SAM MERWIN jr.
DIE ZEIT-AGENTEN
- Galaxis Science Fiction, Band 3 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE ZEIT-AGENTEN
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Das Buch
Gegenwart und Zukunft bekämpfen sich – in einer Welt der Vergangenheit...
Da war es wieder, dachte sie - wieder einer dieser seltsamen Anachronismen, wie sie so oft in den Arbeiten und Worten von Gnaius Laconius auftauchten. Während sie mit halbem Ohr auf seine dahinfließenden Hexameter lauschte, dachte sie über ihn nach.
Sie vergegenwärtigte sich die Schnitzer, die er sich geleistet hatte. Da war zum Beispiel der Abend im Palast von Berenice Agrippina, wo er im Laufe einer Unterhaltung ein Skalpell erwähnt hatte - ein Werkzeug, das auf dieser Welt völlig unbekannt war, ja für das es nicht einmal den nötigen Stahl gab. Und dann jener Nachmittag auf dem Forum, wo er in einem Gespräch mit dem jungen Decimus Juvenalis, der kürzlich zum Militärtribun ernannt worden war, den Vergleich schnell und tödlich wie eine Kriegsrakete verwendet hatte. Decimus Juvenalis hatte ihn verblüfft angesehen und war dann darüber hinweggegangen.
Und jetzt Lichtgeschwindigkeit. Sie sah den Dichter aus zusammengekniffenen Augen an und suchte nach anderen Spuren seiner Fremdheit. Aber Gnaius mit seinen weichen Wellen, den weibischen Gesten, seinem Duft nach asiatischem Parfüm, schien der typische aristokratische Dichterling aus dem Kaisertum des Vespasian.
Und doch war das alles Maske. Intuitiv musste sie das von Anfang an gewusst haben. Auch in seinen Versen lag eine exotische Note, obwohl sie genau den Regeln der Dichtkunst seiner Epoche entsprachen.
DIE ZEIT-AGENTEN von SAM MERWIN JR. erscheint als dritter Band der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
DIE ZEIT-AGENTEN
Prolog
Der alte Mann legte seine weißen aristokratischen Hände, auf denen die Adern blau hervortraten, auf den beinahe prunkvoll wirkenden Schreibtisch und beugte sich leicht nach vorne, als wollte er damit Elspeth Marriner besonders deutlich machen, wie wichtig das war, was er ihr zu sagen hatte. Seine tiefliegenden Augen richteten sich auf sie.
»Meine Liebe, infolge besonderer Umstände werde ich Sie nun zum ersten Mal allein ausschicken.«
Einer weiteren Erklärung bedurfte es nicht. Elspeth war sich völlig darüber im Klaren, was Mr. Horelles Bemerkung zu bedeuten hatte. Wenn sie auch noch keine dreißig Jahre alt war, war sie doch schon eine Wächter-Veteranin, eine jener ausgewählten kleinen Gruppe, deren Lebenswerk darin bestand, auf jeder der Parallelwelten der Erde als Spezialagent zu arbeiten, wenn die Umstände dort ihre Dienste erforderten.
Die übliche Politik der Wächter war es, in Gruppen von zwei oder mehr zu arbeiten - und das in enger Zusammenarbeit mit den sorgfältig ausgewählten Lokal-Agenten, die auf den jeweiligen Welten lebten. Auf den früheren Missionen, die sie für Mr. Horelle erfüllt hatte, hatte Elspeth mit einem Mann namens Mack Fraser, einem ehemaligen Boxchampion, der die Laufbahn eines Zeitungsfotografen aufgenommen hatte, zusammenzuarbeiten. Wenn auch ihre Beziehungen zu Mack alles andere als harmonisch waren, so hatte sie sich doch an ihn gewöhnt und empfand jetzt unbestimmt, wie hilflos sie sich ohne ihn vorkommen würde.
