte voll Wut fünf weitere Schüsse in die Luft. Diesmal dauerte es eine Weile, dann antwortete Sayapi mit fünf Schüssen und kam eine halbe Stunde später mit finsterer Miene und seine acht Krieger im Schlepptau auf die Wiese getrottet.
Nun wurde gehandelt.
Die vier Indianer, die Kelly niedergeschossen hatte, wurden vor die Hütte gebracht. Einer war tot, einer lag im Sterben, zwei waren verletzt.
Anschließend hob Gall beide Arme in die Luft und rief seine engen Berater zu einer Besprechung zusammen.
Mit Hilfe seines Fernglases und des Windes, der günstig stand und den meisten Teil dessen, was gesprochen wurde, zu ihm trug, konnte Kelly die Besprechung fast lückenlos verfolgen. Dazu kam, dass sich die Indianer wie immer ihrer Handzeichen bedienten, von denen nicht eines Kelly unbekannt oder rätselhaft war.
Schon in den ersten paar Minuten begann es Kelly zu grausen.
Nachdem der Kriegshäuptling den Neffen scharf zurechtgewiesen und sich ein für alle Mal verbeten hatte, dass dieser einfach auf eigene Faust handelte, vergab er Red Paint wieder einmal. Der kinderlose Gall hatte eben eine Schwäche für den jungen Mann, der ihm in vielem so ähnlich war. Hauptsache, die Abweichung von seinem Weg zu dem großen Treffen mit Tatanka Yotanka und Tashunka Witka an den Ufern des Greasy Grass hatte sich gelohnt, und er hatte Crow Girl wieder.
Die Augen des weißen Scouts wurden schmal.
Gall tue es leid, erfuhr er anschließend, dass er Sayapi von Lone Wolfs Fährte habe abrufen müssen, aber die Zeit dränge. Der Mai sei zu Ende und das große Treffen, das durch alle Indianerdörfer verkündigt wurde, finde Anfang Juni statt. Jeder einzelne müsse nun persönliche Belange beiseiteschieben und sich ganz und mit allem Fanatismus Sitting Bulls Großem Zaubertraum widmen: seiner großen Vision einer weit angelegten Wikmunke der verhassten weißen Pony-Soldaten und Walk-A-Heaps am Ort des Treffens, also an den Ufern des Greasy Grass. Es sei bekannt, dass Three Stars Crook heimlich vom Süden her den Rosebud heraufgezogen kam. Außerdem, dass Star Terry und Red Nose Gibbon vom Norden her den Yellowstone heraufkämen. Per Boot. Yellowhair Custer sei mutig mit seinen gefürchteten braunen Fahnen, die wie seine weizengelben Locken im Wind von Dakota wehten, aus Fort Lincoln im Osten aufgebrochen. Tashunkas Kriegsplan sei es - geboren aus Tatankas Traum - sie alle kommen zu lassen und sie alle mit der größten Indianerzusammenkunft aller Zeiten zu konfrontieren. Wenn alles so lief, wie Tashunka es Tatanka auseinandergelegt hatte und die Cheyenne und die Arapahoe wie versprochen dazustoßen würden, dann würden die ahnungslosen mila hanska mit groß-erstaunten Augen in ein Kriegscamp von mehr als zehntausend schwer bewaffneten Shacun einreiten.
Diese unfasslichen Tatsachen und Zahlen kamen in so schneller Folge, dass Kelly erst einmal den Kopf schütteln musste, um das unglaubliche Ganze zu einem glaubhaften Teil zu reduzieren.
Dabei kam schließlich heraus, dass die Sioux, Cheyenne und Arapahoe unter Crazy Horse und Sitting Bull sich endlich dazu entschlossen hatten, in einem geplanten und gemeinsamen Kampf gegen die weiße Kavallerie anzutreten, der ihre vollständige Vernichtung zum Ziel hatte.
Greasy Grass war der Little Horn River. Eine wikmunke war eine Falle, die mila hanska waren die Langmesser oder Pony-Soldaten. Die Offiziere, von denen Gall gesprochen hatte und die Anfang Juni an den Ufern des Little Horn River überrascht werden sollten, waren Crook, Terry, Gibbon und Custer.
Jetzt stand Kelly vor der schwersten Entscheidung seines Lebens im Kampf gegen die Indianer.
