ROBERT E. HOWARD
Die Traum-Kobra
Erzählungen
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
1. Die Traum-Kobra
2. Das Schwarze Kanaan
3. ....es muss zerstört werden
4. Der Dämon des Rings
5. Das Haus unter den Eichen
6. Dermods Bann
7. Das Volk der Schwarzen Küste
8. Jene, die unter den Gräbern hausen
9. Der Löwe von Tiberias
10. Jene, die den Wind säen
11. Die Götter von Bal-Sagoth
Einzelnachweise
Das Buch
Robert E. Howard - der Schöpfer von Conan, dem Barbaren - hat neben seinen berühmten Romanen vor allem auch ein umfangreiches Werk an farbenprächtigen, spannenden Horror- und Fantasy-Erzählungen geschaffen (häufig mit historischen Bezügen), die in ihrem Einfallsreichtum zeitlos sind und die bis heute nichts von ihrer archaischen Kraft und ihrer Wirkung verloren haben.
Der Band Die Traum-Kobra versammelt neben der titelgebenden Erzählung noch zehn weitere Storys: Das Schwarze Kanaan, ...es muss zerstört werden, Der Dämon des Rings, Das Haus unter den Eichen, Dermods Bann, Das Volk der Schwarzen Küste, Jene, die unter den Gräbern hausen, Die Götter von Bal-Sagoth sowie die Erzählungen Der Löwe von Tiberias und Jene, die den Wind säen, welche vor dem Hintergrund der Kreuzzüge verortet sind.
Der Autor
Robert Ervin Howard (* 22. Januar 1906, + 11. Juni 1936).
Robert Ervin Howard war ein US-amerikanischer Autor von Fantasy-, Abenteuer- und Horrorgeschichten sowie mehrerer Westernromane. Er gilt als stilprägender Vertreter der Low Fantasy.
Howard wuchs in der kahlen und trockenen Landschaft von West-Texas auf und unternahm nur wenige Reisen. Als Heranwachsender arbeitete er auf den örtlichen Ölfeldern; darüber hinaus arbeitete er als Baumwollpflücker, Cowboy, Verkäufer, in einem Rechtsanwaltsbüro, als Landvermesser und als Journalist, bevor er sich durch den Verkauf seiner Geschichten an diverse Pulp-Magazine - vor allem Weird Tales, Thrilling Adventures, Argosy und Top-Notch - ein regelmäßiges Einkommen sichern konnte.
Seine erste Geschichte Spear And Fang verkaufte er im Jahre 1924 an Weird Tales. Dies war der Start einer ebenso kurzen wie beeindruckenden (und vor allem: nachwirkenden) Karriere als Schriftsteller: In den Folgejahren erschuf Howard seine bekanntesten Zyklen um Conan den Cimmerier, Kull von Atlantis, den Pikten Bran Mak Morn, den irischen Piraten Turlogh O’Brien und den englischen Puritaner Solomon Kane.
Die meisten Helden in Howards literarischem Nachlass sind latent depressiv (Solomon Kane, Turlogh O’Brien, Kull von Atlantis), was biographische Bezüge vermuten lässt. Lediglich Conan ist ein tendenziell naiver, von keinen Skrupeln oder tieferen Gefühlen berührter Abenteurer und Krieger. Über den Charakter Conan, der - vor allem auch durch die Verfilmungen in den Jahren 1982 und 1984 (beide mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle) sowie 2011 (mit Jason Momoa in der Rolle des Barbaren) - wohl die populärste der von ihm geschaffenen Figuren ist, sagte er, sie sei die realistischste von allen, da sie eine intuitive Kombination diverser Männer darstelle, mit denen er in seinem Leben zu tun gehabt habe.
Viele von Howards Fantasy-Geschichten spielen vor dem Hintergrund des – fiktiven – Hyborischen Zeitalters.
Howard war ein Brieffreund H. P. Lovecrafts, der auch Einfluss auf Howards Geschichten ausübte. Umgekehrt geht das fiktive Buch Unaussprechliche Kulte, dessen Erfindung häufig Lovecraft zugeschrieben wird, auf Howard zurück.
Robert E. Howard Howard beendete sein Leben im Alter von 30 Jahren durch Selbstmord. Als seine kranke Mutter ins Koma fiel und wenig Hoffnung auf Genesung bestand, stieg er in seinen Wagen und erschoss sich in der Einfahrt zu seinem Haus.
1. Die Traum-Kobra
»Ich wage es nicht einzuschlafen!«
Verblüfft starrte ich den Sprecher an. Ich kannte John Murken bereits seit Jahren und wusste, dass er ein Mann mit stählernen Nerven war. Als Forscher und Abenteurer hatte er die ganze Welt bereist und sich an den abgelegenen Orten der Erde mit allen denkbaren Gefahren herumgeschlagen. Während ich viele seiner Handlungen nicht zu billigen vermochte, hatte ich doch immer seinen rückhaltlosen Mut bewundert.
Nun aber, da er in meiner Wohnung stand, las ich echtes Entsetzen in seinen Augen. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann, athletisch im Bau und so hart wie Stahl und Fischbein, aber in diesem Augenblick schien er sich am Rand eines geistigen und körperlichen Zusammenbruchs zu befinden. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt, und die tief eingesunkenen Augen besaßen einen unnatürlichen Glanz. Während er sprach, waren seine Finger unablässig beschäftigt.
»Ja, mir droht Gefahr – eine schreckliche Gefahr! Aber sie kommt nicht von außen! Sie steckt in meinem eigenen Bewusstsein!«
»Murken, wovon reden Sie? Haben Sie den Verstand verloren?«
Er lachte stoßweise. »Ich weiß es nicht. Ich werde ihn zweifellos verlieren, sollte das so weitergehen. Die vergangenen zwei Nächte habe ich auf den Straßen zugebracht, mich wach gehalten, indem ich mich bewegte. Gestern musste ich mir eine Injektion geben, um nicht einzuschlafen, aber heute hilft die Droge nicht mehr. Ich stecke in einer fürchterlichen Klemme. Ich sterbe, wenn ich nicht zum Schlafen komme; und wenn ich einschlafe...« Mit einem Schauder brach er ab.
Ich starrte ihn erschrocken an. Es ist etwas Eigenartiges, um zwei Uhr morgens geweckt und mit einer solchen Geschichte konfrontiert zu werden. Mein Blick fiel auf seine rastlosen Finger. Sie waren blutig, voll unzähliger, kleiner Schnitte. Seine Augen folgten den meinen.
»Wenn ich anhalten und ein paar Augenblicke ausruhen muss, dann befestige ich mein Taschenmesser so, dass es, falls ich einschlafen sollte, in die sich entspannenden Hände schneidet und auf diese Weise meinen benommenen Sinn wieder zur Wachsamkeit veranlasst.«
»Um Gottes willen, Murken«, rief ich aus, »sagen Sie mir, was mit Ihnen los ist! Jagt Sie der Spuk eines Verbrechens, das Sie begangen haben, fürchten Sie, im Schlaf ermordet zu werden, oder was?«
Er sank in einen Sessel. Für den Augenblick schien er einigermaßen wach, aber die Lider sanken ihm müde über die Augen wie bei einem Mann, der sich dem Zustand nervöser Erschöpfung nähert.
»Ich erzähle Ihnen die ganze Geschichte, und falls sie sich anhört wie das Gestammel eines Irren, dann denken Sie daran, dass es viele Regionen des menschlichen Gehirns gibt, die noch unerforscht sind, und niemand weiß, was dort vor sich geht! Der Dunkle Erdteil! Nicht Afrika, sondern das Gehirn des Menschen!«, lachte er wild, aber dann fuhr er ruhiger fort:
»Vor etlichen Jahren war ich in einer Gegend Indiens, die von Weißen nur selten besucht wird. Der Grund, warum ich mich dort aufhielt, hat mit meiner Geschichte nichts zu tun. Aber während meines Aufenthalts erfuhr ich von einem Schatz, den der gefürchtete Räuber Alam Singh angeblich in einer Höhle in den Hügeln am Fuß der Berge versteckt hatte. Ein abtrünniger Hindu schwor, dass er zur Bande des Gesetz - losen gehört habe und die Höhle kenne, in der der Schatz rund zwanzig Jahre zuvor verborgen worden war. Wie die folgenden Ereignisse bewiesen, sprach er die Wahrheit. Ich nehme an, er beabsichtigte, den Schatz mit meiner Hilfe zu bergen und mich dann umzubringen, so dass alles ihm gehörte.
