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Vorwort

 

 

"Noch sitzt ihr da oben, ihr feigen Gestalten
vom Feinde bezahlt und dem Volke zum Spott.
Doch einst wird wieder Gerechtigkeit walten,
dann richtet das Volk und es gnade euch Gott."

 

Carl Theodor Körner

1

Es war eine finstre Nacht. Kein einziger Stern war zu sehen. 

Wiederkehrende, schneidende Böen tobten über sie hinweg und kündigten den Sturm an, auf den sie warteten.

Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es so weit war.

Aurelia drückte sich dichter an das stählerne Rohr der Lüftungsanlage, um dem pfeifenden Wind zu entgehen, der auf dem Dach des 40-stöckigen Hochhauses bis in die Knochen vordrang.

Mit einem schnellen Blick vergewisserte sich Aurelia der Uhrzeit - 2:33 Uhr. Seit beinahe zwei Stunden saßen sie zusammengekauert hinter diesem Rohr und warteten auf ihren Einsatz. Die verdammte Kälte steckte ihr mittlerweile in den Gliedern und sie spreizte ein paar Mal die steifen Finger, um sie aus der Verkrampfung um Waffe und Messer zu lösen. Das Maschinengewehr drückte ihr unangenehm im Rücken und die Beine wurden langsam taub. In jahrhundertelanger Übung verlagerte sie ihr Gewicht leicht auf eine Seite, damit entlastete sie die andere ohne ihre Haltung zu verändern. Absolute Reglosigkeit konnte einem in manchen Fällen das Leben retten.

Plötzlich setzte wolkenbruchartiger Regen ein, der das Aufbrausen des Unwetters begleitete. Innerhalb von Sekunden konnte man im Dunkeln, trotz ihrer an die nächtliche Jagd gewöhnten Augen, kaum noch etwas sehen. Optimale Bedingungen für ihre Operation.

Der Widerschein eines Blitzes spiegelte sich in der pechschwarzen Glasfassade des gegen-überliegenden Wolkenkratzers, über das sie ihre jetzige Position erreicht hatten. Als kurz darauf der erste Donner ertönte, war klar, dass das Gewitter bald direkt über ihnen sein würde.

Eine fieberhafte Erwartung erfasste sie. Die Flut von Emotionen, die sich kurz vor einem Kampf über sie legte, rollte heran und sie empfing sie. Die Muskeln spannten sich an, bereit loszulegen. An dieses uralte Vorbereitungsritual ihres Körpers hatte sie sich längst gewöhnt. Sie war eben schon lange im Geschäft.

Das Tosen wurde lauter. Schon jetzt war sie trotz der raffinierten Uniform aus schwarzem Leder bis auf die Haut durchnässt. Zum Glück war ihrer eins nicht anfällig für Krankheiten wie Erkältungen. Sie unterdrückte ein Frösteln.

Dann folgten ein weiterer Blitz und Donner, die zeitlich kaum mehr versetzt waren. Das Grollen war ohrenbetäubend und brachte das Gebäude, das riesige schwarze Tier unter ihnen, leicht zum Beben. Alle Sinne waren nun geschärft und sie fühlte es, wusste es.

Es war so weit.

 

Sie wandte den Kopf nach links und sah in stahlgraue Augen. Es musste Viktor sein, der neben ihr im Schwarzgrau dieser verregneten Nacht hockte. Da sie schon über zwei Jahrhunderte im Team jagten, erkannten sie sich ohne weiteres auch unter der Vermummung. Die Augen blickten fragend aus den Schlitzen der schwarzen Sturmhaube.

Aurelia nickte.

Das reichte aus, damit Viktor ein winziges Handy aus der Tasche zog, eine kurze Tastenkombination drückte und es augenblicklich wieder verschwinden ließ. Wie auf Kommando erhoben sich alle. Worte waren auf der Jagd ein Luxus, den man sich nicht leisten konnte. Sie verrieten die eigene Position, nahmen das Überraschungsmoment und manchmal, so wie heute, konnte man sich dank des Sturms ohnehin nicht verstehen.

Flink huschten sie wie schwarze Schatten auf die andere Seite des riesigen Rohres und schwangen sich lautlos in die höher gelegene Öffnung. Die Gruppe schlitterte ein paar Meter den waagrechten Verlauf entlang, bis sie ein stählernes Gitter erreichten, hinter dem der riesige Ventilator der Lüftungsanlage rotierte. Beides durchspannte das Rohr mit etwa zwei Metern Durchmesser und verschloss das Lüftungssystem gegen angesaugten Schmutz. Jenseits des Propellers gab es noch einen kleinen Vorsprung, dann ging es senkrecht abwärts.

Das Summen der Rotationen hallte im Schacht wider und wurde von den Geräuschen ihrer schnellen Schritte unterbrochen.

Schlingernd kam Viktor als erstes vor dem Hindernis zum Stehen, griff in die Innentasche seiner schwarzen Uniformjacke und klatschte eine taubeneigroße Kapsel mit der klebrigen Seite an die Eisenstreben. Geschwind zogen sie sich ein paar Meter zurück und warfen sich flach auf den Boden des Rohres, warteten auf einen weiteren Donner direkt über ihnen. Schließlich kam er und Viktor betätigte zeitgleich den Knopf an seiner Fernbedienung.

Die Detonation ging im Grollen und Beben des Naturschauspiels unter, ganz so wie geplant.

Eine Sekunde später sprangen die Fünf wieder auf und rannten durch die entstandenen Staubschwaden zurück, wo vom Gitter nur noch wenige spitze Metallstifte an den randständigen Verankerungen übrig geblieben waren. Der riesige, massive Propeller hing nur noch an einer seiner eisernen Befestigungen und ragte bewegungslos in den Raum des Rohres hinein.

Pareios schoss mit seiner Armbrust einen Widerhaken in die Deckenwölbung der Neunzig-Grad-Kehre und sprang aus dem Lauf  in das schwarze Loch des Lüftungsschachtes. Das Kunststoffseil, das am Widerhaken befestigt war,  entrollte sich zuverlässig und ließ ihn lautlos hinab schweben. Die anderen sprangen nach einander und glitten hinterher, etwa 25 Stockwerke abwärts.

Das Seil rutschte mit leisem Zischen durch Aurelias Lederhandschuhe und die kühle Luft, die sie durchschnitt, reizte ihre Augen. Sie war direkt hinter Pareios, als er sich in einen großen Seitenschacht der Lüftungsanlage warf. Mit einem sanften Klicken löste er die Waffe, während sie direkt neben ihm landete. Gemeinsam warteten sie, bis die anderen Drei nachgezogen waren.

Rasch bildeten sie einen Kreis. Viktor ordnete mit ein paar Handzeichen die Formation an, in der sie vorrücken würden, und wandte sich daraufhin an Aurelia. Diesmal nickte er ihr zu.

Sie atmete tief durch und schaltete dann ihren Musik-Player an. Drum’n’Bass wummerte in ihren Ohren. Die laute, schnelle Musik half dabei, sich auf ihre Gabe zu konzentrieren, sodass sie weder Geräusche noch Rufe ablenken konnten. Ihre anderen Sinne waren zu trügerisch, um sich darauf zu verlassen, zu leicht zu täuschen und zu überlisten. Sie setzte ihren Körper unter Strom, ließ die Kraft fließen.

Ab hier übernahm Aurelia die Führung. In ihrem Kopf begannen sich in Windeseile Bilderabfolgen und weitere Sinneseindrücke zu formen. Sie rasten durch ihr Gehirn und hinterließen einen intuitiven Einblick in die unmittelbar bevorstehende Zukunft.

Wenn die Truppe an eine Weggabelung kam, spielte Aurelia im Kopf die verschiedenen Entscheidungen, in die eine oder die andere Richtung zu gehen, durch. Die Zukunftsmöglichkeiten, die sich aus diesen Entscheidungen ergaben, entfalteten sich in ihrem Geist wie ein Airbag und wurden mit bestimmten Emotionen belegt, sodass sie reizvoll oder abschreckend auf sie wirkten. Noch niemals in den 312 Jahren ihres Daseins hatte sie falsch gelegen und mit ihrem Weg nicht das gewünschte Ziel erreicht. Zudem war dieser sechste Sinn ein zuverlässiger Lebensretter im Kampf, der beinahe jeden Feind unmittelbar zur Strecke brachte und Aurelia zu einer der versiertesten Jägerinnen machte.

Sie folgte also ihrer Intuition und führte das Team zügig durch das Schachtsystem. Nur Minuten später erreichten sie den Ort, den sie suchten, und schlichen auf Zehenspitzen  zu dem 40 mal 40 Zentimeter großen Gitter. Ein  Blick hindurch bestätigte sie.

Der kleine Durchgang befand sich im oberen Bereich einer Zimmerwand. Der Raum dahinter war in schummriges Licht getaucht, das von Kontrolllämpchen und Computerbildschirmen erzeugt wurde. Kleine Apparate rotierten vor sich hin, Roboterarme bewegten sich bei der Arbeit. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine große Plexiglasscheibe, durch die Zuschauer beobachten konnten, was im Labor passierte. Seitwärts entdeckte Aurelia das, weswegen sie gekommen waren.

Ein Glaskasten beherbergte sechs erbsengroße Steinchen, die dort in einer Fassung in einem chemischen Bad verankert waren. Der Kasten wurde von einer Maschine hin und her geschwenkt, sodass die Flüssigkeit in Bewegung rund um die Steine schwappte. Ein schwaches grünes Licht ließ das Zeug leicht fluoreszieren.

Nach kurzer Konzentration gab sie Row mit einem knappen Wink zu verstehen, dass es losgehen konnte. Diese schob sich neben sie und schloss kurz die grünen Augen, um sich zu sammeln. Sie faltete die Hände und öffnete sie ruckartig zum Gitter gewandt. Die lautlose Druckwelle blies die quadratische Abdeckung zuerst von einem metallischen Reißen, dann von einem Klappern begleitet, in das Labor hinein.

Die Geräusche verrieten ihr Eindringen, doch damit hatten sie gerechnet. Blitzschnell segelte Aidens Blendgranate an Aurelia vorbei und alle setzen die Atemmasken auf. Die Explosion und der beißende Rauschschleier gaben ihnen beim Stürmen des Raumes vorerst Deckung. Aurelia zog ihre Waffe, die Finger schlossen sich mit einem wohltuend bekannten Gefühl um Griff und Abzug und sie sprang mit einem Satz hinunter. Die anderen vier folgten ihr ohne zu zögern.

Im selben Moment flog die Eingangstür aus den Angeln und bewaffnete Wachen drangen ins Labor. Aurelia selbst betrachtete das Schauspiel zur Begleitung der Musik, die ihr das Ganze unwirklich, fast wie ein Training, vorkommen ließ. Sie deutete auf Viktor und wies ihn an, ihre linke Flanke zu decken, unterdessen zitierte sie Pareios nach rechts.

Aurelia rannte auf den Wachmann zu, der ihr am nächsten war. Dieser konnte sie im Rauch nur schemenhaft erkennen, was ihr großer Vorteil war. Sie brauchte weder zu sehen noch zu hören, die Intuition leitete ihre Schritte.

Kugel!

Ein Gefühl ließ sie einer Salve aus dem Maschinengewehr ihres Gegners ausweichen. Geschickt drehte sie sich durch den Hagel ohne auch nur ein einziges Mal getroffen zu werden, dann beförderte sie dem Mann das Gewehr mit einem flachen Hieb aus der Hand. Sie erahnte seine Bewegungen, die Schlagkombination, die er gleich einsetzen würde. Rechts, links, links, rechts. Aurelia duckte sich flink links, rechts, rechts, links und tauchte unter seinen Fäusten hindurch. Der schnelle Bass in ihren Ohren gab den passenden Schrittrhythmus vor, bis sie zwischen den ausgestreckten Armen des Angreifers stand. Die Überraschung ergriff seine Gesichtszüge im Augenblick seines Todes, als Aurelia ihm in den Kopf schoss.

Während er zusammensackte, witterte ihre Gabe eine gute Gelegenheit. Sie machte zwei Schritte zurück, entging dabei einem Schuss, ließ sich auf den Rücken fallen und rollte zur Seite. Sie kam hinter Pareios an, dessen Gegner sie mit einem gezielten Schuss am Kopf des Teamkollegen vorbei niederstreckte. Beinahe gleichzeitig leitete die Intuition ihre Hand zum Stiefel und veranlasste sie, ein Messer zu ziehen, das sie ohne nachzudenken durch die Achillessehnen zweier weiterer Männer zog.

Pareios und Viktor trieben derweil den rechten und linken Flügel der angreifenden Meute zurück. Viktors Schnelligkeit war unübertroffen. Mit dieser Gabe kam er jedem Schuss zuvor, während seine Gegner ihn kaum wahrnehmen konnten. Selbst Aurelia erblickte nur die Rauchkapriolen, die seine Bewegungen verursachten, ihn selbst allerdings nicht.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Row mit einer weiteren Druckwelle den Deckel des Glaskastens entfernte und Aiden seine Hände in die wabernde Flüssigkeit tauchte.

Aurelia wollte schon erleichtert den Rückzug einleiten, als sie von einem lähmenden Blitz durchfahren wurde. Ihre gesamte Aufmerksamkeit wurde augenblicklich von etwas anderem gefesselt.

Sie fixierte einen jungen Mann, der ohne Waffe und vollkommen ruhig hinter der Meute Wachmänner stand, während Aurelia zwei Kerle unschädlich machte und einem dritten das Messer in die Kehle rammte.

Sie spürte es, der Reglose war einer von ihnen.

Wie von selbst trugen sie ihre Füße auf ihn zu. Routiniert zog sie das Maschinengewehr vom Rücken und drückte den Abzug. Die Kugeln sirrten durch den Rauch und durchschlugen die Glasscheiben am anderen Ende des Raumes. Diese zerbarsten und füllten die Luft mit einem Regen aus Glasstaub.

Der Kerl dagegen war mit einem mal verschwunden und Aurelias Gabe schoss ihr einen einzelnen, warnenden Gedanken zu: ein Teleporter!

Als er hinter ihrer Position wieder auftauchte, hatte sie sich nach mehreren im Kopf durchgespielten Szenarien bereits umgedreht. Selbst durch den Rauch bemerkte sie, wie sich seine Miene verzog, als er erkannte, dass sein Plan nicht aufgehen würde.

Aurelia drückte sofort wieder den Abzug. Wie erwartet entging der Feind den Kugeln, indem er mit herablassendem Gesichtsausdruck erneut verschwand. Doch Aurelia schleuderte ihr Messer unmittelbar darauf nach links und dieses verfehlte ihn nicht. Es durchstieß die Rippen des Gegners und drang in sein Herz, als er sich direkt in dessen Flugbahn hinein teleportierte. Der Mann mit dem hellen Haar riss erschrocken die Augen auf und sah an sich herunter, bevor er mit einem Seufzer das Leben aushauchte.

Nein, Aurelia verfehlte niemals ihr Ziel.