Er war fest entschlossen, die Spur von Crow Girl bis ans Ende seiner Tage zu verfolgen, wenn es sein musste. Er war aber gleichzeitig geneigt, für kurze Zeit von dieser Spur abzuweichen, um in Fort Buford vorzusprechen und zu melden, was er eben erfahren hatte. Dass aus dem großartigen Plan der Indianer erfahrungsgemäß doch nichts werden würde, war kein Grund, diese Pflicht zu unterlassen.
Als ehemaliger Armee-Angehöriger hatte Kelly keine andere Wahl. Er musste den Sioux bis zum Yellowstone folgen und dann nach Fort Buford abbiegen.
Und im Moment blieb ihm nichts anderes zu tun, als abzuwarten, bis sich die Crow Girl Lichtung wieder geleert hatte.
Es dauerte nur noch knappe fünf Minuten.
Die Besprechung war beendet, Crow Girl wurde auf ein Pferd gehoben, und die Blockhütte wurde angezündet. Kurz darauf waren die Indianer durch den Südpass verschwunden, und Kelly beobachtete mit zusammengebissenen Zähnen, wie der Traum vom Glück für sich selbst und seine kleine grauäugige Absaroka-Frau mit den schwarzen Rauchschwaden der Hütte und der Wolfspelze im Wert von dreitausend Dollar sich im Himmel zu nichts auflöste.
Viertes Buch: THE YELLOWSTONE
25
Der Trupp der Hunkpapa-Krieger folgte nicht dem üblichen Pfad der Indianer, sondern wandte sich nach Osten, um die Snowy Mountains zu umgehen. Sie hatten es offensichtlich nicht eilig, was Kellys Laune einerseits noch mehr drückte, ihm aber andererseits sehr recht war, denn so konnte er, der schließlich zu Fuß war, ohne größeren Kraftaufwand mit den Sioux Schritt halten.
Sie brauchten bis zum Musselshell zwei volle Tage und von dort aus weitere eineinhalb bis zum Yellowstone. Hier, gegen Mittag des vierten Tages, machten sie auf dem saftigen Weideland am Clark's Fork Halt. Da sie ihre Pferde frei herumlaufen und grasen ließen und die Satteldecken ausschüttelten, sah es so aus, als wollten sie ein paar Tage Rast machen oder - was wahrscheinlicher war - eine Großjagd veranstalten. In den letzten vierundzwanzig Stunden waren sie mehreren Büffelherden begegnet, und kein Indianer ist in einem Kriegscamp so willkommen wie einer, der frisches, saftiges Fleisch mitbringt - was Kelly durchaus verstehen konnte. Er seinerseits konnte auf seinem Hügel am Nordufer des Flusses nur beten, dass die Indianer auf der anderen Seite auch tatsächlich nichts anderes vorhatten.
Nach ein paar Minuten ließ Kelly grinsend den Feldstecher sinken.
Die Sache war klar. Die Sioux bereiteten sich darauf vor, auf die Jagd zu gehen. Schmelztöpfe, Kugelblei und Gussformen wurden aus den Satteltaschen geholt. Aus bestickten Schutzhüllen aus Elch- und Antilopenleder tauchten Gewehre vom neuesten Winchester-Modell bis zum ältesten englischen Schießprügel auf und wurden geladen. Wer keine fertige Munition besaß, machte sich daran, sie mit neidischem Blick auf die anderen zu gießen.
Einen zeitlich besseren Glückzufall hätte sich Kelly nicht wünschen können.
Bis die für den Abschuss vorgesehenen Büffel aus den Herden getrieben waren, bis das Wild geschossen, aufgebrochen, abgezogen und transportfähig zerwirkt war, vergingen nicht bloß ein oder zwei Tage. Die Hunkpapa würden mindestens eine Woche, wenn nicht zehn Tage am Clark's Fork campieren, bevor sie zu ihrem Treffen weiterzogen.
Wenn er fünfzig Meilen pro Tag schaffte, konnte Kelly in der Zeit Fort Buford erreichen, seinen Bericht abgeben, sich ein schnelles Pferd leihen und wieder hier auf diesem Hügel liegen und durch sein Glas die geraubte Braut und ihre Hunkpapa-Bewacher beobachten, um ihnen dann bis ans Ende der indianischen Welt zu folgen, wenn es sein musste.