Aber das durfte sie Mr. Horelle gegenüber natürlich nicht zugeben. Sie wusste, dass er in seiner tiefen Menschenkenntnis bereits ihre Gefühle erkannt und als unwichtig abgetan haben musste. So hielten ihre blauen Augen dem Blick des Chefwächters stand, als sie sagte: »Wo braucht man mich?«
Elspeth war für die Spur eines Lächelns dankbar, die um die Lippen des alten Mannes spielte. Sie hatte das gesagt, was er von ihr erwartet hatte. Er fuhr sich mit seiner beinahe durchsichtig wirkenden Hand über die Stirne und begann dann:
»Meine Liebe, ich schicke Sie diesmal zu einer neu entdeckten und recht interessanten Version unserer Erde. Diesmal wird Ihre Mission weder militärischer noch politischer Art sein - ich schicke Sie lediglich als Beobachter.« Seine schmalen Finger strichen liebkosend über den Himmelsglobus, der auf seinem Schreibtisch stand.
»Wir haben ziemlich lange gebraucht, um diese Welt zu entdecken«, fuhr er fort, »vielleicht aus dem Grunde, weil sie und die nahe parallel liegenden Welten durch eine seltsame kosmische Wolke unseren Instrumenten teilweise verborgen geblieben waren.«
»Herr im Himmel!«, rief Elspeth aus. »Dann muss diese Welt aber ziemlich weit zurück sein.«
»Das ist sie auch«, meinte Mr. Horelle wieder mit einem leisen Lächeln. »Und doch bin ich überzeugt, dass sie gerade dadurch für Sie besonders faszinierend sein wird. Antik -,so heißt der Planet, dem Sie zugeteilt sind, und Sie werden die Gründe für diese Namensgebung gleich verstehen - hat praktisch zweitausend Jahre seiner Geschichte versäumt.«
»Dann klingt das ja beinahe wie eine Zeitreise!«, rief Elspeth aus.
»Ihre Transition wird Sie in eine Welt führen, die etwa der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts entspricht«, lächelte Mr. Horelle, der sich offenbar über Elspeths Begeisterung freute. »Der Unglücksfall, der seine Entwicklung aufgehalten hat, hat das Leben auf den zwei Dutzend nächstliegenden Planeten völlig zerstört.«
»...und doch hat, in weiterem Sinne gesehen, diese fürchterliche Katastrophe auch ihre Glücksseiten«, fuhr der alte Mann fort. »Natürlich müssen wir aus dieser Entdeckung einen Nutzen ziehen - eine antike Welt, die tatsächlich gleichzeitig mit unseren modernen Welten existiert. Wenn ich selbst noch zu einer Transition fähig wäre, können Sie sich darauf verlassen, dass ich mir die Gelegenheit nicht entgehen ließe, die ich jetzt Ihnen anbiete.«
Elspeth konnte nur nicken, während sie im Stillen überlegte, was vor ihr lag. Hier, so dachte sie, war eine Welt für Dichter - für Dichter und Liebende, nicht für Ingenieure und Händler. Hier war die Welt von Horaz, Ovid, Virgil und Catull...
Mr. Horelle riss sie aus ihrem Traum. »Unglücklicherweise kennen wir die Folgen noch nicht ganz, die die Existenz einer solchen Parallelwelt bringt. Es kann durchaus sein, dass sie für die übrigen Welten gar nicht angenehm oder nützlich sein werden. Ich möchte daher Sie, meine Liebe, bitten, sorgfältig auf alle Anachronismen zu achten und aufzupassen, ob Ihnen irgendetwas dort unpassend oder nicht zeitgemäß erscheint.«
»Ich verstehe«, nickte Elspeth. »Ich nehme an, dass meine erste Station Rom sein wird.« Als Mr. Horelle nickte, fuhr sie fort. »Wo soll die Transition sein - auf dieser Seite des Ozeans?«
Wieder lächelte Mr. Horelle. »Kaum«, sagte er, »es sei denn, Sie wollen hinüberpaddeln. Ich habe bereits alle Vorbereitungen für Ihren Flug nach Sizilien getroffen. Dort ist Ihr Transitionspunkt - etwa in der Mitte zwischen Messina und dem Ätna.«
Elspeth nickte. Diese Transitionen zwischen den Welten waren äußerst delikat und manchmal sogar gefährlich. Wie hatte doch Mack Fraser einmal nüchtern erklärt: »Mich erinnert das jedes Mal an eine Landung auf einem Flugzeugträger - ganz gleich, wie viele man davon macht, man gewöhnt sich nie daran.«
Mr. Horelles Haus, das auf einer kleinen Insel in der Nähe von Kap Hatteras lag, war einer der Transitions-Schlüsselpunkte in der westlichen Hemisphäre. Wichtige Ereignisse in der Geschichte der Menschheit ebenso wie die Kräfte der Natur, wirkten zusammen, um Transitionspunkte entstehen zu lassen.