Viktors Schnelligkeit hatte die Wachenschar zu ihrer Linken beinahe vollständig beseitigt und Pareios brach einem Angreifer gerade mit einem Hebel den Arm, um gleichzeitig einem zweiten und letzten Gegner mit einem seiner Feuerbälle zu grillen. Dann drehte er sich leichtfüßig und zerfetzte dem Ersten in anatomischer Präzision die Femoralarterie, aus der der Mann in nicht mal einer Minute verbluten würde. Pareios‘ Opfer ging in die Knie, wobei die rote, zähe Flüssigkeit aus der klaffenden Wunde an der Innenseite des Oberschenkels heraussprudelte. Mit jedem Tropfen wich die Farbe aus ihm. Ein Kopfschuss beendete sein Leid. 

Aurelia half Viktor in wenigen Sekunden die verbleibenden Männer zu eliminieren. In ihrem Rücken hatten Row und Aiden die Steine aus den Verankerungen gelöst und sie in ein graues Metallkästchen mit vorgefertigten Löchern verpackt. Aiden schöpfte mit der Hand eilig etwas von der chemischen Flüssigkeit dazu, ließ den Deckel mit einem Knall zuschnappen und verstaute das Päckchen sicher in der Brusttasche seiner Jacke.

Noch eine Minute, signalisierte Viktor der Gruppe und sie rannten zurück zum Lüftungsschacht.

Gerade als Aurelia sich als vorletzte durch die kleine Öffnung schob, schickte ihre Intuition eine weitere Vision über mehrere mögliche Zukunftsformen. Sie gab Row ein Zeichen. Diese verstand, streckte den linken Arm aus und entsandte aus der flachen Hand eine Druckwelle, die den zweiten Ansturm an Angreifern, der durch die Tür drang, zurückschleuderte. Das sollte dem Team den entscheidenden Vorsprung verschaffen. Aurelia packte den Arm ihrer Kollegin und zog sie durch das kleine Viereck in den Schacht.

Ohne sich noch mal umzuschauen sprinteten sie den anderen hinterher. Aurelias starke Muskulatur jauchzte, während sie noch einen Zahn zulegte. Am zurückgelassenen Seil hangelte sich die Truppe hinauf. Schon als sie in den letzten waagrechten Teil des Rohres kletterten, ertönte das flackernde Geräusch der Rotorblätter eines Hubschraubers.

Die von ihm verursachten Böen zerrten ebenholzbraune Haarsträhnen unter Aurelias Sturmhaube hervor. Während das Team auf die Öffnung zu rannte, zog Aiden ein kleines grünes Licht aus der Tasche und ließ es dreimal aufleuchten. Das Zeichen für ihr Abholkommando, dass sie noch keine Verfolger hatten.

Der Hubschrauber schwenkte direkt vor das Loch und die Tür wurde aufgerissen. An der Kante des Schachtes sprangen sie ab, flogen ein paar Meter durch den niederprasselnden Regen und landeten schließlich schlitternd im Innern des Helikopters.

Der Flugbegleiter zerrte die Schiebetür zu  und der Pilot zog die Maschine unmittelbar nach oben in den schwarzen Nachthimmel hinein.

 

2

Aurelia riss sich Atem- und Ski Maske vom Kopf, entfernte die Ohrstöpsel ihres Players und schüttelte die patschnassen Locken. Viktor, der es ihr wie die Anderen gleich getan hatte, legte die Hand brüderlich auf ihre Schulter. Er drückte leicht zu, dann reichte er ein paar Kopfhörer herum, über die sich die Gruppe während des Fluges unterhalten konnte. Aurelia setzte das Ding auf und atmete tief durch, um die Anspannung abzuschütteln. Ihre Muskeln kribbelten noch, warteten auf eine Fortsetzung der körperlichen Anstrengung.

 

Begleitet von ein paar Klick- und Klack-Lauten des Funksystems nahm sie Aidens warme Stimme wahr.

„Verdammt, was zum Teufel war das für ein Zeug?!“, schimpfte er und hielt seine Handschuhe hoch, die er in die Flüssigkeit getaucht hatte, um die Steine zu lösen. Es hatten sich salzartige Ränder darauf gebildet, wie auf Schuhen, die man im Winter trug, wenn es glatt war und gestreut wurde. An manchen Stellen war das dicke Leder so angegriffen, dass kleine Löcher entstanden waren.

Row nahm sie ihm ab und inspizierte die Spuren der Chemikalie. „Sieht aus wie eine starke Säure oder Lauge, irgendwas Ätzendes.“ Ihre schönen Augen weiteten sich und sie drehte den Kopf mit einem Ruck zu Aiden, sodass die nasse blonde Mähne Wassertropfen auf die anderen verspritzte. Sie packte seine rechte Hand und drehte sie hin und her, nahm die Haut in Augenschein. Ein paar rosige Flecken waren darauf aufgeblüht, aber sonst sah sie unverletzt aus.

Rows besorgter Gesichtsausdruck war Aurelia nur zu gut bekannt. Ihre Kollegin hatte eine äußerst fürsorgliche Art, die sie schnell bei jedem beliebt machte. Ihr herzförmiges Gesicht zeigte niemals auch nur die Spur von Verbitterung oder Hass, was bei dem Lebensstil einer Jägerin recht außergewöhnlich war. Schon ihre Eltern hatten bald nach der Geburt bemerkt, was für ein Sonnenschein die Tochter war, weswegen sie den Namen Rowena erhalten hatte, der in ihrer Heimatsprache ‚Freunde‘ und ‚Glück‘ bedeutete.

Aidens Blicke galten indessen allein der blonden Frau, die seine Hand in Beschlag nahm. Er machte einen ärgerlichen Eindruck, als wäre es ihm peinlich, eine solche Nichtigkeit so aufzubauschen. Allerdings war da noch etwas. Ein Flackern in seinen Augen. Und Aurelia brauchte ihre Intuition nicht, um es zu deuten.

Schnell wandte sie sich ab. Sie fühlte sich, als hätte sie ein Geheimnis ausspioniert. Außerdem verursachte der Charakter von Aidens Blick wie immer ein befremdliches Gefühl. Eine solch innige Zuneigung löste in ihr einen ungeahnt mächtigen Fluchtreflex aus, den sie nur mit Mühe unterdrücken konnte. Zwei verschiedene Emotionen zerrissen ihren Körper. Der Drang zu Rennen, gegen die Beherrschung, die sie im hier und jetzt hielt.

Aiden entzog sich Row rasch. „Ach was, schon Schlimmeres erlebt!“ Er rieb sich die Hände, als würden sie unangenehm kribbeln, ließ aber bald in dem Wissen davon ab, dass morgen keinerlei Spuren mehr zu sehen sein würden. Ein unendlich langes Leben brachte solche Vorteile mit sich, obwohl diese kaum die Nachteile aufwiegen konnten.

Pareios fuhr sich über das kurzgeschorene schwarze Haar und befreite es so ein wenig von der Feuchtigkeit. Dann wandte er sich Aurelia zu und hielt ihr die Faust hin. Sie erwiderte die Geste und stieß die Fingerknöchel fest gegen seine.

„298 Jahre und nahezu fehlerfrei. Du nervst langsam, Aurelia.“ Er lachte, wobei seine grauen Augen vor Kampfgeist leuchteten.

„Musst dich eben mehr anstrengen!“, gab sie neckend zurück und lächelte ebenfalls ein wenig. Pareios holte sie aus ihrem persönlichen Martyrium und legte eine Decke der Belanglosigkeit über die schmerzlichen Gedanken.

„Wie viele hast du?“

Er und Aurelia konkurrierten gerne spielerisch darum, wer am effizientesten kämpfte und am wenigsten Fehler machte. Zu diesem Zweck verglichen sie gerne ihre Blessuren nach jedem Kampf. Dieses Spielchen hatten sie vor etwa 280 Jahren begonnen, als sie, damals noch zu dritt, im Paris der 1820er Jahre auf der Jagd gewesen waren. Viktor und Pareios, die Brüder waren, hatten sich damals so oder so ständig mit einander gemessen und als sich ihr damaliger Auftrag, den Erfinder André Marie Ampère zu finden und zu schützen, langwieriger als gedacht gestaltet hatte, war Aurelia wegen der allgemeinen Langeweile in das Spiel mit eingestiegen. Außerdem stellte es ein probates Mittel dar, die beklemmenden Ängste, die grausamen Bilder und die alles erfassenden Schuldgefühle darüber, wieder und wieder versklavte, fehlgeleitete Unschuldige töten zu müssen, zu verdrängen. Obwohl sie wusste, warum sie das alles tat, traf sie dieser Gedanke jedes Mal hart und ihr war jede Ablenkung recht.

Heute hatte sich dieser Running Gag nur zwischen Pareios und Aurelia gehalten und selbst sie beide zogen sich nur noch selten damit auf. Viktor dagegen betrachtete das Kämpfen seit seiner Hochzeit mit Meredia lediglich als Notwendigkeit. Sein Kampfgeist war der Verantwortung und bedingungslosen Hingabe gewichen, die ihresgleichen für sein Gegenstück empfand.

So verdrehte Viktor bei ihrer Frage nur genervt die Augen. Pareios tat geflissentlich so, als hätte er es nicht gesehen und antwortete in siegessicherem Ton: „Zwei Rippentreffer.“ Er machte eine Pause und betastete sein Jochbein, auf dem ein Bluterguss aufgeblüht war, der jedoch schon wieder abklang. Trotzdem schnitt er eine Grimasse. „Und dieses schicke Baby hier. Und du?“

 

Jetzt war sie es, die grinste und sich dabei genüsslich und ohne Schmerzen ausstreckte. „Nicht ein Kratzer. Tut mir echt leid.“

„Ich krieg dich noch, wirst schon sehen!“ In seinem Gesicht zeichnete sich eine spitzbübische Freude ab, die seine attraktiven Züge mit den hohen Wangenknochen und den vollen Lippen vor Verzückung aufleuchten ließ. Eben dies täuschte über sein Alter und die jahrhundertelange Erfahrung hinweg. Äußerlich ähnelte er seinem Bruder stark. Beide waren ziemlich groß, um die 1,90, besaßen durch das Jagen und Trainieren eine muskulöse Statur und hatten markante Gesichtszüge. Während Viktors Augen jedoch eher eine sanfte und bedachte Klugheit ausstrahlten, funkelten Pareios‘ vor temperamentvollem Scharfsinn. Aus ihnen sprühte beinahe die Leidenschaft und Begeisterung, die er jeder Tätigkeit entgegenbrachte.

Aurelia bewunderte kurz das Leuchten, das ihn lebendiger als irgendjemanden sonst erscheinen ließ. Eine Lebendigkeit, die sie selbst schon so lange nicht mehr empfinden konnte. Wenn ihre Muskeln arbeiteten, ihr Körper jede Reserve mobilisierte und sie sich das Äußerste abverlangte, dann brachte das Zusammenspiel von Hormonen nur einen schwachen Abklatsch dieses Leuchtens in ihr zustande. Ein Funken des Wehmuts erklomm ihr Bewusstsein, doch sie erstickte ihn sofort wieder im Keim und riss sich von Pareios‘ Anblick los.

 

Viktor unterbrach ihre Unterhaltung und sprach sie alle an.

„Gute Arbeit! Ich weiß, in letzter Zeit hattet ihr kaum Ruhe, deshalb danke für eure Konzentration!“ Als Teamleader fühlte er sich meist zu einem Fazit der Operation verpflichtet und ließ sich selten dazu verleiten, ihre Moral mit einer breiten Analyse von Fehlern zu untergraben. Es gab ohnehin beinahe nie etwas zu beklagen.

„Syrus wird sich die Steine und das chemische Zeug ansehen, sobald wir wieder im Bunker sind.“, ergänzte er und ließ sich von Aiden die kleine Metallbox reichen. Er roch daran und verzog dann reflexartig das Gesicht. „Da muss Ammoniak drin sein. Riecht nach Pisse.“

Auch Aiden starrte angewidert auf seine Hand, die Row sofort von sich gestoßen hatte. Viktor sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. „Ich dachte, du hättest schon Schlimmeres erlebt?!“

„Hab‘ ich auch. Ich sage nur Sarajevo und Zyankali. Trotzdem hab‘ ich jetzt vielleicht fremde Pisse an den Händen!“ Fies grinsend bewarf er Viktor mit einem der verseuchten Handschuhe.

Der wehrte das Ding ab, als wäre es eine Granate. „Wuäähh. Jetzt will ich auch wieder nach Sarajevo.“

Während die anderen schmunzelten, konnte Aurelia keine Freude an dem Geplänkel empfinden. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, eine Erinnerung bahnte sich den Weg in ihr Bewusstsein. Obwohl sie um Konzentration rang, konnte sie nicht verhindern, dass sich das Erste einer Reihe von Bildern still und leise vor ihre geistigen Augen schlich. Nur eine der vielen grauenhaften Szenen, die ihr Job mit sich brachte.

 

Sie kniff die eisblauen Augen zusammen, um das Gefühl der Beklemmung von sich fort zu schieben, öffnete sie jedoch schnell wieder. Pareios fixierte sie gerade mit seinem Blick. Sein Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an, dann wechselte er gekonnt das Thema. Ausgerechnet er unterbrach den verhängnisvollen Verlauf des Gesprächs. Sie beide waren zwar auf beruflicher Ebene ein Team, kannten sich privat aber nicht besonders gut, da Aurelia niemandem persönlich nahestand, außer Viktor vielleicht. Pareios hingegen hatte viele… Kontakte.

„Kannst du uns jetzt endlich mal verraten, warum du uns mitten in der Nacht aus den Betten gezerrt und in dieses beschissene Unwetter geschleppt hast? Was sind das für Dinger?“, fragte er an Viktor gerichtet und deutete auf das Silberkästchen, das immer noch in dessen Händen lag.

Auf dem Weg zu ihrem Auftrag war keine Zeit für Fragen gewesen, denn sie hatten nur eine halbe Stunde gehabt, ihre Vorgehensweise zu besprechen und das Terrain zu sondieren.

Viktor betrachtete das Kästchen und hob entschuldigend die Schultern. „Um ehrlich zu sein, weiß ich auch nicht viel mehr als ihr. Um Elf stand plötzlich Markus vor meiner Tür und drückte mir einen Umschlag in die Hand. Er hat nur gesagt, dass es unbedingt heute Nacht sein muss, am besten gleich. Außer den nötigsten Eckdaten war auch nichts weiter in dem Ding drin.“

Zwar war die Gruppe schon des Öfteren mitten in der Nacht geweckt worden, jedoch war es umso ungewöhnlicher, keine näheren Auskünfte zu erhalten. Normalerweise wurde jedem das Recht zugestanden, auf der Basis aller zur Verfügung stehenden Informationen zu entscheiden, ob er sein Leben für eine Mission aufs Spiel setzen wollte, oder nicht.

Aiden schien denselben Gedanken zu haben und meinte: „Vielleicht wussten sie es selbst nicht genau…“

Die anderen sahen ihn zweifelnd an. Es kam selten vor, dass Markus und die anderen 14 Mitglieder des Rats etwas überstürzt beschlossen und keinerlei Erklärung dazu abgaben.

