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Leseprobe

 

 

 

 

PAT CADIGAN

 

 

Synners

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autorin 

 

SYNNERS 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9.  

10. 

11. 

12. 

13. 

14. 

15. 

16. 

17. 

18. 

19. 

20. 

21. 

22. 

23. 

24. 

25. 

26. 

27. 

28. 

29. 

30. 

31. 

32. 

33. 

34. 

Epilog 

 

Das Buch

Sex, Drogen und Video – darum dreht sich das Leben vieler junger Menschen auch im 21. Jahrhundert. Nur kommt noch etwas Aufregendes hinzu, etwas, das unheimlich antörnt, das dich aber auch schaffen und ausknipsen kann: das Synning, das Interface mit der elektronischen Apokalypse, der Trip in die irrsinnigen Welten der Realitäts-Synthesizer.

 

Synners, erstmals im Jahr 1991 veröffentlicht, ist der zweite Roman von Pat Cadigan, der Queen Of Cyberpunk, und wurde 1992 mit dem Arthur-C.-Clarke-Award ausgezeichnet.

Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Klassiker der Cyberpunk-Literatur als durchgesehene Neuausgabe, ins Deutsche übersetzt von Michael Windgassen.

Die Autorin

 

Pat Cadigan, Jahrgang 1953.

Pat Cadigan ist eine preisgekrönte US-amerikanische Science-Fiction-Autorin, deren Werke mehrheitlich dem literarischen Cyberpunk zugeordnet werden.  

Pat Cadigan wurde in Schenectady/New York geboren und wuchs in Fitchburg/Massachusetts auf. Sie studierte Theaterwissenschaften an der Universität von Amherst/Massachusetts und besuchte überdies die Universität von Kansas (KU), wo sie Science Fiction und das Schreiben von Science-Fiction-Literatur bei dem Autor und Redakteur Prof. James Gunn studierte.

Cadigan verkaufte ihre erste professionelle Science-Fiction-Geschichte im Jahr 1980; ihr Erfolg als Autorin ermutigte sie, ab 1987 Vollzeitschriftstellerin zu werden. Sie wanderte 1996 mit ihrem Sohn Rob Fenner nach London aus, wo sie heute mit ihrem dritten Ehemann Christopher Fowler (nicht zu verwechseln mit dem Autor des gleichen Namens) zusammenlebt. Sie wurde Ende 2014 britischer Staatsbürger.

Bereits Cadigans erster Roman, Mindplayers (1987 – dt. Bewusstseinspiele, 1994), nimmt vorweg, was für viele ihrer Werke zum gemeinsamen Thema werden sollte: In ihren Erzählungen verschwimmen die Trennlinien zwischen Realität und Wahrnehmung, indem der menschliche Geist als ein tatsächlich erforschbarer Ort beschrieben wird.  Ihr zweiter Roman, Synners (1991 – dt. Synder, 1993), baut das gleiche Thema weiter aus:  Beide Romane beschreiben eine Zukunft, in welcher der direkte Zugang zum Geist über die Technik möglich ist.

Während ihre Geschichten viele der düsteren, ungeschönten Elemente des Cyberpunk-Genres beinhalten, spezialisiert sie sich als Autorin in ihren nachfolgenden Werken - wie z.B. in den Romanen Fools (1991) und Tea From An Empty Cup (1998) – mehr und mehr auf die Erforschung des spekulativen Verhältnisses zwischen Technik und der Wahrnehmung des menschlichen Geistes.

Sie schrieb darüber hinaus auch die Romane zu den Filmen Lost In Space (Lost In Space: Promised Land, 1999 – dt. Planet aus Stahl, 1999) und Jason X (2005); zu letzterem schrieb sie unter dem Titel Jason X: The Experiment auch eine Fortsetzung.

Als herausragend gelten ihre Kurzgeschichten-Sammlungen Patterns (1989), Home By The Sea (1992) und Dirty Work (1993). Einige ihrer Kurzgeschichten und Erzählungen sind auch in deutscher Sprache erschienen, u.a.: Einmal zurück – gar nicht so teuer (1981, Second Coming – Reasonable Rates), Hexe wider Willen (1982, The Sorceress In Spite Of Herself), Rock On (1984, Rock On), Meines Bruders Hüterin (1988, My Brother's Keeper), Pretty Boy Crossover (1986, Pretty Boy Crossover) und Der mehrfache Sovay (1990, Fool To Believe).

Pat Cadigan wurde vielfach mit Preisen ausgezeichnet, u.a.  mit dem 2013 Hugo-Award für The Girl-Thing Who Went Out For Shushi (in der Kategorie Beste Erzählung), sowie in den Jahren 1995 und 1992 mit dem Arthur C. Clarke-Award für die Romane Fools resp. Synners.

Robert A. Heinlein widmete 1982 seinen Roman Friday (1982 – dt. Freitag, 1983) Pat Cadigan.  

SYNNERS

 

 

 

  1.

 

 

 

»Ich geh kaputt«, sagte Jones.

Die Tätowiererin - ein Bild von Frau - unterbrach die Arbeit an den Lotusblüten, die sie einem Ausgeflippten, der halb ohnmächtig auf dem Stuhl hing, in den Arm ritzte. »Was? Doch nicht schon wieder.«

»Lach mich nicht aus, Gator.« Jones fuhr mit der Knochenhand durch die Panikfrisur.

»Wer lacht denn? Siehst du mich lachen?« Sie rutschte auf dem hohen Hocker hin und her und hielt den Arm des Klienten näher ans Licht. Die Lotusblüten hinzukriegen, war besonders schwer, weil sie haargenau dem Entwurf entsprechen mussten, und Gators Augen waren nach stundenlanger Nachtsitzung völlig überanstrengt. »Über jemanden, der so oft stirbt wie du, kann ich nicht mehr lachen. Im Ernst, eines Tages spielt dein Kreislauf nicht mehr mit, und dann machst du endgültig schlapp. Vielleicht sogar schon bald.«

»Sei's drum.« Jones wandte den Blick von dem Schädel-und-Rosen-Entwurf ab, der an der Zeltwand steckte. »Keely ist verschwunden.«

Stirnrunzelnd setzte Gator die Nadel wieder an und punktierte die dekorierte Haut. Wie die meisten Penner der Mimosa-Szene hatte auch der Ausgeflippte eine äußerst dünne Haut. Aber immerhin war er geduldig wie Papier. »Was hast du erwartet? Die Beziehung zu einem Typen, der ständig abzunibbeln droht, muss doch früher oder später in die Binsen gehen.« Sie sah ihn aus ihren großen, grünen Augen an. »Lass dir helfen, Jones. Du bist süchtig.«

Sein bitteres Grinsen veranlasste sie, den Blick wieder schnell auf die Lotusblüten zu richten. »Klar doch«, sagte er. »Warum auch nicht? Damit komm ich gut zurecht. Lieber kratze ich ab, als mich noch einen weiteren Tag mit Depressionen rumschlagen zu müssen. In dem Fall würde ich endgültig Schluss machen, ein für alle Mal.«

»Ich sag's ja nicht gern, aber dass du auch jetzt ganz tief durchhängst, ist nicht zu übersehen.«

»Deshalb will ich ja Schluss machen. Und außerdem: Keely hat mich nicht verlassen; er ist verschwunden.«

Die Tätowiererin legte wieder eine Pause ein, senkte den schlaffen Arm des Klienten in den Schoß und zog neue Tinte auf die Nadel. »Worin liegt da der Unterschied?«

»Er hat eine Nachricht hinterlassen.« Jones kramte ein zerknittertes Stück Papier aus der Gesäßtasche und reichte es ihr.

»Halt's ins Licht. Ich hab beide Hände voll.«

Er tat, was sie verlangte, und wartete auf ihren Kommentar. »Na, was sagst du?«, fragte er schließlich.

Sie schob seine Hand beiseite und beugte sich über die Arbeit. »Halt mal für einen Moment die Klappe. Ich denke nach.«

Plötzlich dröhnte laute Musik von draußen; die Band, die schon die ganze Nacht Rabatz machte, hatte wieder voll aufgedreht. Jones schreckte auf wie ein elektrifiziertes Huhn. »Scheiße, wie kannst du bei dem Krach nachdenken?«

»Ich versteh dich nicht; die Musik ist zu laut.« Sie wackelte mit dem Kopf im Takt zur Musik, vollendete das blumige Detail auf dem Arm des Ausgeflippten und legte die Nadel in einer Metallschale ab. Eine letzte Blüte noch, dann wäre der Strauß komplett, und sie würde den Penner zurückschicken können, von wo er gekommen war, nämlich unter die Brücke. Sie richtete sich auf und drückte mit der Hand von hinten gegen die Bandscheiben. »Wenn du wirklich entschlossen bist zu sterben, solltest du mir vorher den Nacken massieren.«

Er machte sich daran, ihr die Schultern zu kneten. Die Musik wurde ein wenig leiser und entfernte sich über den Brettersteg. Da war wieder einmal eine Spontanfete im Schwange. Viel Spaß, Kinder; meldet euch, wenn ihr mit Bewährung davonkommt.

Ein großgewachsener Mann mit knöchellangem Cape stürmte so ungestüm ins Zelt, dass Jones erneut zusammenschreckte.

»Aua!« Gator schlug Jones' Hand von der Schulter. »Verdammt, was glaubst du, wer du bist? Hephaistos?«

Auch wenn Jones in der griechischen Mythologie bewandert gewesen wäre, hätte er dieser Anspielung keine Beachtung geschenkt. Er starrte auf die schwarzen Schlingenmuster, die der Faltenwurf des weißen Capes in wogende Bewegung brachte, und zwar so dynamisch und verworren, dass der Anblick schwindelig machte.

»Hübsch«, sagte Gator und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stelle, an der sie Jones gekniffen hatte. »Bei wem lässt du schneidern? Bei Mandelbrot?«

Der Mann drehte sich um und schlug den Umhang weit auf. »Dafür kann man doch sterben, oder?«

»Schlechte Wortwahl«, brummte Gator. »Außerdem hast du dich offenbar in der Adresse geirrt. Gestrafft wird die Haut bei mir nicht.«

»Eigentlich suche ich jemanden.« Er wandte sich dem Ausgeflippten zu, der schlaff in der Lehne hing, und musterte vornübergebeugt dessen Gesicht. »Fehlanzeige. Na schön.« Wieder aufgerichtet brachte er das Cape noch einmal in Wallung. Der Stoff moirierte gewaltig. »Wenn ihr Lust habt, kommt mit nach Fairfax. Da lassen wir was steigen.«

»Fairfax ist ein langweiliges Kaff«, antwortete Gator.

»Deshalb wollen wir's in Schwung bringen.« Der Mann grinste erwartungsvoll.

»Tja, du bist mir einer«, bemerkte Gator wie zur Antwort. »Ich bin wahnsinnig begeistert, aber wie du siehst, hab ich zu tun.«

Er schaute zu Jones rüber, der immer noch wie gebannt das Cape fixierte. »Ihr von der Mimosa-Szene seid ein paar seltsame Typen.«

»Du musst es ja wissen«, sagte sie.

»Letztes Angebot. Keine Lust?« Er beugte sich ein wenig vor. »Ein Küsschen zum Abschied?«

Sie lächelte. »Davon darfst du träumen.«

»Das tu ich. Du kommst in mein nächstes Video.«

»Valjean!«, brüllte jemand von draußen. »Kommst du endlich?«

»Bin kurz davor!«, rief er zurück und rauschte hinaus in einem Strudel verschnörkelter Ornamentik.

»Massier weiter! Du bist noch nicht entlassen.«

Gehorsam machte sich Jones wieder an Gators Schultern zu schaffen. Die Musik hatte sich verzogen; es war relativ ruhig geworden. Weiter unten auf der Straße startete jemand zu einer Synthesizer-Improvisation in Moll.

»Ich finde«, sagte sie nach einer Weile, »du solltest deinen Frieden machen mit dem, was du für das Höchste Wesen hältst. Die volle Beichte.«

Jones gab ein kurzes, harsches Lachen von sich. »Klar doch. Sankt Weckmann könnte mir womöglich wirklich helfen.«

»Man kann nie wissen.«

»Damit hab ich nichts am Hut.«

»Du weißt anscheinend doch Bescheid. Offenbar bist du unheilbar informiert. Zeig mir Keelys Nachricht noch mal.«

Er reichte ihr den Zettel, und sie las, während er ihr die Schädelbasis massierte. »Dive, dive kann eigentlich nur heißen...«

»Ich weiß, was das heißt«, unterbrach sie. »Kapsel vom grünen Dotter trennen, zum Mitnehmen. Bdee-bdee. Das bdee-bdee gefällt mir besonders.«

Jones lachte. »Da siehst du's. Keely ist derjenige, der Hilfe braucht, nicht ich. Diese B&E-Scheiße. Bruch und Einstieg. Ich habe ihn gewarnt. Eines Tages wird man dich erwischen, hab ich ihm gesagt. Und angefleht hab ich ihn, dass er sich helfen lassen soll...«

»So wie du dir helfen lässt? Mit Implantaten vom Wonne-Werk, dem alles egal ist, solange deine Versicherung auf kommt?« Sie wand sich aus seinen knetenden Fingern und trat vor den Laptop, der auf einem Tisch in der Zeltecke stand. Der Bildschirm zeigte das verästelte Abbild einer Efeuranke, die sich rotierend aus verschiedenen Perspektiven darstellte. Sie tanzte mit den Fingern über die Tastatur. Dem Efeu wuchsen eine Reihe neuer Blätter. Sie drückte eine andere Taste, und der Bildschirm teilte sich in zwei Hälften, verdrängte den Efeu nach rechts und ließ links ein Menü aufscheinen.

»Mal sehen, was sich erfahren lässt«, sagte sie und wählte mit dem kleinen Finger eine bestimmte Menüzeile an. »Und schluck Keelys Wisch so, wie er ist.«

»Wenn ich schon sterben muss, dann lieber mit nüchternem Magen.«

Statt darauf zu antworten, seufzte sie nur. Auf der linken Bildschirmhälfte tauchte in großen Blockbuchstaben der Hinweis auf: Dr. Fishs Antwort-Maschine. Einhändig tippte Gator das Wort Tätowierungen ein.

U/l oder d/1?, wollte der Computer wissen.

Sie wählte U/1, wartete einen Moment lang und drückte dann eine weitere Taste. Die Teilung in der Schirmmitte verschwand, während sich die Oberfläche neu auflud. Der rotierende Efeu blieb stehen und wurde ausgeblendet.