Jedenfalls machten wir uns auf den Weg in die niedrigen, dschungelbewachsenen Hügel. Nach ausgedehnter Suche gelangten wir schließlich an eine Höhle, von der mein Gefährte schwor, sie sei die richtige. Sie war gewaltig und hatte eine Öffnung am Hang des Hügels, aber dieser Eingang war zum Teil von Schlingpflanzen verhängt. Der Hindu glaubte nicht, dass außer ihm noch jemand von der Höhle wisse. Denn die Mehrzahl von Alam Singhs Gefolgsleuten war schon vor geraumer Zeit aufgehängt worden, und der Räuberhauptmann selbst hatte bei einem Überfall an der Grenze den Tod erlitten. Also betraten wir kühn die Höhle.
Wir erkannten sofort, dass wir einen Fehler gemacht hatten. Als wir uns durch die klebrigen Schlingpflanzen arbeiteten, sprangen uns von allen Seiten finstere Gestalten an. Wir erhielten keine Gelegenheit zur Gegenwehr. Den Hindu erstachen sie sofort, und mich trugen sie, an Händen und Füßen gebunden, in den Hintergrund der Höhle, wo sie eine Öllampe anzündeten. Ihr Licht warf unwirkliche Schatten auf die nackten Wände, den staubigen Boden der Höhle und die bärtigen Gesichter, die auf mich herabstarrten.
Wir sind die Söhne der Männer, die mit Alam Singh ritten, sagten sie. Wir haben diesen Schatz zwanzig Jahre lang bewacht und wollen ihn weitere zwanzig Jahre hüten, wenn das erforderlich ist. Wir bewahren ihn für Alams Schwestersohn, der eines Tages so groß wie sein Oheim sein und uns von den englischen Schweinen befreien wird.
Ihr werdet wie Alam Singhs Leute aufgehängt werden, wenn ihr mich tötet, antwortete ich.
Niemand wird davon erfahren, erwiderten sie. Viele Menschen sind schon in diesen Hügeln verschwunden, und nicht einmal ihre Gebeine hat man je entdeckt. Du kamst zu einer günstigen Zeit, Sahib. Wir haben bereits beschlossen, den Schatz an einen anderen Ort zu bringen. Du kannst die Höhle ganz allein für dich haben! Sie lachten bedeutungsvoll.
Ich wusste, dass mein Schicksal besiegelt war. Aber ich hatte keine Ahnung, welch fürchterlicher Untergang mir zugedacht war...« Ein Schauder ließ die kräftige Gestalt meines Besuchers erzittern.
»Sie fesselten mich an Händen und Füßen an kurze Pfähle, die sie in den Boden getrieben hatten. Ich konnte mich nicht rühren; nur den Kopf konnte ich drehen. Dann brachten sie von draußen die riesigste Kobra, die mir je zu Gesicht kam.
Dann zogen sie eine dünne Schlinge aus gegerbtem Leder über den dicken Teil des Schlangenkörpers, unmittelbar unterhalb des Kopfes, den man den Schild nennt, und befestigten das andere Ende des Lederstreifens in einer Nische in der Höhlenwand. Natürlich stieß das Reptil sofort nach mir, aber ich befand mich etliche Zoll außerhalb seiner Reichweite. Sie hängten einen Krug über den Lederstreifen, an dem die Schlange befestigt war, und der Krug war voll Wasser. In seinem Boden befand sich ein Loch, aus dem das Wasser langsam hervortropfte. Jeder Tropfen fiel auf das steife Leder. Sie wissen, trockenes ungegerbtes Leder ist hart und ohne Biegsamkeit. Wenn man es dagegen befeuchtet, kann man es strecken. Solange er trocken war, besaß der Riemen nicht genügend Länge, als dass die Kobra mich hätte erreichen können. Aber während das Wasser auf ihn herabtropfte, wurde er allmählich mit Feuchtigkeit gesättigt, und jedes Mal, wenn die Schlange auf mich zustieß, dehnte sie ihn um ein kleines Stück. So ließen sie mich in der Höhle zurück und trugen eine schwere Kiste fort, in der sich zweifelsohne der Schatz befand.
Wie lange ich da lag - ich weiß es nicht mehr. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden und Stunden zu Ewigkeiten. Mein Blick hing in tödlicher Faszination an dem langen, sehnigen Körper der Schlange, der sich mir mit rhythmischer Gleichmäßigkeit entgegenkrümmte und wieder zurückwich, und an dem teuflischen Schädel mit den brennenden Augen und dem deutlich gezeichneten Schild. Ich wand mich, ich schrie. Aber meine Fesseln hielten mich fest, und meine Schreie hallten leer durch die Höhle. Es war heiß, aber dennoch stand mir kalter Schweiß auf der Stirn. Ich verfluchte den toten Hindu und die, denen ich diese Marter verdankte. Ich verfluchte meine Habgier und, in einem Anfall sinnloser Wut, alles und alle auf dieser Erde.
Dann lag ich erschöpft und schweigend und beobachtete die Schlange aus Augen, die ebenso starr waren wie die ihren. Ich versuchte, den Kopf abzuwenden. Ich wollte mein Schicksal nicht mitansehen. Aber immer wieder wurde mein Blick gebannt. Ich erkannte, wo sie zubeißen würde, wenn sie den Riemen endlich weit genug gedehnt hatte: Mein linkes Handgelenk befand sich ihr am nächsten, und dort würde sie zustoßen, auf der Außenseite, unmittelbar über der Hand.
Die Zeit verging, und die mächtige Schlange fuhr fort, auf mich zuzustoßen - mit einer Hartnäckigkeit, die mich in Erstaunen versetzte. Sie stieß jetzt nicht mehr so oft zu, aber noch immer regelmäßig. Stück um Stück dehnte sich der Riemen. Jetzt war sie nur noch wenige Zoll von meinem Handgelenk entfernt. Das Fleisch an meinen Knochen sank in sich zusammen; in meinen Adern gefror das Blut angesichts des bevorstehenden Todes. Ein heftiges Gefühl der Übelkeit überkam mich. Plötzlich erlosch die Öllampe.
Eine neue Art der Todesangst überfiel mich. Das Ende in der Dunkelheit ist schlimmer als das Ende im Licht, selbst wenn es nur das Licht einer Ölfunzel ist. Ich schrie und schrie, bis mir die Stimme schwand. Jetzt hörte ich das Knarren des Riemens, als er sich dehnte - dehnte - jetzt fühlte ich den üblen Atem der Schlange auf der Haut meines Armes. Plötzlich war die Höhle erfüllt von Licht, Männer riefen, eine Pistole krachte, und ich sank in eine todesgleiche Ohnmacht.
Tagelang tobte ich im Fieberwahn und durchlebte mein grauenhaftes Erlebnis immer wieder von neuem. Das Haar war mir über den Schläfen weiß geworden. Meine Rettung war so knapp gewesen, dass ich noch immer nicht richtig an sie glauben konnte, und während meines Fieberwahns machte ich all die Halluzinationen durch, die manchmal dem Tod vorausgehen.
Tigerjäger - Weiße, von denen ich nicht einmal gewusst hatte, dass sie sich in der Gegend befanden - hatten meine Schreie gehört und waren gerade noch zur rechten Zeit gekommen. Sie erleuchteten die Höhle mit elektrischen Lampen, und einer von ihnen erschoss die Kobra.
Ich verließ Indien, sobald es mir möglich war, und bis auf den heutigen Tag verursacht mir der Anblick einer Schlange Übelkeit. Aber es war noch längst nicht vorüber. Etliche Monate später begann ich zu träumen. Stets war der Traum undeutlich, aber chaotisch. Ich erwachte schweißgebadet und war oft außerstande, wieder einzuschlafen.
Dann wurden die Träume allmählich deutlicher. Sie wurden ausgesprochen lebendig. Sie kehrten häufiger wieder. Sie überschatteten mein ganzes Leben. In jedem Traum sah ich alle Einzelheiten.