Mr. Horelle hatte das Elspeth und Mack Fraser folgendermaßen erklärt, als die beiden zum ersten Mal nach Spindrift Key gebracht worden waren, um dort eine Reportage für die Picture Week zu schreiben: »...es bedarf viel größerer Kräfte, als ein einzelner ausüben kann, um das Raumzeitkontinuum, in dem unser Universum existiert, aufzusplittern.«
»Eine Nova, die Zerstörung eines Planeten, all diese Vorgänge drücken dem Kontinuum ihren Stempel auf. Eine Weile nach solchen Vorkommnissen - die Zeitspanne ist verschieden, je nach dem Schock, den das Kontinuum erlitten hat - bleibt eine Berührungszone, durch die jene, die das Geheimnis des Schlüssels kennen, Transitionen zwischen den Welten durchführen können.«
»Aber was ist denn hier passiert?«, hatte sich Mack Fraser respektlos erkundigt. »Auf diesem gottverlassenen Stückchen Erde?«
Und Mr. Horelle hatte es ihnen erklärt. »Spindrift Key ist eine dreifache Berührungszone. Vor beinahe vier Jahrhunderten landete Sir Walter Raleigh auf der Rückreise nach England hier, nachdem er die Kolonie bei Roanoke gegründet hatte. Er entschied, dass diese Insel und das dahinter liegende Festland als Platz für seine Kolonie sicherer und günstiger sei. Er hatte die Absicht, sie nach hierher zu verlegen, ehe er nach England zurückkehrte.«
»Und...?«, hatte Elspeth sich erkundigt.
Und Mr. Horelles Antwort: »Auf einer unserer unmittelbar anliegenden Welten war es Raleigh gelungen, die Kolonie zu verlegen. Seine Kolonie überlebte, und die ganze Geschichte des Kontinents änderte sich. In der Welt, von der Sie kommen, lagen Umstände vor, die ihn daran hinderten, das zu tun. Die Roanoke Kolonie ging - sich selbst überlassen - zugrunde.«
Er beugte sich vor. »Besonders wird Sie vielleicht die dritte Episode interessieren. In nicht allzu ferner Vergangenheit, als ein Bruderpaar namens Wilbur und Orville Wright in der Nähe von Kittyhawk mit einer selbstgebauten Flugmaschine experimentierten, fertigten sie eine Anzahl ihrer wichtigsten Pläne in diesem Raum hier. Ich glaube, Sie können sich selbst denken, welche Bedeutung diese Entdeckung hatte.