Einen Moment später glaubte Kelly seinen Plan ruiniert. Gall ließ Sayapi zu sich kommen und schickte ihn mit seinen acht ihm immer noch treu ergebenen Kriegern los. Nach dem ersten Schreck hatte Kelly den Sinn des Manövers begriffen: Sayapi sollte vorausreiten und Sitting Bull oder Crazy Horse berichten, dass sich Gall ein paar Tage verspäten würde, weil er noch schnell »schlachten« müsse.
Dass sich Gall durch die Büffelherde von seinem Ziel hatte abhalten lassen, war ein typisches Beispiel für die Zerstreutheit der Flachlandindianer. Kelly konnte dieser Charakterzug seiner roten Brüder im Moment nur recht sein, und er war unterwegs, bevor die erste Ladung flüssigen Bleis in die Formen gegossen wurde.
Kelly machte einen guten Durchschnitt. Er entsprach dem eines Mannes zu Pferd, der zügig, aber nicht hastig ausholte. Bei unkompliziertem Gelände, wie der Scout es im Moment unter den Füßen hatte, schaffte er mühelos seine vier bis fünf Meilen pro Stunde, ohne zu ermüden. Kelly gehörte sowieso zu den Menschen, die lieber zu Fuß unterwegs waren und sich nicht gern auf die Launen und Temperamente von Pferden verließen.
Der Tag war kühl, klar und windstill. Ein Tag wie geschaffen, um eine gute Strecke hinter sich zu bringen. Seine einzige Sorge war, eventuell kleinen Trupps von Indianern zu begegnen, die auf dem Weg zu dem großen Treffen waren. Er musste jeden Moment damit rechnen.
Eine Stunde später war es so weit. Nicht weniger als drei kleinere Banden und eine beachtlich große tauchten auf. Die Männer trugen samt und sonders die schwarz-gelbe Bemalung des Krieges. Es waren Oglala, Minniconju und Brule.
Kelly arbeitete sich zwar auf Schleichwegen weiter, aber wohl war ihm dabei nicht in seiner Haut. Es war ihm etwas zu viel los unterwegs.
Als die fünfte Bande von sechsunddreißig Wolf Mountain Cheyenne dazu kam, gab es Kelly auf.
Er verschwand in dem dichten Ufergestrüpp aus Schilf, Weiden und Erlen. Der Bach war hier so schlammig und modrig, dass er nicht mit einem eventuellen Besuch von Indianern rechnen musste, die nach einem günstigen Platz für ihr Nachtlager suchten. Bis zum Einbruch der Dunkelheit lag er flach auf dem Boden, hörte die Indianer vorbeitrampeln und litt bewegungslos vor sich hin: Schwärme von Bremsen fielen über ihn her und sogen ihm das Blut aus den Poren. Und er konnte nicht zuschlagen!
Immer noch besser, versuchte Kelly sich abzulenken, als die Pfeilspitzen der Wilden da draußen.
Die Frühlingssonne schien am Horizont kleben geblieben zu sein. Die Dämmerung kam Kelly ewig lang vor. Endlich überzog das erste Dunkel der jungen Nacht das glühende Rosa im Westen und das grünliche Blau im Osten.
Eine Stunde später hatte Kelly weitere fünf Meilen hinter sich gebracht. Bei Tagesanbruch konnte er auf insgesamt vierzig Meilen stolz sein und hatte die gefährliche Mündung des Little Horn in den Big Horn River hinter sich.
Und dann erlebte er den angenehmsten Schock seines jungen Abenteurerlebens.
Genau unter dem steinigen, mit Gestrüpp bewachsenen
Hügel, auf dem er lag und mit seinem Fernglas die Umgebung absuchte, graste auf einer fetten Wiese an einem namenlosen Bach der einzige stimmberechtigte Maulesel von ganz Montana. Ein paar Meter von dem Tier entfernt war unter einer Weide das appetitlichste Präriefrühstück gedeckt, das man sich denken konnte.
Laut lachend lief Kelly über den Hügel hinunter, und der selbsterdachte Reim kam ihm wie von selbst über die Lippen.
»Phineas, das freche Aas,
Schlägt den Bauch sich voll mit Gras,
Und ignoriert den armen Hund
Mit trockner Zung' und leerem Schlund.
Doch wie dieser gier'ge Fresser,
Ist sein Meister auch nicht besser.«
Als Big Anse wie angestochen in die Höhe fuhr und dabei seinen Blechbecher mit Kaffee umstieß, wurde Kellys Lachen noch ausgelassener.