Der Doktor bedankt sich für Ihr Vertrauen und empfiehlt: richtige Ernährung, viel Ruhe, regelmäßige Entgiftung und die Konsultierung eines Arztes, bevor auf eigene Faust irgendein Sportprogramm angefangen wird.

Der Bildschirm wurde blank, und Gator langte nach einer Zigarette. »Keiner weiß Bescheid«, sagte sie. »Morgen werde ich die Antwort-Maschine finden und feststellen, ob...«

Plötzlich machte es rums. Jones lag kieloben im festgetretenen Sand. Tot. Gator stöhnte. »Ach, du Scheiße. Jetzt hat er's doch tatsächlich wahrgemacht, dieses erbärmliche Stück Dreck. In den Mülleimer sollte ich ihn kippen. Aber Keely hätte wohl was dagegen, weiß der Himmel, wieso.«

Sie wandte sich wieder dem Laptop zu und rief die gespeicherte Kopie des Schädel-und-Rosen-Entwurfs auf, für den sich merkwürdigerweise Jones so sehr interessiert hatte. Gator fühlte sich erneut in ihrer Theorie bestätigt, wonach jedem Kunden eine - mindestens eine - ganz bestimmte Tätowierung im wahrsten Sinn des Wortes auf den Leib zugeschnitten war - ob er sie nun auf der Haut trug oder nicht. Möglich, dass Jones weniger von den Rosen als vielmehr vom Schädel hingerissen war; allerdings konnte Gator mit anderen Mustern aufwarten, die den Tod sehr viel drastischer symbolisierten, doch denen hatte er kaum Beachtung geschenkt.

Erneut unterteilte Gator den Schirm, indem sie das Mailbox-Menü aufrief und den Rosen-und-Schädel- Entwurf aus dem Speicher holte. Dazu schrieb sie in Form eines Briefes:

Für alle Clubmitglieder: Hier ist der neueste Entwurf und Beitrag zur Wahl der Tätowierung des Monats. Entscheidet euch so schnell wie möglich. Und holt ärztlichen Rat ein, bevor wir eure Haut in Angriff nehmen.

Sie drückte die Enter-Taste und wartete. Der Schirm wurde dunkel bis auf ein kleines Quadrat, das rechts unten in der Ecke aufblinkte. Minuten vergingen. Sie ließ den Buffer geöffnet und wandte sich dem Ausgeflippten auf dem Stuhl zu. Er war eingeschlafen oder auch in Ohnmacht gefallen. Gator hievte ihn vom Stuhl und legte ihn vor dem Eingang auf den Boden. Bald würden die Kids auftauchen, um wieder mal zu schnorren. Sie könnten sich was verdienen und den Penner an seinen angestammten Platz unter der Brücke bugsieren.

Gator wuchtete nun Jones auf den Stuhl und krempelte ihm den linken Ärmel hoch. Um ihn aufzumuntern, nahm sie sich vor, den Schädel samt Rosen auf seinen Arm zu tätowieren. Doch dann besann sie sich eines Besseren. Wer so wählerisch war wie er, sollte dafür bezahlen. Sie dachte zurück an die Zeit, als sich Jones noch an Videos versucht hatte, was er dann aber schnell drangab, nur noch rumgammelte und dafür sorgte, dass außer ihm auch andere süchtig wurden. Der einzige Unterschied zwischen ihm und Valjean bestand darin, dass letzterer es geschafft hatte, lange genug sauber zu bleiben, um eine anständige Band zusammenstellen zu können. Aber Gator hatte gut und hochnäsig reden, zumal der von ihr gewählte Beruf verlangte, ohne Drogen auszukommen.

Der Laptop piepte diskret. Sie ging nachschauen.

Bin unterwegs. Die Wörter blinkten zweimal auf und verschwanden. Sie holte das Efeumuster auf den Schirm zurück und ließ es ausdrucken. Der kleine, würfelförmige Drucker spuckte einen schmalen Papierstreifen aus. Den strich sie mit zwei Fingern auf die Innenseite von Jones' Unterarm und gab Druck darauf. Eine Minute später pellte sie die Matrize ab und betrachtete den Abdruck auf der bleichen Haut. Perfekt. Gator langte zur Nadel.

Die Zeltöffnung lappte auf, und zwei Kids kamen herein. Gator kannte den dürren Fünfzehnjährigen. Dessen spillriger Freund schien aber neu auf der Bildfläche zu sein. Dem Aussehen nach war er keinen Tag älter als zwölf. Ganz schön in die Jahre gekommen, dachte Gator.

»Schafft ihn dahin zurück, wo ihr ihn aufgelesen habt«, sagte sie und zeigte auf den Penner am Boden. »Wenn nicht, merkt euch, wo ihr ihn absetzt, und sagt mir Bescheid.«

Der große Junge nickte.

»Und verlauft euch nicht«, fuhr sie fort. »Ich brauche euch noch, um den hier bei einem Kumpel abzuliefern.« Sie winkte mit dem schlaffen Arm von Jones.

Der Junge trat einen Schritt vor und begaffte Jones, sichtlich irritiert. Sein kleiner Freund schaute ihm über die Schulter und ließ verängstige Blicke zwischen Gator und dem Mann auf dem Stuhl hin und herwandern. »Den willste tätowieren, platt, wie er ist?«, fragte der große.

»Er war tot, jetzt ist er im Koma.«

»Na schön, dafür krieg ich aber dann so 'n Tätto.« Er deutete auf die Entwürfe.

»Den Gefallen tust du mir doch sicher aus Freundschaft«, lachte sie. »Über eine Tätowierung reden wir später. Viel später.«

Trotzig hob er den Kopf. »He, jetzt reicht's mir aber langsam. Gestern musste ich auch schon zwei wegschaffen.«

»Herzchen, wenn du wüsstest, was mir schon alles durch die Lappen gegangen ist...«

Er warf einen verstohlen Blick auf den Laptop. Das Efeumuster rotierte wieder über den Schirm. »Das da wär was für mich.«

»Ist schon für jemand anders reserviert.«

Der Junge schmollte. »Irgendwann taucht mal einer hier auf, der den Laden hochgehen lässt.«

»Und der wird - wenn überhaupt - erst im Krankenhaus wieder zu sich kommen.« Sie zeigte auf den Ausgeflippten. »Schafft den Kerl jetzt raus. Wenn ihr wieder da seid, können wir über alles sprechen. Keine Angst, ich mach euch nicht fertig.«

Der Junge musterte Jones. »Der ist fertig.« Dann packten die beiden Freunde den Penner bei den Beinen und schleiften ihn aus dem Zelt.

Jungs, dachte Gator und machte sich am Efeumotiv zu schaffen. Sie war mit der Arbeit fast fertig, als Rosa auf kreuzte.

 

 

 

 

 

 

 

  2.

 

 

 

Das Bescheuerte an abendlichen Gerichtsterminen war die Tatsache, dass man dafür wach bleiben musste.

Gina saß in der letzten Reihe des gut gefüllten Sitzungssaales, eingeklemmt zwischen einem Milchgesicht namens Clarence oder Claw und einem Null-und-Nichtsnutz mit Bewährungsmanschetten an den Füßen. Sie versuchte auszurechnen, welches Strafmaß sie zu erwarten hatte. Auf frischer Spontanfete ertappt - wahrscheinlich fünfzig Tagessätze, zumal sie bloß dabei gewesen war und nicht zu den Anstiftern zählte; hundert TS, falls die Richterin die Schnauze voll hatte, wenn ihr Fall endlich zur Verhandlung kam. Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, Erregung öffentlichen Ärgernisses, die unterlassene Anzeige der Spontanfete, Flausfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt - also insgesamt hundertfünfzig, zuzüglich Sonderzuschlag bei richterlicher Übermüdung: runde zweihundert. Die Anklage in puncto Widerstand gegen die Staatsgewalt war, wie Gina fand, absolut daneben. Sie hatte bloß das Weite gesucht, sich aber dann ohne Gegenwehr einfangen lassen. Als wär's nicht ganz natürlich, dass einer, dem eine wildgewordene Bullenherde hinter her hetzt, abzuhauen versucht.

Scheiß drauf, dachte Gina, der es auf eine Anklage mehr oder weniger auch nicht mehr ankam. Die Geldstrafe ließ sich locker wegstecken, und der zusätzliche Fleck an der Weste war nicht der Rede wert. Gina hatte nur den einen Wunsch, so schnell wie möglich wieder raus auf die Straße zu kommen, um Mark zu finden und ihn nach Hause zu bringen. Der blöde Esel hatte sich wieder einmal holterdiepolter in die Scheiße reiten lassen, wofür sie nun zahlen musste. Auf der Suche nach ihm war sie in diese beknackte Spontanfete geraten.

Sie war nach Manhattan-Hermosa gegangen, also in jenen Bezirk, den die Kids Mimosa nannten und ausnahmslos von den Verlierern des letzten Erdbebens bevölkert wurde. Gina war noch zu jung, um sich an den Großen Bums zu erinnern; als der stattfand, hatte sie ganz woanders gewohnt. Die Kids, die sich jetzt in der Mimosa rumlümmelten, wussten genauso wenig von dem Beben. Sie kannten nichts anderes als die Sandwüsten zwischen Manhattan Pier, Hermosa Pier und Fisherman's Kai, wo die Penner hausten. Von denen erinnerten sich wahrscheinlich auch nur die wenigsten, jedenfalls längst nicht alle, die das Gegenteil behaupteten.

Zu dumm, dass die Piers den Großen Bums überstanden hatten (der, wie mittlerweile alle glaubten, gar nicht der wirklich Große gewesen war, sondern nur der Halb-Mittlere, was aber wohl auch nicht stimmte). Bis auf einen Teil des alten Fisherman's Kais standen sie noch da, nicht gerade in Top-Form, aber sie standen. So ähnlich wie Mark.

Das Beben und die anschließende Massenhysterie erlebt zu haben, führte manche dazu, sich unter die Piers zu verkriechen und mit den Zehen Zwiesprache zu halten. Andere wiederum hatten aus den Trümmern zusammengekratzt, was sich noch verwerten ließ. Mark war schon immer Anwärter auf ein Loch im Sandboden gewesen, selbst in früheren Tagen, bevor er sich im Sturm und Drang verausgabt hatte. Gina war manchmal geneigt, ihn seinem verkorksten Nietenschicksal zu überlassen und sich mit der Einsicht abzufinden, dass es Typen gab, denen einfach nicht zu helfen war.

Aber sie schaffte es nicht, ihm den Laufpass zu geben; und mochte er noch so durchhängen, nicht zu retten sein - sie brachte es nicht übers Herz. Also hatte sie sich wieder einmal eine Nacht in der Mimosa um die Ohren geschlagen, sämtliche Kaschemmen abgeklappert, unter den Piers nach ihm gesucht, sich Rüpel vom Hals halten müssen und überall rumgehört in der Hoffnung, Mark nach Hause zu holen, ihn dort mit dem Schlauch abspritzen und entgiften zu können, um ihn wieder auf Vordermann zu bringen.

Von einigen Szenetypen hatte sie erfahren, dass Mark zuletzt in einem Karavan gesehen worden und nach Fairfax unterwegs sei. Zweifellos vollgedröhnt bis zur Eichmarke. Dabei stand er eigentlich gar nicht auf Spontanfeten, aber irgendjemand - einer wie Valjean zum Beispiel - hatte wahrscheinlich schnell genug Party, Party, Party gesagt, um alle Vorbehalte aus seinem Kopf zu streichen. Als gäbe es nichts Wichtigeres, als in der Wüste von Fairfax Halligalli zu machen.

Gina war nach Fairfax gefahren, so schnell wie es der mickrige Motor des kleinen zweisitzigen Leihwagens möglich machte. Auf dem schnieken Parkett des alten Pan-Pacific-Auditoriums war schwer was los, als sie dort ankam. Halbgare jeglicher Couleur gaben sich ein Stelldichein, während Hacker auf ihren Laptops Störschleifen abspulen ließen, um eine Überwachung unmöglich zu machen. Alle waren da, die bei solchen illegalen Parties in öffentlichen Gebäuden für gewöhnlich auftauchten, nur Mark nicht. Er hatte sich wieder verkrümelt, falls er denn überhaupt zugegen gewesen war. Bevor Gina eine neue Spur von ihm hatte aufnehmen können, waren die Bullen angerollt.

Im Gerichtssaal war Gina schmollend weggedöst, als die Gruppe, die vor ihr an der Reihe war, aufstand und vor die Richterin trat. Rechts neben Gina kletterte ein junger Mann mit Videokamera über zwei Sitzreihen, um aus einem günstigeren Blickwinkel filmen zu können.

»Wieder ein Fall aus der Klinik?«, fragte die Richterin müde und blickte auf den Monitor, der vor ihr auf dem Tisch stand.

»Drei Untergruppen, Euer Ehren«, antwortete der Ankläger. »Ärzte, Personal und Patienten.«

»Um diese Uhrzeit?« Die Richterin zuckte die Achseln. »Ach so, ist ja klar. Für Arzte gelten ja keine geregelten Arbeitszeiten. Wenn sie nicht rund um die Uhr praktizierten, würden sich manche Patienten womöglich rechtzeitig aus dem Staub machen. Warum muss ich immer die Versicherungsbetrügereien dieser Herren verhandeln? Irgendwelche Vorstrafen?«

»Darauf kommen wir noch, Euer Ehren«, sagte der Vertreter der Anklage eilig, als ein paar Hände in die Höhe gingen.

Gina beugte sich vor; die Müdigkeit war vorläufig vergessen. In der Regel reichte Versicherungsbetrug kaum aus, um eine nächtliche Razzia zu rechtfertigen. Die Litanei der Anklage war entsprechend langweilig: versuchter Betrug, Betrug, unzulässige Implantationen - das Übliche in einem Klinikfall, wenn Ärzte vor Gericht standen, die Implantate einsetzten unter dem Vorwand, Depressionen, Anfälle oder Gehirnschäden zu behandeln. Wonne-Werke, nicht der Rede wert. Gina fing wieder zu dösen an.

»...unstatthafter Verkehr mit einer Maschine.«

Ihre Lider klappten spontan auf. Ein Raunen ging durch den Sitzungssaal, und irgendeiner unterdrückte ein Kichern. Der Kerl mit der Videokamera war über die Brüstung geklettert und nahm die angeklagte Gruppe ins Visier.