Aurelia entsann sich nur an ein einziges Mal. Der Inhalt der Erinnerung jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Damals sollten Viktor, sie selbst und eine Jägerin namens Solina einen Mann befreien, ihn am Arsch der Welt aus einem stinkigen, aber gut bewachten Unterschlupf holen. Sie waren gerade auf dem Rückweg von einem anderen Auftrag gewesen, als sie noch im Flugzeug den Neuen bekommen hatten. Dank Aurelias Intuition war es ihnen gelungen, den Kerl zu finden und sie waren schon fast draußen gewesen, als es passierte. Aurelia hatte es zu spät kommen sehen. Sie hatte Viktor gerade noch zu Boden reißen können, um ihn vor den Autoteilen zu schützen, die durch die Gegend geflogen waren. Der geistig labile Mann, der unglaublich starke telekinetische Kräfte besessen hatte, war durchgedrehte und hatte sich mitsamt Solina und dem Auto in die Luft gesprengt. Seine Kräfte waren so groß gewesen, dass die direkt neben ihm stehende Verbündete förmlich pulverisiert worden war.

Aurelia schüttelte sich und versuchte, sich wieder auf die Unterhaltung zu konzentrieren, doch sie wurde das leichte Unwohlsein nicht los. Anscheinend war sie die Einzige, der dieser Vorfall durch den Kopf geschossen war. Sie betrachtete beide Operationen, verglich sie, suchte nach Parallelen.

 

Währenddessen rätselte Row weiter. „Oder sie sind extrem wertvoll.“

Auch das kam Aurelia unwahrscheinlich vor. Keiner von ihnen hatte auch nur das geringste Interesse an Geld. Genau genommen war es das Gift, das die Hegedunen der unwissenden Bevölkerung einflößten. Sie verkauften es als Geschenk und als Mittel zur Freiheit, obwohl es nur die Fessel bildete, die die Menschen in ihrem eisernen Griff hielt. Es verdarb jegliche menschliche Interaktion, zerstörte Vertrauen und schürte Hass, Neid und Missgunst.

Auch die anderen Mitglieder ihres Teams waren von Rows Worten nicht überzeugt.

Aurelia beschlich eine unangenehme Vorahnung. „Vielleicht sind die Dinger gefährlich… und vielleicht haben sie‘s dir nicht gesagt, weil du‘s sonst nicht gemacht hättest.“

Viktor sah noch mal das Kästchen an, drehte es jedoch nicht mehr so leichtfertig hin und her. Dann schüttelte er aber den Kopf. „Hm, ich kann mir kaum vorstellen, dass ausgerechnet das der Grund sein soll. Ich meine, gefährlich ist es doch immer irgendwie, oder?“

„Ich meine doch nicht so eine Gefahr. Vielleicht sind die Dinger so mächtig, dass sie in egal wessen Händen gefährlich sind.“

Auf Viktors Stirn bildeten sich ein paar Falten, als er sich anstrengte, die Bedeutung ihrer Worte zu verstehen und auch die anderen wurden langsam wirklich aufmerksam. „Was willst du damit sagen, Aurelia? Jetzt sei‘ nicht so verdammt kryptisch!“

„Na überleg doch mal. Wenn du wüsstest, dass sich hinter diesen Steinen eine nicht zu kontrollierende Macht verbirgt, dann wärst du der Letzte, der die Dinger unter viel Aufwand stehlen würde. Du würdest sie zerstören, damit sie niemals in falsche Hände geraten können. Denk‘ an Solina.“

Bei diesem Namen weiteten sich Viktors Augen und das Stahlgrau schien sich zu verflüssigen. Seine Pupillen wurden groß und man konnte sehen, wie sich Gedanken in seinem Kopf formten.

„Markus kennt dich. Niemand anderem vertraut er so wie dir. Deshalb hat er gerade deinem Team den Auftrag gegeben.“, schloss Aurelia ihre Ausführung.

Pareios nickte überzeugt. „Und er wusste, dass du ihm vertraust und im Notfall, wenn es schnell gehen müsste, keine Fragen stellen würdest.“

Alle starrten nachdenklich das Kästchen an und Viktor stellte es schließlich vor sich auf den Boden. Keiner wollte es mehr berühren.

 

Der Rest des Fluges verlief wieder wortlos. Sie konnten sich keine endgültige Antwort auf die Überlegungen geben und es war sinnlos, weiter darüber zu spekulieren. Doch bei allen hatte Aurelias Einfall einen faden Nachgeschmack hinterlassen. Vor allem, weil die Diskussion eine weitere, noch viel besorgniserregendere Frage aufwarf: Falls diese kleinen, schwarzen Steinchen so mächtig und so schwer zu kontrollieren sein sollten, was wollte dann der Rat damit?

3

Der Helikopter ging in den Sinkflug und setzte sanft auf dem Boden eines verlassenen Fabrikgeländes auf. Die Gruppe stieg steifgliedrig aus und packte die Ausrüstung zusammen. Das Gewitter hatten sie hinter sich gelassen, denn hier war der Himmel sternenklar.

Aurelia lief neben Pareios her, als sie den Zaun hinter sich ließen und auf das angrenzende Waldstück zusteuerten. Ihre Schritte waren die einzigen Geräusche in der Dunkelheit und nach einem etwa fünfminütigen Marsch erreichten sie die Stelle. Aiden, der vorangegangen war, trat gegen die Unterseite eines kantigen, dunklen Felsens. Unterhalb des mannshohen Gesteins tat sich eine Falltür auf und offenbarte die sonst verborgene Treppe, die hinab in den Bunker führte.

Aurelia wurde von Viktor zum Eingang geschoben, doch sie machte sich frei. „Ich sollte mich noch ein bisschen bewegen...“

Er sah sie prüfend an, hatte aber sofort verstanden. Er kannte sie lange genug, um auch ihre Gewohnheiten in und auswendig zu wissen. Meist waren Geist und Körper nach einem Kampf so aufgeputscht, dass sie die Betätigung dringend brauchte, damit die ganzen Stresshormone abgebaut wurden. Mit der Erschöpfung kam dann stets auch die geistige Ruhe.

Aurelias Gabe war wie eine Droge. Ein Rausch, der sie erfasste und immer weiter in seinen Strudel zog. Wenn sie einmal damit anfing, war es schwer wieder herauszukommen. Je mehr sie die Intuition benutzte, desto stärker wurde sie, desto mehr wurde Aurelia von ihr ergriffen. Wenn sie dann nicht rechtzeitig ausstieg, verlor sie den Bezug zur Gegenwart, verlor sich in den tausenden von Zukunftsversionen und fand nicht mehr zu sich selbst zurück.

Die Bewegung half auch diese spezielle Droge abzubauen.

 

„Ich fühle mich unwohl dabei, dich alleine gehen zu lassen“, wandte Viktor ein, doch Pareios drückte ihm seine Ausrüstung in die Hand. Nur die Handfeuerwaffe behielt er.

„Ich begleite sie. Du bist letztes Mal gegangen und deine Frau wartet bestimmt auch schon auf dich.“ Er reckte sich ausgiebig und drehte sich dann zu Aurelia um. „Aber bitte tu‘ mir einen Gefallen und lass mich vor Sonnenaufgang in mein Bett, ok?!“ Sein Ton war vorwurfsvoll, trotzdem grinste er frech und Aurelia meinte in seinen Augen nicht die geringste Spur von Bedauern entdecken zu können. Er war ein Jäger, durch und durch.

Seine Worte waren nicht als Frage gemeint, deshalb gab sie keine Antwort, sondern überreichte Viktor stattdessen ebenfalls ihre Sachen.

 

Dann wirbelte sie herum und lief los.

Da Pareios bald wieder hier sein wollte, beschleunigte sie und verfiel schon nach ein paar Metern in einen Spurt. Natürlich folgte er problemlos und so rannten sie nebeneinander durch den dunklen Wald. Aurelia musste den Bäumen und Wurzel ausweichen, was ihre ganze Konzentration erforderte und sie vorerst von jeglichen weiteren Überlegungen abhielt.

Der kühle Wind pfiff ihr ins Gesicht, ließ die Haare flattern. Er war wie eine reinigende Dusche für den Verstand. Mit jedem federnden Schritt auf dem weichen Untergrund wurde er klarer und sie konnte die Geräusche des Waldes und die von Pareios jetzt deutlicher wahrnehmen. Nun fühlte sie sich wieder ganz wie sie selbst und ergab sich ihrem Naturell. Rannte, vernahm das stete Pochen in ihrer Brust. Die einsetzende Klarheit war eine Erleichterung. Als würde man nach einem Tag an einer Baustelle voller Lärm endlich abends an einem stillen, kristallenen Bergsee sitzen.

Die mentale Reinigung machte sie aufmerksam für andere Dinge. Erneut konnte sie diese spezielle Ausstrahlung von Pareios spüren. Die Leidenschaft in jeder seiner Bewegungen, wie er geschmeidig und kraftvoll neben ihr herlief.

All das war ihr auf eine unverbindliche Art und Weise vertraut, aber in diesem Moment war es plötzlich irritierend fremd. Sie war sich seiner Gegenwart mehr als bewusst, es war ihr nicht mehr… egal.

Die Wärme, die sein Körper an die Umgebung abgab, reflektierte sich auf ihrer Haut. Als würde seine Aura sie erfassen, übertrug sich seine Hitze samt seiner Stimmung auf sie. Zuerst war es nur ein Funke, aber dann wuchs das zarte Glimmen zu einem unaufhörlichen Glühen heran. Ein Gefühl der Lebendigkeit, ganz anders und viel intensiver als sie es sonst beim Laufen empfand, eroberte ihr Herz und ließ es höher schlagen. Gebannt und verwirrt von Pareios‘ Wirkung, wurde sie sich bewusst, von wem dieses Geschenk kam.

Ausgerechnet von diesem Kerl.

Nicht einmal Viktor, ihr bester Freund, hatte in all den Jahren die Macht besessen, sie aus ihrer Taubheit zu befreien.

Erregt von diesem Gefühl hob sie die Geschwindigkeit an und schmunzelte innerlich. Er würde ihre Einladung verstehen und die Herausforderung annehmen. Das war die Sprache, die sie beide verstanden. Etwas, das sie gemeinsam hatten.

Wie vermutete, hatte sie seinen Ehrgeiz geweckt und seine Atemzüge wurden nun schneller. Doch er hielt sich mühelos an ihrer Seite, überholte sie sogar.

Aurelia stieß einen erfreuten Laut aus und flog nur eine halbe Schrittlänge hinter ihm her. Selbst überrascht von diesem Ausbruch der Freude, registrierte sie, dass auch er hellhörig geworden war und den Stimmungsumbruch bemerkte. Verdammter Mist!

„Na warte!“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Dann rempelte sie Pareios unsanft an, wodurch er einem Baum ausweichen musste und so seinen Vorsprung verlor. Während sie grinste, fluchte er vor sich hin und rief ihr zu: „Wie war dieser Spruch?“

Er rannte jetzt so nah neben ihr, dass sich ihre Arme streiften. Da wo ihre Haut an seiner rieb, brannte sie förmlich. Ein Prickeln eroberte von da aus ihren Körper. Sie war nun völlig von seiner Aura umhüllt und fühlte sich beinahe verbunden mit ihm.

„Es gibt zwei Situationen im Leben, in denen alles erlaubt ist, in denen es keine Regeln gibt“, keuchte er und sah sie von der Seite breit lächelnd an.

Plötzlich warf er sich auf sie.

Aurelia war völlig perplex. Wie konnte er sie nur so überlisten? Das war ihr noch nie passiert. War sie so abgelenkt gewesen? Und wenn ja, von ihm?

Der Fluchtreflex keimte sofort in ihr auf, als sie zusammen einen Abhang hinunter kullerten und in einem Laubhaufen landeten.

Pareios lag mit seinem gesamten Gewicht auf ihr und obwohl sie mit ganzer Kraft versuchte sich loszumachen, wurde sie weiter zu Boden gedrückt. Im trüben Schein des Mondes, der nur spärlich durch die Blätter fiel, konnte sie seine Augen entzückt aufblitzen sehen. In dem flüssigen Grau, das auch Viktor besaß, entdeckte sie goldene Sprenkel, die seinem Blick unglaubliche Intensität verliehen. Es sah aus wie ein glitzernder Glühwürmchenschwarm in einer graugoldenen Sommerdämmerung.

Zum Glück schien Pareios diesmal nicht zu erkennen, was da gerade geschehen war. Er hatte sie besiegt, sie absolut kalt erwischt. Doch er schien es durch ihre veränderte Stimmung darauf zu schieben, dass sie sich dazu entschieden hatte, es so geschehen zu lassen.

„Im Krieg und in der… Liebe“, vervollständigte er den Spruch, den er zitiert hatte und starrte ihr herausfordernd in die Augen.

Wieder dieses Prickeln.

Aurelia versuchte die nicht unangenehme Überraschung und die noch stärker werdende Abneigung zu verbergen. Beide Gefühle rangen in ihr miteinander. Äußerlich versuchte sie, Pareios böse anzufunkeln und hinter die coole Fassade zu blicken. Was war das nur in seinem Blick, das sich da verändert hatte? Verstand er den Umstand, dass sie zugelassen hatte, dass er sie umriss, als Flirtversuch?

Sie konnte es nicht erfassen, ehe er blitzschnell aufsprang und zwischen den Bäumen davon sauste. „Reingelegt!“, rief er noch wie ein kleiner Junge kichernd zurück.

Benommen und ein wenig verwirrt saß Aurelia wie versteinert da, immer noch dort, wo er sie zu Boden gestoßen hatte. Aber schließlich rappelte sich empört auf und startete eine Verfolgungsjagd, die sich bis zurück zum Bunker zog und sie richtig auspowerte. Sie forderte ihren Muskeln alles ab und erreichte nur kurz nach Pareios den Felsen.

„Gewonnen!“, schnaufte er hocherfreut und lehnte sich gegen den schroffen Stein, um wieder zu Atem zu kommen. Seine Miene verriet, dass es selbst kaum glauben konnte, sie besiegt zu haben.

Aurelia ließ sich erschöpft ins Graß fallen und atmete ebenso schwer. „Du bist gut in Form, das muss ich dir lassen.“

„Hättest du mir wohl nicht zugetraut“, stieß er hervor und setzte sich schwerfällig neben sie. Aurelia starrte in das kleine Stück Himmel, das zwischen zwei Laubbäumen zu sehen war. Spürte seinen Blick auf sich ruhen.

„Ich habe angenommen, du wärst… naja, sagen wir… anderweitig beschäftigt.“

Was zum Teufel tat sie da? In welche Richtung führte sie dieses Gespräch gerade? Das war so gar nicht ihre Art. Klar flirtete sie hin und wieder, wenn es sie mal danach verlangte. Aber nie hatte hinter ihren Worten ein solches Gefühlschaos geherrscht. Sonst war es eher ein weiteres Spiel, das sie gegen die Kälte in ihrem Inneren und die damit verbundene Leere einsetzte. Noch nie hatte eine derartige Intention darin gelegen.

Er lachte leise und seine tiefe Stimme klang angenehm rau. „Wir kennen uns schon so lange und immer noch unterschätzt du mich. Meine Interessen sind eben vielfältig.“

„Vielleicht kennen wir uns ja auch nicht so gut wie du denkst.“

Es entstand eine kurze Pause.