Jedenfalls«, schloss er, »ist Spindrift Key vielleicht der stärkste Berührungspunkt auf diesem Kontinent. Dass es außerdem noch ein jahreszeitenbedingtes Sturmzentrum ist, verstärkt diese Tendenz nur. So ist es tatsächlich ein mehrfaches Tor zu parallelen Welten...« Elspeth dachte an jenen Augenblick in diesem Zimmer zurück, der ihr weiteres Leben so verändert hatte. Seit sie ein Wächter geworden war, fand sie wenig Zeit, Gedichte zu schreiben oder Artikel für die Picture Week. Statt über aufregende Vorkommnisse zu schreiben, erlebte sie sie selbst - und doch schien keine jener anderen Welten, die Elspeth im Laufe ihrer Tätigkeit schon besucht hatte, ihr ein solches Maß von interessanten Dingen zu bieten wie dieser Planet Antik, der diesmal ihr Ziel war. Sie blickte zu Mr. Horelle auf und fragte: »Mit wem soll ich nach meiner Ankunft in Verbindung treten?«
»Ich glaube, dass Sie den Lokal-Agenten kennen werden - aus der Geschichte natürlich«, erklärte der alte Mann. »Sein Name ist Plinius, Plinius der Ältere - und ich habe gehört, dass er sowohl intelligent als auch hilfsbereit ist - wenn er auch die Theorie der Transition zwischen den Welten noch nicht ganz versteht. Ich nehme an, Sie werden mit ihm auskommen.«
Elspeth dachte wieder an den Mann, der früher ihr Partner gewesen war - wenn sie auch mit Mack Fraser nicht immer gerade glänzend ausgekommen war. Sie nahm ihre Zuflucht zu einer direkten Frage: »Mr. Horelle, warum kommt Mack diesmal nicht mit?«
»In erster Linie«, antwortete er gemessen, »weil Mack anderswo gebraucht wird. Ihre Mission ist diesmal vornehmlich kultureller Art. Sie sprechen die klassischen Sprachen, kennen die Geschichte und die Kunst der damaligen Zeit...«
»Ich bin nur neugierig«, überlegte Elspeth, »welche Theorie über die lateinische Aussprache nun stimmt.«
»Wahrscheinlich keine von allen«, lächelte Mr. Horelle. »Aber vielleicht können wir uns darüber unterhalten, wenn Sie zurückkommen.« Elspeth fühlte, dass sie damit entlassen war. Sie stand auf und sagte: »Ich freue mich schon darauf. Und vielen Dank, Sir, für den Auftrag.«
Wieder spielte das Lächeln um seine Lippen, und er hob die wächserne Hand zum Abschied. »Vergessen Sie nicht, meine Liebe: achten Sie auf Anachronismen. Wir wissen wirklich sehr wenig über diese Welt. Und - Elspeth, das ist das wichtigste - passen Sie gut auf sich auf.«
»Ich werde schon aufpassen«, sagte sie. Sie wusste, dass Mr. Horelle ebenso wie sie an Juana Brooks dachte, die Mack und sie durch ihre erste Mission gesteuert - und dafür mit ihrem Leben bezahlt hatte.
Sie konnte sich gut an die dunkle, lebhafte Juana erinnern und an das Unglück, das ihr den Tod gebracht hatte. Sie war von der Hand eines degenerierten Mannes auf einer degenerierten Welt gestorben, eines Mannes, der nicht gezögert hatte, jene tödlichste aller Handwaffen, den Desintegrator, gegen sie einzusetzen. Auch er war gestorben. Aber sein Tod hatte Juana Brooks nicht mehr zum Leben erwecken können.
Elspeth verabschiedete sich von dem alten Butler, der Mr. Horelle und Spindrift Key seit mehr als vier Jahrzehnten diente. Sie verließ die schöne alte weiße Villa, die wie ein Juwel mitten in einem wunderbar gepflegten Rasen lag. Jedes Mal, wenn sie dieses Haus verließ, das sie mehr als alles andere auf der Welt liebte, fragte sich Elspeth, ob sie es wiedersehen würde.
Als sie an Bord des Motorbootes ging, versuchte sie sich an einige? zu erinnern, was sie über das Rom des ersten nachchristlichen Jahrhunderts wusste. Die Flavier unter der Führung von Vespasian hatten zwar Ordnung in das Chaos gebracht, das Nero ihnen hinterlassen hatte, aber Rom war immer noch ein gefährliches Pflaster. Sie würde sich in sehr starkem Maße auf den Lokal-Agenten, Plinius den Älteren, verlassen müssen. Sie fragte sich, ob er wirklich so steif war, wie sie ihn aus seinen Schriften in Erinnerung hatte.