»Und was, verehrter Kollege, darf ich mir unter einem unstatthaften Verkehr mit einer Maschine vorstellen?«, fragte die Richterin.

»Sie werden den Sachverhalt gleich von Ihrem Bildschirm ablesen können, Euer Ehren.«

Die Richterin wartete und mit ihr alle Anwesenden im Saal. Minuten später wandte sie sich verärgert vom Monitor ab. »Gerichtsdiener! Gehen Sie sofort nach unten in die Zentrale und geben Sie dort Bescheid, dass wir technische Probleme haben. Nein, nicht einfach bloß anrufen. Gehen Sie, und zwar zu Fuß; melden Sie die Sache persönlich.«

Neben Gina ließ Clarence oder Claw absichtlich ein heftiges Niesen laut werden. Die Richterin schlug mit dem Hammer auf. »Zwanghafte Komiker werden von uns sofort kuriert. Sechs Monate wegen Missachtung des Gerichts. Das mag zwar als Therapie recht altmodisch sein, ist aber äußerst wirksam, und außerdem brauchen wir Ihre Versicherung nicht zu belangen.« Die Richterin wandte sich wieder dem Ankläger zu. »Sie sind doch schon einmal ermahnt worden, Beweise und konfisziertes Material viren-prophylaktisch zu behandeln.«

»Diese Maßnahmen sind getroffen worden, Euer Ehren. Offenbar muss das Virenprogramm aktualisiert werden.«

»Wer ist verantwortlich für die Datenspeicherung?«, wollte die Richterin wissen und musterte jeden einzelnen der Angeklagten. Einer von ihnen meldete sich schüchtern.

»Euer Ehren«, sagte die Verteidigerin und trat eilig vor. »Das EDV-Personal ist für das Auftreten und Verbreiten von Viren nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Ich verweise auf die Strafsache Vallio gegen MacDougal, in der entschieden wurde, dass MacDougal keine Schuld trifft an einer möglicherweise schon bestehenden Infizierung.«

Die Richterin seufzte. »Von wem also stammen die Daten?«

»Euer Ehren«, bemerkte die Verteidigerin hastig. »Diese Frage ist erst zu klären, wenn vorher festgestellt wurde...«

Die Richterin winkte mit der Hand ab. »Schon verstanden, alles klar. Viren entstehen ganz von alleine und befallen Daten ohne jedes menschliche Zutun. Niemand ist dafür verantwortlich.«

»Euer Ehren, lassen wir das Problem der Selbsterzeugung einmal außer Acht. Ich stelle jedoch fest, dass es heutzutage äußerst schwerfallen dürfte zu beweisen, dass ein Virus nicht schon existiert hat, bevor es aktiviert wurde...«

»Ich bin mit dem Problem bestens vertraut, Mrs. Pelham, vielen Dank, aber das hilft uns jetzt nicht weiter.«

»Ich beantrage Aussetzung des Verfahrens, Euer Ehren.«

»Abgelehnt.«

»Aber das Virus...«

»Frau Anwältin«, entgegnete die Richterin müde. »Vielleicht ist es Leuten Ihrer Generation nur schwer begreiflich, dass es früher nicht nur möglich war, sondern sogar Routine, ein Verfahren auch ohne Computerhilfe durchzuführen. Wir fahren fort und stützen uns auf Aktenunterlagen; dafür haben wir schließlich unsere Gerichtsschreiber. Jetzt möchte ich endlich wissen, was die Anklage des »unstatthaften Verkehrs mit Maschinen« zu bedeuten hat.« Wieder richtete sich ihr kritischer Blick auf den Vertreter der Anklage.

»Euer Ehren«, sagte dieser. »Der Vorwurf umfasst unter anderem Einbruch und Industriespionage. Aus diesem Grund wünscht der Kläger, dass der Fall vertraulich behandelt wird. Ich bitte darum, den Gerichtssaal zu räumen.«

»Und wer ist dieser Kläger?«, fragte die Richterin.

»Euer Ehren, auch diese Frage möchte der Kläger vertraulich behandelt wissen. Einstweilen jedenfalls.«

»Antworten Sie mir! Wer ist der Kläger?«

Gina sah sich um auf der Suche nach jemanden, der unter Dampf zu stehen schien, aber die im Saal Übriggebliebenen gehörten allesamt zu der Gruppe, die mit ihr auf der Spontanfete verhaftet worden waren, abgesehen von dem Kerl mit der Videokamera, den ein Gerichtsdiener inzwischen hinter die Brüstung zurückgedrängt hatte.

»Darf ich mit Ihnen kurz unter vier Augen sprechen, Euer Ehren?«, fragte der Vertreter der Anklage.

Die Richterin nickte. »Na schön, aber ich hoffe, Sie haben mir Wichtiges zu sagen.«

Die beiden konferierten eine Weile, während die Kliniker nervös, aber still auf ihren Stühlen herumrutschten. Der Mann mit der Videokamera saß mit halbem Hintern auf der Brüstung und blickte säuerlich auf den Scherzaufkleber, den der Gerichtsdiener übers Objektiv gepappt hatte.

»Im Interesse der Allgemeinheit wird das Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit fortgesetzt«, verkündete die Richterin. »Bevor wir den Saal räumen, rufe ich diejenigen auf, deren Fall noch zu verhandeln ist.«

Der Gerichtsdiener trieb die Klinik-Gruppe zur Seite des Saales. Gina mühte sich von ihrem Platz auf und trat mit Clarence oder Claw, der Null auf Bewährung und den anderen Spontis vor die Schranke.

Die Richterin unterbrach die Verlesung der Anklage. »Ist das alles? Kein Mord, kein unstatthafter Verkehr mit Maschinen? Na gut. Das Gericht lässt die Anklage fallen«, sagte sie und fügte mit Blick auf Gina hinzu, »obwohl ich weiß, dass einige von Ihnen ein ziemlich langes Vorstrafenregister haben. Da von den Anstiftern niemand verhaftet werden konnte und da wir im Augenblick Wichtigeres zu verhandeln haben, setzt das Gericht Sie auf freien Fuß, wohlwissend, dass es sich mit Ihnen sehr bald wieder auseinanderzusetzen hat. Auf eine Verurteilung mehr oder weniger kommt's auch nicht mehr an. Sie jedoch«, sagte sie und zeigte auf die Null, »Sie verbringen die Nacht hinter Gittern. Morgen hören wir uns dann den Rest Ihrer Geschichte an.«

Um nicht zu grinsen, musste sich Gina auf die Innenseiten der Backen beißen. Sie grinste trotzdem, was der Richterin nicht entging. Sie schüttelte den Kopf und gab dem Gerichtsdiener die Anweisung, den Saal zu räumen.

 

»Du bist also auch wieder dabei?«

Gina blickte auf in das schmunzelnde Gesicht von

Clarence-oder-Claw. Wurde der Kerl denn nie müde? Was ihn antörnte, schien um Etliches wirkungsvoller zu sein als das, was der Kramladen auf der Spontanfete anzubieten hatte.

»Ich bin dabei, mich ganz schnell zu verpissen«, sagte sie und drängte sich an ihm vorbei. Er trottete über den blankgewienerten Flur hinter ihr her.

»Im Ernst«, flüsterte er. »Ich weiß, wo gerade 'ne Party steigt, und die ist besser als die, auf der man uns geschnappt hat.«

»Zieh Leine!« Sie legte einen Schritt zu, obwohl ihr vor Müdigkeit die Knie einzuknicken drohten.

»He, warte doch mal...«

Sie nahm die nächste Ecke mit einer schwungvollen Wendung um hundertachtzig Grad in der Absicht, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, als sie mit einer dritten Person zusammenprallte. Papierbögen wirbelten durch die Luft und landeten verstreut auf dem Boden. Jemand fuchtelte hektisch umher, um die Seiten aufzusammeln.

Benommen richtete sie sich auf, massierte die rechte Gesichtshälfte und starrte auf das, was ihr wie eine solide Wand in Nadelstreifen vorkam. Sie blickte auf.

»Mount Rushmore«, sagte sie. »Für diese Jahreszeit ein bisschen weit östlich.«

Gesichter gafften auf sie herab, drei Männer und eine Frau. Invasion der Nadelstreifen. Achselzuckend mühte sich Gina vom Boden auf und benutzte dabei die Jackettaschen des ihr am nächsten stehenden Mannes als Haltegriffe. Er bewegte sich nicht, verzog auch keine Miene. Gina bedauerte sogleich ihr ungezogenes Betragen. Sein Gesicht kam ihr bekannt vor. Sie wusste es zwar nicht einzuordnen, spürte aber, dass die Begegnung mit ihm keine besonders glückliche gewesen war. Der Blick seiner Augen verriet, dass auch er sie kannte und nicht die beste Meinung von ihr hatte.

Scheiß drauf! Sie fuhr mit der Hand durch ihren Rasta-Filz und mimte auf nicht-zurechnungsfähig-weil- zu-bekifft. »Hoffentlich ist mit den verdammten Träumen bald mal Schluss«, murmelte sie und bahnte sich mit den Ellbogen eine Schneise mitten durch die Gruppe.

Ohne weiteren Zwischenfall und ohne Clarence-oder- Claw im Schlepptau erreichte sie das Erdgeschoss. Auf dem Weg nach draußen wählte sie instinktiv den Ausgang am rechten Rand des Portals. Sie hatte einen guten Überblick von dort, blieb selbst in Deckung und sah Hall Galen und Lindel Joslin aus einer unzugelassenen Limousine auf den Bürgersteig treten. Den jungen Kerl, der den beiden folgte, hatte Gina noch nie gesehen. Als letzter stieg Visual Mark aus.

Der Junge zögerte vor den Stufen, die von den anderen einschließlich Mark mit zügigen Schritten genommen wurden. Gina lehnte sich flach an die Wand, als Galen haltmachte und einen Blick über die Schulter warf.

»Komm schon, Keely«, zeterte er in feuchter Aussprache, die Gina immer an einen perversen Säugling erinnerte. »Glaubst du, sie kommen raus und nehmen ihren Kronzeugen persönlich im Empfang.«

Joslin schlug eine knochige Hand vor den Mund und gab ein Kichern von sich, das nur Hunde hören konnten. Gina konnte es immer noch nicht fassen, dass dieses Klappergestell eine Implantat-Chirurgin war. Wer bei ihrem Anblick nicht vom OP-Tisch sprang und schreiend davonrannte, war entweder total verrückt oder tot.

»Du hast gesagt, dass mir der Deal schriftlich bestätigt würde«, sagte der Junge. »Davon hab ich noch nichts gesehen.« Er schien noch jünger zu sein, als Gina zunächst angenommen hatte. Gerade kein Kid mehr, ein Ex-Kid.

»Der Wisch liegt bei unseren Anwälten für dich parat.«

Gina winselte; nur ein ausgemachter Depp konnte auf Galen reinfallen, wenn der ganz lässig und beiläufig tat. Hau ab, du Esel!, dachte sie; vielleicht traut dir keiner zu, dass du die Biege machst, und wenn niemand damit rechnet, hast du gute Chancen davonzukommen.

»Du hast gesagt, dass ich die Bestätigung in der Tasche hätte, bevor ich einen Fuß ins Gericht setze«, protestierte der Junge und rührte sich immer noch nicht vom Fleck, wirkte aber so unsicher, dass er von jetzt auf gleich umzukippen drohte. Gina mochte die Szene nicht länger mitansehen, konnte aber nicht verschwinden, ohne entdeckt zu werden.

»Jetzt aber los, Keely!«, sagte Galen und schmatzte dabei mit den Lippen auf jene Art, die Gina immer zum Wahnsinn trieb. »Wir haben versprochen, uns für dich einzusetzen, können aber nichts dafür, dass die Transkriptions- oder Schreibmaschinen so langsam sind. Die klappern ihr eigenes Tempo runter, du verstehst?«

Der Junge blickte zu Boden und murmelte wieder etwas von einer schriftlichen Bestätigung vor sich hin.

Galen ließ seine betuliche Maske fallen, machte kehrt und blieb zwei Stufen über dem Jungen stehen, den er aus dieser Position um einen Zoll überragte. »Da drin warten ein voller Gerichtssaal und ein ungeduldiger Richter. Wir gehen jetzt rein. Entweder du folgst freiwillig oder in Handschellen. Auspacken musst du so oder so.«

Mark gähnte geräuschvoll, und für einen Moment lang schien es so, als blickte er durch die Schatten auf Gina. Sie setzte schon zum Sprung an, als sein Blick an ihr vorbeiwanderte. Erleichtert ließ sie sich zurück an die Wand fallen. Falls sie ihm aufgefallen war, so wahrscheinlich nur als eins der Videobilder, die ihm durch den Kopf flackerten. Zum Kuckuck, womöglich wusste er nicht einmal selber, wo er sich im Augenblick tatsächlich befand. Wenn ich dich erwische, du Arschloch, dachte Gina, oh, wenn ich dich erwische, bleibt anschließend nichts als Scheiße und Blut von dir übrig.

Doch davon schien er nur wenig zu enthalten. Er bestand aus Haut und Knochen. Sein dünnes, braunes Haar war schulterlang, die Nase gebrochen; das Grün seiner Augen wirkte stumpf und verschossen, und die Stimme schien permanent von einem Haufen Kies verschüttet zu sein. Mark hatte noch nie viel hergemacht, nicht einmal früher, als er ins Videogeschäft eingestiegen war zusammen mit Gina, dem Beater und einer Handvoll anderer. Gemeinsam hatten sie Rock-Videos mit Simulationen aufgemotzt. Doch das lag weit zurück; damals war der Beater noch der Beater gewesen, und Mark hatte noch richtig was auf dem Kasten, und Hall Galen, der kleine Mogul, hockte immer noch auf dem Thrönchen. Und wahrscheinlich beschäftigte sich Joslin damit, Hamster zu quälen.

Es schien, als hätten Ginas abgedriftete Gedanken die Chirurgin in Gang gesetzt. Joslin wurde plötzlich lebendig und eilte die Stufen zu Mark hinunter. Fass ihn nicht an, du Zicke!, dachte Gina, während ihre Lippen die Worte formulierten. Doch Joslin streckte die leichenbleiche Hand aus und legte sie Mark auf die Schulter. Nimm deine Flosse von ihm runter, der Kerl gehört mir! 