„Dich kennt keiner so richtig…, außer Viktor vielleicht.“ Er versuchte es verächtlich und belustigt zu sagen, aber sie nahm trotzdem diesen winzigen Anflug von…, was war es, vielleicht Enttäuschung oder Verärgerung, in seiner Stimme wahr. Darauf wusste sie nichts weiter zu sagen, schließlich hatte er Recht.

Die plötzliche Wendung, die das Gespräch genommen hatte, kühlte Aurelias Kopf wieder herunter. Die Abneigung gegen solche Unterhaltungen gewann die Oberhand und sie schwang sich auf die Beine.

„Komm schon. Du wolltest doch im Bett sein, bevor die Sonne aufgeht.“ Sie deutete gen Himmel, auf dem sich erste schwache Strahlen der aufgehenden Sonne zeigten. Außerdem konnte man bei Pareios nie wissen, ob nicht schon jemand darin auf ihn wartete, fügte sie in Gedanken weniger begeistert hinzu. Sie reichte ihm die Hand und zog ihn mit einem Ruck hoch.

 

 

Gemeinsam betraten sie den Bunker und gingen an zwei Wachen vorbei, die sie vom Sehen kannten und die leise grüßten. Der eine versperrte die Sicht in ein Zimmer aus dem helles Monitorlicht drang. Es war der Überwachungsraum, in dem auf allen Bildschirmen verschiedene Videoaufnahmen zu sehen waren, die die Kameras aus der Umgebung übertrugen.

Nach ein paar Metern Tunnel, der sie tiefer hinab ins Erdreich führte, verabschiedeten sich die beiden. Das Schweigen, das bis dahin zwischen ihnen stand, verriet Aurelia, dass Pareios geistig nicht anwesend war. Sie hoffte inständig, dass es nicht ihr Verhalten war, das ihn da beschäftigte. Nicht auszudenken, wenn er die richtigen Schlüsse ziehen würde.

An einer Abzweigung verabschiedete er sich von ihr, zögerte aber eine Millisekunde, als ob er noch etwas sagen wollte. Nach einem abschätzenden Blick schien er sich aber dann doch dagegen zu entscheiden. Auch in ihr zauderte Etwas.

Sie schüttelte den Kopf und machte sich klar, dass das alles nicht sie sein konnte. Sie genoss sonst die Einsamkeit, begnügte sich mit ihrem Einzelgänger Dasein, als Resultat ihrer Schuld, die sie an ihr Schicksal kettete. Letztlich ging gemessenen Schrittes in Richtung ihres kleinen Zimmers, das sich ziemlich weit hinten in Einheit E des großen, verzweigten Bunkers befand. Die Betonwände ließen die von ihr verursachten Geräusche gespenstisch vielfach widerhallen. Die Gänge waren von einzelnen, von der Decke baumelnden, nackten Glühbirnen erhellt und seitwärts passierte sie eine Reihe von Türen, die zu verschiedenen anderen Wohneinheiten führten. Manche waren größer, wenn zum Beispiel Familien darin wohnten. Andere, wie ihre, waren lediglich so groß wie eine Kammer. Mehr war für sie auch nicht nötig, sie war sowieso nicht oft dort.

Ihren Kopf durch das Laufen frei zu pusten, hatte zwar geklappt, doch Pareios Verhalten und seine Wirkung auf sie hatten sie erneut durcheinandergebracht. Wäre sie doch nur mit Viktor gegangen, ärgerte sie sich und bereitete sich auf eine ruhelose Nacht vor.

 

In ihrem kleinen Zimmer angekommen, machte sie sich nicht die Mühe das Licht anzustellen. Sie entledigte sich ihrer Kleidung, die immer noch feucht war, was sie beim Rennen allerdings überhaupt nicht bemerkt hatte. Sie legte sie über den Stuhl, der an einem schmalen Schreibtisch stand und warf sich in Unterwäsche auf die gegenüber an der Wand angebrachte Pritsche. Diese war hart und kaum gepolstert, aber sie mochte es so. Die Kammer war spartanisch eingerichtet und enthielt nur das Nötigste. Es standen keine Dinge herum und es zierten auch keine Bilder die Wände. Es gab eben nichts, das sie aufhängen oder aufbewahren wollte.

Eine Weile lag sie reglos in der Finsternis, dann resignierte sie und knipste doch eine kleine Lampe oberhalb ihres Nachtlagers an. Da vorerst nicht mit Schlaf zu rechnen war, richtete sie sich erneut seufzend auf. Sie griff zu ihrem Schreibtisch und zog die unterste von drei Schubladen an seiner linken Hälfte auf. Kurz darauf beförderte sie ein Tütchen mit grünen Knollen zu Tage, öffnete es und brach ein paar Krümel ab. Diese zerkleinerte sie über einem pergamentartigen Blättchen, das genauso aus der Schublade stammte. Dann fügte sie noch ein wenig Tabak hinzu und drehte das Papierchen samt Inhalt zu einer kleinen dünnen Zigarette. Aurelia leckte den Klebestreifen ab und verschloss sie so.

Manchmal ließ sich die Schlaflosigkeit nur mit dieser Droge bekämpfen, die sie schon nach ein paar Zügen, mit einem dumpfen schweren Gefühl belegte. Sie hasste Alkohol, auch wenn er in diesem Fall ebenso geholfen hätte. Im Übermaß genossen war er giftig und verseuchte den Körper, nicht nur in Leber und Gehirn. Er griff auch die Nerven an, veränderte die Persönlichkeit und machte abhängig. Medikamente kamen schon gar nicht in Frage. Da war ihr, wie vielen ihrer Bekannten, das milde, schwach dosierte Kraut lieber.

 

Die fensterlose Kammer wurde von schwerem, würzigem Rauch gefüllt, der ihr die Lider schwer werden ließ. Die Lüftung würde ihn bald nach draußen gesaugt haben.

Während sie die letzten Züge inhalierte und so vor sich hindämmerte, versuchte sie müde diese neuen merkwürdigen Gedanken über Pareios abzuwehren, vor allem, weil sie Dank ihrer verkorksten Art, von diesem fürchterlich vertrauten Gefühl der Angst begleitet wurden. Komisch, dass diese absolut grundverschiedenen Emotionen, Zuneigung und Abscheu, bei ihr verknüpft waren. Wie oft hatte sie schon versucht diese unsinnige Verbindung zu lösen, auch wenn ihre Versuche eher schwach und wenig überzeugt waren. Sie entstanden hauptsächlich aus dem Bedürfnis heraus, nicht aufzufallen, in dem man sich anpasste. Nicht jedoch aus dem Verlangen nach echter Zuwendung.

 

Sie dachte über ihre Beziehung zu Viktor nach und verglich ihn insgeheim mit Pareios. Viktor genoss ihr vollstes Vertrauen. Sie respektierte ihn und schätzte seinen geradlinigen und aufrichtigen Charakter. Er fehlte niemals in seinem Urteil und war einer dieser Menschen, bei denen man den Eindruck bekam, dass sie immer alles im Griff hatten und ihnen jedes Vorhaben auf wundersame Weise gelang. Er hatte sie gerettet, sie befreit, sie an der der Hand genommen und aus der absoluten Verzweiflung herausgeführt. Er war der einzige Mensch, der sie wirklich kannte, der alles über sie wusste. Er war sozusagen ihr einziger Angehöriger, ihr Bruder, oder zumindest das, was dem am nächsten kam. Er tat ihr fast Leid.

Wenn sie Pareios betrachtete, war ihre Gedankenwelt ganz anders eingefärbt. Sie waren angefüllt mit grau wabernden Wolken, durch deren Schleier hindurch die kleinen blitzenden Glühwürmchen eine magische Atmosphäre schufen. Alles schien möglich zu sein.

Sofort fühlte sie sich wieder schlecht. Wo sollte das nur hinführen? Sie verbot sich weitere Überlegungen zu diesem Thema, schließlich spielte es so oder so keine Rolle. Sie hatte vor langer Zeit eine Entscheidung getroffen.

Noch während dem Einnicken spielte ihr ihre Intuition entfernt einen unterschwelligen Gedanken zu, der einen irritierend bedrohlichen Beigeschmack hatte. Er schaffte es nicht ganz in ihr entschwindendes Bewusstsein und so mischten sich Bilder von kleinen obsidianfarbenen Erbsen in die ersten einsetzenden Alpträume. Die eisblauen Augen waren darin wie jede Nacht präsent und bereiteten ihr eine Tortur, die den Schlaf wenig erholsam machte.

4

Der verwirrend unstete Schlaf und die Droge hatten die beunruhigenden Gedanken  des vergangenen Morgens aus ihrem Kopf getilgt, als sie am Mittag ruckartig erwachte. Ihr Herz pochte, als hätte sie etwas erschrocken und so aus den düsteren Träumen gerissen. Sie atmete schwer.

Schlaftrunken blinzelte sie in ihre dunkle Kammer, in der natürlich keine Hinweise auf eine Uhrzeit vorhanden waren. Ihr Kopf fühlte sich schwer und benommen an. Da ertönte ein Klopfen und ihr wurde bewusst, dass ein Vorheriges sie geweckt haben musste. Sie wollte antworten, hatte aber einen Frosch im Hals. Nach einem schnellen Räuspern, rief  sie dann: „Ja?“ und zog die dünne Decke über ihr zu recht.

 

Die Tür wurde einen Spalt geöffnet und Viktors Gesicht tauchte darin auf. „Darf ich?“ fragte er und deutete in den Raum. Aurelia nickte und drehte sich zur Seite, um den Kopf auf den angewinkelten, aufgestellten Unterarm stützen zu können. So konnte sie den Schalter für ihre Nachtlampe erreichen, den sie sogleich betätigte. Viktor stieß die Tür noch etwas weiter auf und als er sich durch die Öffnung schob, entdeckte sie das kleine Tablett, das er auf seiner rechten Hand balancierte. Ein verführerischer Duft von frisch gebrühtem Kaffee wehte ihr um die Nase und lockte ihre Lebensgeister.

 Er schob das Tablett aufs Bett und schnappte sich in einer kaum sichtbaren Bewegung den Schreitischstuhl, den er ans Bett zog und sich darauf setzte. Wenn sie zusammen waren, machte Viktor sich nicht die Mühe, sich extra langsam zu bewegen. Er wusste, dass es ihr lieber war, wenn er sich so gab wie er war, genauso, wie sie sich ihm gegenüber so verhielt, wie sie eben war. Er genoss diesen Umstand ebenso wie sie.

Als sie sich dankbar lächelnd aufrichtete, nach der Kaffeetasse griff und dann den Rest des Frühstücks inspizierte, meinte er schließlich entschuldigend: „Ich dachte, wenn ich dich wieder mal aus dem Bett hole, dann bringe ich dir wenigstens eine kleine Stärkung mit.“

 Sie klemmte sich die Decke geschickt unter die Arme und setzte sich vollends auf. „Du warst schon immer sehr schlau.“ gab sie gespielt gönnerhaft zurück und nahm sich den Haferschleim, den Viktor mitgebracht hatte. Dies war das alltägliche Frühstück, Brötchen oder ähnliches waren eine Seltenheit. Nach ein paar Löffeln registrierte sie den besorgten Ausdruck, den sein Gesicht angenommen hatte und fragte: „Was ist denn los? Geht’s Meredia gut?“

 Er machte eine abwinkende Handbewegung. „Der geht’s hervorragend. Sie stillt gerade den Kleinen.“ Bei dem Gedanken an seinen Sohn trat eine Glückseligkeit in seine Augen, die Aurelia völlig unbekannt war. Es musste ihm schwer gefallen sein, sich von dem Anblick seiner kleinen perfekten Familie zu lösen. Anscheinend beschäftigte ihn etwas noch Dringlicheres, denn seit er verheiratet war, besuchte er sie nur noch selten und schon gar nicht, wenn sie noch schlief. „Was ist es dann? Raus damit!“ ermunterte sie ihn zwischen zwei Schluck Kaffee. Er warf ihr einen Blick zu, als müsste ihr klar sein, was ihm im Kopf herumging.

 Siedend floss die gestrige Mission wie Lava in ihren Kopf und begrub alles andere unter sich. Sie begriff sofort. „Die Steine?“

 Er nickte beklommen, dann fuhr er fort. „Ich konnte nicht richtig schlafen, also bin ich in aller Herrgottsfrühe zu Syrus und habe ihn darauf angesprochen.“

„Ist die Analyse schon fertig?“

Er schüttelte den Kopf. „Aber er hat was anderes entdeckt. Auf jedem der Steine ist etwas eingraviert. Alle Zeichen sehen gleich aus, irgendwelche geschwungenen Schnörkel. Dann hat er mit einem Diamantlaser ein Eckchen von einem der Steine abgeschnitten und wollte es untersuchen.“ Sie sah ihn gespannt an, als er eine bedeutungsschwere Pause machte. „Er legt den Splitter also unters Mikroskop und als das ganze chemische Flüssigkeit verdunstet war, wurde auf ein Mal das Licht des Mikroskops immer heller und heller, bis es nach ein paar Sekunden einfach den Geist aufgegeben hat.“

 Aurelia überlegte, wo sie diese Information einordnen sollte. „Du meinst, sie sind sowas wie eine elektrische Energiequelle, vielleicht Magneten?“

 Viktor hob leicht die Schultern „Daran habe ich auch zuerst gedacht. Aber vielleicht sind sie sogar mehr als das! Sie sind warm Aurelia! Hast du schon mal einen warmen Stein berührt?“ Er versank kurz in seinen Gedanken und auch Aurelia dachte nach. „Ich musste einfach mit jemandem darüber reden. Die ganze Sache stößt mir langsam wirklich übel auf!“ Er betrachtete sie forschend und setze dann zu seiner Frage an. „Könntest du nicht…?“

 Sie hasste es ihn abweisen zu müssen. Er war der einzige Mensch, den sie nicht enttäuschen wollte.Obwohl, nun vielleicht nicht mehr der Einzige! Sofort erinnerte sich ein Teil ihres Gehirns an die vergangene Nacht. Wie war das bloß passiert?

 Seit Viktor und sie nicht mehr so viel Zeit zusammen verbrachten, war sie sehr einsam geworden. Zuerst war es ihr recht gewesen, für sich zu sein. Sie war es ja auch irgendwie gewohnt. Aber mit der Zeit reihte sich ein einsamer, langweiliger Tag an den anderen und sie begann die Scherze und die Gespräche zu vermissen, die ihre eigenen düsteren Gedanken vertrieben und ihr für einen kurzen Moment Ruhe vor ihrem Gewissen verschafften. Rückschauend wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie dadurch ihre Beziehung zu Pareios Schritt für Schritt vertieft hatte.