Seit jener Zeit habe ich denselben Traum Hunderte von Malen geträumt. Er beginnt ohne Einleitung. Ich liege wieder allein auf dem staubigen Boden von Alam Singhs Höhle, über mir brannte die Öllampe, und dieses schuppige Untier wirft mir seinen sehnigen Körper Mal um Mal entgegen. Bis vor kurzem indes hat der Traum jeweils abrupt aufgehört, bevor die Lampe erlosch. Aber ich kann den Riemen sehen, wie er sich dehnt - und ich sage Ihnen, mit jedem Traum dehnt er sich mehr! Die ersten Male, als ich davon träumte, war die Schlange noch ein gutes Stück von mir entfernt, der Riemen hatte sich kaum gestreckt. Dann gab er langsam nach, aber noch immer brauchte die Schlange dreißig bis vierzig Träume, um sich mir nur einen Zoll zu nähern. Seit jüngstem aber dehnt er sich mit furchterregender Geschwindigkeit.
Erst vor wenigen Nächten hatte ich den letzten Traum - und zum ersten Mal spürte ich, wie damals in der Wirklichkeit, den üblen Atem des Ungeheuers auf meinem Handgelenk. Die Lampe an der Wand flackerte - ich erwachte mit einem Schrei und der Erkenntnis, dass ich meinem Schicksal nicht entrinnen konnte. Costigan, in meinem Traum wird die Schlange auf mich zustoßen, und in der Wirklichkeit werde ich sterben!«
Ich konnte mich eines Schauders nicht erwehren.
»Murken, das ist Wahnsinn! Sie wurden in Wirklichkeit gerettet, in jener Wirklichkeit, von der Sie träumen - warum sollten Sie dann nicht auch von Ihrer Rettung träumen?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin kein Psychologe. Aber ich bin in meinen Träumen noch niemals bis an den Punkt gelangt, an dem mich die Schlange wirklich erreichte, geschweige denn darüber hinaus. Immer sind es die Kobra und ich, allein. Ich glaube, dass sich die Begebenheit meinem Gehirn so nachdrücklich eingeprägt hat, dass sie bis in eine der dunklen Ecken vordrang, von denen ich Ihnen erzählte, und dort in meinem Unterbewusstsein oder sonstwo die Bereitschaft erzeugte, den bevorstehenden Tod einfach hinzunehmen. Man sagt, dass gewisse Schichten des Gehirns Dinge tatsächlich erleben, die ihnen von höheren Schichten in Gedankenform übermittelt werden. Damals war alles außer der Todesangst und der Gewissheit des Todes aus meinem Bewusstsein verdrängt. Als die Jäger hereingestürmt kamen und mich retteten, war ich bereits im Fieberwahn. Ich glaube nicht, dass mein Unterbewusstsein die Rettung jemals wahrgenommen oder anerkannt hat, denn es war erfüllt von der Angst vor dem nahen Tod. Diese Erklärung ist nebelhaft und vage; ich kann nicht erklären, woher ich es weiß, aber ich weiß, dass ich sterben werde, wenn ich diesen Traum noch einmal erlebe! Die dunklen Tiefen des Unterbewusstseins, die nur dann arbeiten, wenn die höheren Schichten des Verstandes ruhen, werden das fürchterliche Drama so ausarbeiten, wie es sich in Wirklichkeit abgespielt hätte, wären diese Männer nicht zufällig des Weges gekommen, und an seinem Höhepunkt wird mein körperliches Leben ausgelöscht werden!«
»Auf der anderen Seite«, sagte ich, »ist es meine Meinung, dass Sie sich für immer von der Halluzination lösen werden, wenn Sie den Traum einmal zu Ende träumen. Die Jäger kommen hereingestürzt, die Traumschlange wird getötet, und Sie sind wieder Sie selbst.« Er schüttelte den Kopf und ließ in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände sinken.
»Ich trage das Mal des Todes«, sagte er, und es gelang mir nicht, ihn aus seiner fatalistischen Stimmung zu befreien.
»Allein diese Geschichte zu erzählen, hat mir zu einem gewissen Gleichmut verholten«, sagte er. »Ich werde schlafen. Wenn Sie recht haben, werde ich wieder erwachen, von diesem Fluch befreit. Wenn aber ich recht habe, erwache ich nicht in dieser Welt.«
Er bat mich sodann, das Licht brennen zu lassen, und legte sich auf mein Sofa. Er schlief nicht etwa sofort ein. Unterbewusst schien er gegen den Schlaf anzukämpfen, aber schließlich sanken ihm die Lider über die Augen, und er lag still. Im Schein der Lampe sah sein Kopf einem Totenschädel erschreckend ähnlich, mit eingesunkenen Wangen und fahler, pergamentähnlicher Haut. Der Alptraum hatte ihn offenbar körperlich wie geistig über alle Maßen beansprucht. Die Zeit schlich dahin. Auch ich wurde schläfrig. Es war mir fast unmöglich, die Augen offenzuhalten; ich staunte über die Ausdauer, mit der sich John Murken drei Tage und drei Nächte hindurch wachgehalten halte.
Murken murmelte im Schlaf und bewegte sich ruhelos hin und her. Die Lampe schien ihm voll ins Gesicht, und ich entschied, dass sie ihn störte. Ich blickte auf die Uhr auf dem Kaminsims. Die Zeiger standen auf fünf.
Ich drehte das Licht aus und bewegte mich in Richtung meines Schlafzimmers.
Da, plötzlich, stieß er in der Dunkelheit einen entsetzlichen Schrei aus: »Oh, Gott, die Lampe ist ausgegangen!« Ein zweiter Schrei folgte, und dieser Schrei ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Schweißbedeckt am ganzen Körper schaltete ich die Beleuchtung wieder ein. John Murken war tot, und sein verzerrtes Gesicht bot einen grauenhaften Anblick. Ich fand keine Wunde an ihm, aber seine rechte Hand hatte sich in einem verzweifelten Todesgriff um das linke Handgelenk geklammert.
2. Das Schwarze Kanaan
I.
»Ärger am Tularoosa Creek!«
Eine Warnung, die jedem wie ein kalter Schauer über den Rücken lief, der in jenem gottverlassenen Stück Hinterland namens Kanaan, zwischen dem Tularoosa und dem Black River, aufgewachsen war - genug, um ihn zur schleunigen Heimreise in die sumpf- umgürtete Gegend zu veranlassen, ganz gleichgültig, wo er die Botschaft hörte.
Es war nur ein Flüstern von den Lippen eines dahinschlurfenden alten Negerweibs, das in der Menge verschwand, bevor ich es festhalten konnte; aber es war genug. Ich brauchte keine Bestätigung, brauchte nicht zu wissen, auf welch geheimnisvolle Art die Botschaft bis zu ihr gelangt war. Es reichte aus, dass die Warnung gegeben worden war.
Binnen einer Stunde hatte ich New Orleans weit hinter mir gelassen. Jeden, der in Kanaan geboren war, verband ein unsichtbares Band mit der Heimat, das ihn dorthin zurückzog, wann immer der üble Schatten, der seit einem halben Jahrhundert im Versteck des Dschungels lauerte, seine Heimat bedrohte.
Selbst die geschwindesten Boote, die ich mir auslieh, bewegten sich mit wahnsinnstreibender Langsamkeit den großen Strom und später den kleinen, aber reißenderen Nebenfluss hinauf. In mir brannte die Ungeduld, als ich am Landungssteg von Sharpsville von Bord ging. Fünfzehn Meilen lagen noch vor mir. Mitternacht war vorüber, aber ich rannte zum Mietstall, wo zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Pferd bereitstand.
Während ein Negerjunge das Geschirr anlegte, wandte ich mich an den Besitzer des Stalles, Joe Lafely. Er gähnte, während er die Laterne in die Höhe hielt. »Ich höre, es gibt Ärger am Tularoosa.«
»Weiß nicht. Hab' was läuten hören. Aber ihr Leute aus Kanaan seid ein mundfaules Pack. Draußen weiß nie einer, was da drinnen vor sich geht...«
Die Nacht verschlang seine Laterne und die Laute seiner Stimme, als ich nach Westen davonritt.
Der Mond war groß und rot, als er hinter den Kieferbäumen unterging. Eulenrufe schallten durch den Wald, und irgendwo weit in der Ferne heulte ein Hund. In der tiefen Finsternis vor Anbruch der Dämmerung überquerte ich den Nigger Head Creek, ein schimmerndes, schwarzes Band, das von Wänden tiefer Schatten gesäumt wurde. Die Hufe des Pferdes platschten durch das seichte Wasser und klirrten inmitten der Stille unheimlich laut gegen die nassen Steine. Jenseits des Nigger Head Creek begann das Land, das man Kanaan nannte.