Joslins Hand blieb, wo sie war, schien an ihm zu ankern für den Fall, dass der Wind auffrischte und ihn wegblasen würde. Bei seiner derzeitigen Verfassung hätte dazu schon ein mittlerer Schwall gereicht. Trotzdem, in ihm brannte immer noch genug Feuer, um die schärfsten Videos zu machen. Das war zwar nicht der einzige Grund, warum Gina ihn nicht aufgeben wollte, aber sicherlich derjenige, der auf Anhieb am plausibelsten zu sein schien.

Wahrscheinlich würde sie ihn nicht einmal dann aufgeben, wenn er endgültig am Boden läge, und er war auf dem besten Weg dahin. Daran zweifelte keiner mehr, weder sie noch der Beater, und auch Mark selbst schien in den letzten, noch intakten Windungen seines ausgebrannten Gehirns begriffen zu haben, dass es mit ihm rapide bergab ging. Galen wusste auch Bescheid. Fraglich war nur, was er zu später Stunde vor Gericht suchte, zusammen mit einem tattrigen Wrack, das auf Grundeis lief, einem Ex-Kid, dem die Kronzeugenrolle nicht zu passen schien, und einer dürren Hexe, die auf Gehirnimplantate spezialisiert war.

Am meisten fuchste Gina, dass Mark ihr nichts von alledem gesagt hatte und auf eigene Faust hier aufgekreuzt war. Sie hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt und immer am selben Strick gezogen, auch als Galen Beaters Anteil an der Videoproduktionsfirma übernommen und EyeTraxx an das Monsterkonglomerat verhökert hatte. Und auch übermorgen würden sie wieder am selben Strick ziehen und gemeinsam zu ihrem ersten Arbeitstag bei dieser Monsterfirma antreten.

Gerade als der Junge klein beigab und sich von Galen die Treppe hochführen ließ, fiel Gina ein, wer sich hinter der Wand aus Nadelstreifen verborgen hatte: Soundso Rivera, eine mittlere Charge des Konglomerats, das unter dem hübschen Namen Diversifications, Inc. firmierte. Er war drei- oder viermal bei EyeTraxx aufgetaucht, um zu begutachten, was seine Firma aufgekauft hatte. Gina war ihm stets aus dem Weg gegangen, machte sich aber nichts vor. Rivera wusste, wer und was sie war, und wenn er wollte, würde er sie jederzeit ausfindig machen können. Das schaffte jeder. Immerhin wurde ihr Einkommen auf richterlichen Beschluss hin gepfändet.

Die Saubacke hab ich ganz schön geschockt, dachte sie, doch dieser Gedanke befriedigte sie nur unzulänglich. Saubacken von der Marke Riveras ließen sich nur ungern schocken. Sie würde dafür büßen müssen.

Oder Mark. Ihn durch das Haupttor verschwinden zu sehen, ließ ihr den Rasta-Filz zu Berge stehen. Impulsiv drängte es sie, ihm nachzugehen, sich irgendwo zu verstecken, um ihn dann, wenn er das Gericht wieder verließ, in die Mangel zu nehmen. Doch wer weiß, wie lange die Sitzung dauerte, und außerdem hatte Rivera bestimmt jemanden losgeschickt, um sie zu suchen. Ratsamer war es, auf Mark in dessen Wohnung zu warten.

Im Dunklen hinter ihr rührte sich was, und im ersten Augenblick fürchtete sie schon, einem von Riveras Bütteln in die Hände gefallen zu sein. Dann aber sah sie die Umrisse der Videokamera.

»Interessantes Schauspiel, nicht wahr«, sagte er. »Immerhin scheinst du es interessant zu finden.« Er kam ein paar Schritte auf sie zu.

»Na, hast du den Scherzaufkleber von der Linse abgekriegt?«, fragte sie.

»Du kennst nicht zufällig irgendeinen der Typen, die gerade reingegangen sind?«

Gina schnaubte. »Du etwa?«

»Ich hab zuerst gefragt«, sagte er lachend. »Aber was soll's? Ja, ich kenne ein paar davon. Jetzt bist du an der Reihe.«

»Ein paar kenne ich auch«, antwortete sie.

»Wär schön zu wissen, ob sich unsere Bekanntenkreise an irgendeiner Stelle überschneiden.« Er rückte bis auf eine Stufe heran. »Kann ich dich für eine Tasse Kaffee erwärmen?«

Gina wischte sich mit den Händen übers Gesicht. »Im Augenblick würde es mich sogar kalt lassen, wenn du nackt in einer Wanne voll Wackelpeter säßest. Für wen arbeitest du?«

Er zögerte, und Gina spürte genau, dass er darüber nachdachte, ob er die Wahrheit sagen oder lügen sollte. Nach Marks Ansicht ermöglichte der Zustand äußerster Müdigkeit eine extrem sensible Wahrnehmung, die fast an Telepathie grenzte. Voraussetzung war natürlich, dass man darüber nicht gänzlich einschlief.

»Ich bin freischaffend«, antwortete er schließlich. »Komm ganz gut dabei über die Runden...«

»Solange die Ware stimmt«, meinte sie.

Sein Lachen war sexy, selbst zu dieser vorgerückten Stunde. »Solange ich sie zu platzieren weiß. Was ich hier im Kasten habe, findet mit Sicherheit einen Abnehmer. Allerdings müsste ich noch ein bisschen mehr darüber in Erfahrung bringen.«

Gina gähnte. »Optimist. Wer interessiert sich denn heute noch für eine Razzia in Wonne-Werken? Darauf ist nicht mal der albernste Sensationskanal scharf, und selbst 'ne Hund-beißt-Mann-Geschichte hat mehr Pep.«

»Ach, meinst du wirklich?« Sein Lachen war jetzt weniger sexy, und der Stimme fehlte jeglicher Ausdruck.

»Außerdem«, fuhr sie fort. »Vermutlich wirst du bei einem der nächsten Startversuche deines Rechners feststellen, dass sich ein Virus in den Speicher eingeschlichen und jedes zweite Bit zu Müll verarbeitet hat, bevor es dann auch auf deine Kamera übergreift und ihr den Garaus macht. Und vielleicht kommt's noch dicker, dann nämlich, wenn du den Giftknösel auf einen deiner teuren Abnehmer abschmierst; der hängt dir ein Verfahren an den Hals, während du noch darüber rätselst, was mit deiner Scheißkamera passierst ist. Ich schätze, eines Tages ist es soweit, dass deine Jagd auf Nachrichten einem ernsten Fall von Zwangsneurose gleichgesetzt und mit therapeutischer Implantation behandelt wird. Dann wirst du dich endlich einen Dreck um Neuigkeiten scheren. Ist das zu hoch für dich und deine weiche Birne?«

»Bist dir wohl ziemlich sicher«, sagte er gelassen.

»Nein.« Sie gähnte wieder. »Ich weiß nur, dass dir ein Scherz-Sticker auf die Linse geklebt wurde und die Richterin den Sitzungssaal hat räumen lassen. Was du da im Kasten hast, ist verdammt heiß, und solltest du das Zeug zu verkaufen versuchen, wird man dich vermutlich einbuchten, und dann kannst du schmoren bis zur Verhandlung.«

»Du scheinst in der Hinsicht 'ne Menge Ahnung zu haben«, sagte er und rückte einen Schritt näher.

»Ich hab null Ahnung. Ich bin kaputt und geh jetzt nach Hause, wo ich mich ordentlich auspenne, um morgen wieder arbeiten zu können.«

»Und für wen arbeitest du?«

Gina wies mit den Daumen auf die inzwischen leeren Eingangsstufen. »Für die.« Dann setzte sie sich in Bewegung und ließ ihn mit der Nuß zurück, die er nun zu knacken versuchen konnte.

Sie war zu müde, um länger darüber nachzudenken, ob sie ihm tatsächlich Angst gemacht hatte oder nicht. Im günstigen Fall würde er sein Material versteckt halten oder - besser noch - im Klo runterspülen. Der ungünstige Fall brauchte nicht ihre Sorge zu sein. Sie hatte selber genug Probleme.

Und vor allem wollte sie sich Mark vorknöpfen, diesen klapperdürren Durchhänger. Die Hölle würde sie ihm heißmachen.

 

 

 

 

 

 

  3.

 

 

 

LAX verlief so glatt und ereignislos wie der gesamte Trip von Kansas City nach Salt Lake, von Salt Lake zur Bay und schließlich per Jumper von der Bay nach L. A. Es war also eine Art Triathlon-Reise, denn nur so konnte es gelingen, drei verschiedene Tickets unter drei verschiedenen Namen zu kaufen - Korrektur: nur zwei. In San Francisco hatte niemand nach dem Namen gefragt. Für die Benutzung des Jumpers reichten anonyme Inhaber-Chips, und zwar in Mengen, die niemands Stirn zum Runzeln brachten.

Sam hatte mit ihrer Vermutung recht behalten: Die Insulin-Pumpe, die ihr aus der Seite heraushing, war unbeachtet geblieben. Nur einmal war das Ding auf Störsignale hin abgecheckt worden; der Schutzmann beim Bay-Jumper hatte nicht mal das für nötig gehalten. Er grinste Sam bloß an, zeigte auf seine eigene Pumpe und sagte: »Wollen bloß hoffen, dass das Gewebe drauf anspricht, gell, Schwester?« Die Flughafensicherung interessierte sich nur für Waffen und Sprengstoff, nicht für unlizenzierte oder geschmuggelte Computergeräte. Außerdem war der Apparat tatsächlich mal eine Insulin-Pumpe gewesen, bevor Sam daran herumgebastelt hatte.

Mit gemächlichem Schritt durchquerte sie die Station und ließ das Volk um sich herumfließen. Die Pumpe steckte unsichtbar und deaktiviert in der Tasche ihrer weiten Hose; an einer Schnur um den Hals hing die klobige Sonnenbrille (klobig, aber funktionstüchtig; wenn ausgeschaltet, war die retinale Projektionsscheibe im linken Glas transparent). Der Chip-Abspieler war in dem kleinen Matchbeutel verstaut. Auch dafür hatte sich niemand interessiert. Immerhin waren Chip-Abspieler weit verbreitet und sehr viel zahlreicher als schwerkranke Diabetiker, deren Körper alle herkömmlichen Implantate abstießen. Selbst wenn der Schutzmann genauer hingesehen, die fingerspitzengroßen Kopfhörer entdeckt und reingehorcht hätte, wäre ihm bloß wüster Speed-Thrash zu Ohren gekommen - in Stereo. Speed-Thrash erlebte gerade wieder einmal eine Renaissance, da die neue Junggeneration dahintergestiegen war, dass sich mit dieser Musik alle, die über fünfundzwanzig zählten, in die Flucht schlagen ließen. Sam stand auf Speed-Thrash. Sie war siebzehn.

Sie kam zur Gepäckannahme und bahnte sich einen Weg durch die Menge, die vor den Kabinen gegenüber des Karussells Schlange standen. Das Cal-Pac-Modem- Symbol über diesen Kabinen flackerte und summte, was nicht gerade vertrauenserweckend wirkte, doch keiner der Wartenden ließ sich beirren. Sam wunderte sich jedes Mal darüber, wie viele Leute den öffentlichen Modems von Cal-Pac trauten. Wegen ihrer breiten Kompatibilität waren sie für Viren äußerst anfällig, trotz aller Impfstoffe, die ins System gespritzt wurden, und die Hälfte der verwendeten Impfstoffe war hoffnungslos überaltert. Aber anstatt in Forschung und Entwicklung zu investieren, setzten Staat und Steuerzahler (zu denen Sam nicht gehörte) auf verschärfte Strafen für Saboteure. Als würde das was nützen.

Vor der Kabine am äußeren Ende blieb Sam einen Augenblick lang stehen. Das kleine Graffito war immer noch zu erkennen. In krakeligen Blockbuchstaben stand auf der Plastikverkleidung zu lesen: Dr. Fish macht Hausbesuche. Darunter war nachträglich hinzugefügt worden: Sankt Weckmann, bitte für uns.

Am Ausgang der U-Bahn lungerte das übliche Pack herum: ein paar fliegende Händler und Verteiler von Handzetteln, die für zwei rivalisierende Kliniken Werbung machten und Sam versprachen, dass ihre Motivation wie durch Zauber zurückkehren würde, ja, wie durch Zauber, junge Frau; Diagnostiker vor Ort, direkt vor Ort; nicht nötig, um nach einer Empfehlung beim Hausarzt nachzusuchen, denn der würde sowieso nur abraten, weil er wie so viele seiner Kollegen noch immer nicht kapiert hat, dass die Heilkräfte von Implantaten jedem zuträglich sind, jedem, der sie nötig zu haben spürt.

»Das moderne Leben macht dich krank!«, rief ihr jemand nach.

»Was mich krank macht, sind deine Sprüche!«, schrie ein anderer.

Sam grinste. Oh, Mann, das Karma lastet heute wieder schwer.

In der Mietwagenzentrale am Flughafen herrschte wie immer ein heilloses Durcheinander. Auf den letzten Drücker versuchten etliche, ihre Fahrzeuge in aller Eile abzugeben, um den Flug noch zu erwischen, für den sie schon reichlich spät dran waren. Andere, die gerade gelandet waren, drängten auf Abfertigung und lagen den gelangweilten Angestellten in den Ohren, die gelassen zwischen den Schaltern für Rücknahme und Ausgabe hin und her schlenderten. Willkommen in L. A., dachte Sam und zuckte die Achseln. Nach zweiwöchigem Aufenthalt in McNabbs Naturreservat in den Ozarks war sie nicht mehr sicher, ob ihre Toleranzschwelle überhaupt noch existierte.

Sie stellte sich in die Schlange derer, die vor dem Schalterhäuschen mit der Aufschrift Ausgabe warteten. Wenn sie endlich an die Reihe käme, würde ihr wahrscheinlich mitgeteilt: Tut uns leid, wir haben nur noch größere Modelle zu vermieten; nein, ein Preisnachlass ist leider nicht drin, der nächste bitte. Aber Sam war viel zu reisemüde, um die Hotelfuhrparks zu Fuß abzuklappern, und um einen der privat betriebenen Shuttle-Dienste in Anspruch nehmen zu können, war ein maschinenlesbarer Personalausweis nötig, doch darauf konnte Sam dank der anonymen Inhaber-Chips verzichten. Sie hatte keine Lust, eine verfolgbare Spur hinter sich herzuziehen.