Die Begegnung mit Big Anse Harper war so kurz wie sie herzerfrischend war. Keiner der beiden Männer hatte genug Zeit, dem anderen die Erlebnisse des Winters in Einzelheiten zu erzählen. Die dringliche Notwendigkeit trieb sie so plötzlich auseinander, wie der Glückszufall sie zusammengeführt hatte. Der Riese aus Georgia war sofort einverstanden, die schlechte Kunde nach Fort Buford zu tragen, obwohl er lieber mit Kelly weitergezogen wäre, da es sich nun ja erübrigt hatte, in die Judith Mountains aufzusteigen.
Als Kelly dem Freund alle nötigen Einzelheiten des Indianervorhabens eingebläut hatte und überzeugt davon war, dass Big Anse alles korrekt ausrichten würde, drängte er ihn, sich auf den Weg zu machen.
Sie schüttelten sich die Hand.
»Mann, ist das ein Jammer, dass ich nicht mit dir kommen kann«, sagte Big Anse zum Abschied. »Den Rothäuten, die dir deine kleine Indianermiss weggenommen haben, würde ich gern eine überbraten. Das arme Ding. Noch dazu, wo sie jetzt einen kleinen Kelly im Bauch hat.«
Die plumpe Herzlichkeit des grobschlächtigen Mannes rührte Kelly. Er schüttelte ihm nochmals die Hand und wandte sich unter dem Vorwand, die Spuren seines Feuers zu verwischen, schnell von ihm ab.
Big Anse Harper schluckte, sagte aber nichts mehr. Er hievte seine neunzig Kilo auf den Maulesel und trottete flussabwärts davon. Als Kelly über die Schulter schielte - er wollte den Eindruck erwecken, als habe er den Mann schon längst wieder vergessen - sah er, wie Big Anse unter einer Weide stand, wo er sich unsichtbar glaubte und darauf wartete, dass sich Kelly noch einmal umsah.
Aber Kelly sah sich nicht mehr um, und Big Anse ritt weiter.
»A-ah«, brummte Whistling Horse und starrte kopfschüttelnd über den breiten Fluss mit seinen Strudeln. »Ich weiß nicht, ob ich über das Wasser gehen würde oder nicht, Sayapi. Der Befehl deines Onkels lautet anders.«
»He-hau, das ist die Wahrheit, Sayapi«, sagte White Bear, ein anderer von den acht jungen Sioux am Südufer des Yellowstone, neunzehn Meilen unterhalb der Mündung des Big Horn River. »Dein Onkel hat befohlen, sein Wort zu Tashunka am Little Greasy Grass zu tragen. Schon gestern Abend hätten wir da sein sollen. Aber du hast den diebischen Cheyenne glauben müssen. Du bist den Yellowstone hinuntergejagt, weil sie viele Feuer von Pony-Soldaten gesehen haben.« Der junge Krieger machte eine Geste, die Verzweiflung ausdrückte. »Jetzt haben wir die Feuer auch gesehen und sind auf dem Weg zurück, aber immer noch viele Meilen vom Big Greasy Grass entfernt, und jetzt willst du plötzlich nach Norden reiten und den Wolf jagen. Was ist los mit dir, Sayapi? Hast du peyote gekannt?«
»Nein, Sayapi braucht kein peyote, um verrückt zu sein«, sagte der dritte Krieger lachend. »Er hat seinen Hass auf Lone Wolf, und der macht einen heyoka aus ihm.«
Sayapi, der die ganze Zeit über mit gerunzelter Stirn über den Fluss geblickt hatte, drehte sich zu seinen unruhigen Gefährten um.
»Hört mich«, sagte er ruhig. »Es sitzt schon die ganze Zeit in meinem Kopf, dass uns Lone Wolf aus dem Gebirge gefolgt ist. Vielleicht ist er da hinten versteckt und beobachtet das Camp meines Onkels und Crow Girl, das wir ihm wieder abgenommen haben. Dass ich geschworen habe, mir seinen Skalp zu holen, wisst ihr. Ich will bloß einen Umweg in Kreisform machen, um zu sehen, ob wir seine Fährte finden.«
»A-ah!«, jammerte Whistling Horse. »Jemand muss doch Tashunka das Wort deines Onkels bringen. Du magst ein großer Narr sein, Sayapi, aber ich bin es nicht. Ich habe Angst vor deinem Onkel.«
»Ich auch«, sagte White Bear. »Und auch vor Tashunka.«
»Das ist gut!«, rief Sayapi. »Jemand wird Tashunka das Wort meines Onkels bringen. Du und du!« Er deutete auf Whistling Horse und White Bear. »Ihr seid die Richtigen. Eure Herzen sind zu schwach für die Jagd nach dem Wolf. Wir sind froh, wenn ihr uns nicht stört. Sagt Tashunka, dass ich ihm zum Zeichen meiner Entschuldigung das lange schwarze Haar des Lone Wolf bringe. Nohetto. Reitet!«
»Wasta!«, sagte der kluge Whistling Horse, froh, der lästigen Pflicht enthoben zu sein, immer hinter Sayapi herzureiten.