 Zuerst waren es nur ein paar Witzeleien und hitzige Wortgefechte gewesen. Später trainierten sie immer öfter zusammen. Je häufiger sie das taten, desto leichter wurde es. Sie spielten sich ein, noch mehr, als es vorher im Fünferteam der Fall gewesen war. Dass er im Hubschrauber sofort ihre Stimmung erfasst und sie vor dem Thema des Gesprächs beschützt hatte, war das Resultat dieser Annäherung. Wurde sie nach all den Jahrhunderten weich? Sie war sich ihrer glänzenden harten Fassade allzu sicher gewesen und dann doch ihren menschlichen Bedürfnissen erlegen, nach dem sie sie so lange unterdrückt hatte. Und nun war da etwas entstanden, das sich nicht wegleugnen ließ. Ihre auch dieses Mal aufsteigende Übelkeit getrieben von Abscheu bestätigte ihr die aufkeimende Vermutung. Zum Teufel noch mal, verfluchte sie sich selbst. Ihre masochistischen Züge nahmen langsam Überhand. Der Ausflug dieses Hirnteils trieb ihr die Zornesröte ins Gesicht.

 Viktor bemerkte es verwirrt, missverstand es aber und ruderte sofort zurück. „Ich meine, ist schon ok, du musst ja nicht. Ich dachte nur, vielleicht… ist es ja nah genug!“ Sie starrte ihn an und begriff die Worte, die sie aus ihren Gedanken gerissen hatten. Er meinte, dass die Bedeutung der Steine sich bald mit ihrem Schicksal verweben würde, sodass sie für ihre Intuition sichtbar wurde. Und dass es bald passieren würde und Aurelia, um dies sehen zu können, nicht so weit in die Zukunft denken würde müssen.

Bei diesen Gedanken war ihr unwohl. „Viktor, du weißt, wie es ist. Wenn ich erst mal drin bin und danach suche, dann hört es nicht auf, bis ich es finde. Und wenn es zu weit weg ist…, dann kann ich nicht mehr zurück.“

 Er sah sie weiter bittend an. „Und wenn wir das versuchen, was wir in Argentinien gemacht haben? Damals hat es doch ganz gut geklappt!“ Aurelia gab einen bösen und entsetzten Blick zurück. Das war nicht sein Ernst!!

 „Soll das heißen, du wärst bereit, mich für diese Information niederzuschlagen?“ Der Satz klang empört und Viktor machte eine entschuldigende Miene.

 „Nein, ich meine ja, ich meine…. du weißt, was ich damit sagen will!“

 Dumpf erinnerte sie sich an jene Nacht und den Schmerz, der noch zwei Wochen später in ihrem Kopf pochte. „Du spinnst!“ Sagte sie und versuchte hart zu klingen. Sie dachte an die Steine und dass sie leider ein ebenso ungutes Gefühl bei ihnen hatte wie er.

 „Vielleicht ist es wirklich wichtig!“ bohrte er weiter und machte ein flehendes Gesicht. Viktor bemerkte sofort, dass ihr Widerstand bröckelte, er war sich bewusst, dass sie ihm ungern etwas abschlug.„Was wenn es uns alle das Leben kosten könnte…?“

 Aurelia gab seufzend nach. „Na gut! Aber wenn du nicht hart genug zuschlägst wirst du dein blaues Wunder erleben!“

 Er nickte entschlossen und sie stand auf, um sich etwas überzuziehen. Schon jetzt verfluchte sie sich selbst für diese Entscheidung. Das konnte ja nur schief gehen, auf die eine oder die andere Weise.

 

Sie öffnete ihren winzigen Schrank, der mehr ein Spint war und ihre paar Habseligkeiten beinhaltete. Während sie in schwarze sportliche Sachen schlüpfte, tat Viktor so, als wäre er in sich versunken und hatte den Blick auf den kleinen Aschenbecher gerichtete, in dem noch immer der kleine Stummel lag. Seit er verheiratet war, war er noch moralischer geworden und sie halbnackt zu sehen, entsprach nicht seiner Vorstellung von wahrer Treue. Sie beglückwünschte Meredia zu einem solchen Fang. Solche Männer gab es nicht oft, dachte sie objektiv. Wenn man so lange lebte, dann hielten normale Beziehungen zwar länger, drohten aber durch die unglaublich lange Zeit langweilig und einseitig zu werden. Deshalb war der Unterschied zu einer solch herkömmlichen Beziehung in deren beider Fall besonders deutlich. Ihnen war etwas passiert, was jedem der Elevender, potentiell zumindest, von Geburt an zu gedacht war.

 In der Sekunde, in der sie geboren wurden, stand fest, dass ihnen ein Gegenstück erschaffen würde. Sie nannten es Elevation, denn diese besondere Verbindung verstärkte die Kräfte des einzelnen Elevenders. In ihren Geschichten und Sagen war diese mystische Begebenheit seit Anbeginn der Existenz ihrer Rasse verankert. Allerdings hieß, dass das perfekte Gegenstück kommen würde, nicht, dass man es auch fand. Obwohl die Welt durch den Entwicklungssprung und die umfassende technische Zentralisierung, die Anfang des 21. Jahrhunderts entstanden war, immer weiter zusammen gerückt war, war es schwierig für die Elevender auf ihrer Seite in großen Gesellschaften zu leben.  Da sie von den Anderen verfolgt wurden, waren sie gezwungen sich in zersplitterten kleinen Grüppchen unter der Erde zu verstecken. Sie benutzten geheime Kommunikationswege, die auch immer wieder erneuert werden mussten, bevor sie entdeckt werden konnten. Manche wählten ein einsames Dasein, ganz abgeschieden von jeglicher Zivilisation. Und einige, deren Kräfte sich äußerlich verbergen ließen und die sie unter Kontrolle hatten, lebten versteckt unter der normalen Bevölkerung und führten ein ähnliches Sklavenleben wie sie. Dies führte dazu, dass man nicht vielen ihrer Gattung über den Weg lief. Auch kam es vor, dass das Gegenstück getötet wurde, bevor man sich überhaupt begegnet, der andere gar geboren war. Und nicht zu vergessen, waren da natürlich noch die Anderen. Dies war wohl die unglücklichste Kombination. Als sie sich wider auf ihre Pritschte setzte, fragte sie sich beklommen, ob Viktor überhaupt eine Wahl gehabt hatte, was Meredia betraf.

 Er räusperte sich gespannt und rutschte auf seinem Stuhl weiter nach vorn. Seine Augen stierten beinahe hypnotisierend in ihre, während er seine Muskulatur darauf vorbereitete, schnell handeln zu können.

 „Bereit? Du erinnerst dich an das Zeichen?“ fragte sie. Er nickte schlicht und machte eine entschlossene Miene. Mit der Linken packte er ihre Hand und hielt sie wie in einem Schraubstock umklammert.

 

Aurelia konzentrierte sich. Sie begann das Hier loszulassen, dabei schloss sie wie selbstverständlich die Augen. Sie fokussierte die Steine, suchte in dem endlosen rasenden Strom von Bildern und Eindrücken nach ihnen. Der Strom schwoll zu einem reißenden Fluss an. Das geschah immer, wenn sie sich aus der unmittelbar bevorstehenden Zukunft in die weiter entfernt liegende begab. Sie durchdrang die Zukunft Ebenenweise. Nach jeder Entscheidung die sie hypothetisch traf fächerten sich weitere Begebenheiten auf. Die Anzahl der Bilder stieg exponentiell an, was die zunehmende Stärke und Fesselung ihrer Kraft erklärte. Es war wie ein Baum, der sich in die Unendlichkeit verzweigte. Aus jeder Astgabel wuchsen fünf weitere kleine Sprösslinge und aus diesen wieder und so ging es weiter. Aber je mehr es wurden, desto schwieriger war es, aus den Abermillionen von Bildern, die sie mitrissen ein einzelnes zu erkennen. Die Eindrücke ließen sie vergessen, weswegen sie gekommen war. Sie verlor sich. Ein einziges Mal, damals in Argentinien, war sie in ihren Visionen an den Punkt gelangt, an dem sie sich ganz von sich gelöst hatte. Dann enthielten die Eindrücke, keine eigene Zukunft mehr. Es war die von anderen Menschen. Doch sie schreckte davor zurück, diese unsichtbare Grenz zu überschreiten. Trotz des Schmerzes war sie Viktor dankbar gewesen, dass er sie davor bewahrt hatte, noch weiter in diese Welt vor zu dringen.

 Auch heute erging es ihr so. Doch Viktors Hand, sein eiserner Griff, sorgten dafür, dass ihre Frage, das wonach sie suchte, nicht völlig in Vergessenheit geriet. Es war wie ein leichter Dunst, der noch irgendwo in ihrer Gedankenwelt hing und durch dessen Schleier manche Bilder deutlicher hervortraten. Diese Art der Fokussierung erreichte einen Höhepunkt, als sie sich plötzlich in einer der Szenerien wieder fand.

 

Alles war in gleißendes Licht getaucht. Es stach ihr in die Augen und sie musste das Gesicht abwenden. Es war so hell, dass es sogar noch durch die jetzt geschlossenen Lider drang und diese von innen orangelich schimmern ließ. Dann fiel eine Verdunkelung auf sie, die sie vor dem verzehrenden, durchdringenden Hell schützte. Sie blinzelte und öffnete die Augen.

 Sie erblickte eine Gestalt, zuerst sehr dunkel vor dem gleißenden Hintergrund. Dann nach kurzer Akkommodationsphase, konnte sie mehr erkennen.

 Da stand ein Mann. Seine kastanienbraunen Haare waren wellig und kurz gehalten, sie reichten gerade bis zum Ohr. Das Licht ließ sie in vielen Facetten schillern, auch bronzene und goldblonde Strähnen waren darin enthalten. Seine Augen und die Partien darum herum waren beschattet von einem Schwung der Haare, die ihm ins Gesicht hingen. Den Mund hatte er zu einem grausigen, aber verwirrend attraktiven Lächeln verzogen. Es zog sie an, aber er machte ihr auch Angst. Er war ohne Zweifel ein Elevender. Auf seinem Anzug, er glich eindeutig einer Uniform, war links über dem Herzen ein umgekehrtes Dreieck in Gold eingestickt, durchdrungen von einem türkisenen, geschwungenen Zeichen. Überrascht erkannte sie, dass das strahlende Licht von ihm ausging, sie konnte eine unglaubliche Kraft darin spüren. Aber er sparte den Fleck aus, an dem sie zu seinen Füßen kauerte.

 Er hielt etwas in der ausgestreckten Hand, eine schwarze kleine Erbse. Der Anblick verbreitete einen weiteren Anflug von negativen Gefühlen. Bevor sie ihn und seine Umgebung weiter erkunden konnte, stach ihr etwas heftig ins Herz. Es war, als durchdrang ein Feuer diesen kleinen pumpenden Muskel, und er begann widerwillig gegen die Störung anzustolpern, während er mittig verglühte. Ihre Atemzüge gerieten aus dem Rhythmus und das Feuer dehnte sich auf ihre Blutbahnen aus, zerfraß sie innerlich. Ihr wurde übel vor Schmerz, als würde sich das Chaos dieser Situation von ihrer Psyche auf ihren Körper ausweiten.

 

Sie konnte das Bild nicht mehr festhalten, sie hatte gesehen weswegen sie gekommen war, auch wenn sie keine Gelegenheit gehabt hatte, alles ganz genau zu betrachten und aus dem Gesehenen schlau zu werden. Nun trieb sie ziellos und benommen von höllischen Schmerzen durch den Strudel der Zukunft. Es gab nichts mehr das sie anzog, nichts mehr, das ihr eine Richtung gab, keine Hinweise, wo es vorwärts oder rückwärts ging. Dann meldete sich, wie aus einer weit zurückliegenden, längst vergangenen Zeit, eine Erinnerung. Da war doch etwas gewesen!

 Eine Hand, die sie hielt. Die Erinnerung schien so alt zu sein, dass sie ihr verschwommen vorkam. Dann begriff sie. Sie fühlte etwas Schweres auf ihrer Haut, das sie wie ein Anker im Strudel zurückzog. Bevor die Kette zu diesem Fixpunkt, die schon bedrohlich gespannt ächzte, reißen konnte, raffte sie alle Konzentration zusammen. Sie zwang die so merkwürdig weit entfernt wirkenden Nerven, Impulse zu leiten und die Muskeln, sich zu bewegen. Ihre Länge Stück für Stück zu verkürzen, bis sie es zustande brachte, die Hand, die ihre eigene hielt, kurz aber fest zu drücken.

 Auf Viktor war Verlass.

 Es dauerte nicht einmal eine Hundertstelsekunde, ehe sie hart von etwas seitlich am Hals getroffen wurde. Seine  Schnelligkeit und Präzision waren erschreckend, doch er schaffte es, sie mit einem Ruck aus den tosenden Wellen an Eindrücken zu ziehen. Sie tauschte das Flirren der Bilder gegen tiefe undurchdringliche Schwärze. Sie sank schnell in die Bewusstlosigkeit. Er hatte gezielt auf die Stelle an ihrem Hals geschlagen, wo sich die Arterie in eine tiefer und eine oberflächlicher verlaufende Bahn teilte. Der Punkt war sehr empfindlich. Wenn er einer starken Kompression unterlag, wurde dem Gehirn signalisiert, dass der Druck in den Kopfschlagadern zu hoch wurde und der systemische Blutdruck gesenkt werden musste. Das Resultat war eine starke Verlangsamung des Herzschlags, die meistens zur Bewusstlosigkeit führte, wenn der Körper aufrecht war und man nur hart genug zuschlug. Viktor war nicht zimperlich mit ihr. Zumindest nicht mehr.

 

5

Sie wünschte, die dumpfe Betäubung der Ohnmacht hätte angehalten, doch schon bald wurde sie wieder von den alten Alpträumen gequält.

Rows helle, warme Stimme weckte sie aus ihrer Benommenheit. Sie hörte sich so angenehm an, dass sie sich in ihre ferne Kindheit versetzt fühlte, wo es noch den Anschein gehabt hatte, dass die Welt vielleicht nicht ungefährlich, aber doch in Ordnung war.

„Geht’s dir gut, Aurelia?“ Auch diesmal hörte sie ihren besorgten, liebevollen Ton. Sie spürte, wie Rows Gewicht sich neben ihr auf die Pritsche senkte und öffnete die Augen. Die blonde Elevenderin beobachtete sie mitleidig und hielt ihr einen Eisbeutel hin.

„Hier. Viktor hat gesagt, du könntest vielleicht einen brauchen.“ Ihre Worte ließen das Pochen seitlich am Hals wieder aufleben. Gleichzeitig trieben schwache Fetzen ihrer letzten Vision durch ihren müden Geist, schreckten ihn auf und zogen ihn ganz an die Oberfläche. Sie versuchte, sich aufzusetzen, doch Schwindel breitete sich augenblicklich aus. Die Vision hatte sie wohl ziemlich mitgenommen. Ihre Glieder lagen bleiern auf ihrer Unterlage und sie fühlte sich beinahe wie gelähmt. Das Herz stach erneut ein wenig, als wolle es sich über die Strapaze beklagen. Diese Fremdheit ihres Körpers jagte ihr einen Schrecken ein. Er hatte bisher keine nennenswerten Ausfallerscheinungen gezeigt.