Sam kramte das Abspielgerät aus dem Beutel und steckte die Kopfhörer auf. Zu hören war eine dummdreiste Speed-Thrash-Nummer, die Keely aufgenommen hatte, ohne das Übersetzungsprogramm, das Sam benutzte, außer Funktion zu setzen. So war es ihr möglich gewesen, das codierte Material im Speicher zu behalten und während des Flugs abzurufen, ohne dabei aufzufallen. Sie hatte ausgesehen wie jeder x-beliebige Teenager, der sich hinter seiner Sonnenbrille versteckt und aus Langeweile Musik hört. Niemand hatte beobachten können, dass das Abspielgerät unter ihrer schäbigen Satinjacke mit der ehemaligen Insulin-Pumpe in der Hosentasche verdrahtet war. Das Gestrüpp von Haaren hatte den Anschluss zwischen Kopfhörer und Brillenbügel verborgen.

Auch jetzt war sie wieder drauf und dran, die Sonnenbrille aufzusetzen und sich noch einmal Keelys Daten zu Gemüte zu führen. Doch dazu blieb auch später noch genug Zeit - falls sie denn nicht an Altersschwäche sterben würde, auf ein Auto wartend und womöglich vergebens. Sie hasste Autovermietungen - wie jeder andere auch -, doch in L. A. einen eigenen Wagen zu erwerben, kam einem bürokratischen Alptraum gleich und erforderte eine blütenreine Weste sowie haufenweise Gebühren für Dutzende verschiedener Anträge und Genehmigungen, die alle drei Monate zu erneuern waren. Mit diesen einfallsreichen Schikanen hatte die Stadt im vorigen Jahrhundert den Verkehrsinfarkt zu kurieren versucht, was aber aus heutiger Sicht nicht mehr als ein schlechter Witz war. Ein Massentransit-System hatte sich nicht verwirklichen lassen; stattdessen vermehrten sich diese Mietwagen in karnickelhaftem Tempo, kleine rollende Kisten, die von Tesafilm und Spucke zusammengehalten wurden und mit lausigen Computernavigatoren ausgestattet waren. GridLid, das Fahrleitsystem, taugte für keine fünf Cent und hinkte dem tatsächlichen Verkehr ständig um zwanzig Minuten hinterher, so dass man immer wieder in Staus geriet, bevor eine entsprechende Warnung angezeigt wurde.

Sam schnaubte müde. Kaum war sie eine Stunde zurück in L. A., und schon ging die Erholung nach zweiwöchigem Urlaub flöten. Die Einsamkeit in den Ozarks war - wie Vater Gabe prophezeit hatte - Balsam für ihre Nerven gewesen, und denen hatten die übergeschnappte Hackerszene und der Informationswahn mächtig zugesetzt. Apropos Vater: Dass Sam schließlich austickte, war nicht zuletzt den Eltern Gabe und Catherine anzukreiden - vor allem ihr, der Mutter, um fair zu sein. Aber das war ja nach all den Jahren zu Hause abzusehen gewesen. Inzwischen reichte allein der Gedanke an die Eltern, um Sam an den Rand einer Tobsucht zu bringen.

Das allein war Grund genug für den Ausflug in die Berge gewesen. Zum fluchtartigen Verlassen der Stadt hatten sie jedoch die heißen Informationen bewogen, die ihr beim Anzapfen der Rechner von Diversifications in die Hände gefallen waren. Darin den eigentlichen Anlass ihrer Reise zu sehen, war ihr im Übrigen lieber, denn die Vorstellung, sich mit den Eltern zu Überwerfen, tat ihr im Herzen weh.

In McNabbs Naturreservat hatte man sie zum Glück in Ruhe gelassen. Dort wurden weder Personenchecks vorgenommen noch neugierige Fragen gestellt. Die Serviceleistungen hielten sich in Grenzen wie die Preise. Allmorgendlich hatte sie von ihrem Zelt aus einen Spaziergang zur Gemeinschaftsdusche unternommen. Wenn sie auf Nachrichten aus war, konnte sie in dem kleinen Gemischtwarenladen der Campinganlage mit Hilfe eines dort installierten Modems eine persönliche Ausgabe von Das tägliche Du abrufen und ausdrucken lassen; allerdings musste sie anschließend ihre Defaults neu einstellen. Manchmal war auch eine längere Wartezeit in Kauf zu nehmen, da in dem Laden nur zwei Drucker zur Verfügung standen; Sam ließ sich die Ausdrucke dann von Lorene McNabb zurücklegen, um sie später abzuholen.

Der Aufenthalt im Camp war zwar eine nette Abwechslung, aber für Sam kein Leben auf die Dauer. Nach Keelys Anruf hatte sie gleich wieder nach L. A. zurückkehren wollen.

Alle Zelte waren mit einem Telefon ausgestattet, denn McNabb wollte sich die Mühe ersparen, Anrufe entgegenzunehmen und an die Gäste weiterzuvermitteln. Der Apparat auf dem Fußbänkchen am Pritschenende sah ziemlich komisch aus, wie Sam fand. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er jemals klingeln würde, zumal niemand wusste, wo sie steckte. Sie aufzuspüren, konnte nur einer schaffen, und das war Keely.

Wie gewöhnlich klang er aufgekratzt und hektisch. Dass er mit diesem bescheuerten Jones rummachte, war ihr, Sam, bei allem Terz, den sie hatte, zusätzlich auf die Nerven gegangen. Aber immerhin lag er ihr diesmal nicht mit seinem Geseire über Jones und dessen Implantate in den Ohren. Was ihn jetzt so hektisch und nervös machte, schienen irgendwelche erhackten Entdeckungen zu sein. Sam vermutete, dass er Diversifications angezapft hatte. Vor ihrer Abreise war sie so dumm gewesen, ihm die Programmdaten der modifizierten Insulin-Pumpe überlassen.

Sam hatte an der Pumpe fleißig herumgebastelt, vor allem aus Neugier an dieser Art von Hardware. Dass das Ding inzwischen funktionierte, kam ihr nun zupass, denn Keely wollte unbedingt ein paar Daten übers Telefon schicken, und sie hatte ihren Laptop bei Rosa zurückgelassen.

Als dann die Daten übertragen waren, verabschiedete er sich und legte auf. Sam hatte keinen Zweifel mehr daran, dass Keely Diversifications angezapft hatte, den Mount Everest aller Hacker, jenes Ziel, das leicht zur Falle werden konnte. Wer geschnappt wurde, musste mit Strafverfolgung rechnen. Keely hatte sich immer schon fast zwanghaft mit Sam zu messen versucht; er wollte ihr hackermäßig in nichts nachstehen. Es war ihr nicht gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass eine solche Rivalität unsinnig sei und dass jeder wiederholte Versuch, in die Datenbänke von Diversifications einzudringen, die Gefahr erhöhte, geschnappt zu werden. Keely hatte immer schon mehr Talent als Verstand besessen.

Vielleicht, so dachte Sam, wäre sie überzeugender gewesen, wenn sie ihm ihr kleines Geschäftsgeheimnis anvertraut hätte: Sie wusste, wie die Abwehr zu umgehen war, denn ihr Vater arbeitete bei der Firma, und es war ihr durch simple Osmose gelungen, viel über deren Verfahrenswege rauszubekommen. Vielleicht hätte Keely eingesehen, dass es besser ist auszusteigen; möglich aber auch, dass er sie auf Tips und Hinweise hin bis zum Wahnsinn gelöchert hätte. Wie dem auch sei, sie fühlte sich auf fast schon neurotische Weise verantwortlich für alles, was ihm passierte. Lächerlich, aber so war es. Und nun war sie hier, zurück in L. A.

»...super Show, Hardware gratis, absolut kostenlos!«

Die Stimme, die den Tumult in den Kopfhörern übertönte, klang vertraut. Sam schaltete das Abspielgerät aus und sah sich um.

Der junge Kerl, der sich vom Schlangenende aus nach vorn arbeitete, hätte zur Füllung seines Bodysuits ein paar Pfunde mehr vertragen können, und der absurd lange Behang seiner goldgelben Haare fiel bis weit über die knochigen Schultern herab. Über dem Kopf hüpfte eine Hologramm-Krone, die mit jedem Schritt auf und ab flackerte. Den Projektor an seinem Gürtel zu justieren, fiel ihm offenbar nicht ein, genauso wenig wie der Versuch, die gelangweilte Miene aus dem Gesicht zu nehmen. Sam grinste. Beauregard war ihr lange nicht mehr unter die Augen gekommen, doch sie hätte ihn in jeder Verkleidung sofort wiedererkannt.

»Freikarten!«, rief er und hielt sein Angebot mit zwei Fingern in die Höhe. »Vorschau auf die super neue Show.« Er wollte gerade an ihr vorbeistürmen, als sie ihm am Arm zurückhielt.

»Schon viele Abnehmer gefunden?«, fragte sie.

Er stierte sie eine Weile mit leerem Blick an und ließ dann ein überraschtes Lachen hören. »Ja, leck mich.«

»Etwa auch kostenlos?«

Er gab ihr eine Freikarte. »Dafür darfst du dir 'ne Stunde lang einen Monitor über die Kalotte ziehen und im Glücksfall 'ne neue Serie abziehen, mit der du bei deinen Leuten in Kansas City tierisch angeben kannst. Und wenn du langgelegt werden willst, ruf meinen Agenten an. Der vögelt dich viermal nacheinander, bevor du überhaupt meinen Namen genannt hast.«

»Danke, Beau, aber darauf verzichte ich. Mir ist es lieber, wenn ich vom Vögeln was mitkriege.« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Hübsche Strumpfhose hast du da an. Siehst aus wie 'n Straßenclown aus alten Tagen.«

»Und du siehst aus wie 'ne Pennschwester von anno Tobak. Manche ändern sich nie. Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?«

Zögernd sah sie sich nach beiden Seiten um. Beauregard steckte dem Mann, der hinter ihr stand, zwei Karten zu. »Da, die kannst du behalten, wenn du dem Mädchen hier mal kurz den Platz freihältst«, sagte er. »Mit den Tickets kannst du dich vors Chinesische Theater am Hollywood Boulevard stellen und locker hundert Schleifen machen. Die Karten sind knapp, und jeder ist scharf drauf.«

Der Mann zog die Stirn kraus und besah sich die Karten in der Hand. Beauregard legte zwei weitere drauf. »Mehr ist nicht drin. Das sind garantierte zweihundert Schleifen, die du da hast; dafür kannst du dir den besten Mietschlitten, den's hier gibt viermal ausleihen. Besten Dank, Kumpel, du bist super.« Sam kicherte, als Beauregard sie aus der Warteschlange hinter sich herzog.

»Stimmt das, was du dem da versprochen hast?«

»Quatsch. Das sind Freikarten. Um die loszuwerden, muss er wahrscheinlich drauf zahlen.«

Sam schüttelte den Kopf. »Wie kommst du mit deiner Art eigentlich ungeschoren davon?«

»Du schaffst es doch auch, Schätzchen.« Er knuffte sie mit der Faust unterm Kinn. »Wo bist du gewesen?«

»In den Ozarks. Hübsche Gegend. Wieso trägst du das Logo von Para-Versal spazieren?«

Er schielte nach oben auf das Hologramm, das immer noch über dem Scheitel schwebte. »Hab mal zur Abwechslung Glück gehabt. Ich nehm teil an Tunnels im Nichts.«

Sam musterte die Freikarte, die er ihr gegeben hatte. »Und worum geht's?«

»Eine Gruppe furchtloser Entdecker reist durchs Universum und nutzt Schwarze Löcher als eine Art intergalaktisches U-Bahn-System, und diese Typen, die allen Gefahren und wissenschaftlichen Fakten lächelnd die Stirn bieten, nehmen dich mit auf die Suche nach spannenden Abenteuern. Tja, und da steckt Arbeit hinter. Daran bin ich beteiligt, vorausgesetzt, ich schaff das Publikum ran - das richtige.« Ohne mit der Wimper zu zucken, nahm er ihr das Ticket wieder aus der Hand. »Wie gesagt, manche ändern sich nie.«

»Das mag sein.« Sam schüttelte den Kopf. »Mehr gibt die Sache wohl nicht her, oder? Intergalaktisches U-Bahn- System. Du lieber Himmel, wer ist denn noch so blöd, dass er sich damit locken lässt?«

»Da fragst du noch? Guck dir doch den Kerl da hinten an, der demnächst meine Karten auf dem Boulevard loszuwerden versucht. Diversifications hat die Sache aufgepeppt. Die Werbung stammt von deren Kunden, und zurzeit werden die Spielrechte versteigert. Da steckt jede Menge drin.«

Bei der Erwähnung von Diversifications atmete Sam tief durch. »Tut mir leid, Beau, aber ich finde, du verschwendest nur deine Zeit.«

»Ja, ja. Hackerprogramme zu schreiben oder Bullen auszutricksen ist ja so viel honoriger.« Er zuckte die Achseln. »Ich hab Rosa meinen Computerkram verkauft. Sie hat Verwendung dafür.«

»Das hattest du auch mal«, entgegnete sie in ernstem Tonfall.

Er blickte zum Himmel, seufzte künstlich und brachte dabei sein Hologramm zum Wackeln. »Mann, warum machst du nicht wie die anderen 'nen großen Bogen um mich, bis ich wieder - Zitat - auf der Höhe bin - Zitat Ende?«

»Beau, wenn du dich angestrengt hättest, könntest du selber groß rauskommen, und zwar nicht mit Blödsinn wie Tunnels im Nichts, sondern mit richtig guten Sachen. Du weißt ja, das Dr.-Fish-Virus haben viele dir zugeschrieben, dem, der's geschafft hat, ohne aufzufliegen.«

»Na, das haben wir zwei dann wohl miteinander gemein.« Sein Gesicht war ohne jede Miene. »Aber dir brauch ich doch wohl nicht zu sagen, dass es immer schwieriger wird, Tritt zu finden. Sämtliche Studios rüsten um auf totale Simulation, und was soll man davon halten? Keiner mehr zu Hause, oder was? Nichts gilt mehr.«

»Vielleicht wird's die totale Simulation bald geben, Beau«, sagte Sam und versuchte, locker zu bleiben. »Morgen wohl noch nicht, aber ziemlich bald. Für deine Gewerkschaft und all die anderen wahrscheinlich viel zu schnell. Für dich wird's dann zu spät sein, es sei denn, du springst beizeiten mit auf den Zug.«

»Keine Lust. Wo's lang gehen soll, will ich selber bestimmen. Wenn das zurzeit nicht aktuell ist, schreib mich getrost ab. Erwarte nicht von mir, dass ich den Leuten verklickere, worauf sie abfahren sollen.«

»Touché, Herzchen.« Sam streckte beide Hände aus. »Frieden?«

Er klinkte sich kurz in ihre Finger ein und schaute verlegen aus der Wäsche. »Ich hab dich nicht aus der Warteschlange gezogen, um mit dir zu streiten. Schön, dich wiederzusehen, Sam.«

»Gleichfalls.« Sie stockte. »Du hast in letzter Zeit nicht zufällig jemanden gesehen?«

»Ha, wen denn zum Beispiel?«

»Och, Rosa, Gator...«, und achselzuckend: »Keely?«

Beauregard schüttelte den Kopf und ließ das Hologramm kreisen. »Nein, tut mir leid.« Er fuhr ihr zart mit der Fingerspitze die Wange entlang und sah sich um. »Du, ich muss weiter...«

Sie nickte. »Wir sehen uns, Beau.«

»Ja, wenn ich Glück habe.« Er setzte seine Marktschreierei fort. Sam rückte wieder in die Schlange ein und lächelte dem Mann zu, der immer noch die beiden Vorschaukarten in der Hand hielt.