»Wagh!«, sagte White Bear, der es genau wie sein Freund satt hatte, hinter Luther Kelly herzureiten. »Gute Jagd!«, rief er den Kriegern zu, die Sayapi begleiten sollten. »Wir sehen euch sechs Narren am Greasy Grass wieder. Oder wenigstens die, die Lone Wolf am Leben lässt.«
Die anderen wussten keine Antwort auf die spöttische Bemerkung. Schweigend saßen sie auf ihren Pferden und sahen Whistling Horse und White Bear nach, bis die beiden Krieger durch die Furt geritten und aus ihrem Blickfeld verschwunden waren.
Zehn Minuten später, auf einer lichten Anhöhe am Nordufer, hielten sie plötzlich die Pferde an.
Vergnügt pfeifend, die großen Mokassins fast auf dem Boden schleifend, kam auf einem Maulesel ein Mann auf sie zu, den sie gut kannten.
Und der auch sie gut kannte, aber erst erkannte, als er die leuchtend blauen Augen gegen den Schein der Morgensonne abgeschirmt hatte. Dann jedoch war es schon zu spät.
»Es ist der rothaarige Riese«, sagte einer der Hunkpapa. »Hat er nicht eine schöne Axt im Gürtel?«
»Der Esel ist auch nicht schlecht«, sagte ein anderer.
»Und das Gewehr«, grinste ein dritter. »Was sagst du, Sayapi?«
»Dass er Lone Wolfs Freund ist«, sagte der junge Mann ruhig. »Begrüßen wir ihn, als ob er Lone Wolf selbst wäre.«
26
Sayapis Krieger trieben die müden Pferde unbarmherzig weiter. Sie hatten andere Probleme, als die Tiere zu füttern oder zu tränken.
Zumindest drei von ihnen.
Die anderen drei, den finsteren Sayapi ausgenommen, würden nie mehr Probleme haben, denn zwei waren tot, und der dritte hatte einen schweren Schock und würde den Abend nicht erleben.
Sayapi ritt voraus. Als er einmal zurücksah, wurde sein Blick noch finsterer.
Der plötzliche Aufbruch seiner Freunde in das Sioux-Land des Großen Schattens entbehrte nicht einer gewissen bösen Poesie der Gerechtigkeit, aber es war nicht leicht, sich mit dieser bitteren Logik zu trösten.
Lame Elk, derjenige, der sich auf die Axt des Riesen hatte stürzen wollen, hatte sie zu spüren bekommen - quer durch den Schädel. Und Antelope Boy, dem blutjungen Krieger, der versucht hatte, die alte Sharps des großen rothaarigen Mannes an sich zu reißen, hatte die Kugel vom Kaliber .50 die Eingeweide zerfetzt und das Rückgrat zerschlagen. Vom Nabel nach unten zu Eis erstarrt, saß er auf seinem Pferd, und das Leben lief ihm aus dem Loch in seinem Bauch. Und
Yellow-Eye Wolf, der junge Mann, der den knochigen Maulesel hatte haben wollen, hatte auch seinen Preis bezahlt. Mit seinem letzten Atemzug und dem letzten Augenlicht hatte der große weiße Mann den Krieger vom Pferd geschlagen und unter die Eisenhufe des Maulesels getrieben, der das vollendet hatte, was der Gewehrkolben angefangen hatte. Nicht einmal Yellow-Eye Wolfs Mutter würde ihren Sohn wiedererkennen.
Und deshalb waren Sayapis Rachegelüste größer denn je. Lone Wolf und alle Wasicum mussten getötet werden.