Erstes Kapitel
Elspeth Marriner lehnte sich auf ihrem niedrigen Diwan aus Elfenbein und Ebenholz zurück und versuchte sich damit abzufinden, dass die nächsten fünfzehnhundert Jahre noch nicht mit der Entdeckung des Tees gerechnet werden dürfte. Der Krug Marsalawein, den Gnaius Laconius ihr durch seinen Leibsklaven Cratus geschickt hatte, brannte in der Kehle - besonders im Vergleich mit dem vorzüglichen Falerner, der im Weinkeller der Villa lagerte.
Und doch musste sie ihn aus Höflichkeit für Gnaius Laconius trinken, der jetzt an einer der neo-korinthischen Säulen lehnte und ihr eine Ode vortrug, die er zu ihren Ehren gedichtet hatte.
Mit einer Geste, die leidenschaftlich wirken sollte - jedoch so abgezirkelt war, dass keines seiner pomadisierten Löckchen in Unordnung geriet, deklamierte er in flüssigem Latein »...dein Atem weich wie helle Sommernächte, erwecket schneller als das Licht die Liebe, die ich...«
Da war es wieder, dachte sie - wieder einer dieser seltsamen Anachronismen, wie sie so oft in den Arbeiten und Worten von Gnaius Laconius auftauchten. Während sie mit halbem Ohr auf seine dahinfließenden Hexameter lauschte, dachte sie über ihn nach.
Sie vergegenwärtigte sich die Schnitzer, die er sich geleistet hatte. Da war zum Beispiel der Abend im Palast von Berenice Agrippina, wo er im Laufe einer Unterhaltung ein Skalpell erwähnt hatte - ein Werkzeug, das auf dieser Welt völlig unbekannt war, ja für das es nicht einmal den nötigen Stahl gab. Und dann jener Nachmittag auf dem Forum, wo er in einem Gespräch mit dem jungen Decimus Juvenalis, der kürzlich zum Militärtribun ernannt worden war, den Vergleich schnell und tödlich wie eine Kriegsrakete verwendet hatte. Decimus Juvenalis hatte ihn verblüfft angesehen und war dann darüber hinweggegangen.
Und jetzt Lichtgeschwindigkeit. Sie sah den Dichter aus zusammengekniffenen Augen an und suchte nach anderen Spuren seiner Fremdheit. Aber Gnaius mit seinen weichen Wellen, den weibischen Gesten, seinem Duft nach asiatischem Parfüm, schien der typische aristokratische Dichterling aus dem Kaisertum des Vespasian.
Und doch war das alles Maske. Intuitiv musste sie das von Anfang an gewusst haben. Auch in seinen Versen lag eine exotische Note, obwohl sie genau den Regeln der Dichtkunst seiner Epoche entsprachen.
Jedenfalls begann sich Elspeths Mission zu einer Erde, die etwa neunzehnhundert Jahre hinter ihren Myriaden von Schwesterplaneten zurück war, interessant zu entwickeln. Denn Gnaius hatte bis jetzt noch kein einziges Mal durchblicken lassen, dass er ein Agent der Wächter war, jener unermüdlichen Hüter des delikaten Gleichgewichtes zwischen den parallelen Zeiträumen. Und sie hatte ihm wirklich reiflich Gelegenheit gegeben, das zu tun. Plötzlich begann sie Angst zu empfinden. Ihre Mission war kultureller Natur, nicht diplomatisch, nicht wirtschaftlich und nicht militärisch. Die Entdeckung dieser zurückgebliebenen Welt, die unter den Agenten als Antik bekannt war, bot ungeheure Möglichkeiten, diese antike Welt aus erster Hand zu studieren - ihre Sitten, ihre Sprache, ihre Dichtkunst und den Gang ihres täglichen Lebens.
Dass die Wahl auf sie gefallen war, war kein Wunder, denn ehe Elspeth sich den Wächtern angeschlossen hatte, hatte sie eine ausgezeichnete klassische Ausbildung erhalten und selbst einige Gedichte veröffentlicht. Und sie hatte ihre Aufgabe mit einem Elan und einer Begeisterung übernommen, denen man es anmerkte, wie sehr sie sich darüber freute, hier zwischen den lebenden Parallelen jener geistigen Giganten sein zu dürfen, deren Gedanken und Werke zwei Jahrtausende überdauert hatten.