»Entschuldigung«, sagte er, als Sam gerade dabei war, die Kopfhörer aufzusetzen. »Ist es wahr, dass ich dafür was kriege?«

»Tja, vielleicht«, antwortete sie. »Bestimmt sogar. Versuchen Sie's.«

»Der Kerl von vorhin hat mich doch nicht angeschmiert, oder?« Er sah alles andere als zufrieden aus.

»He, er hat Ihnen die Karten umsonst gegeben. Angeschmiert werden Sie nur, wenn Sie sich tatsächlich die Vorschau ansehen. Willkommen in Hollywood, Mister.«

 

Eine halbe Stunde später saß sie in einem Mietwagen, der als Zweisitzer gehandelt wurde, einzig und allein aus dem Grund, weil ein zweiter Sitz eingebaut war. Sam hätte es kaum gewagt, mehr als ihren Matchbeutel zuzuladen, was ihr aber zurzeit nicht weiter problematisch war. Wie gewöhnlich gab der Bordcomputer GridLid falsche Verkehrsdaten an, so dass sie am Sepulveda mitten in einen Stau geriet, der sie, wie es schien, noch eine Weile aufhalten würde. Außerhalb der amorphen Masse von Datenübermittlern gab es ein paar kleine, unabhängige Funkstationen, die auf Anruf Verkehrsberichte durchsagten. Sam warf einen Blick auf den Hörer, der vom Armaturenbrett herabbaumelte. Ach was, für einen Anruf war es jetzt sowieso zu spät.

Fez würde ihr raten, den Stau als Gelegenheit zur Entspannung zu nutzen. Vermittels verstopfter Straßen ruft die Stimme der Natur zur Pause auf. Aber von Fez' Empfehlungen war ohnehin nicht viel zu halten, hatte er ihr, Sam, doch davon abgeraten, sich mit ihren Eltern zu versöhnen.

Seufzend blickte Sam auf die Navigationsanzeige. Statt der Straßenkarte, die noch soeben aufgeleuchtet hatte, zeigte sich nun eine Menüdatei. Guter alter GridLid. Tut uns leid, Leute, dass wir euch nicht rechtzeitig vor dem Stau gewarnt haben, aber da ihr nun mal drinsteckt, wollen wir euch auf angenehme Art ablenken.

Das Angebot war bescheiden und beschränkte sich auf das Herkömmliche der verschiedenen Dienstleister, Spiele mit Text und/oder Ton. Schmunzelnd registrierte Sam das Angebot von FolkNet: Memorie und Mensch ärgere dich nicht. Wer gegen den Gedächtnisspeicher von GridLid nicht ankam, konnte versuchen, sich würfelnd über das Elend, im Schritttempo voranzuschleichen, hinwegzutrösten.

Sie drückte die Scroll-Taste auf der Tastatur zwischen den Sitzen, und die Menüeintragungen glitten nach oben. Nachrichten aus der Geschäftswelt: lokal, regional, national, international; Sportnachrichten; Lunarium; Kleine Sünden aktuell - das machte neugierig: Prominente übergeben sich in der Öffentlichkeit und anderer heiß begehrter Klatsch - CrimeTime; Welt der Medizin; L.A.- Kino mit den!neusten! Video-Ausgaben.

Sam wählte letzteres und fühlte sich ein wenig besänftigt. Der billige Monitor hatte zwar eine miserable Wiedergabe, aber immerhin würde sie neue Musiktitel hören können, und vielleicht ließen sich ein paar gute Krypto-Vehikel finden. Kryptos machten Spaß - spielt das Zeug schräg ab, Leute, und lauscht einer Nachricht vom Teufel. Keely fuhr voll darauf ab.

Keely hasste Speed-Thrash.

Dieser Gedanke kam ungerufen, nistete sich in Sams Gehirn ein und wartete darauf, verarbeitet zu werden. Keely hatte ihr seine Nachricht, in Speed-Thrash getarnt, zukommen lassen, dabei hasste er Speed-Thrash. Wenn Speed-Thrash Teil des göttlichen Plans gewesen wäre, hätte mich der Herr im Himmel taub zur Welt kommen lassen.

Na und? Keely wusste, dass sie den Mist gerne hörte. Womöglich wollte er eine Mitteilung überspielen, die ihr gefallen könnte.

Sam verzog das Gesicht. Die Sache kam ihr merkwürdig vor. Keely hatte es eilig gehabt und jede Menge Krypto-Vehikel zur Auswahl, von den Brandenburger Konzerten bis hin zu seinen überaus geschätzten Edgar - Varese-Schnulzen, und auf all diese Nummern hatte er schnellen Zugriff, einen schnelleren als auf Speed-Thrash, zumal dem neusten Stück.

Sie wählte die Liste der neuesten Speed-Hits an und tippte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad, während GridLid auf ihren Wunsch einging und sich mühsam auf die Suche machte. Beeilung, dachte sie zähneknirschend.

Ganze zehn Sekunden später schlug der Bildschirm die Seite auf. Endlich hatte Sam mal Glück. Auf Anhieb zeigte sich Audio-Exzerpt nach ihrem Geschmack: Durchdrehende Mechaniker von Scattershot. Als das Copyright eingeblendet wurde, riss sie die Augen auf: Aiesi/EyeTraxx, im Auftrag von Diversifications, Inc. 

EyeTraxx arbeitet im Auftrag von Diversifications? Seit wann, und warum wusste sie nichts davon? Sam schaltete ins Hauptmenü zurück und optierte für Nachrichten.

Zu erfahren war nur der übliche Klatsch aus der Szene. Allgemeines aus der Industrie, Sparte Rock-Videos, informierte darüber, wer wem seine Rechte abgetreten hatte, welche Künstler bei welchen Videofirmen unter Vertrag standen, wer gestorben war und wer zurzeit überhaupt nichts tat.

Rock-Video: Zugänge listete noch einmal auf, wer bei wem unter Vertrag stand. All das wusste Sam schon über ihre Ausgabe von Das tägliche Du, die ihr in den Ozarks zugespielt worden war.

Sie öffnete das Schiebedach und stellte sich auf den Sitz. In sämtliche Richtungen wucherten ununterbrochene Schlangen von Mietwagen und einigen Privatfahrzeugen aus. Vor ihr bewegte sich nichts. Sam kletterte wieder hinters Steuer und machte sich Luft. »Scheiße.«

»Schrecklich, nicht wahr?«

Aus dem Wagen links neben ihr lächelte der Fahrer mitfühlend. Sie nickte. »Schlimmer noch.«

»Ich finde, wir sollten uns alle zusammentun und GridLid verklagen, damit endlich mal das Programm sauber gemacht wird«, fuhr er fort. »Oder zumindest müssten Mietwagen ans komplette Datennetz angeschlossen sein. Was ich wirklich will, lässt sich in diesem Karren nicht auf rufen.«

»Mir geht's genauso.« Sam sah den Nachbarn fragend an. »Sie verfolgen nicht zufällig, was sich in der Rock-Video-Branche so tut?«

Sein Grinsen wirkte verlegen und gelangweilt zugleich. »Tut mir leid. Ich interessiere mich für Wetterberichte und Tägliches Allerlei, alles andere kann mir gestohlen bleiben.« Er blickte nach vorn. »Ich frage mich nur, warum all diese Leute nicht zu Hause bei ihren Familien sind.«

»Hallo, Sie da.« Eine junge Frau winkte Sam aus dem

Mietwagen zu, der hinter dem des Mannes stand. »Ich weiß über Rock-Videos Bescheid.«

Trotz der langen, pinkfarbenen Haare machte sie den Eindruck, weniger auf Thrasher- als auf Folkmusik zu stehen. Aber Sam war nicht wählerisch. »Ich hab da gerade was gelesen«, rief sie der Frau zu und zwängte sich aus dem Fenster. »Es heißt, EyeTraxx arbeitet für Diversifications. Wissen Sie was Genaueres?«

Die Frau setzte einen Blick auf, als würde sie Sam für nicht ganz gescheit halten. »Himmel, nein. Das hört sich ja nach Business an. Schnarch, schnarch.«

»Nichts für ungut«, meinte Sam kleinlaut und zog den Kopf ein. Business, na ja, was denn sonst? Sie kam sich dämlich vor, schaltete zum Hauptmenü zurück und wählte Nachrichten aus der Geschäftswelt an. Der Bildschirm forderte eine Auswahl unter den Rubriken lokal, regional, national und international. Spezifischere Angaben wurden nicht gemacht. Typisch. Echte Geschäftsleute zählten nicht zur Zielgruppe von GridLid; sie würden nicht in Staus geraten, sondern in Büros sitzen und ihre diversen Netzanschlüsse und Mailboxen abrufen. Wie Sams Mutter. Gib auf, dachte sie, zumindest bis sich eine bessere Gelegenheit bietet.

Fünfzehn Minuten später rollte der Verkehr um gute zwanzig Meter weiter, bevor er wieder stockte. Aber immerhin hatte Sam einen kleinen Eintrag gefunden unter Märkte auf einen Blick/New Yorker Börse schwungvoll. Dem Kurs von Diversifications war eine Fußnote beigefügt, die die Firmenbilanz vor und nach dem Erwerb von EyeTraxx in Vergleich stellte. Die Daten waren rund zwei Wochen alt, und ein Verweis auf zusätzliche Informationen fehlte.

Frustriert warf sich Sam im Sitz zurück und streckte die Arme durchs Schiebedach nach draußen. Sie wurde aus dem, was in Erfahrung zu bringen war, nicht schlau. Wenn es nichts zu bedeuten hat, ist es keine Information, würde Fez jetzt sagen.

»Fez, du schwätzt zu viel«, murmelte Sam. Sie hörte sich Auszüge aus den neuesten Speed-Thrash Veröffentlichungen an, und die Sonne stieg immer höher am Himmel.

 

GridLid rückte endlich mit der Meldung eines Unfalls raus, der sich knapp einen Kilometer weiter vorn zugetragen hatte. Doch inzwischen schlich der Verkehr in Fünf-Meter-Etappen voran. Ein paar Händler waren aufgekreuzt, die aus Bauchläden Verpflegung anboten, dann aber von der Polizei vertrieben wurden. Doch den Verkehr umzuleiten, bevor er stockt, das schaffen die Bullen nicht, dachte Sam verärgert; blitzschnell zur Stelle sind sie nur, wenn jemand Reibach machen will. Ihr Magen fing zu grummeln an. Die Bullen waren von der Unfallstelle herbeigejoggt, bevor einer der Händler Sams Wagen erreichen konnte.

Sie hatte vom Flughafen direkt zur Mimosa fahren wollen, musste aber jetzt unbedingt was zu essen besorgen, um nicht schlappzumachen. Auf dem Umweg der Artesia fand sie ein Drive-in-Restaurant, vor dem weniger als fünf Autos anstanden. Der an solchen Stationen angebotene Fraß war zwar nicht nach ihrem Geschmack, aber immerhin wurde hier auch etwas Vegetarisches verkauft.

Der Speiseschalter lag außerhalb ihrer Reichweite, und so musste sie sich aus dem Fenster hängen, um die Taste Sushi-Reis in Seetang-Tasche drücken zu können. Die Bestellung leuchtete inmitten des Bildschirms rot auf; Sekunden später blinkten die Worte!Gute Wahl! Reizend, dachte Sam. Mit!Lieber nicht! oder!Gift für dich! wäre wohl kaum zu rechnen gewesen.

Aus dem Getränkeangebot wählte sie Kaffee, koffeinhaltig, große Tasse, und der Kommentar, der nun zu lesen war, blinkte nicht. Die Ärzteschaft weist darauf hin, dass Koffein im Übermaß zu Chromosom-Veränderungen, Kopfschmerzen, Muskelverspannungen, Angstzuständen und Bewegungsstörungen führen kann. Schwangere Frauen, die auf bestimmte Substanzen allergisch reagieren, müssen mit Komplikationen rechnen. Verzicht ist ratsam. Fragen Sie Ihren Arzt.

Sam traute ihren Augen nicht. Das war ihr neu: ein besorgtes Schnellrestaurant. Trotzig schlug sie mit der flachen Hand auf das Bestätigungsfeld - zu spät, denn schon war ihr die Lust auf Kaffee verdorben, obwohl sie danach lechzte. Das moderne Leben machte krank in dem Versuch, Krankheiten vorzubeugen.

»Tolles Angebot«, sagte sie zu dem Mann am Fenster, als sie sich durchs offene Schiebedach reckte, um ihm ein paar zerknüllte Geldscheine in die Hand zu drücken.

»Ja, die Technik bringt's«, antwortete er interesselos. Er war groß gewachsen, sah gut aus, hatte schneeweiße Haare, grellgrüne Kontaktlinsen und gehörte offenbar zur jungen Generation aufstrebender Schauspieler. Typen seiner Sorte waren wahrscheinlich der ausschlaggebende Grund dafür, warum sich das alte Hollywood immer noch gegen Simulation behaupten konnte, dachte Sam. Wenn nicht mehr von lebendigen Vorgaben kopiert würde, wer täte dann Dienst in den Schnellrestaurants? »Augenblick noch«, sagte er und reichte ihr das Wechselgeld. »Es muss nur eben eine neue Dose Reis geöffnet werden.«

»Nett, dass man sich hier so um die Gäste sorgt«, sagte Sam. »Besonders hat mir die Warnung vor Kaffee gefallen.«

»Verflucht. George!«, brüllte er über die Schulter hinweg. »Das verdammte Virus hat sich wieder eingeschlichen!«

Sam lachte laut auf. Darauf hätte sie auch selber kommen können. Kein Zweifel: Doktor Fish ging mit Ratschlägen zur Gesundheit hausieren, ohne darum gebeten worden zu sein. Dabei waren seine Mitteilungen durchaus harmlos fürs System, nahmen nur Platz weg und verzögerten die Rechnergeschwindigkeit.