In seine mörderischen Gedanken versunken, hatte Sayapi nicht das sonst so wachsame Auge und seinen sonst so feinen Instinkt. In sich zusammengesunken führte er seine drei toten und die drei lebenden Krieger am Nordufer des Yellowstone entlang auf die Mündung des Big Horn River zu. Als er kurz vor Mittag ein paar Meilen südlich des Greasy Grass durch einen friedlich dahinplätschernden Bach ritt, streifte sein Blick nicht einmal das gegenüberliegende, dicht bewachsene Ufer. Er trieb sein schwarz-weiß-geschecktes Pferd durch das flache Wasser, die brennenden Augen geradeaus gerichtet.
Die drei Krieger hinter ihm waren genauso deprimiert und mit sich beschäftigt. Und die drei, die wiederum dahinter kamen, wurden mit hängenden Armen und Beinen von ihren Pferden weitergetragen.
Keine zehn Meter davon entfernt, hinter einem Erdhaufen im Schilf, lag Luther Kelly und schlief tief und fest.
Die blutige Axt im Gürtel des ersten Kriegers sah er nicht.
Auch nicht die langläufige alte Sharps in der Hand des zweiten.
Noch den Maulesel, den der dritte hinter sich herzog.
Und erst recht nicht den Skalp von roten Haaren, der an Sayapis Sattel hing und von Fliegen übersät war.
Zwanzig Sekunden später hatten die Sioux den kleinen Bach durchritten. Die Rotkehlchen und die Rotdrosseln, die plötzlich- geschwiegen hatten, fingen wieder an zu schnattern und zu schwätzen. Die Sonne glitt auf die Gipfel der Big Horns, der Little Belts und der Bear Paws zu, und Kelly wachte plötzlich auf. Nach fünf Tagen und vier Nächten Schlaflosigkeit war er wieder voll bei Kräften. Dass er die Sonne hinauf und hinunter geschlafen hatte, kümmerte ihn wenig. Dank Big Anse hatte er alle Zeit, die er brauchte.
Kaffee wagte er sich keinen zu kochen, aß aber heißhungrig von dem Brot und dem gekochten Schweinefleisch, das ihm der gutherzige Mann aus Georgia dagelassen hatte.
Zehn Minuten später war auch er unterwegs Richtung Westen.
Antelope Boy lebte immer noch, als ihn Kelly am darauffolgenden Morgen kurz nach Sonnenaufgang an dem verlassenen Lagerplatz der Hunkpapa fand. Die Geschichte, die der junge Krieger erzählte, war so seltsam wie die echoschwangere, totenstille Leere.
»Wer bist du?«, fragte der sterbende Krieger, als Kelly in der Öffnung des kleinen Zelts aus Büffeldecken stand, das Gall für den Hunkpapa hatte aufstellen lassen. »Ich kann deinen Schatten zwischen mir und meiner letzten Sonne sehen, aber dein Gesicht ist nicht klar. In dem hellen Licht ist Finsternis um dich herum. Bist du es, Sayapi? Bist du zu deinem Freund zurückgekommen? Oder Buffalo Child? Oder Pesala? Oder Broken Hand?«
»Nein, ich bin es«, sagte Kelly. »Lone Wolf.«
»Lone Wolf!«, rief der Krieger. »Bist du gekommen, um mich zu töten für das, was wir gestern getan haben?«
Kelly fragte nicht, was gestern geschehen war, und der Sterbende sprach nicht von sich aus über den Zwischenfall, für den sich jeder schämen musste. Die Gelegenheit glitt vorbei, und der weiße Scout erfuhr nicht, dass seine Nachricht nicht nach Fort Buford getragen worden war.
»Nein, ich bin nicht gekommen, dich zu töten«, sagte er. »Niemand wird dich töten. Du bist bereits getötet, weißt du das nicht?«
»Doch«, sagte der junge Krieger tapfer. Er zögerte einen Moment. »Kannst du hereinkommen, Lone Wolf, und bei mir sitzen? Kannst du mit mir sprechen und darf ich deine Hand berühren?«
Kelly kam in das Zelt und berührte die Hand des Jünglings. »Ich bin hier«, sagte er. »Hab keine Angst.«
»Ich habe keine Angst.«
»Wie heißt du? Wie wirst du genannt.«
»Antelope Boy.«
»Das klingt wie der Name deiner Kindheit. Hast du noch nicht deinen vollen Namen?«
Der junge Sioux schüttelte den Kopf, und die Spur eines scheuen Lächelns huschte über sein gequältes Gesicht. »Ich sollte meine Mannhaftigkeit nach dem Kampf am Greasy Grass bekommen. Es sollte von den Taten abhängen, die ich dort vollbringen sollte.«
Kelly tätschelte Antelope Boy die Hand. »Das mit dem Namen ist nicht so schlimm,«, sagte er unbeholfen. »Du bist ja kaum siebzehn.«
»Nein!«, sagte der Jüngling stolz. »Ich bin fast achtzehn.«
Kelly berührte die Stirn des Sterbenden und zog unwillkürlich die Hand zurück. Sie war feuchtkalt, und der Scout wusste, dass die Zeit knapp war.