Row bemerkte, dass sie ihre Muskeln noch nicht ganz unter Kontrolle hatte, sprach es aber nicht laut an. Sie verstand meist, ohne genauer nachfragen zu müssen, was in anderen vorging, doch sie war stets diskret, bot nur wortlos Hilfe an. Als Älteste von drei Geschwistern hatte Rowena viel Übung mit kleinen Wehwehchen. Sie fasste mit an und drehte Aurelia mit dem Rücken zur Wand, als würde sie nur ein paar Pfund wiegen, dann positionierte sie das Eis in ihrem Nacken. Die plötzliche Kälte ließ Aurelia erschauern, doch sie betäubte die Nervenendigungen, die den Schmerz meldeten. Erleichtert entspannte sie etwas den Nacken. Sie hasste dieses Gefühl der Schwäche zutiefst.

Ihre Vision war so heftig gewesen, wie keine jemals zu vor. Sie konnte am eigenen Leib durchleben, was sie in dieser Zukunft durchmachen würde müssen, wenn ihre Entscheidungen sie eines Tages an diesen helldurchfluteten Ort führen würden. War das ihr Tod, den sie da gesehen hatte? Wie sollte sie diesen Schmerz überstehen? Konnte sie es verhindern? Denn genau das tat sie doch jedes Mal, wenn sie nur einen kurzen Einblick nahm, um sich vor Angreifern zu schützen, oder wenn sie den nächsten Schritt der Gegner erahnte. Sie traf eine Wahl, formte ihr Schicksal selbst, auch wenn sie nicht wusste, was die längerfristigen Auswirkungen ihres Handelns waren.

„Wie lange war ich denn weg?“

Row warf ihr einen abschätzenden Blick zu, aber dann antwortete sie: „Etwa anderthalb Stunden.“

Wenn man jemandem auf diesen speziellen Punkt am Hals schlug, dann wachte er normalerweise nach wenigen Sekunden wieder auf. Die Bewusstlosigkeit ließ den Körper erschlaffen und in der Horizontalen verteilte sich das Blut schnell wieder gleichmäßig, sodass der Betroffene bald wieder zu sich kam. Wie gesagt, nach ein paar Sekunden…. normalerweise.

„Wo ist Viktor eigentlich?“ fragte sie verwirrt, da sie ihn nirgends entdecken konnte.

„Markus hat ihn gerufen. Und da hat er mich gebeten, auf dich auszupassen, bis du wieder wach bist!“ Aurelia wusste, dass sie es gerne tat, es war wie ein Kodex unter ihnen weiblichen Teammitgliedern. Aber dass Viktor bei Markus war, ließ sie aufhorchen.

 Rowena berührte sie nicht weiter unnötig. Auch sie kannte sie mittlerweile lange genug. Sie hatte wohl mitbekommen, warum Aurelia bewusstlos gewesen war, denn sie erkundigte sich zunächst wie beiläufig nach ihrer Vision. Sie hatte diese Vorgehensweise schon öfter bei Viktor gesehen und da dieser im Moment nicht da war, übernahm sie wie selbstverständlich seinen Part. Sie schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, das Aurelias Herz erweichen ließ. Man konnte Row nur mögen. Sogar sie selbst tat es, soweit es ihr eben möglich war. Sie hatte sich in den letzten rund 60 Jahren an sie gewöhnt. Die damals erst 35 Jährige hatte sich nahtlos ins Team eingefügt und jeder akzeptierte sie schon bald als vollwertiges Mitglied. Sie musste noch nicht einmal etwas Besonderes dafür tun. Vor allem Männer waren ihr schnell verfallen, so kam Aurelia selten in die Verlegenheit, jemanden derb abweisen zu müssen, es reichte vollends aus, Rowena vorzustellen.

 „Wie war dein erster Eindruck? Was war am dominantesten?“

Aurelia überlegte kurz, ließ es zu, dass Rows sanfte Stimme sie zurück in diese schreckliche Gedankenwelt führte. Doch mit ihrer Kollegin an ihrer Seite, war es nur halb so schlimm, sie hatte einen beruhigenden Einfluss.

„Hell. Es war so hell. Konnte am Anfang fast nichts sehen.“ murmelte Aurelia gedankenverloren.

 „Gab‘s irgendwelche Hinweise, wo du warst?“ fragte Row gelassen weiter. Aurelia schüttelte den Kopf.

 „Menschen?“

Ihre Gefasstheit war wie weggeblasen und ein Chaos an Emotionen trat an seine Stelle. Sie spürte Wut, Verzweiflung, Hass, Entschlossenheit und gleichzeitig eine seltsame Vertrautheit und Verlustangst. Das alles mischte sich so stark in einander, dass sie die einzelnen Gefühlsqualitäten kaum mehr herausschmecken konnte. Ihre Teamkollegin las in ihrem Gesicht, dass etwas nicht stimmte.

„Da war einer Begabter.“ begann sie stockend. Alles in ihr zog sich zusammen, um die merkwürdigen Gefühle auszusperren, damit sie nicht völlig von ihr Besitz ergriffen. „Aber er war einer von den Anderen. Zumindest hatte er eine von ihren Uniformen an, die mit dem goldenen umgekehrten Dreieck.“

Rows Miene verfinsterte sich. „Er muss einen ziemlich hohen Rang haben, wenn er die trug!“

„Oder tragen wird!“ dachte Aurelia bei sich.

„Ich glaube, er gehört zu den obersten Leibwachen! Die Uniform war admiralblau. Und… er hatte einen der Steine…. Er wirkte sehr stark.“

Row zog zischend die Luft ein. Auch ihr musste in diesem Moment aufgegangen sein, was das hieß. „Bist du dir sicher, dass es so enden wird?“

Ob Viktor ihr schon von der Macht der Steine berichtet oder sie es sich in dieser Sekunde selbst zusammengereimt hatte, ging aus ihrer Reaktion nicht hervor. Aurelia sah sie ironisch grinsend an. „ Was ist schon sicher?“

Ihre Gegenüber verstand. Sie fuhr sich nachdenklich durch die blonden Haare und biss sich auf die vollen, wohlgeformten Lippen. Dann fragte sie: „Sonst noch was?“

Sollte Aurelia von der Anziehung und der Angst vor Verlust erzählen? Sie passten nicht so recht ins Bild und sie konnte sie sich ja noch nicht einmal selbst erklären. Wenn diese Gefühle wirklich mit der Gestalt zusammenhängen sollten, was bedeutete das dann für ihre eigene Rolle in dieser Vision? Der Ekel vor sich selbst ergriff sie wieder einmal und sie entschied sich, dieses kleine, aber vielleicht wichtige Detail für sich zu behalten. Sattdessen schilderte sie ihrer Kameradin den Schmerz und das Gefühl von innen heraus zu verbrennen.   

Dieser Teil der Erzählung alarmierte Row jedoch. Trotz ihrer Feinheit und Mädchenhaftigkeit war sie gut ausgebildet und roch die Gefahr, die von Aurelias Worten ausging. Zudem war auch ihr bewusst, dass es nicht üblich war, dass Aurelia beim Benutzen ihrer Gabe Schmerzen empfand. Sie zog die hübsche Stirn in Falten. Das satte Grün ihrer Augen leuchtete wissend auf. „Ich denke, es wird Zeit, dass die anderen das auch erfahren!“ sagte sie dann mit Nachdruck und stand auf. „Kannst du gehen?“

Aurelia reckte die Zehen, machte eine Bestandsaufnahme ihrer Muskulatur. Das Gefühl in den Extremitäten war wieder da, wenn auch noch nicht vollständig. Sie nickte und rappelte sich ebenfalls hoch. Sie zog die schwarzen Sachen zurecht, bis sie den durchtrainierten schmalen Körper wieder vollends verdeckten.

„Du hast Recht! Aber könntest du das machen? Ich habe im Moment absolut keinen Bock, mich mit Markus auseinanderzusetzen. Ich würde lieber etwas Trainieren gehen. Den Kopf frei kriegen!“ sagte sie lapidar dahin, damit Row die Sehnsucht in ihrer Stimme nicht hörte. Sie wollte dringend diesen klebrigen Rest der Vision, der ihr ein beschissenes Gefühl aufdrängte, aus ihrem Kopf waschen. Sie vermisste ihre Stärke.

Row gab natürlich nach. Aurelia tat sowieso, was sie wollte. Einzig Viktor hatte immer einen gewissen Einfluss auf sie gehabt.

 

Nachdem sie die schwarzen Allzweckstiefel übergezogen hatte, verließen sie gemeinsam ihre Kammer. Dann ging Row nach rechts, sie selbst nach links in Richtung der Trainingshalle. Diese war neben dem Speisesaal der größte Raum dort im Bunker unter der Erde. Row war hier geboren worden und sie nutzten den Bunker als Hauptquartier, seit Markus ein Ratsmitglied geworden war. Die unterirdische Anlage bot sich auch deshalb an, weil  zusätzlich ein größerer Teil des Rats in ihm lebte. Natürlich war er nicht komplett, es wäre zu gefährlich gewesen, sie mit einem Schlag alle auf ein Mal ausradieren zu können. Trotzdem war der Bunker bisher von Angriffen unbehelligt geblieben. Sie achteten alle sehr darauf, seinen Standort geheim zu halten.

Sie schlenderte durch die verlassenen Tunnel. Anscheinend war gerade Abendessenszeit und die meisten Bewohner hielten sich in der Kantine auf. Nach ein paar Minuten kam sie vor der großen doppelwandigen Tür an, die die Laute der Trainierenden im Raum einschließen sollte. Es drangen nur gedämpfte Geräusche heraus, die ihr verrieten, dass auch ein paar andere nicht zum Essen gegangen waren. Der kurze Weg hatte ihre Muskeln gelockert, so langsam fühlten sie sich wieder wie die alten an.

Sie betrat die Halle, die hell erleuchtet und an den meisten Stellen mit ca. 15 Zentimeter dicken Matten ausgelegt war. Sie enthielt allerhand Trainingsgeräte, sowie Waffen und es hingen einige Seile und Netzte von der Decke. Ein paar Köpfe wandten sich zu ihr um. An seinem rötlichen Haarschopf konnte sie Amander erkennen, der wie sie fast jede Minute verbissen an seinen Fähigkeiten feilte. Doch in Gegensatz zu ihr war er ohne besondere Gabe zur Welt gekommen. Die Elevender waren stärker als herkömmliche Menschen, sie konnten höher springen, schneller laufen und länger kämpfen. Sogar die fünf Sinne waren einen Tick schärfer und sie besaßen natürlich zusätzlich noch ihre Begabung. Wahrscheinlich versuchte er gerade deshalb, diesen Umstand durch härteres Üben wieder wettzumachen. In ihrer Gruppierung war die Zahl der normalen Leute recht bescheiden. Die meisten Menschen waren blind für die Wahrheit. Sie glaubten alle Lügen, die ihnen über die Medien durch die Anderen eingetrichtert wurden. Deshalb wählten nur wenige ihre Seite freiwillig, da sie ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen, wie es die Anderen taten, keine heroische Romantik besaß. Aurelia konnte in seinen Gesichtszügen oft das Gefühl der Unzulänglichkeit ablesen, die sich hin und wieder in Aggressivität äußerte. Deswegen umgab sie sich gerne mit ihm. Sie konnte die verbitterte Rastlosigkeit, die ihn trieb nur zu gut verstehen. Der wahre Grund für sein Verhalten, so vermutete sie, lag wo anders. Sie war wohl die einzige Person, die das auch nur im Ansatz nachempfinden konnte.

„Amander!“ rief sie ihn und setzte sich in seiner Richtung in Bewegung. Seine wilde Aggressivität war genau das, was sie jetzt brauchte und für einen Menschen war er unheimlich versiert. Als er sie erkannte, formte sein Gesicht sofort ein erfreutes Lächeln und er schnappte sich die Freefight-Handschuhe.

„Endlich mal wieder ein würdiger Gegner!“ seufzte er glückselig. „Verdammt lange nicht gesehen!“

„Ja, wir waren viel unterwegs!“ gab sie kapp zurück und zog sich ebenfalls grinsend ihre eigenen Handschuh über. Sie stellte sich ihm gegenüber auf, drehte sich zur Seite und ging leicht in die Knie. Dann winkte sie ihn heran. Er sollte sie angreifen.

„Heute ohne Player?“

„Heute ohne Player!“ bestätigte sie. „Ich muss meine Konzentration trainieren!“ In letzter Zeit machte sie die ganze Hellseherei ziemlich alle, was für sie nur hieß, dass sie mehr Kondition brauchte und das bedeutete mehr Training.

 

Amander bewegte sich zuerst geschmeidig auf sie zu, dann machte er einen schnellen seitlichen Ausfallschritt und versuchte sie mit einem rechten Schwinger zu treffen. In einer solchen Situation war ihre Gabe endlich wieder zahm, folgte ihr wie ein Schatten. Es war wie Atmen, kein Schmerz, keine Schwere. Sie brauchte nur die unmittelbare nächste Sekunde vorauszuschauen. Kein Chaos, nur ein Weg! Zudem war ein kleiner Kampf unter alten Bekannten nicht so aufputschend, wie ein Einsatz.

Sie ließ es fließen, fing seinen Schwinger mit dem linken Ellenbogen ab, drehte den Arm unter seinem durch und stach ihm die ausgestreckte Hand in den Hals.

„1:0 für dich!“ zischte Amander ärgerlich, nachdem er zurückgewichen war. Er wirkte jedoch zufrieden über die Herausforderung und sein nächster Angriff erfolgte mit mehr Intensität. Er täuschte einen Tritt an und bombardierte sie dann mit Kettenfauststößen. Aurelia wich ein paar Schritte nach hinten, nur um sich dann in einer plötzlichen Drehung auf ihn zuzubewegen. Nahkampf war ihre Spezialität, denn sobald sie nah genug ran kam hatte der Gegner keine Chance mehr. Sie ließ den linken Arm flügelartig herab sausen und traf ihn zuerst mit dem Ellenbogen, dann mit dem Handgelenk im Nacken. Er stöhnte auf und torkelte erneut ein Stück von ihr weg.Amander rieb sich den Nacken. „Kannst du mal wo anders hinschlagen?“ fragte er vorwurfsvoll, aber grinste gleichzeitig.  

„2:0. Komm schon Mimose. Mir wird langsam langweilig!“ Selbstsicher neckte  sie ihn, um ihn weiter zu reizen. Er machte ein Gesicht, als wolle er ihr klar machen, dass er nicht zu unterschätzen war, dann schoss er ohne Vorwarnung auf sie zu. Diesmal dauerte der Schlagabtausch länger. Sie bewegten sich wild hin und her, setzten beide verschiedene Hiebe, Blocks und Haltegriffe ein. Schließlich schleuderte Amander sie mit einem gekonnten Wurf zu Boden, doch sie schaffte es, ihn mitzureißen. Er landete auf dem Bauch und im nu war sie über ihm, drückte ihm ihr Knie ins Kreuz und umschloss sein Genick mit einem nach oben gezogenen Würgegriff. Nach wenigen Augenblicken klopfte er ab. Euphorie durchströmte sie und sie fühlte sich wunderbar, aber sie ließ ihn sogleich los und stand auf.

„Verdammt bist du gut geworden!“ motzte er immer noch am Boden liegend. Dann rappelte auch er sich auf und drückte den Rücken durch, der ein verräterisches Knacken verlauten ließ. Dabei fuhr er leicht zusammen. „Ich sollte mehr Einsätze machen, vielleicht wäre ich dann auch so gut in Form.“  

„Oder tot.“ dachte Aurelia bitter bei sich, wollte ihm aber nicht den Spaß an der Sache verderben.