Irgendwie bedauerte sie es, dass die Entdeckung von Antik nicht früher gekommen war - als Virgil, Horaz und Ovid mit seinen schlüpfrigen Geschichten gemeinsam mit Varro, Catull und Lucretius den Höhepunkt der augusteischen Dichtkunst dargestellt hatten. Aber die düstere Epoche der claudischen Kaiser war dahin, und das Zeitalter von Martial und Juvenal sollte anheben.
Sie hatte die Bekanntschaft des jungen Decimus Juvenalis gemacht, eines jungen Mannes von vierundzwanzig Jahren, dessen verschlossene Züge nur selten in der Wärme innerer Freude leuchteten, und hatte feststellen müssen, dass er sich viel stärker für seine militärische Karriere interessierte als für die Dichtkunst, die ihm auf so vielen Hunderten von parallelen Welten schon immerwährenden Ruhm eingetragen hatte.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Gnaius Laconius zu lesen aufgehört hatte und sie jetzt mit so verzehrenden Blicken anstarrte, dass sie unwillkürlich die Augen senkte und dann über das Panorama der ewigen Stadt hinausblickte.
Die Villa, ebenso wie Lamia, ihre Leibsklavin, waren ihr von Plinius dem Älteren großzügig zugewiesen worden, der in dieser anachronistischen Welt ständiger Agent der Wächter war. Und wenn auch Lamia vom Gesichtspunkt des zwanzigsten Jahrhunderts aus entschieden ihre Fehler hatte, konnte man das von der Villa nicht behaupten - abgesehen natürlich von solchen Annehmlichkeiten wie Elektrizität und sonstigen Errungenschaften des technischen Zeitalters.
Angeschmiegt an den steilen Südwesthang des Cispischen Hügels zwischen dem Vius Patricus und dem Clivus Suburbanus innerhalb der alten Stadtmauern schien sie förmlich aus dem immergrünen Teppich hervorzuragen, der den Rest des Hügels bedeckte. Ihre Säulenhalle blickte über eine unendlich scheinende Folge flacher Dächer auf die unglaublich prunkvollen Paläste hinaus, die am Palatin wie Märchenschlösser hochragten.
Wenn Elspeth nun auch schon seit mehr als zwei Monaten die Villa bewohnte, fand sie doch täglich neuen Zauber in diesem Anblick. Rom war unter Vespasian neu aus den Trümmern entstanden, die Nero als Vermächtnis seiner Schreckensherrschaft hinterlassen hatte.
Gnaius hatte sein Manuskript eingerollt und meinte jetzt beleidigt: »Ich fürchte, du hast nicht zugehört, Marina.«
Elspeth fuhr zusammen - Marina Elspetia nannte sie sich jetzt - sie fühlte, wie ihr Gesicht sich rötete, während sie nach einer höflichen Ausrede suchte. »Die Schönheit deiner Ode hat mich träumen lassen.« Ob er das glaubt? dachte sie sich.
Sie brauchte sich nicht weiter anzustrengen. Gnaius Laconius ließ seine Manuskriptrolle auf den mit Fliesen belegten Boden fallen. Seine Arme drückten sie auf den Diwan nieder. Seine Lippen flüsterten an ihrem Ohr:
»Du musst mein sein oder ich sterbe.«
Am liebsten hätte sie gesagt »Dann stirbst du eben«, aber sie musste den Impuls unterdrücken. Stattdessen sagte sie: »Gnaius, was ist in dich gefahren? Du warst noch nie so stürmisch.«
»Es ist nur, weil du mir noch nie gestattet hast, meine Gefühle zu zeigen, die bei jedem Gedanken an dich durch meine Adern pulsen, o blonde Göttin«, erwiderte er bombastisch.