Der Nigger Head Creek entspringt in demselben etliche Meilen nordwärts gelegenen Sumpf, aus dem auch der Tularoosa kommt, und fließt geradeswegs nach Süden, um sich einige Meilen westlich von Sharpsville mit dem Black River zu vereinigen. Der Tularoosa fließt dagegen westwärts und mündet an einem weiter aufwärts gelegenen Punkt in den Fluss. Die allgemeine Richtung des Black Rivers ist von Nordwesten nach Südosten. Die drei Wasserläufe bilden somit ein unregelmäßiges Dreieck: Kanaan.
In Kanaan lebten die Söhne und Töchter der Grenzbewohner, die dieses Land als erste besiedelt hatten, und die Nachkommen ihrer Sklaven. Joe Lafely hatte recht: Wir waren ein abgekapseltes, maulfaules Volk, das eifersüchtig über seine Abgeschlossenheit und Selbständigkeit wachte.
Jenseits des Nigger Head Creek wurde der Wald dichter, die Straße enger. Sie wand sich durch uneingezäunte Kiefernstände, die hier und da mit Wassereichen und Zypressen durchsetzt waren. Kein Geräusch war zu hören außer dem sanften Klappern der Pferdehufe im dünnen Staub und dem Knarren des Sattels. Dann aber ertönte aus dem Dickicht ein Lachen.
Ich zügelte das Pferd und spähte in den Wald. Der Mond war untergegangen und die Dämmerung noch eine Zeitlang entfernt, aber ein matter Schimmer zitterte inmitten der Bäume, und innerhalb des Schimmers sah ich undeutlich eine Gestalt unter den moos- behangenen Zweigen. Meine Hand suchte instinktiv den Kolben einer der beiden Duell-Pistolen, die ich im Gürtel trug, und die Bewegung produzierte ein weiteres singendes Lachen, spottend und zugleich verführerisch. Ich erblickte ein braunes Gesicht, ein Paar funkelnder Augen, blendendweiße Zähne, die zu einem frechen Lächeln entblößt waren.
»Wer zum Teufel bist du?«, verlangte ich zu wissen.
»Warum reitest du so spät, Kirby Buckner?« Spott schwang in den Worten. Der Akzent der Stimme war fremd. Ein wenig vom Singsang der Neger lag darin, aber es war eine volle Stimme, sinnlich wie der wohlgerundete Körper ihrer Besitzerin. In dem reichen, dunklen Haar schimmerte blass eine weiße Blüte.
»Was hast du hier verloren?«, wollte ich wissen. »Du bist ziemlich weit weg von der nächsten Negerhütte. Außerdem kenne ich dich nicht.«
»Ich kam nach Kanaan, nachdem du ausgezogen warst«, antwortete sie. »Meine Hütte steht am Tularoosa. Aber jetzt habe ich mich verirrt. Und mein armer Bruder hat sich am Bein verletzt und kann nicht mehr gehen.«
»Wo ist dein Bruder?«, fragte ich voller Unbehagen. Ihr perfektes Englisch irritierte mich. Neger sprachen nicht so.
»Dort hinten im Wald - weit hinten!« Sie machte eine Geste in Richtung des finsteren Gehölzes und lächelte dazu mit kühner Unverschämtheit.
Ich wusste, dass es keinen verletzten Bruder gab, und sie wusste, dass ich es wusste, und lachte mich dafür aus. In mir wühlten miteinander streitende Gefühle. Ich hatte nie zuvor eine schwarze oder braune Frau auch nur eines Blickes gewürdigt. Aber dieses Mulattenmädchen war anders als alle, die ich bisher gesehen hatte. Ihre Züge waren so ebenmäßig wie die einer weißen Frau, und ihre Sprache klang anders als die einer gewöhnlichen Negerin. Jede ihrer Bewegungen machte deutlich, wie sehr sie sich von der Menge gewöhnlicher Weiber unterschied. Ihre Schönheit war ungezähmt und zügellos, eher aufpeitschend als besänftigend, dazu geschaffen, einen Mann blind und schwindelnd zu machen und in ihm die wildesten Leidenschaften zu entfachen.
Ich erinnere mich kaum noch, dass ich abstieg und das Pferd festband. Das Blut pochte dröhnend in den Schläfen, als ich sie misstrauisch und doch fasziniert anfuhr:
»Woher kennst du meinen Namen? Wer bist du?«
Mit einem herausfordernden Lachen ergriff sie meine Hand und zog mich in das Waldesdunkel.
»Wer kennt Kirby Buckner nicht?«, lachte sie. »Jedermann in Kanaan, ob weiß oder schwarz, spricht von dir. Komm! Mein armer Bruder sehnt sich danach, dich zu sehen!«
Ihre herausfordernde Unverschämtheit brachte mich schließlich wieder zu Sinnen. Ihr zynischer Hohn durchbrach den fast hypnotischen Bann, dem ich anheimzufallen drohte.
Ich blieb stehen, wischte ihre Hand beiseite und fauchte: »Was für ein teuflisches Spiel hast du mit mir vor, Weib?«
Augenblicklich verwandelte sich die lächelnde Sirene in eine blutdürstige Dschungelkatze. Ihre Augen funkelten vor Mordlust, die roten Lippen verzogen sich zu einem wütenden Fauchen, als sie vor mir zurücksprang und einen gellenden Schrei ausstieß. Das Geräusch nackter Füße war die Antwort auf ihr Signal. Das matte Licht der beginnenden Dämmerung sickerte durch die Zweige und enthüllte mir den Gegner, drei gigantische Neger. Ich sah das schimmernde Weiß ihrer Augen und das Blitzen nackten Stahls in ihren Händen.
Meine Kugel fuhr dem größten in den Schädel und machte seinem Leben ein jähes Ende. Meine zweite Pistole gab nur ein klickendes Geräusch von sich - die Zündkappe musste von der Ladung gerutscht sein. Ich schleuderte die Waffe in ein schwarzes Gesicht, und als der Mann halb bewusstlos zu Boden ging, riss ich das Bowie-Messer heraus und drang auf den dritten ein. Ich parierte seinen Stoß, und im Gegenschlag zog ich ihm die Schneide quer über die Bauchmuskeln. Er schrie wie ein Sumpf-Panther und griff wie wild nach meinem Handgelenk. Ich aber rammte ihm die geballte linke Faust in den Mund und spürte, wie seine Lippen barsten und seine Zähne splitterten, als er unter der Wucht des Schlages zurücktaumelte. Noch bevor er das Gleichgewicht wiedergewann, war ich hinter ihm her, stach zu und traf ihn zwischen die Rippen. Er stöhnte und sank zu Boden.
Ich fuhr herum und blickte mich nach dem anderen Mann um. Er kam gerade wieder auf die Beine. Als ich gegen ihn anging, stieß er einen panikerfüllten Schrei aus und stürzte sich ins Unterholz. Die Geräusche seiner wilden Flucht kamen noch eine Weile von der Entfernung gedämpft an mein Ohr.
Das Mädchen war verschwunden.
II.
Das eigenartige Leuchten, in dessen Schimmer ich das Mulattenmädchen zuerst wahrgenommen hatte, war erloschen. In meiner Verwirrung hatte ich darauf vergessen. Ich zerbrach mir indes nicht den Kopf darüber, woher es gekommen war, sondern tastete mich zur Straße zurück.
Das Pferd schnaubte und zerrte am Zügel, beunruhigt durch den Geruch von Blut, der in der schweren, feuchten Luft hing. Hufgeklapper kam die Straße entlang, die Umrisse menschlicher Gestalten wuchsen aus dem unsicheren Licht. Stimmen riefen mich an.
»Wer ist da? Tritt hervor und nenne deinen Namen, bevor wir schießen!«
»Langsam, Esau!«, rief ich. »Ich bin's - Kirby Buckner!«
»Kirby Buckner, den Teufel auch!«, stieß Esau McBride hervor und senkte die Pistole. Hinter ihm sah ich die hochgewachsenen Gestalten mehrerer Reiter.