»Bist du einer von Sayapis Kriegern?«, fragte er. »Einer von den acht Männern, die ihm nach dem Kampf auf meiner Wiese blieben?«
»Ja, aber wir sind nur noch fünf. Und bald werden es nur noch vier sein. Es war drunten am Fluss.«
»Aha«, sagte Kelly. »Und wo ist Sayapi jetzt? Und Gall und Crow Girl, wo ist H'tayctu Hopa? Wo sind die anderen Krieger?«
Wieder ein flüchtiges Lächeln. »War das ihr Name? H'tayctu Hopa? Wie schön und weich er klingt, wenn man ihn flüstert. Sie war ein gutes Mädchen, Lone Wolf. Ich habe sie sehr gern gemocht. Tapfer und stark. Eine gute Frau. Trägt sie dein Kind?«
»Ja. Bitte, sage mir, was ich dich gefragt habe!«
»Das wenige, das ich weiß, gern. Kann ich zuerst einen Schluck Wasser haben?«
»Hier.« Kelly machte die Feldflasche auf und hielt sie dem Sterbenden an die Lippen.
Antelope Boy trank gierig. Kelly biss die Zähne zusammen und sah weg. Das Wasser lief dem Jüngling aus der großen Wunde im Bauch und ergoss sich über den blutverschmierten Lendenschurz.
»Danke. Kannst du meinen Kopf etwas hochstützen? Das Blut steigt in meine Kehle, wenn ich spreche.«
Kelly tat es. Zwischen Husten und Keuchen kamen die Worte heraus. Die kurze Geschichte war schnell zu Ende, und das Leben des Jünglings mit ihr.
Sayapi war gegen zwei Uhr nachts in das Camp geritten und hatte sich sofort schlafen gelegt. Und als im Morgengrauen das Camp wach wurde und sich die Männer zur Jagd aufmachen wollten, da war Sayapi nirgends mehr zu sehen.
Er war weg. Und mit ihm zwei von Galls besten Pferden, seine berühmte eisengraue Stute und der blauschwarze Hengst. Außerdem fehlte ein Maultier, das mit Zucker, Salz, Dörrfleisch, Munition und Ersatzdecken beladen war. Und das hübsche Crow Girl war auch weg.
In rasendem Zorn hatte Gall die Jagd abgeblasen und seinen Kriegern befohlen, ihm zu folgen. Der Häuptling hatte bei den Göttern geschworen, dass Sayapi sterben sollte. Er hatte sein Messer gezogen, die Klinge geküsst und nur ein Wort gesagt - hinmangas. Und jeder hatte in dem Moment gewusst, dass Sayapi so gut wie tot war. Das grausame Messerduell würde er nie überleben, wenn der große Gall sein Gegner war. Aber als Gall beide Arme hoch in die Luft erhoben und somit das Zeichen zum Aufbruch gegeben hatte, in dem Augenblick war ein Reiter auf einem halbtoten Pferd in das Camp geritten gekommen. Er war ein Bote des großen Tashunka Witko gewesen und hatte große Nachricht gebracht.
Tashunka habe, sagte der Bote, das Lager des alten Three Stars Crook ausfindig gemacht und glaube, dem verhassten weißen General den roten Skalp abnehmen zu können. Jeder, der diese Kunde höre, müsse sofort zu Tashunkas Unterstützung kommen. Er, Tashunka, würde so lange wie möglich warten, glaube aber nicht, dass Three Star Crook länger als zwei Wochen in dem Lager bleibe. Er schlage seinen Pferden Eisenschuhe an die Hufe, und das bedeute, dass er weiterziehen wolle.
Einen solchen Befehl konnte kein Kriegshäuptling missachten.
Gall nahm seine Krieger von der Spur Sayapis und führte sie ostwärts und südwärts.
Seit zwei Stunden waren sie nun weg. Und Sayapi ungefähr seit fünf Stunden. Der Neffe des Häuptlings hatte starke Pferde und der langbeinige knochige Maulesel schien den Pferden in nichts nachzustehen. Und Sayapi, das wusste jeder, ritt wie ein Comanche und war sicher schon weit weg.