Amander sah sie mit seinen herzlichen braunen Augen an und zwinkerte dann. „Wenn du mich schon fertig machen musst, solltest du wenigstens den Anstand besitzen, mit mir noch was trinken zu gehen! Als Entschädigung sozusagen“ Er hatte es schon öfter versucht, aber bisher hatte sie ihn immer abgewimmelt. Zu so etwas ließ sie sich nur hinreißen, wenn sie sich mal besonders einsam fühlte, oder sie fand, dass es mal wieder an der Zeit war, normal zu spielen. Ihm ging es ähnlich, deswegen war seine Gesellschaft ungezwungener als die von Anderen. Außerdem wurde sie bei ihm von keinen merkwürdigen Gefühlsregungen überrollt, die ihr eine verwirrende Übelkeit bereiteten. Während sie nachdachte, sah sie zu, wie sein Blick über ihren Köper glitt und an manchen Stellen etwas verweilte. Ein versunkenes Lächeln umspielte seine Lippen.

Heute war die Versuchung sehr groß, das Gesehene und Gehörte mit ein paar belanglosen Flirtereien zu verdrängen. Kurz flackerte ein Gedanke in ihrem Kopf auf. Golden glitzernde Sterne auf grauem Grund. Jetzt war sie sich sicher und sagte zu. Sie verabredeten sich in einer Stunde in der Kantine und Amander verließ mit einem zufriedenen Grinsen die Halle.

 

6

Bis dahin wollte sie sich noch ein wenig am Boxsack abreagieren, sie hatte noch viel zu viel Energie. Eine Weile drosch sie nur mit den Fäusten auf das feste, derbe Leder ein und bemühte sich das Kopfkino fernzuhalten. Es klappte jetzt immer schlechter. Aber es manifestierte sich in verschiedenen Gedankengängen. Sie rotierten in einem flotten Schlagabtausch in ihrem Kopf und sie fragte sich langsam, als ob sie verrückt wurde. Aber man konnte der Vergangenheit nicht entrinnen, völlig egal, wie weit einen die Füße trugen. Was auch immer sie tat, solange sie dieses eine Ereignis nicht rückgängig machen konnte, war sie niemals frei.

Sie boxte mit aller Kraft, legte ihre Verzweiflung in einen harten geraden Schlag und hob den Boxsack aus seiner Befestigung. Schwer atmend stand sie vor ihrem Opfer, das nun reglos am Boden lag. Da hörte sie eine raue Stimme hinter sich. Seine Stimme!

„Verdammt Aurelia, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“ Sie hörte das Schmunzeln in seinen Worten. Der eine Teil von ihr, erfuhr einen Schauer, als sie seine Anwesenheit registrierte. Der andere, masochistische Teil meldete Selbsthass.

Er trat hinter sie. Legte seine Hand wie einen Hauch an ihre Hüfte. Dann raunte er ihr diesmal leiser zu. „Alles ok mit dir?“ Der Schauer wurde schlimmer, genauso wie die Übelkeit. Während sie sonst Berührungen aus dem Weg ging, war es plötzlich, als hätte sie nur auf seine Hand gewartet. Täuschte sie sich, oder flimmerte die Luft zwischen ihnen? Sie drehte sich um und zog sich einen Meter zurück. Ein Blick in Pareios‘ Augen genügte. Rowena hatte bereits Bericht erstattet. Sie zeigten einen warmen, besorgten Ausdruck und er legte das Haupt leicht schief.

„Geht schon wieder. Ich glaube, der Schreck war schlimmer!“ sagte sie und senkte den Kopf. Mit einem Schritt überbrückte er die entstandene Kluft zwischen ihnen. Seine Hand wanderte zu ihrem Arm. Berührte ihn sanft und die Fingerspitzen strichen über den Stoff bis hinunter zum Ellenbogen. Sie blieben kurz in einzelnen Falten hängen, setzten dann aber leicht zitternd ihren Weg fort. Es war als rieselten mehrere Wellen, kleiner schöner Schauer ihren Nacken und den ganzen Körper hinab und verursachten eine Gänsehaut.

„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht!“ Dieser einfache Satz, so belanglos er geklungen haben mochte, ergriff sie. Ihr wurde warm und ihr Magen zog sich zu einem sperrigen Klumpen zusammen. Am liebsten hätte sie ihn ebenso berührt. Seine Haut unter ihrer Hand  gespürt, den warmen Pulsschlag gefühlt. Aber sie hatte nicht das Recht, sich so etwas zu erlauben. Sie war hin und hergerissen. Ein ungeahnt heftiger Würgereiz arbeitete sich ihre Speiseröhre empor. Sie unterdrückte ihn mit aller Macht, schmeckte jedoch bereits Säure auf der Zunge. Genervt kniff sie die Augen zusammen. Dieses verfluchte Chaos, das er da in ihr veranstaltete, war kaum zum Aushalten.

Schluss jetzt, rief sie sich selbst zur Ordnung. Sie zwang ihre Beine noch einen Schritt rückwärts. Es musste lächerlich aussehen, wie sie da vor ihm flüchtete. Sie lehnte sich scheinbar beiläufig an die Hallenwand und versuchte lässig zu wirken, dann befahl sie ihrem Mund sich zu öffnen und hoffte gleichzeitig, dass ihr Mageninhalt an Ort und Stelle bleiben würde.

„Wie gesagt, ich fühl mich schon besser. Der Schmerz hat mich einfach überrascht, damit habe ich wirklich nicht gerechnet.“ Sie zögerte kurz und fuhr dann fort. „Und irgendwas an der Situation passte nicht zusammen, es war ein extrem komisches Gefühl, aber ich versteh einfach nicht, was genau es war!“

Er gab es auf, sie zu verfolgen und verschränkte stattdessen die Arme vor der starken Brust. Scheinbar damit sie etwas zu tun hatten und nicht wieder auf Wanderschaft gehen konnten. Sie starrte irgendwo auf seinen Hals, um nicht wieder der anziehenden Dämmerung in seinen Augen zu erliegen. Allerdings war diese Idee auch nicht viel besser, denn so fiel ihr zwangsläufig sein Körper auf. Und der war wirklich nicht zu verachten. Dieser hünenhafte Knochenbau mit den breiten Schultern, schmalen Hüften und den langen Gliedmaßen. Überall wo das dunkle Shirt auflag, konnte sie die starke Muskulatur erkennen, besonders an Brust und Oberarmen spannte es ein wenig.

Nun kribbelte etwas anderes in ihr, vor allem ein Ort jenseits ihres Bauchnabels. Das Gefühl, das sich jetzt breit machte, war ihr schon bekannter und sie hatte es auch in Bezug auf ihn schon öfter gespürt. Wer würde das nicht, bei seinem Aussehen. Es gab schließlich einen Grund, warum ihm die Frauen reihenweise nachliefen und wie zufällig in seinem Bett landeten. Seine charmante ungestüme Leidenschaft machte ihn anscheinend zum legendären Liebhaber, denn es kursierten einige Gerüchte und nicht wenige handelten davon, wie gut bestückt er doch war. Bei dem Gedanken wurde ihr noch heißer und sie war über die Distanz zwischen ihnen froh, sonst hätte er es bestimmt spüren können.

„Was passte denn daran nicht zusammen?“ Der Klang seiner Stimme war immer noch sanft und geduldig, aber sie hörte auch Resignation. Er war sonst eher der Typ für schroffe Witze als für ernsthafte einfühlsame Gespräche, das war Viktors Territorium. Sie hatte nie vermutet, dass diese Seite auch in Pareios schlummern könnte. Um genau zu sein hatte sie ihn, bis auf seine Attraktivität, vor Viktors Hochzeit gar nicht wirklich wahrgenommen. Sie hatte ja einen Freund gehabt, das hatte ihr genügt und Pareios war immer gern und viel auf Achse gewesen. Er lebte so, als müsste er jede Sekunde seines Daseins auskosten. Irgendwie imponierte ihr das jetzt auf gewisse Weise.

 

Sie riss sich zusammen, um dem Gespräch weiter folgen zu können. Sie wusste nicht welche Worte sie wählen sollte, um es ihm zu erklären. „Ich weiß nicht so recht… irgendwie ging von dem Kerl in meiner Vision eine starke Kraft aus, sie erfasste alles um mich herum, aber… mich nicht! Die höllischen Stiche in der Brust kamen erst danach.“

Sie fragte sich was er wohl dachte und ließ den Blick schnell und unauffällig über sein Gesicht wandern. Er wirkte in Gedanken versunken und hatte die klar geformten dunklen Augenbrauen zusammengezogen. Dann fuhr er sich mit der rechten Hand über das kurzrasierte, schwarze Haar. „Soll das heißen, nicht er hat dir wehgetan?“  fragte er skeptisch, schließlich war der Typ einer von den Anderen.

„Ich weiß es nicht, schon möglich…“  Sie hob ihre Schultern, um ihre Ratlosigkeit zu unterstreichen.

„Aber wer war es dann?“ fragte er laut, aber keineswegs nur an sie gerichtet. Er dachte selbst darüber nach. Da es aber keinerlei weitere Anhaltspunkte gab, schaute er schon bald recht enttäuscht drein. „Wird es dich ….“ er stockte und seine Stimme brach weg. Es trat ein schmerzvoller Ausdruck in seine Augen und er sah sie beinahe flehend an. Das machte sie nervös, denn es verriet eine Emotion, die sie wieder nicht in seinem Verhalten einordnen konnte. „Wird es dich töten?“ brachte er schließlich flüsternd hervor.

Der Schreck, an diese Möglichkeit erinnert zu werden, durchfuhr sie. Sie wollte nicht daran denken, also sagte sie nur schnell etwas heftiger als beabsichtigt, um das Thema zu beenden: „Verdammt noch mal, woher soll ich das wissen!“ Sollte ER doch mal munter über SEIN möglicherweise bald bevorstehendes Ableben diskutieren und sich selbst diese dämlichen Fragen stellen.

 Durch ihren kleinen Ausbruch wurde es still und sie bemerkte, dass die Halle mittlerweile wie lehrgefegt war. Er hob beschwichtigend die Hände. „Schon gut, ich wollte dir auf keinen Fall zu nahe treten!“ sagte er dann leicht säuerlich. „Ich…“

In dem Moment ging die Flügeltür des großen Trainingsraumes auf und Viktor stürmte, gefolgt von Row und Aiden herein.

 

Pareios fuhr erschrocken herum. Seine Miene verriet, dass er sich nicht gerade über die Unterbrechung freute. Er rollte die Augen als er Viktor erkannte. Was war denn das?

Viktor wirkte erzürnt, aber er kam ohne Umweg direkt auf sie zu. Er packte sie besorgt bei den Schultern und zog sie in eine fürsorgliche, väterliche Umarmung. An seinem Ohr vorbei sah sie, wie Pareios den Kopf abwandte, jetzt war sein Gesicht nicht mehr in ihrem Blickfeld.

„Es tut mir wirklich leid!“ murmelte Viktor in ihr Haar. „Wenn ich geahnt hätte, dass…  Ich war wirklich besorgt, als du nicht mehr aufgewacht bist. Aber dein Herz schlug regelmäßig, also wollte ich abwarten. Dann rief Markus an und ich dachte du würdest auch wissen wollen, was er zu sagen hat.“ Er versuchte zu erklären, warum er sie so mir nichts dir nichts bewusstlos hatte liegen lassen. Ein kleiner wehmütiger Stich zwickte sie irgendwo in ihrer Brust. Die Tatsache, dass er sich um sie sorgte, bedeutete ihr nicht annähernd so viel, wie als es vorhin jemand anderes zu ihr gesagt hatte.

Die Zeiten in denen sie und Viktor ein festes Team bildeten, aufeinander Acht gaben, waren vorbei. Eine solche enge Beziehung zu einer Frau konnte eben nicht neben seiner Ehe existieren. Diese Erkenntnis erfasste sie nun mit einer traurigen Endgültigkeit. Als ob ihm dies auch just bewusst wurde, ließ er seine Arme sinken und zog sich zurück. Wenigstens schien er ein schlechtes Gewissen zu haben, dass er sie überredet und ihr damit Schmerzen bereitet hatte.

 Sie wiederholte, dass sie sich schon besser fühlte und betrachtete jetzt die anderen aufmerksam. Row und Aiden sahen sich immer wieder an und machten einen gehetzten Eindruck. Es brannte ihnen auf den Lippen, endlich über die Steine zu reden.

„Also, wie sieht‘s aus? Was hat Markus gesagt? Warum hat er dich überhaupt gerufen?“ fragte sie nun, um den beiden einen Gefallen zu tun.

Viktor verschränkte die Arme, genauso wie Pareios es vorhin getan hatte. Sie sahen sich in manchen Momenten wirklich sehr ähnlich. Er blickte sich noch mal um, um sicher zu gehen, dass sie alleine waren. Row hatte sich währenddessen auf eine Hantelbank gesetzt.

Viktor begann und wieder wurde er wütend. „Der Mistkerl wollte mir erst gar nichts erzählen! Hat sich immer wieder rausgeredet und behauptet, dass alles nur Vermutungen seien. Als ob es ihm sonst was ausmachen würde, die Leute unnötigerweise in Angst und Schrecken zu versetzen!“ Viktor schnalzte verächtlich mit der Zunge. „Dann ist Row reingeplatzt, mit der Nachricht von dir und deiner Vision.“ fuhr er fort. „Er war wirklich schockiert würde ich sagen!“ Er warf Rowena einen fragenden Blick zu und diese bestätigte seine Vermutung mit einem Nicken.

„Row und ich haben dann auf ihn eingeredet. Er sollte verdammt noch mal den Mund aufmachen, denn wenn die Steine mit Aurelia zusammenhängen, dann betrifft die ganze Sache auch uns!“ Er wurde zunehmend ernster und sah jeden in der Runde einmal kurz an. Row grinste jedoch selbstgefällig. Aurelia konnte sich schon vorstellen, was Markus letztendlich zum Reden gebracht hatte. Ihr Charme war einfach zu viel für die meisten Männer und genauso einer war eben auch Markus.

„Anscheinend stammt die Info über die Steine von einem Spion, den sie bei den Anderen eingeschleust haben. Er hat irgendwie Wind von ihnen bekommen und dass sogar der Klerus höchstpersönlich ein Interesse an ihnen hatte.“ Der Klerus, so nannten sie die Familienoberhäupter, der Anderen, der Hegedunen. Sie waren die ersten, die sich dank ihrer Begabung über die Menschen stellten und herausfanden, dass es möglich war ganze Völker zu beherrschen und zu versklaven.

„Der Spitzel hat dann gestern Abend gemeldet, dass die Steine heute früh abgeholt werden sollten, da war Markus gezwungen zu handeln, auch wenn er nicht alle Informationen hatte.“

„Das ist alles?“ fragte Aurelia entrüstet. Er nickte ebenso verärgert.