»Wir haben einen Schuss gehört«, sagte McBride. »Wir ritten Patrouille auf den Straßen rings um Grimesville, wie wir es seit einer Woche jede Nacht tun - seit sie Ridge Jackson umbrachten.«
»Wer brachte Ridge Jackson um?«
»Die Sumpf-Nigger. Mehr wissen wir nicht. Ridge kam eines Morgens aus dem Wald und klopfte an Captain Sorleys Tür. Der Captain sagt, er war weiß wie Asche. Er bat den Captain, ihn um Gottes willen einzulassen, er hätte ihm etwas Schreckliches zu erzählen. Also, der Captain ging hinunter, um die Tür zu öffnen, aber er war noch nicht ganz die Treppe unten, da machten die Hunde draußen plötzlich einen grässlichen Lärm, und ein Mann schrie, wahrscheinlich Ridge. Als er an die Tür kam, lag im Hof ein Hund mit eingeschlagenem Schädel, und der Rest der Hundemeute benahm sich wie verrückt. Sie fanden Ridge etwas später, draußen in den Kiefern, ein paar hundert Meter vom Haus. Wie der Boden und das Gebüsch aussahen, muss er von vier oder fünf Leuten dorthin gezerrt worden sein. Auf jeden Fall erschlugen sie ihn und ließen ihn da liegen.« »Verdammt!«, murmelte ich. »Übrigens, dort hinten im Gestrüpp liegen zwei Nigger. Ich möchte wissen, ob ihr sie kennt. Mir jedenfalls sind sie unbekannt.« Augenblicke später standen wir auf der winzigen Lichtung, über der das fahle Leuchten der aufsteigenden Dämmerung lag. Eine schwarze Gestalt lag reglos auf dem Teppich der Kiefernnadeln. Eine breite Blutspur lief über den Boden bis zu den Büschen am gegenüberliegenden Waldrand, aber der verwundete Schwarze war nirgendwo zu sehen.
McBride drehte die Leiche mit dem Fuß um.
»Einer von den Niggern, die mit Saul Stark kamen«, murmelte er.
»Wer zum Teufel ist das?«, wollte ich wissen.
»Ein merkwürdiger Nigger, der hier einzog, nachdem du letztes Mal den Fluss hinabfuhrst. Sagt, er käme aus South Carolina. Haust in der alten Hütte im Winkel - du weißt schon, wo Colonel Reynolds Nigger früher kampiert haben.«
»Ich schlage vor, du reitest mit mir nach Grimesville, Esau«, sagte ich. »Erzähl mir die Geschichte unterwegs. Ihr andern könntet euch inzwischen umsehen, ob ihr nicht irgendwo einen verwundeten Nigger im Busch findet.«
Sie nickten schweigend ihr Einverständnis. In Kanaan hat man die Buckners schon immer stillschweigend als Führer anerkannt.
»Ich rechnete damit, dass du über kurz oder lang wieder auftauchen würdest«, äußerte McBride, als wir die lichter werdende Straße entlangritten. »Du bist gewöhnlich gut auf dem Laufenden darüber, was in Kanaan vorgeht.«
»Was geht denn vor?«, erkundigte ich mich. »Ich habe von nichts eine Ahnung. Ein altes Negerweib flüsterte mir in New Orleans zu, dass es Ärger gäbe. Natürlich kam ich so schnell wie möglich heim. Drei fremde Nigger lauerten mir auf...« Aus irgendeinem Grund vermied ich es, die Frau zu erwähnen. »Und jetzt erzählst du mir, jemand hat Ridge Jackson umgebracht. Was ist hier eigentlich los?«
»Die Sumpf-Nigger brachten Ridge um, damit er nichts ausplauderte«, erklärte McBride. »Nur so kann man es sich erklären. Sie müssen ihm dicht auf den Fersen gewesen sein, als er an Captain Sorleys Tür klopfte. Ridge hat schon seit eh und je für Captain Sorley gearbeitet; er hielt große Stücke auf den alten Mann. Im Sumpf wird irgendeine Teufelei ausgebrütet, und Ridge wollte den Captain warnen. So erkläre ich mir die Sache.«
»Warnen? Wovor?«
»Das wissen wir nicht«, bekannte McBride. »Deswegen sind wir alle ziemlich nervös. Es muss ein Aufstand sein.«
Das Wort allein reichte aus, das Herz eines jeden Bewohners von Kanaan mit kalter Furcht zu füllen. Die Schwarzen hatten 1845 revoltiert, und der blutige Terror jenes Aufstands war ebenso unvergessen wie die drei kleineren Revolten davor, in denen die Sklaven sich erhoben und vom Tularoosa bis zu den Ufern des Black River brandschatzten und mordeten.
»Wieso glaubst du, es gibt einen Aufstand?«, fragte ich.
»Es arbeitet kein einziger Nigger mehr auf den Feldern, fürs erste. Sie haben angeblich alle in Goshen zu tun. Ich hab' seit einer Woche keinen einzigen Nigger mehr in der Nähe von Grimesville gesehen. Und die Stadt-Nigger sind davongelaufen.«
In Kanaan machen wir immer noch denselben Unterschied wie in den Tagen vor dem Krieg: »Stadt-Nigger« sind die Abkömmlinge der Hausbediensteten aus der alten Zeit, die meisten wohnen in oder in der Nähe von Grimesville. Es gibt ihrer nicht allzu viele im Vergleich mit der Menge der »Sumpf-Nigger«, die auf winzigen Farmen entlang der Wasserläufe und am Rand der Sümpfe hausen, oder in dem schwarzen Dorf Goshen am Tularoosa. Sie sind Nachkommen der Feldarbeiter der Vergangenheit. Unberührt von der Kultur, die den Hausbediensteten eine gewisse Zivilisiertheit beibrachte, sind sie bis auf den heutigen Tag ebenso primitiv wie ihre afrikanischen Vorfahren.
»Wo sind die Stadt-Nigger hin?«, fragte ich.
»Das weiß niemand. Sie verschwanden vor einer Woche. Wahrscheinlich haben sie sich irgendwo drunten am Black River verkrochen. Wenn wir gewinnen, kommen sie zurück. Wenn nicht, fliehen sie nach Sharpsville.«
Ich fand die Selbstverständlichkeit, mit der er das sagte, bedrückend, als gäbe es nicht den geringsten Zweifel daran, dass eine Revolte unmittelbar bevorstand.
»Und ihr? Was habt ihr unternommen?«, wollte ich wissen.
»Gibt nicht viel zu unternehmen«, bekannte er. »Bis jetzt haben die Nigger noch keinen klaren Zug getan, außer dass sie Ridge Jackson umbrachten. Und wir können nicht beweisen, wer das getan hat oder warum.
Eigentlich haben sie weiter nichts getan, als davonzulaufen. Das ist natürlich ziemlich verdächtig. Es will uns nicht aus dem Kopf, dass Saul Stark dahintersteckt.«
»Wer ist dieser Kerl?«, fragte ich.
»Ich hab' dir schon alles gesagt, was ich weiß. Er bekam Erlaubnis, in der alten, verlassenen Hütte im Winkel zu wohnen, ein großer, starker schwarzer Teufel, der besser Englisch spricht, als ich einen Nigger reden hören möchte. Immerhin benahm er sich mit Respekt. Er hatte drei oder vier kräftige South-Carolina Neger bei sich und ein braunes Weibsbild, von dem man nicht weiß, ob es seine Tochter, Schwester, Frau oder sonstwas ist. Er war nur jenes eine Mal in Grimesville, und ein paar Wochen nach seinem Einzug fingen die Nigger an, sich komisch zu benehmen. Ein paar von unseren Jungen wollten nach Goshen hinüberreiten und die Sache bereinigen, aber das heißt, ein verzweifelt hohes Risiko eingehen.«
Ich wusste, dass er in diesem Augenblick an eine entsetzliche Geschichte dachte, die uns unsere Großväter erzählt hatten, von einer Strafexpedition aus Grimesville, die im dichten Busch rings um Goshen, der damals entlaufenen Sklaven als Versteck diente, in einen Hinterhalt gelockt und massakriert wurde. Indessen verwüstete eine zweite Bande Grimesville, wo man sich nicht wehren konnte, weil die Männer alle unterwegs waren.