Ein älterer Mann, der bestimmt kein aufstrebender Schauspieler war, tauchte neben dem Grünäugigen im Fenster auf. »Ist es zu viel verlangt, Harmon, wenn ich dich bitte, unsere Probleme nicht so laut rumzuposaunen?«

Der junge Mann zeigte auf Sam. »Sie ist vor Kaffee gewarnt worden.«

»Es war bloß einer dieser Ratschläge der Ärzteschaft«, sagte sie achselzuckend. »Fällt nicht weiter auf.«

Der Alte musterte sie mit krauser Stirn, als wäre sie zur Verantwortung zu ziehen. »Großartig. Der Mist ist nicht wegzukriegen. Sooft ich glaube, die Platte ist sauber, taucht dieser Unfug wieder auf.«

»Weil er sich anscheinend selber reproduziert«, erklärte Sam. »Die infektiösen Daten lassen sich nicht einfach löschen. Sie haben Herpes und keine Cholera.«

Er wirkte leicht angewidert. »Wie bitte?«

Sam sah den Jungen an, der hinter vorgehaltener Hand zu grinsen anfing. »Cholera ist eine Krankheit, die man über ihre Symptome bekämpft. Herpesbläschen können zwar so behandelt werden, dass sie verschwinden, aber der Infekt bleibt in den Nerven und wartet auf die nächste Möglichkeit wieder auszubrechen.«

»Na, vielen Dank, gute Krankenschwester, auf die Belehrung hab ich den ganzen Tag gewartet.«

»Es ist ansteckend«, ergänzte Sam unbekümmert. »Es kann übertragen werden, ohne aktiv zu sein.«

Die Fahrerin im Mietwagen hinter ihr ließ kurz die Hupe träten. »Dauert's noch lange?«, wollte sie wissen und steckte den Kopf zum Fenster raus.

»Sie sind gleich dran«, rief ihr der Alte zu, und an Sam gewandt: »Sie haben offenbar Ahnung von der Materie.«

Sam zuckte die Achseln. Wenn der Kerl so daneben war, dass er nicht einmal von Dr. Fish gehört hatte, lohnte sich der Versuch wohl kaum, ihm auf die Sprünge zu helfen. »Wer einen Computer hat, sollte sich damit auch ein bisschen auskennen.«

»Ich leite hier nur den Betrieb, heuer Hilfen an und feuere sie.« Er warf dem Jungen einen Blick von der Seite zu. »Ich spendiere Ihnen ein Essen.«

Sam stützte die Ellbogen auf das Wagendach und faltete die Hände. »Warum?«

»Als Gegenleistung dafür, dass Sie das System in Ordnung bringen. Dann muss ich den Kundendienst nicht bemühen.«

»Versuchen Sie's doch selber«, antwortete Sam.

»Ich? Ich hab von Computern nicht den geringsten Schimmer.«

»Sie wissen doch wohl, wo der Schalter zum Ausmachen ist, oder?«

Er nickte. »Ja, und?«

»Schalten Sie aus. Dann haben Sie Ihre Ruhe. Nur so lässt sich ein Virus kleinkriegen, auch wenn Ihnen die Service-Leute was anderes erzählen. Am besten, Sie ziehen den Stecker raus.«

Der Mann verdrehte die Augen. »Ausgeschlossen. Wir hängen mit unserem Menü am Netz; die Zentrale nimmt den Umsatz auf. Wir sind bloß Peripherie. Wenn ich abschalte, schickt man uns einen Prüfer auf den Hals, und ich steh dann unter Verdacht, Einnahmen veruntreut zu haben.«

Der junge Typ stand hinter dem Alten und schlenkerte die halb geschlossene Faust in eindeutiger Geste auf und ab. Um einen Lachanfall zu unterdrücken, biss sich Sam auf die Unterlippe.

»Na schön, wenn Sie kein Freiessen haben wollen, bitte sehr. Vertragen könnten Sie's aber, und mehr als eine Portion, wenn ich Sie so sehe.«

»Sie haben nur eine angeboten«, antwortete Sam gelassen. »Und mit dem Geld, das eine Firma für die Reparatur verlangen würde, könnte ich mir ein Jahr lang täglich den Wanst vollhauen.«

»Dann eben nicht.« Er zog den Kopf aus dem Fenster zurück und wandte sich dem jungen Mann zu, der sich plötzlich heftig am Haaransatz kratzte. »Soll das Virus bleiben, wo es ist, und von mir aus die Kundschaft abschrecken, Kaffee zu trinken. Dann verkaufen wir eben mehr Kräutertee.« Er marschierte ab.

Der Junge grinste Sam zu. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Ich hätte wahrscheinlich sowieso nichts machen können, denn es ist gut möglich, dass das Virus in der Startdatei sitzt und aktiv wird, sobald der Kasten eingeschaltet wird.«

»Ist doch egal, solange es nichts kaputt macht«, meinte Grünauge achselzuckend. »Die meisten lesen drüber weg wie über Graffiti.«

Wieder hupte es hinter Sam. »Ich fragte, ob's noch lange dauert?«, rief die Fahrerin, diesmal deutlich lauter.

»Geduld, wir sind gleich soweit«, antwortete Sam. Der Junge im Fenster reichte ihr eine kleine Tüte und einen großen Thermo-Becher mit Verschlussdeckel. Sie dankte und ließ den Wagen ein Stück vorrollen, um der Frau hinter ihr Platz zu machen. Dann riss Sam die Tüte auf und machte sich über die Mahlzeit her. Die Reiskugel kegelte aus dem Seetang-Hörnchen, fiel ihr in den Schoß und zerkrümelte. »Scheiße«, fluchte sie, wischte den Reis mit einer Hand von den Beinen und fuhr zurück auf die Artesia in Richtung Mimosa.

 

»Wo ist Gator?«, fragte sie den Knaben im Zelt. Er schien an die fünfzehn Jahre alt zu sein, hatte ein drolliges, rötliches Puttengesicht und verfilzte dunkle Rasta-Locken.

»In der Kirche«, antwortete er und zog die Hose höher, die aus ausrangierten Krankenhausbeständen stammte. Er sah darin aus wie ein minderjähriger, obdachloser Chirurg.

»In der Kirche?«

»Ja. Sie hat gesagt, sie will beten gehen, damit Gott dir vergibt.«

Sam klimperte mit den Lidern. »Ich bin in der Hölle«, sagte sie verwundert. »Die Welt ist untergegangen, als ich gerade weggesehen habe, und jetzt bin ich in der Hölle.« Sie rieb sich mit dem Handrücken die Stirn und versuchte nachzudenken. Immerhin sprach der Junge englisch. »Hat Gator dir wirklich aufgetragen, mir das zu sagen?«

Der Junge wirkte verlegen. »Jedenfalls soll ich das jedem sagen, der hier aufkreuzt, um tätowiert zu werden.«

Sam lachte und lachte immer noch, als sie sich in Gators alten Friseursessel fallen ließ und damit den Jungen in Aufregung versetzte.

»He, steh lieber wieder auf. Gator hat versprochen, mich umzubringen, falls ich hier jemanden Scheiße bauen lasse.«

»Ich baue keine Scheiße, ich lache«, entgegnete Sam müde. »Verstehst du den Unterschied?« Sie ließ den Sessel herumkreisen. Der Drucker stand wie immer in der Ecke, aber den Laptop schien Gator mitgenommen zu haben. In die Kirche. In St. Weckmanns Zuflucht für unheilbar Uninformierte, wo immer die zurzeit zu finden war.

Plötzlich erinnerte sie sich an die Insulin-Pumpe in ihrer Tasche.

»He«, maulte der Knabe und folgte ihr in die Ecke. »Dass du hier rummachst, wird Gator mit Sicherheit nicht passen.«

»Ich mach nicht rum, ich schließ mich an«, sagte Sam und entwirrte das Kabel, das hinter einem Tischbein versteckt war. Sie fand den Anschluss, steckte ihn in die ehemalige Pumpe und verband diese mit der Sonnenbrille und dem Abspielgerät. »Wenn Gator zurückkommt, werde ich dafür sorgen, dass du nur so viel Fett abkriegst, wie du verdienst.«

Sie hockte sich auf den Sandboden und setzte die Sonnenbrille auf. Der Monitor im linken Glas leuchtete auf, flackerte eine Weile und stellte sich auf die Brennweite ihres Auges ein. Auf ihrem Knie war ein Schalter. Sie plierte über den Brillenrand und fixierte den Jungen.

»Du hast ja Läuse«, sagte der und zeigte dabei auf ihre Hose.

»Das ist Reis«, korrigierte sie. »Und jetzt stör mich nicht. Ich rufe Gebet-frei-Haus.«

»Ihr alten Weiber seid echt religiös«, murmelte er.

Augenblicke später hatte Sam den Zugang zur Zuflucht für die unheilbar Uninformierten erreicht. Sie ignorierte die Sperren und gab den Befehl für eine Konferenzschaltung ein.

Sie sind falsch informiert, stand auf dem Schirm zu lesen. Konferenzschaltungen sind auf dieser Ebene nicht möglich. Eine Spende bitte, wenn Sie beten wollen. Wenn nicht, verlassen Sie das Programm.

Sam musste am unteren Brillenrand vorbeischielen, um die winzige Tastatur an der Pumpe bedienen zu können.

Finden zurzeit Dienste statt?, wollte sie wissen.

Gebetsstunden verlangen eine Spende.

Sie rief die Standardeinstellung der angeschlossenen Insulin-Pumpe auf und schaltete das System zu. Nach einer kurzen Pause meldete der Schirm: Der Arzt lässt bitten.

Sam krauste die Stirn. Der Arzt? Verteilte Sankt Weckmann Viren an alle, denen er nicht traute? Sie hackte erneut auf der kleinen Tastatur herum, als eine weitere Botschaft auf dem Schirm aufleuchtete.

Schön, von dir zu hören, Sam. Geh zu Fez und lass dich einweihen. Schlagartig war der Kontakt unterbrochen, und das ganze System stürzte ab.

Sam nahm die Brille von der Nase und rieb sich die Augen. Fez. Klar doch. Ihn hätte sie sofort aufsuchen sollen. Er wusste alles oder fast alles. Vielleicht wusste er auch, wo Keely steckte oder was dessen schematische Zeichnung eines menschlichen Neurons, die er ihr, in

Musik verschlüsselt, die er nicht leiden konnte, hatte zukommen lassen, mit dem Aufkauf einer Video-Produktionsfirma durch Diversifications zu tun hatte. Vielleicht wusste Fez eine Antwort darauf. Irgendjemand musste doch Bescheid wissen.

 

 

 

 

  4.

 

 

Das Haus lag ruhig da wie auch die Straße, aber Gabe wusste, dass dies nur dem Anschein nach so war.

Links stand Marly. Sie stieß ihn an und sagte leise: »Innen ist es noch unheimlicher als von außen. Costa erzählt, dass mal jemand darin verhungert ist, bevor er den Ausgang finden konnte.«

Gabe schüttelte den Kopf. »Du glaubst wohl alles, was Costa erzählt.«

»Die Geschichte glaube ich. Er ist nämlich schon drin gewesen im Unterschied zu uns.« Sie schaute über seine Schulter hinweg auf Caritha, die rechts von ihm stand. Sie hielt einen Cam-Projektor in der Hand und lächelte zuversichtlich. Gabes Zweifel mehrten sich. Der Projektor war viel zu klein, aber einen besseren hatte sie in der Kürze nicht auftreiben können. Viel zu klein war auch Caritha. Die späte Nachmittagssonne schien in den kurzgeschorenen schwarzen Haaren Funken zu schlagen. Marlys Haar war dagegen eine Mähne, die ihr honigfarben und wild über die Schultern fiel.

Als hätte sie seine Gedanken erraten, packte sie die Wolle mit beiden Händen und knotete sie über dem Hals zusammen. Gabe starrte fasziniert und staunte, dass der Dutt nicht wieder auseinanderfiel. Womöglich hielt ihn Marlys Willenskraft zusammen. Gabe hätte sich nicht gewundert. Sie lächelte ihm zu und schlang einen muskulösen Arm um seine Schulter. »Du willst doch wohl nicht ewig leben.«

Gabe winselte. Marly war knapp zehn Zentimeter größer als er, wahrscheinlich auch schwerer. Jedes Pfund schieres Muskelfleisch. »Zerquetsch mir nicht das Schlüsselbein, vielleicht brauch ich's noch.«

»Du willst alles für dich allein, gell, mein kleiner Glühfix?« Marly drückte ihn herzhaft und ließ ihn los.

»Im Augenblick will ich nur eins: rein ins Haus, deinen Freund rausboxen und verschwinden«, antwortete Gabe.

»Ich will das Virenprogramm«, meinte Caritha ernsthaft. »Mich stört's, dass solche Kliniken anderer Leute Gehirne vermacken.«

»Mich stören Kliniken schlechthin«, erwiderte Marly. »Kommt. Richten wir ein bisschen Schaden an.«

 

Die Glocke am Eingang blieb unbeantwortet. Caritha griff zum Türknauf, und Gabe hörte ein leises Zischeln.

»Verdammte Scheiße«, fluchte Caritha. »Das Ding steht unter Strom.«

»Unverhohlen feindselig«, kommentierte Marly und zog eine kleine Plastikkarte aus der Brusttasche. »Nur gut, dass ich mir von Costa den Schlüssel besorgt habe.«

Gabe inspizierte den Türrahmen. »Ja, aber wo stecken wir ihn rein? Ich sehe keinen Schlitz.«

»Sieh mal genauer hin.« Marly langte nach oben an den Türsturz und schob die Karte hinein. Sie verschwand, und Sekunden später öffnete sich die Tür. Caritha trat als erste ein und hielt den Projektor in Bereitschaft. Marly folgte, dann kam Gabe. Er schaute sich um und sah, bevor die Tür zuschlug, mitten auf der Straße eine kleine Gestalt stehen, ein Kind, das die Hand wie zum Abschiedsgruß erhoben hatte. Gabe interpretierte diese Geste als schlechtes Omen. Aber vielleicht, so beruhigte er sich wieder, spielte jemand aus der Klinik mit einem Hologramm, um sie zu erschrecken.