Wieder war ihr, als schlüge eine Alarmglocke an. Welches Recht hatte ein Mensch im Rom des Vespasian, etwas vom Blutkreislauf zu verstehen? Ihre Erlebnisse in anderen parallelen Welten hatten sie auf alle möglichen Anachronismen vorbereitet - aber das ging zu weit.
»Ich bin keine Göttin«, verwies sie schnippisch, nachdem sie ihm einen hingehauchten Kuss auf die Wange gestattet hatte - wobei sie insgeheim befürchtete, dass die vom Betelkauen geröteten Lippen eine Spur hinterließen.
Wie er so aufgerichtet neben ihr stand, war er beinahe einen Fuß größer als der durchschnittliche Römer. Er hätte ein Gote sein können aus den Wäldern Germaniens, aber seine Züge waren dafür viel zu weich.
Als sie aufstand, sah er sie ängstlich an, als erwarte er, dass sie ihn für seine Kühnheit schelte. Sie tätschelte ihm die Wange, blickte tief in seine braunen Augen und sagte: »Du musst mir Zeit lassen, Gnaius.«
Er sah sie an wie ein zum Tode Verurteilter, dem eine letzte Gnadenfrist gewährt ist. »Dann sehe ich dich heute Abend bei Berenices Fest?«
»Vielleicht«, lächelte sie, obwohl für sie schon feststand, dass sie hingehen würde. Der Sohn des Kaisers würde zweifellos auch dort sein. Titus Flavius Sabinus Vespasianus war gerade von einer Reise durch die nördlichen Provinzen zurückgekehrt, die beinahe vier Monate gedauert hatte und ihn bis nach Britannien geführt hatte. Nachdem er bei seinem Vater Bericht erstattet hatte, sollte er jetzt zum ersten Mal in der Gesellschaft auftreten. Und Elspeth brannte förmlich darauf, einen zukünftigen römischen Kaiser kennenzulernen.
Sie rief ihre Zofe Lamia, während Gnaius sie förmlich mit den Augen verschlang. Sein Leibsklave, ein etwas kurz geratener Herkules aus Mauretanien namens Narvo, brachte seinem Herrn und Meister die Toga und hüllte sie um ihn.
»Bis heute Abend, meine Göttin«, sagte der Dichter mit einer tiefen Verneigung. Er warf sich die Toga über die Schultern und trat durch die Säulenhalle in die inneren Räume der Villa, das Atrium und den Ausgang zur Straße. Die Sohlen seiner Sandalen klatschten dabei auf den Fliesenboden.
Lamia sah ihre Herrin überlegend an. Weder ihr kleiner Wuchs - sie reichte Elspeth kaum bis zur Schulter - noch die Tatsache, dass sie eine Sklavin war, schienen dem Mädchen aus Pamphylien den geringsten Respekt eingeflößt zu haben. Sie meinte: »An dem Sklaven hätten Sie jedenfalls mehr, als an dem Herrn, Herrin.« Sie grinste unverschämt.
»Ich werde daran denken, Lamia«, murmelte Elspeth, um das geschwätzige Mädchen zum Schweigen zu bringen. Sie spürte, dass die Kleine noch etwas sagen wollte und hob fragend die Brauen. »Was ist denn?«, erkundigte sie sich.
»Herrin«, sagte Lamie, »im kleinen Atrium wartet ein Bote auf dich. Ich habe ihn dorthin geschickt, damit er dich nicht stört.«
»Das hättest du mir gleich sagen müssen«, sagte Elspeth tadelnd. Und dann: »Was interessiert dich denn so an ihm, Lamia?«
Lamia rollte die Augen und sagte atemlos: »Er ist hochgewachsen und blond und sieht aus wie ein Barbar - aber er kommt aus dem Aventinischen Viertel
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Sam Merwin jr./Apex-Verlag.
Images: N.N./Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: N.N./Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Peter Sladek.
Translation: Heinz Zwack und Christian Dörge (OT: Three Faces Of time).
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 07-26-2018
ISBN: 978-3-7438-7602-6
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