»Es könnte sein, dass wir selbst mit dem letzten Mann rechnen müssen, wenn wir Saul Stark holen wollen«, sagte McBride. »Und wir dürfen die Stadt nicht wehrlos lassen. Aber bald bleibt uns keine andere... heh, was ist da los?«
Wir waren eben unter den Bäumen hervorgekommen und ritten nach Grimesville ein. Die Stadt war das Siedlungszentrum der weißen Bevölkerung von Kanaan. Sie war wenig anspruchsvoll. Es gab Holzhäuser, sauber und weiß getüncht. Kleine Hütten waren in Gruppen rings um große, altmodische Häuser angeordnet, in denen die ungehobelte Aristokratie unserer hinterwäldlerischen Demokratie wohnte. Die Pflanzer-Familien lebten ohne Ausnahme »in der Stadt«. »Auf dem Land« wohnten ihre Pächter und die kleinen, unabhängigen Farmer, weiß wie schwarz.
Eine kleine Holzhütte stand dort, wo die Straße aus dem dichten Wald hervortrat. Stimmen, die in drohendem Tonfall sprachen, drangen uns entgegen, und eine große, hagere Gestalt mit einem Gewehr in der Hand stand unter der Tür.
»Howdy, Esau!«, rief der Mann uns zu. »Großer Gott, wenn das nicht Kirby Buckner ist! Es ist gut, dich zu sehen, Kirby.«
»Was ist los, Dick?«, fragte McBride.
»Wir haben einen Nigger in der Hütte und wollen ihn zum Reden bringen. Bill Reynolds sah ihn, wie er sich bei Tagesanbruch am Stadtrand entlangschlich, und nahm ihn beim Kragen.«
»Wer ist es?«, fragte ich.
»Tope Sorley. John Willoughby ist gegangen, um eine Peitsche zu holen.«
Mit einem unterdrückten Fluch schwang ich mich vom Pferd und trat in die Hütte, gefolgt von McBride. Ein halbes Dutzend Männer in Stiefeln und mit vollen Revolvergürteln stand um eine mitleiderregende Gestalt, die auf einer alten, zusammengebrochenen Bettstatt kauerte. Tope Sorley bot einen bedauernswerten Anblick. Seine Haut war aschgrau, und die Zähne klapperten.
»Da ist Kirby«, rief einer der Männer aus, als ich mich an ihnen vorbeidrängte. »Wetten, dass er den Hund zum Reden bringt?«
»Hier kommt John mit der Peitsche!«, schrie jemand, und Tope Sorley begann zu zittern.
Ich schob den Griff der Peitsche, die mir gereicht wurde, beiseite.
»Tope«, sagte ich, »du hast jahrelang auf einer der Farmen meines Vaters gearbeitet. Hat je ein Buckner dich anders als anständig behandelt?«
»Nein, Herr«, kam die schwache Antwort. »Wovor hast du dann Angst? Warum redest du nicht? Irgendetwas braut sich dort in den Sümpfen zusammen: Du weißt es, und ich will, dass du uns erzählst, warum die Stadt-Nigger davongelaufen sind, warum Ridge Jackson umgebracht wurde und warum die Sumpf-Nigger sich so merkwürdig anstellen.«
»Und was für eine Teufelei der verdammte Saul Stark drüben am Tularoosa ausheckt!«, rief einer der Männer.
Als er den Namen Stark hörte, sank Tope in sich zusammen.
»Ich trau' mich nicht«, zitterte er. »Er steckt mich in denn Sumpf!«
»Wer?« verlangte ich zu wissen. »Stark? Ist Stark ein Zaubermann?«
Tope barg das Gesicht in den Händen und antwortete nicht. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Tope«, sagte ich, »du weißt, wir werden dich beschützen, wenn du redest. Wenn du aber nicht redest, dann glaube ich nicht, dass Stark ärger mit dir umspringen kann als diese Männer hier. Also spuck's aus - was geht da vor?«
Mit verzweifeltem Blick sah er auf.
»Sie müssen mich hierbleiben lassen«, sagte er schaudernd. »Und auf mich aufpassen und mir Geld geben, damit ich abhauen kann, wenn der Ärger vorbei ist.«
»Wir tun das alles«, versprach ich ihm ohne Zögern. »Du kannst in dieser Hütte bleiben und später nach New Orleans oder sonstwohin gehen.«
Er gab seinen Widerstand auf, und die Worte sprudelten ihm über die graublauen Lippen.
»Saul Stark ist ein Zaubermann. Er ist hierhergekommen, weil die Gegend weitab liegt. Er will alle Weißen in Kanaan umbringen. Heute Morgen schickte er mich spionieren, ob Mista Kirby durchgekommen ist.
Er schickte Männer, die ihm an der Straße auflauern sollten. Er wusste nämlich, dass Mista Kirby auf dem Rückweg nach Kanaan ist. Die Nigger machen Voodoo am Tularoosa, seit Wochen schon. Ridge Jackson wollte Captain Sorley davon erzählen, aber Starks Nigger schlichen hinter ihm her und brachten ihn um. Daraufhin wurde Stark wütend. Er wollte Ridge nicht töten, er wollte ihn mit Tunk Bixby und den andern zusammen in den Sumpf stecken.«
»Was quasselst du da?«, wollte ich wissen.
Weit draußen in den Wäldern erscholl ein fremdartiger, gellender Schrei, wie der Schrei eines Vogels. Aber die Stimme eines solchen Vogels hatte man in Kanaan nie zuvor gehört. Tope heulte wie zur Antwort auf, dann schrumpfte er zusammen. Gelähmt vor Angst sank er auf das Lager.
»Das war das Signal!«, entfuhr es mir. »Ein paar von euch sollten sich dort draußen umsehen.«
Ein halbes Dutzend Männer beeilte sich, meinem Vorschlag zu folgen. Ich wandte mich wieder der Aufgabe zu, Tope zur Fortsetzung seiner Enthüllungen zu veranlassen. Aber alle Mühe war vergebens. Namenlose Angst versiegelte ihm die Lippen. Er lag da, zitternd wie ein krankes Tier, und hörte wahrscheinlich unsere Fragen gar nicht.
Kurze Zeit später kehrte der Rest der Gruppe mit leeren Händen zurück. Sie hatten niemand gesehen, und der dicke Kiefernnadelteppich nahm keine Fußspuren auf. Sie sahen mich erwartungsvoll an. Ich war Colonel Buckners Sohn, und man erwartete von mir, ein Anführer zu sein.
»Wie geht's weiter, Kirby?«, fragte McBride. »Breckinridge und die anderen sind eben hereingeritten. Sie haben deinen aufgeschlitzten Neger nirgendwo finden können.«
»Da war noch ein dritter Nigger«, sagte ich. »Ich schlug ihn mit einer Pistole. Womöglich ist er zurückgekommen und hat dem anderen geholfen.« Ich brachte es noch immer nicht fertig, das braune Mädchen zu erwähnen. »Lasst Tope in Ruhe. Vielleicht kommt er nach einer Weile über die Angst hinweg. Am besten stellt ihr einen Wachtposten hier herein, rund um die Uhr. Die Sumpf-Nigger möchten ihn wohl gern wieder in die Hände bekommen, so wie sie sich Ridge Jackson geholt haben. Am besten lässt du die Straßen rings um die Stadt abkämmen, Esau. Es könnten sich ein paar von ihnen in den Wäldern versteckt haben.«
»Wird gemacht. Ich nehme an, du gehst jetzt zum Haus, um die Familie zu begrüßen?«
»Ja. Außerdem möchte ich diese Spielzeugpistolen gegen ein Paar 44er eintauschen. Dann reite ich hinaus und sage den Leuten auf dem Land, sie sollen sich nach Grimesville zurückziehen. Wenn es einen Aufstand gibt, dann wissen wir nicht, wann er beginnt.«
»Du reitest nicht allein!«, protestierte McBride.
»Mir passiert schon nichts«, antwortete ich ungeduldig. »Vielleicht machen wir uns umsonst Sorgen, aber es ist besser, wenn wir auf das Schlimmste vorbereitet sind. Deswegen verständige ich die Leute auf dem Land. Nein, ich will nicht, dass jemand mit mir reitet. Falls die Nigger verrückt genug sind, die Stadt anzugreifen, wirst du hier jeden Mann brauchen. Wenn ich mir dagegen ein paar Sumpf-Nigger greifen und mit ihnen reden kann, dann wird es, glaube ich, keinen Angriff geben.«
»Du bekommst keinen einzigen von ihnen zu Gesicht«, prophezeite McBride.