Sie standen in der düsteren Eingangshalle, die schaurig antiquiert war. Die auf Hochglanz polierten Holzvertäfelungen sahen kalt und nass aus. Marly fasste seinen Arm, und gemeinsam folgten sie Caritha durch die Halle.

Vor dem ersten Durchgang blieb Caritha stehen und winkte sie zurück. Marly presste sich rücklings an die Wand und schlug einen Arm über Gabes Brust. Im Obergeschoss waren leise Schritte zu hören, die die gesamte Deckenlänge entlangschlurften und dann zum Stillstand kamen. Gabe wartete darauf, eine Tür aufklicken zu hören, aber es blieb beklemmend still.

»Ich weiß, dass Sie da sind«, tönte eine Frauenstimme. Gabe zuckte zusammen. Marly klopfte ihm beruhigend auf die Rippen, doch dass auch sie angespannt war, spürte er deutlich.

»Es wäre wohl angebracht, Sie kommen herein und stellen sich vor, wie es sich gehört«, fuhr die Frau fort. »Es sei denn, Sie sind Einbrecher, aber dann werden Sie feststellen, dass wir Ihnen sehr viel mehr wegnehmen können als umgekehrt. Kommen Sie nur.«

Caritha fuhr herum und stellte sich in den Durchgang.

»So ist es richtig. Und nun Ihre beiden Freunde. Es sind doch zwei, oder? Einer davon ist enorm kräftig gebaut.«

Marly trat neben Caritha, Gabe gesellte sich zu ihnen. In dem altmodisch eingerichteten Zimmer stand eine greise Frau mit schwarzem Kleid, das bis zum Boden fiel. Auf dem runden Tisch vor ihr waren Flaschen, geöffnete Pillendosen und mehrere blanke Metallkästchen zu sehen.

Caritha brachte den Projektor in Stellung. Die Frau verschwand zur Hälfte. »Hab ich mir doch gedacht«, meinte Caritha und erweiterte den Strahlenwinkel, um den Tisch mit einfangen zu können. Die Flaschen verschwanden. »Billige Holo-Show. Sie haben sich mitten im Haus vergraben und rücken nie so nahe an eine Außenwand.«

»Augenblick«, sagte Gabe mit Blick auf den Tisch. Das Hologramm der Frau war erstarrt; sie hielt eine Hand am hochgeschlossenen Kragen. Einen Moment später brach die Übertragung völlig ab, und das Bild löste sich auf. »Nicht alles, was auf dem Tisch steht, gehört zur Show der Laterna magica.« Vorsichtig rückte er einen Schritt vor, aber Marly zerrte ihn zurück.

»Der Boden ist vermint«, sagte Caritha wie selbstverständlich.

Gabe fixierte das eine Metallkästchen, das nicht vom Tisch verschwunden war. »Ihr wollt doch das Programm. Ich bin sicher, es steckt in diesem Implantat.«

»Denk nach, Glühfix«, knurrte Marly. »Warum lassen die wohl ein Implantat so offen herumliegen?«

»Vielleicht haben Sie's nicht dahingestellt; vielleicht ist es ein Hinweis von deinem Freund.«

Gabe spürte, wie Marly ihre Hand von hinten in seinen Hosenbund zwängte und an der Unterwäsche zerrte.

»Verdammt, Marly«, zischte er. »Lass das!«

»Du wirst mir noch dafür danken«, flüsterte sie.

Doch er langte nach dem Tisch, legte eine Hand vorsichtig auf die Platte und tastete mit der anderen nach dem Metallkästchen. Als er die Finger darum schloss, öffnete sich der Boden. Er stürzte nach unten und riss Marly mit sich.

Er kegelte über eine Art Rutsche mit vielen Windungen und Kurven. Immer wieder prallte er mit den Schultern an den Rand. Marly sauste ihm im kurzen Abstand nach.

»Streck dich!«, schrie sie. »Versuch, dich festzukeilen!«

Es dauerte eine Weile, aber schließlich gelang es ihm, Knie und Ellbogen gegen die Seitenwangen zu stemmen und abzubremsen.

»Gabe?«, rief Marly weiter oben.

»Geschafft«, antwortete er außer Atem.

»Schaffst du's auch, wieder hochzukrabbeln?«

Er stöhnte. »Nein. Ich flieg einfach zurück, das ist auch nicht schwieriger.«

Er hörte Marly herbeirutschen und spürte ihre Hände an seinen Schultern. »Versuch's, ich halte dich«, keuchte sie angestrengt.

»Mich hochzuhieven, schaffst du nicht.«

»Nein, aber wenn du dich an mir festhältst, geht's vielleicht leichter.«

»Für wen?«

»Hör auf zu quasseln und mach endlich! Damit rechnet keiner, dass wir zurücksteigen.«

Ächzend stemmte er sich gegen den Rand der Rutsche. »Weil's nicht klappen kann.«

»Reiß dich zusammen, Glühfix«, sagte sie und hangelte sich ein Stück nach oben. »Wieso bist du überhaupt hergekommen?«

»Was blieb mir anderes übrig? Hätte ich euch die Kamera geben und viel Glück wünschen sollen?« Er rutschte mit dem Ellbogen aus, suchte verzweifelt Halt, befand sich aber schon wieder auf dem Weg nach unten.

»Verdammt!«, schrie Marly, und er hörte, dass sie ihm folgte.

Er landete auf einem Stoß muffiger Matratzen und wälzte sich zur Seite, bevor Marly aufprallte.

»Das passiert, wenn man sich nicht anständig vorstellt«.

Die Frau in Schwarz stand wenige Meter entfernt vor einer weißen Wand aus Leichtbeton. Gabe richtete sich zaghaft auf, klopfte den Staub von der Hose und hielt Marly die Hand hin. Doch sie schlug seine Hilfe aus und starrte auf die Frau. »Ist die Sache mit der Falltür nicht ziemlich einfallslos?«, fragte sie.

»Aber wirksam, technisch durchaus angemessen.« Die Alte schmunzelte. »Genau das, was Sie verdienen.«

»Glühfix, die da ist wahrscheinlich nicht echter als ihre Zwillingsschwester«, mutmaßte Marly und trat einen Schritt näher.

Plötzlich schrumpfte das Abbild der Frau zu einem grellen, roten Lichtpunkt zusammen.

»Deckung!«, brüllte Marly.

Sie lagen bäuchlings auf dem Boden, als aus dem Lichtpunkt eine rote Lanze wurde, die dicht über sie hinwegsauste und mit lautem Zischen auf die Rutsche traf. Der Gestank heißen Metalls füllte die Luft. Vorsichtig hob Marly den Kopf und blickte zurück auf die Matratzen. »Die haben offenbar ein paar hübsche Lichttricks auf Lager.«

Benommen gaffte Gabe auf die Stelle, wo das Abbild der Frau zu sehen gewesen war, und richtete dann den Blick auf die Rutsche. »Hat die Regierung nicht getönt, dass es unmöglich ist, Holos in Laserstrahlen umzuwandeln?«

»Unmöglich für die Regierung«, sagte Marly und sah sich argwöhnisch um. »Die Typen hier haben sich das Team, das daran gearbeitet hat, an Land gezogen und auf ihre Richtung hin getrimmt.« Sie stand auf. »Scheiße, wo sind wir? In einem Güterwaggon?«

Der Raum hatte die Ausmaße eines Eisenbahnwaggons. Fenster oder Türen waren keine zu sehen. Gabe entdeckte nur eine Öffnung, da nämlich, wo die Rutsche mündete. Marly riss eine der Matratzen auf und zerrte eine Handvoll Schaumstoff heraus. Den schleuderte sie vor die Betonwand; doch anstatt davon abzutropfen, verschwand das Zeug.

»Damit wäre die Frage beantwortet«, sagte sie und machte sich auf.

»Warte! Was hast du vor?«, sagte Gabe, als Marly auf die Wand zusteuerte.

»Wir werden mit Sicherheit beobachtet«, antwortete sie. »Und wenn sie uns sehen, will ich, dass auch wir sie sehen.« Sie ging durch die Wand. Gabe eilte ihr nach.

Hinter der weißen Wand öffnete sich ein langgestreckter Saal, beidseitig mit Betten vollgestellt, die allesamt belegt waren. Gabe ging in Habachtstellung, doch niemand bedrohte ihn oder Marly. Keiner in den Betten bewegte sich oder sagte ein Wort.

»Die Station«, murmelte Marly.

»Wo steckt das Personal?«, flüsterte Gabe.

»Das wird nicht gebraucht. Hier geht alles vollautomatisch.« Marly trat vor das erste Bett und hievte den Mann, der da lag, am Nachthemd auf. Er hing schlaff an ihrer Faust, die Augen weit geöffnet, aber blind. Im rasierten Schädel steckte mittig ein dickes, schwarzes Kabel, das mit kleinen Klammern fixiert war.

»Himmel«, stöhnte Gabe.

»Das Virenprogramm ist nur Beiwerk«, raunte Marly und legte den Mann zurück. »Hast du dich jemals gefragt, woher die Solomon Laboratorien all die frischen, echten und nicht synthetischen Neurotransmitter beziehen?«

Gabe war sprachlos.

»Und wenn du glaubst, hier einem dunklen Geheimnis auf die Spur gekommen zu sein, irrst du dich gewaltig«, ergänzte Marly. »Das ist allgemein bekannt. Selbst in dem Laden, wo du arbeitest. Während du deine Werbespots fabrizierst, stopft sich das obere Management seine regelmäßigen Dosen N/T rein, um Top-Leistung zu bringen. Wenn du hoch genug aufsteigst, kriegst du auch was davon ab.« Marly sah sich auf der Station um. »Falls Jimmy hier irgendwo liegt, sollten wir ihm einen letzten Gefallen tun, ihm das Kabel aus dem Kopf ziehen und verduften.«

Am anderen Ende des Saales tauchte die Silhouette eines Mannes auf. »He, Sie haben hier nichts verloren!« Der Mann rannte auf sie zu, doch plötzlich zuckte ein roter Blitz durch den Raum und spießte ihn auf. Er schlug der Länge nach auf den Rücken.

Wenig später stand Caritha mit gezückter Kamera neben Gabe. »Hab ich eigentlich schon erwähnt, dass ich an deiner Hardware ein paar Modifikationen vorgenommen habe? Ich hoffe, das stört dich nicht.«

»Bist du etwa die Rutsche runtergekommen?«, fragte er verblüfft.

»Klar, denn damit hat niemand gerechnet«, antwortete sie und zwinkerte ihm zu. »Habt ihr Jimmy gefunden? Ich hoffe nicht.«

»Wir haben noch nicht nachgesehen«, sagte Marly. »Kommt!« Sie eilten durch den Saal. Caritha tastete mit der Kamera die Betten ab. Gabe staunte. Sein Gerät war ursprünglich nichts anderes gewesen als ein einfacher Holo-Projektor mit Aufnahme- und Playbackfunktion, doch jetzt, nach Carithas Eingriff, schien ein optisches Schweizermesser daraus entstanden zu sein. Sie konnte so genial mit Hardware umgehen wie Sam.

Ihn drückte ein wenig das Schuldgefühl bei dem Gedanken an seine Tochter, doch zur Vertiefung blieb nun keine Zeit. Sie hatten das Ende des Saals erreicht. Er entdeckte drei leere Betten, doch schon schob Marly ihn und Caritha in eine Nische, die wie ein Fahrstuhl aussah. Hinter ihnen schnappte die Tür zu. Marly suchte noch nach der Schalttafel, als sich der Boden neigte und alle drei durch die schwarze Seitenwand kippte.

»Ohhh«, stammelte Caritha.

Vor ihnen lag nicht etwa ein weiterer Raum, sondern eine dunkle, enge Gasse, übersät von Müll und Maschinenschrott.

»Hier enden anscheinend die kaputten Geräte«, bemerkte Marly. Sie ging in die Hocke, gefasst darauf, sich verteidigen zu müssen.

»Versuch mal rauszufinden, wo wir sind«, forderte Gabe Caritha auf.

»Das ist nicht so einfach«, antwortete sie. Sie drückte einen Knopf an der Kamera, und ein heller Lichtkreis fiel auf die dreckverschmierte Seitenwand. Kurz darauf leuchteten in giftgrüner Farbe Worte auf, die so präzise wie beängstigend waren:

 

ZEIT: 10:30 h

TERMIN: 11:15 h, MONATSSITZUNG
ZUR AUFGABENVERTEILUNG

!!ZUR ERINNERUNG!! LUNCH MORGEN UM 12:30 h

W/MANNY RIVERA, WAHRSCHEINLICH RE QUOTA

VERSTRICHENE ZEIT: 24 MINUTEN, VERBUCHT BEI
GILDING KÖRPERPANZER
ABBRUCH: J/N?

 

Gabe stöhnte.

»Datensalat«, sagte Marly und grinste Gabe an. »Oder was meinst du?«

»Bestimmt«, murrte er. »Lieber hätte ich die Teufel der Technik zu Besuch als wieder auf eine dieser Sitzungen gehen zu müssen.«

Caritha zwickte ihn am Arm. »Soll ich nun bestätigen oder abbrechen?«

Gabe stand auf und versprach: »Ich hol euch gleich wieder ein.«

»J oder N?«

»Ja, verdammt«, fluchte er. »Ich meine, J. Aber lass das Ding laufen. Lass es laufen!«

Die Gasse wurde schwarz.

 

Der Abbruchbefehl öffnete automatisch die Verriegelung des auf den Kopf montierten Monitors. Der war brandneu und noch leichter als sein altes Modell. Trotzdem wurde er den Eindruck nicht los, eine Mülltonne auf dem Haupt zu tragen. Gabe setzte ihn behutsam ab und stöpselte die Verbindungsstecker aus seinem Hotsuit.

Er stand in der Simulationswerkstatt und suchte nach Orientierung. Sämtliche Glieder taten ihm weh, weil er, im

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Pat Cadigan/Apex-Verlag. Published by arrangement with The Marsh Agency Ltd., 50 Albemarle, London, W1S 4BD, England, acting in conjunction with The Mic Cheetham Agency, London.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Zasu Menil.
Translation: Michael Windgassen (OT: Synners).
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 05-17-2018
ISBN: 978-3-7438-6896-0

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