In welche Richtung er geritten sei?
Das wisse niemand.
Kelly bedankte sich bei Antelope Boy und ließ den Kopf des Jünglings vorsichtig auf die zusammengerollte Decke sinken. Die zweite Decke des jungen Sioux war mit einem Sattelsack voll Dörrfleisch, Salz, Tabak und Munition auf sein Kriegspferd geschnallt, das vor dem Sterbezelt angebunden war und Gras fraß. Man hatte ihm das Pferd gelassen, weil es nach Sitte der Indianer seinen Meister über den steilen Pfad in die endlosen Büffelweiden des Wanagi Yata tragen sollte. Von seinem Gewehr abgesehen war für einen Krieger der Prärie-Indianer sein Pferd der kostbarste Besitz.
»Bitte, nimm mir nicht mein Pferd«, bat deshalb jetzt Antelope Boy. »Du willst mich doch nicht zu Fuß auf den langen Weg schicken.«
Kelly sagte nichts, er klopfte dem jungen Mann nur beruhigend auf die Schulter.
Antelope Boy sah ihn dankbar an. »Gib ihm noch etwas Wasser, bevor du gehst. Und mach den Strick des Pferdes etwas länger. Ich habe länger zum Aufbruch gebraucht, als meine Brüder dachten. Ich fürchte, dass er schon alles Gras gefressen hat, das seine Zähne erreichen konnten.« Ein Lächeln zog über sein Gesicht. »Es heißt Spotted Eagle, aber ich habe es oft Whistler genannt, weil es nach einem langen Ritt so seltsam in seinen Lungen pfeift. Es klingt wie aus einer Weidenflöte. Spotted Eagle kann einen ganzen Tag laufen und nur die Luft essen und den Wind trinken. Es ist ein gutes Tier.«
Mit diesen letzten Worten über sein geliebtes Pferd schloss Antelope Boy die bereits toten Augen, seufzte tief auf und lag still.
Kelly stand auf, aber der Jüngling sagte noch etwas.
»Lone Wolf?«
»Ja, mein Bruder?«
»Lässt es dein Herz zu, dass du noch etwas für einen Feind tust?«
»Du bist nicht mein Feind«, sagte Kelly und kniete sich neben Antelope Boy. »Wenn der Große Unbekannte kommt, sind alle Menschen Freunde. Ich bin bei dir, weil ich dein Freund bin.«
»Ja, ich spüre, dass du mein Freund bist und bin glücklich. Es ist jetzt dunkel und sehr kalt, aber ich habe keine Angst, weil du bei mir bist. Du wirst mir sicher den letzten Gefallen tun, weil du ein echter Freund bist, der bei mir bleibt.«
»Du musst mir nur sagen, was ich für dich tun soll.« Kelly nahm die kalten Hände des Jünglings und wärmte sie.
»Vielen Dank, Lone Wolf. Es kann noch lange dauern bis zu meinem Aufbruch, weil mein Herz jung und stark ist. Der Schmerz in meinem Leib ist groß. Unter meinem Kopf liegt mein Gewehr. Es ist gut und zielt sicher. Du würdest mir einen großen Gefallen...«
»Sag nichts mehr«, murmelte Kelly, zog die Waffe unter der Decke vor und stand auf. »Du würdest für mich bestimmt dasselbe tun, Antelope Boy.«
»Woyuonihan, Lone Wolf«, sagte der Jüngling mit grauen Lippen. »Ich grüße dich...«
»Woyuonihan«, sagte Kelly und schoss ihn in den Kopf.
27
Dass er es war, der auf den Jüngling gestoßen war und ihn erlöst hatte, war für Kelly ein weiterer Beweis, dass das Glück auf seiner Seite war. Hätte Antelope Boy nicht sterben müssen, so wäre Kelly nie zu dem ausgezeichneten Pferd und den Vorräten gekommen, die den Toten auf seiner langen Reise in das Große Jenseits stärken
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Authors/Apex-Verlag. Copyright der bibliographischen Notiz by Dr. Karl Jürgen Roth.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Peter Sladek.
Translation: Otto Kuehn, Peter Cornelius, Dolf Strasser, Elisabeth Böhm, Christian Dörge (Original-Zusammenstellung).
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 02-21-2019
ISBN: 978-3-7438-9733-5
All Rights Reserved