III.
Es war noch nicht ganz Mittag, als ich auf der alten Straße westwärts zur Stadt hinausritt. Augenblicklich geriet ich in dichten Wald. Dichte Wände aus Kiefern begleiteten mich zu beiden Seiten, gelegentlich unterbrochen von Lichtungen, auf denen Felder lagen, die von ziellos verlaufenden Stangenzäunen eingeschlossen waren. Die Holzhütten der Pächter oder Eigentümer lagen nicht weit entfernt, und um sie herum tollten gewöhnlich Scharen strohblonder Kinder und hagerer Jagdhunde.
Einige Hütten standen leer. Ihre Bewohner, falls sie weiß waren, hatten sich schon nach Grimesville zurückgezogen; waren sie schwarz, so waren sie in die Sümpfe gewandert oder in das Versteck der Stadt-Nigger geflüchtet, je nachdem, wo sie sich hingezogen fühlten. Wie dem auch sein mochte: Die leerstehenden Hütten symbolisierten die unausgesprochene Drohung, die in der Luft lag.
Eine unbehagliche Stille lastete auf dem Kiefernland. Ich kam nicht besonders schnell voran, denn von Zeit zu Zeit wich ich von der Straße ab, um meine Warnung einer abseits gelegenen Hütte zu überbringen. Die Mehrzahl dieser Farmen lag südlich der Straße; die weißen Siedlungen reichten nicht weit nach Norden, denn dort lag der Tularoosa mit seinen dschungelüberwucherten Sümpfen, die ihre Auswüchse wie gierige Finger nach Süden streckten.
Die eigentliche Warnung war kurz; es gab keine Erklärungen, keine Diskussion. Aus dem Sattel rief ich: »Macht, dass ihr in die Stadt kommt, am Tularoosa braut sich was zusammen!« Gesichter erblassten, und die Leute ließen fallen, was sie gerade in der Hand hatten: die Männer, um nach Gewehren zu greifen und die Maultiere vom Pflug vor die Wagen zu spannen, und die Frauen, um alles wichtige Hab und Gut zusammenzupacken und die Kinder vom Spielen hereinzurufen. Während ich weiterritt, hörte ich flussauf und flussab die Hörner blasen, die die Männer von abgelegenen Feldern nach Hause riefen - schrill und aufgeregt, wie man es seit einer Generation nicht mehr gehört hatte, warnend und zugleich mit einem Trotz, der den Ohren der Lauscher droben am Rand des Sumpflands nicht entgehen konnte. Hinter mir leerte sich das Land. Dünne, aber stetige Ströme von Landbewohnern ergossen sich in Richtung Grimesville.
Die Sonne war bereits unter die höchsten Zweige der Kiefern gesunken, als ich die Richardson-Hütte erreichte, die am weitesten nach Westen vorgeschobene »weiße« Farm in Kanaan. Jenseits der Richardson- Farm lag, was wir den Winkel nannten: das Gelände, das durch die Vereinigung des Tularoosa mit dem Black River begrenzt wurde, eine dschungelbedeckte Wildnis, in der nur ein paar Negerhütten standen.
Mrs. Richardson rief mich von der Veranda heran.
»Ich freue mich, dass Sie wieder in Kanaan sind, Mr. Kirby! Wir haben den ganzen Nachmittag lang die Hörner gehört, Mr. Kirby. Was hat das zu bedeuten? Es ist... es ist doch nicht...«
»Sie und Joe holen am besten die Kinder zusammen und machen sich in Richtung Grimesville davon«, antwortete ich. »Bis jetzt ist noch nichts geschehen, und vielleicht geschieht auch gar nichts, aber wir wollen lieber auf das Schlimmste gefasst sein. Alle Leute sind auf dem Weg in die Stadt.«
»Wir gehen sofort«, stieß sie hervor und wurde bleich, während sie sich die Schürze vom Leib riss. »Guter Gott, Mr. Kirby, meinen Sie, dass sie uns den Weg abschneiden werden, bevor wir in die Stadt kommen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn überhaupt, dann schlagen sie in der Nacht zu. Wir wollen nur sicher gehen. Wahrscheinlich passiert überhaupt nichts.«
»Ich wette, da vermuten Sie falsch«, prophezeite sie, während sie in hektischer Aktivität hin und her eilte. »Seit einer Woche höre ich ab und zu eine Trommel schlagen, da hinten, nach Saul Starks Hütte hin. Damals beim Großen Aufstand trommelten sie auch. Mein Vater hat mir viele Male davon erzählt. Seinem Bruder hat ein Nigger bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Die Hörner bliesen landauf, landab, aber die Trommeln schlugen lauter, als die Hörner blasen konnten. Sie reiten mit uns zurück, nicht wahr, Mr. Kirby?«
»Nein. Ich sehe mich noch ein Stück weiter die Straße entlang ein bisschen um.«
»Reiten Sie nicht zu weit, sonst laufen Sie Saul Stark und seinen Teufeln in die Hände.«
Als ich den Pfad entlangritt, folgten mir die schrillen, angsterfüllten Laute ihrer Stimme.
Jenseits der Richardson-Farm machten die Kiefern den Eichen Platz, und das Unterholz wurde dichter. Ein Geruch von verfaulender Vegetation durchdrang den unruhig wehenden Wind. Gelegentlich sah ich eine Niggerhütte, halb unter den Bäumen verborgen. Sie waren alle verlassen. Leere Niggerhütten aber konnten nur eines bedeuten: Die Schwarzen versammelten sich in Goshen, ein paar Meilen östlich am Tularoosa, und auch diese Versammlung konnte nur eine einzige Bedeutung haben.
Mein Ziel war Saul Starks Behausung. Mein Plan war entstanden, als ich Tope Sorleys unzusammenhängenden Bericht hörte. Es gab keinen Zweifel, dass Saul Stark den zentralen Punkt dieses Gewebes aus Geheimnissen darstellte. Ich musste mir also Saul Stark vornehmen. Dass ich dabei unter Umständen mein Leben riskierte, war etwas, das ein Mann, der ein Anführer zu sein beanspruchte, in Kauf nehmen musste.
Die Sonne schien schräg durch die tieferhängenden Zweige der Zypressen, als ich mein Ziel erreichte - eine Holzhütte vor dem Hintergrund düsteren, tropischen Dschungels. Ein paar Schritte weiter begann der unbewohnbare Sumpf, in dessen Mitte der Tularoosa seine trüben Wasser in den Black River entleerte. Der Geruch von Zerfall hing in der Luft. Graues Moos hing wie Bärte in den Ästen, und giftige Schlingpflanzen rankten sich in verschlungenen Bahnen an den Bäumen empor.
Ich rief: »Saul Stark! Komm raus!«
Keine Antwort.
Stille lastete auf der kleinen Lichtung.
Ich stieg ab, band mein Pferd an und näherte mich der schweren, rohgezimmerten Tür. Vielleicht gab es in dieser Hütte einen Hinweis auf das Geheimnis, das Saul Stark umgab. Jedenfalls enthielt sie ohne Zweifel die Werkzeuge und das sonstige Zubehör seines widerwärtigen Gewerbes. Der schwache Wind hielt plötzlich inne. Die Stille wurde so intensiv, so durchdringend, dass ich sie körperlich zu spüren vermochte. Verwirrt blieb ich stehen. Es war, als ob ein innerer Instinkt mir eine drängende Warnung zugerufen hätte.
Während ich dort stand, reagierte jede Faser meines Körpers zitternd vor Spannung auf das unterbewusste Gefahrensignal. Irgendein dunkler, in tiefen Bewusstseinsebenen versteckter Trieb registrierte die Drohung, wie ein Mann die Nähe der Klapperschlange in der Dunkelheit ahnt, oder das Lauern des Sumpf-Panthers im Gestrüpp. Ich zog eine Pistole und schwenkte den Lauf an den Bäumen und Büschen entlang; aber nirgendwo verriet ein Schatten oder eine Bewegung den Hinterhalt, den ich fürchtete. Und doch täuschte sich mein Instinkt nicht. Die Gefahr, die ich spürte, lauerte nicht in den Wäldern ringsum; sie war drinnen in der Hütte - und wartete. Ich versuchte, das Gefühl abzuschütteln, aber eine halb vergessene, unwirkliche Erinnerung pochte im Hintergrund meines Bewusstseins, als ich weiterschritt. Ich blieb ein zweites Mal stehen, einen Fuß schon auf dem winzigen Vorbau, der den Namen Veranda nicht verdiente, und eine Hand ausgestreckt, um die Tür nach außen zu ziehen. Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken. Zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich, was Angst war. Ich wusste, dass ein schwarzes Grauen in der schweigenden Hütte unter den moosbehängten Zypressen lauerte - ein Grauen, vor dem jeder meiner ererbten Instinkte in wilder Panik schrie.
Die pochende, halb vergessene Erinnerung nahm plötzlich Gestalt an. Es war eine Geschichte, die ich einst gehört hatte, von Voodoo-Männern, die den Schutz ihrer Behausung, wenn sie sie verlassen, einem mächtigen Ju-Ju-Geist überlassen, der unbefugte Eindringlinge mit Verrücktheit und Tod schlägt. Weiße schrieben solche Todesfälle abergläubischer Furcht und hypnotischer Beeinflussung zu. Aber in diesem Augenblick hätte ich die Warnung vor tödlicher Gefahr, die von meinem Unterbewusstsein ausging, nicht missverstehen können. Ich begriff den namenlosen Schrecken, der mich wie in einem unsichtbaren Nebel aus der verfluchten Hütte anhauchte. Ich verstand die wahre Macht des Ju-Ju, der von den grotesken hölzernen Gestalten, die Voodoo-Männer in ihren Hütten aufstellen, nur nach außen hin symbolisiert wird.
Saul Stark war verschwunden; aber er hatte eine Wesenheit zurückgelassen, um seine Behausung zu schützen.
Ich bewegte mich rückwärts, und Schweißtropfen bildeten sich auf meinen Handrücken. Nicht für einen Sack Gold hätte ich durch die verhängten Fenster geblickt oder die unverriegelte Tür berührt. Die Pistole hing mir schlaff in der Hand; sie half mir nicht gegen das Ding dort drinnen. Was es war, konnte ich nicht wissen. Ich ahnte nur, dass es ein gewalttätiges, seelenloses Etwas sein musste, das mit den Zaubersprüchen des Voodoo aus dem Sumpf gelockt worden war.
Das Pferd zitterte und drückte sich mit der Schulter an mich, als ob es Schutz in der körperlichen Berührung suche. Ich stieg auf und ritt davon. Mit Mühe unterdrückte ich das nahezu panische Verlangen, die Sporen einzuschlagen und den Weg entlang zu galoppieren, so rasch das Pferd mich tragen wollte.
Ohne es zu wollen, gab ich einen Seufzer der Erleichterung von mir, als die düstere Lichtung hinter mir zurückblieb und aus der Sicht entschwand. Ich war nicht etwa versucht, mich einen Narren zu schimpfen, sobald ich sie nicht mehr sehen konnte. Die soeben gemachte Erfahrung war mir noch viel zu lebhaft in Erinnerung. Es war nicht Feigheit, die mich bewegt hatte, die Hütte nicht zu betreten, es war vielmehr der natürliche Instinkt der Selbsterhaltung - derselbe Trieb, der ein Eichhörnchen davon abhält, ins Nest der Klapperschlange zu tapsen.
Mein Pferd schnaubte und scheute heftig. Die Pistole glitt mir in die Hand, bevor ich noch erkannt hatte, was die Ursache des Schreckens war. Und wiederum fühlte ich mich von einem singenden Lachen verspottet.
Sie lehnte gegen einen nach hinten gebeugten Baumstamm. Die Hände hatte sie hinter dem schlanken Kopf verschränkt und unterstrich dadurch die sinnliche Schönheit ihres Körpers. Das Licht des Tages vermochte die fremdartige Faszination, die von ihr ausging, nicht zu stören. Im Gegenteil: Sie wurde durch das schräg fallende Sonnenlicht eher noch verstärkt.
»Warum gingst du nicht in die Ju-Ju-Hütte, Kirby Buckner?« verspottete sie mich, ließ die Arme sinken und kam auf mich zu.
Sie trug eine Kleidung, die ich nie zuvor an einer Sumpf-Frau, oder sonst einer Frau, gesehen hatte. An den Füßen trug sie Sandalen aus Schlangenhaut, besetzt mit winzigen Muscheln, die nicht an den Gestaden dieses Erdteils aufgesammelt worden waren. Ein kurzer seidener Rock von flammend roter Farbe bedeckte ihre vollen Hüften und wurde von einem breiten, mit Glasperlen besetzten Gürtel gehalten. Barbarische Ornamente klapperten an ihren Hand- und Fußgelenken, schwere Schmuckstücke aus roh bearbeitetem Gold, die so afrikanisch waren wie ihre lockere, hoch aufgetürmte Frisur. Sonst trug sie nichts; aber zwischen den hervorquellenden Brüsten sah ich die vagen Umrisse einer Tätowierung auf ihrer braunen Haut.
Sie baute sich vor mir auf. Triumphierende Bosheit leuchtete aus ihren dunklen Augen, die roten Lippen wölbten sich zu einem Ausdruck grausamer Schadenfreude.
»Kirby Buckner!« Sie schien die Silben mit der Spitze ihrer roten Zunge zu liebkosen, aber jeder Laut war eine obszöne Beleidigung. »Warum gingst du nicht in Saul Starks Hütte hinein? Sie war nicht verschlossen! Hattest du Angst vor dem, was du dort zu sehen bekommen hättest? Fürchtetest du, du würdest mit dem weißen Haar eines alten Mannes und dem sabbernden Mund eines Idioten wieder zum Vorschein kommen?
»Was ist in der Hütte?«, wollte ich wissen.
Sie lachte mir ins Gesicht und machte mit schnippenden Fingern eine eigenartige Geste.
»Einer von denen, die wie schwarzer Nebel aus der Nacht hervorgeglitten kommen, wenn Saul Stark die Ju-Ju-Trommel schlägt und seine finsteren Gesänge an die Götter schreit, die auf ihren Bäuchen durch den Sumpf kriechen.«
»Was hat er hier zu suchen? Die Schwarzen waren ruhig und zufrieden, bevor er auftauchte.«
Voller Verachtung schürzte sie die roten Lippen. »Diese schwarzen Hunde? Sie sind seine Sklaven. Wenn sie ihm nicht gehorchen, bringt er sie um oder steckt sie in den Sumpf. Seit langer Zeit suchen wir schon nach einem Platz, an dem wir unsere Herrschaft errichten können. Wir haben uns für Kanaan entschieden. Und da wir wissen, dass man Weiße nicht von ihrem Land vertreiben kann, müssen wir euch alle umbringen.«
Die Reihe zu lachen war an mir, und ich lachte grimmig. »Das haben sie 45 schon einmal versucht.«
»Damals hatten sie nicht Saul Stark als Anführer«, antwortete sie ruhig.
»Also gut, nimm an, sie behielten die Oberhand. Meinst du, das wäre das Ende? Andere Weiße kämen nach Kanaan und brächten sie alle um.«
»Sie müssten Wasserläufe überqueren«, antwortete sie. »Wir können die Flüsse und Bäche verteidigen. Saul Stark hat viele Diener in den Sümpfen, die seinem Befehl gehorchen. Er wird der König von Schwarz-Kanaan sein. Niemand kann das Wasser überqueren, um ihn anzugreifen. Er wird über seinen Stamm herrschen, wie seine Väter im Land der Ahnen über ihre Stämme herrschten.«
»Wahnsinn«, murmelte ich. Dann trieb mich die Neugierde zu fragen: »Wer ist dieser Narr? Und was hast du mit ihm zu tun?«
»Er ist der Sohn eines Hexen-Suchers
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Robert E. Howard/Apex-Verlag.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Zasu Menil.
Translation: Klaus Mahn, Eduard Lukschandl und Christian Dörge (Eduard Lukschandl mit freundlicher Genehmigung der Edition Bärenklau/Literatur-Agentur J.M. Munsonius). OT: Black Canaan.
Layout: Apex-Verlag.
Publication Date: 05-10-2018
ISBN: 978-3-7438-6812-0
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