„Aber das kaufst du ihm doch nicht ab, oder? Der Kerl verarscht uns doch!“ warf Pareios ein, der ebenso aufmerksam dem Bericht seiner Bruders gelauscht hatte, wie Aiden. Beide machten sie jetzt besorgte Gesichter.

Viktor lachte höhnisch. „Du vergisst, dass ich mit Markus aufgewachsen bin. Ich erkenne, wenn er nicht die ganze Wahrheit sagt. Aber in dem Moment war mir auch klar, dass er sie so oder so nicht rausrücken würde.“

 

„Das heißt also, du denkst, dass wir uns selbst um die Sache kümmern sollten.“ las Pareios die Gedanken seines wesentlich älteren Bruders. Aurelia blickte vom Einen zum Andern, während sie eine scheinbar lautlose Konversation mit den Augen führten. Man sah ihnen den Altersunterschied kaum an, nicht verwunderlich, da Elevender sich ab dem 25. Lebensjahr äußerlich nicht mehr veränderten.

„Nur wenn ihr euch mir anschließt! Ich werde das nicht über eure Köpfe hinweg entscheiden.“

Aiden griff ein Schwert aus einem der Waffenköcher, die überall in der Halle verstreut herumstanden, schwang es schnell und ließ es dann kunstvoll um sein Handgelenk kreisen. „Ich finde, die ganze Sache stinkt zum Himmel. Und dein Urteil war bisher immer richtig Viktor. Ich bin dabei.“ sagte er dann mit fester Stimme. Row stand auf und stellte sich neben ihn. „Ich vertraue dir ebenso, Vik.“ sagte sie sanft und warf Aiden einen raschen glühenden Blick zu. Sie würde ihn niemals alleine in den Kampf ziehen lassen. Viktor sah Pareios erwartungsvoll an. Doch dieser bohrte seine Augen in Aurelias und sie konnte erkennen, dass er innerlich raste. Wieder dieses Prickeln. Wieder eine Reaktion von ihm, die sie überhaupt nicht einordnen konnte. War er wütend auf sie?

Dann sagte er allerdings mit völlig ruhiger Stimme: „Außerdem gebe ich dir in einem Punkt Recht. Aurelia hat irgendwas mit den Steinen zu tun und somit betrifft es uns alle. Wir werden uns früher oder später darum kümmern müssen!“ Das Schweigen, das darauf folgte, war der Beweis für seine Worte. Sie dachten alle so.

Niemand fragte Aurelia. Kein Wunder, sie war ja ohnehin schon hoffnungslos in diese Geschichte verstrickt.

 

Als das geklärt war, ging Viktor dazu über, mit ihnen Brainstorming zu machen. „Also was haben wir?“ fragte er in die Runde und seine silbergrau wabernden Augen schweiften über die anderen Teammitglieder.

„Die Steine sind Energieverstärker. Anscheinend vor allem für elektrisches Licht. Aber wie funktioniert das?“ gab Row als erstes zu bedenken. Sie trat unruhig von einem Bein aufs andere. Da keiner einen Geistesblitz hatte, fuhr Viktor fort.

 „Dass sie warm sind wundert mich ziemlich. Ich meine, wären sie reine Verstärker, dann wären sie doch ohne Stromquelle kalt, oder?“ Noch eine Frage, auf die keiner eine Antwort wusste, doch sie bestätigten Aurelias erste Vermutung, dass es sich bei den Steinen eher um eine Energiequelle handelte. Sie alle dachten weiter angestrengt nach. Da brachte Aiden eine Idee ein: „Vielleicht produzieren sie eigene Energie durch sagen wir eine Art chemische Reaktion!“ Alle erinnerten sich sofort an das zerfressene Leder seiner Handschuhe und Aiden betrachtete gedankenverloren seine Hände. „Das macht Sinn!“ bestätigte Row. „Und die chemische Flüssigkeit unterbricht diese Reaktion. So sind sie sozusagen stillgelegt.“ Ihre Stimme wurde immer aufgeregter, während sie das sagte. Alle spürten bei ihren Worten, dass sich da zwei Puzzleteile ineinander gefügt hatten.

„Ok. Die Dinger sind also wie ein Perpetuum mobile für Energie?“ fasste Viktor mit seiner Frage zusammen.

Das für sich wäre schon Grund genug, die Dinger ganz weit weg, in Sicherheit vor den Anderen zu bringen. Sie waren ja beinahe wie ein Schlüssel zu einer nie für möglich gehaltenen Macht. Es war wie die Legende der kalten Fusion. Energie war ein Multi-Milliarden-Geschäft und stützte, was sich die Hegedunen aufgebaut hatten

 Mit den Jahrhunderten hatten sie ihr Netzt über die ganze Welt gesponnen. Sie suchten andere Elevender, um ihre Macht zu vergrößern, schufen verschiedene Geheimorganisationen, die immer wieder im Lauf der Geschichte herumfuhrwerkten. Versuchten mal hier mal da in größeren und kleineren Aktionen das Regiment über die gesamte Menschheit zu übernehmen. Doch genauso von Anfang an hatte es eine kleine Gruppe von Widersachern gegeben. Und sie hatten bis heute überlebt.

Lange Zeit waren sie sehr wenige gewesen. Auch heute waren sie noch in der Unterzahl, aber seit die Hegedunen ihren Griff um die Welt Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt hatten, um auch noch den letzten Rest an menschlicher Arbeitskraft herauszuquetschen, hatte sich die Situation der Bevölkerung zusehends verschlechtert und sie hatten mehr Zulauf bekommen.  

Damals hatten die Hegedunen ihre Operationen mit Kriegen verdeckt, die die Welt beinahe in ihr Verderben gezogen hatten.

Den ersten der beiden größten davon hatten sie geschickt vorbereitet, indem sie 1913 das Geldschöpfungssystem an sich rissen. Sie finanzierten die verschiedenen Parteien, um die Kriege am Laufen zu halten, denn so bemerkten die Menschen nicht, was hinter ihrem Rücken geschah. Und was bereits vollständig zerstört war, ließ sich leichter heimlich infiltrieren. Man machte die neuen Regierungen durch immer höhere Kredite für den Wiederaufbau, mit immer höheren Zinsen und Zinseszinsen abhängig. Und schon hingen die Köpfe der größten Regierungschefs der Welt bald an ihren Marionettenschnüren. Wer sich nicht fügte, verschwand auf geheimnisvolle Weise. Immerhin bot ein großer Kreis an Begabten ein schier unerschöpfliches Repertoire an Möglichkeiten, jemanden aus dem Weg räumen zu lassen. Diese beiden größten Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nutzten sie also, um sich in Bürgervertretungen einzuschleichen und ganze Völker in ihrem Sinne umzuerziehen. Sie erkannten schnell, dass dies eine viel einfachere Möglichkeit war, die Menschen zu unterwerfen, als jeden einzeln zu bedrohen. Sie prägten erst den Begriff des Bürgers. Denn er bürgte mit seiner Arbeitskraft für die riesigen Schuldenberge, die den Staaten aufgezwungen wurden. Die Menschen bekamen Nummern und einen Personalausweis, den sie immer bei sich tragen sollten. Schließlich waren sie Personal in einer riesigen Firma, der Firma der Hegedunen.

Die Umerziehung bewirkte, dass die Folgegenerationen Arbeit nicht mehr nur als notwendig erachteten, um sich ihr Überleben zu sichern. Den Menschen wurden in den Medien Bilder von tausenden von Dingen gezeigt und angepriesen, wie wichtig es doch war, dass jeder eins besaß. So wurden ihre Gehirne gewaschen und sie trabten jeden Tag, Jahr für Jahr ihres Lebens in die Tausende von Fabriken, die im letzten Jahrhundert errichtet worden waren, andere Arbeitsstellen gab es nicht annähernd so viele. Sie schufteten sich die Finger wund, um sich auch nur ein wenig von dem was da angepriesen wurde, leisten zu können. Die perfekten Sklaven waren erschaffen.

Man bemerkte, dass es leichter und effizienter war, das Arbeiterheer immer gerade so über dem Existenzminimum zu halten. Zudem ging man dazu über, Einzelne mit mehr Macht auszustatten. Das hatte einen Anreiz auf die anderen noch härter zu arbeiten, da ihnen vorgegaukelt wurde, dass ein jeder von ihnen diese Position erreichen könnte. Aber es führte auch dazu, dass sie sich gegenseitig mit Hass und Missgunst betrachteten, eine perfekte Technik, um einen Keil in eine etwaige Opposition zu treiben. Und keiner kam auch nur einen Moment auf die Idee, dass er ein Sklave war, sie feierten ihre Freiheit mit jedem „gewonnen“ Krieg, obwohl jeder in Wahrheit einen Rückschritt darstellte.

 Als dann die allumfassende Technisierung den Menschen an sich und seine Arbeitskraft überflüssig machte, wurden immer weniger von ihnen benötigt, um den Hegedunen ihren Lebensstandard und ihre Macht zu sichern. Sie waren sogar zur Last geworden, denn sie benötigten schließlich Platz und Ressourcen. Also begannen die Anderen mit perfiden Methoden den schleichenden Massengenozid und die Kriege trugen ihres dazu bei.

 Für dies alles war Energie eine extrem wichtige Größe. Nicht um sonst hatten die Hegedunen nun schon fast Zweihundert Jahre lang dafür gesorgt, dass die einzigen Energiequellen der Welt die verschiedensten Kohlenstoffe, also Öl, Gas, und Kohle sowie Atomkraft waren.  Alle standen unter ihrer Kontrolle und der Rubel rollte ordentlich. Jedes Jahr wurden neue Rekordumsätze erreicht. Die Verschmutzung der Erde, war ein geringer Preis, den sie in Kauf nahmen. Sie hatte außerdem andere angenehme Nebenwirkungen, die in ihren Plan hineinspielten. Zumindest für die Öffentlichkeit. Sie selbst und auch die anderen Elevender, verwendeten bereits Erdwärme und Energie aus Wasserstoff.

 Aber diese kleinen schwarzen Erbsen waren noch viel mächtiger als das! Aurelia erinnerte sich schmerzlich an ihre Vision. Ein weitere Stich brachte ihr Herz kurz zum stolpern. Sie keuchte. Die anderen sahen sie überrascht an. „Ich.. ich musste nur kurz an die Vision denken.“

Plötzlich fluchte Pareios laut. „Fuck, wie werden sie die Dinger wohl wieder in die Finger kriegen?!“

 

7

Alle begriffen sofort, was er damit ausdrücken wollte.

Im Augenblick befanden sich die Steine hier im Bunker, aber in Aurelias Vision war definitiv zumindest einer davon nicht mehr in ihrem Besitz gewesen.

„Glaubst du sie werden hier her kommen?“ fragte Row alarmiert. Auch Aurelia dachte sofort an die vielen Elevender, die  hier lebten. So etwas wie Panik ergriff sie, aber sie würgte das Gefühl ab und konzentrierte sich. Na also, es ging schon etwas besser!

Alle sahen sie nun erwartungsvoll an, aber sie konnte nur mit den Schultern zucken, woher zum Teufel sollte sie das denn wissen. Anscheinend erwarteten alle von ihr, dass sie nun allwissend war.

„Vielleicht schicken sie einen Spion…“ überlegte Aiden und Pareios ergänzte in bitterem Tonfall: „Oder es gibt einen Verräter!“

Dieser Satz gab ihnen allen den Rest. Diese furchteinflößende Möglichkeit wollte eigentlich keiner von ihnen in Betracht ziehen, aber es war ein berechtigter Gedanke und er setzte sich in ihnen fest, ließ sie nicht mehr los. Von nun an würden sie alle sehr wachsam sein müssen.

 Zwar konnten sie in ihrer kurzen Besprechung einige Ungereimtheiten beseitigen. Aber auf jedes aufgedeckte Geheimnis folgten zwei neue, die ihnen nur noch mehr Rätsel aufgaben. Es war zwecklos. Im Moment konnten sie sich all diese Fragen nicht beantworten. Wieder ärgerte sich Aurelia über ihre Schwäche, dass sie wie gelähmt vor Schmerz gewesen war und nun nicht mehr Informationen aus ihrer Vision zutage fördern konnte. Viktor war gerade im Begriff ihre kleine Versammlung aufzulösen, als ihr etwas einfiel.

 „ Shit!“ murmelte sie und sprintete los. „Ich muss gehen!“ rief sie den verdutzt dreinblickenden Gestalten zu, die sie mit schnellen Schritten zurückließ. Für heute würde sich sowieso nichts mehr klären lassen.

Während sie durch die verzweigten Tunnel spurtete, fragte sie sich, wie viel sie wohl schon zu spät war, sie trug keine Uhr. Sie war nicht der Typ, der sich großartig zurechtmachte, aber geduscht hätte sie vor ihrem Treffen schon noch gerne. Dafür war es aber nun ganz sicher zu spät. Sie rannte an ihrem Zimmer vorbei und noch ein paar Hundert Meter weiter, bis sie schließlich die Kantinentür erreichte. Sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen und prüfte mit einem schnellen Blick ihr Spiegelbild im Kantinenfenster. Die weiche Sportkleidung schmiegte sich eng an ihren Körper und das schwarz betonte die schlanke, aber doch kurvige Figur. Ihre ebenholzbraunen Locken sahen etwas verwuschelt aus, also fuhr sie schnell ein paar Mal mit den Finger hindurch, um sie etwas zu entwirren. Das Ergebnis war allerdings kläglich, also hoffte sie, dass es nicht ganz so schlimm war. Trotzdem legte sie sich ein paar Strähnen vorn über die Schultern, damit sie ihr eher eckiges Gesicht mit der schmalen stupsigen Nase besser umrahmten. Die großen eisblauen Augen versetzten sie wie immer in eine traurige Stimmung. Mist, hätte sie es sich doch verkniffen, da wie ein Trottel ihr Spiegelbild anzugaffen. Trotzig reckte sie das Kinn vor und drückte die große grüne Schwingtür auf.

Im Innern der Kantine brannte gedimmtes Licht. Es musste schon spät sein. Zwar war die Theke zu ihrer Rechten immer besetzt, aber es hielten sich nur noch ein paar andere Leute daran auf. Auf der linken Seite ging es durch einen großen Durchbruch in den Speisesaal, sie konnte ein wenig Gemurmel daraus vernehmen.

Suchend sah sie sich um und entdeckte dann Amander, der an einem der hinteren Tische saß. Sein roter Haarschopf wippte hin und her, während er sich mit einem ihr unbekannten Typen unterhielt. Er wandte ihr sein Profil zu und ihr fiel auf, dass er eigentlich ziemlich hübsch war. Natürlich sah er wesentlich älter aus als sie. Er alterte wie ein normaler Mensch und sie schätzte ihn so auf Anfang vierzig. Sie musste kurz darüber lächeln, dass er zwar betagter aussah, sie aber  über 250 Jahre älter war als er. Er hatte kurzes rötliches Haar, in dem einzelne silberne Strähnen aufblitzten. Auch in seinen Bart waren schon ein paar hellgraue Stoppeln gemischt, aber es verlieh ihm eher ein verwegenes, erfahrenes Aussehen. Seine Haut zierten einige Sommersprossen, die sich gut von seinem hellen Teint absetzten. Er hatte schmale Lippen und ein breites Gesicht, er wirkte wie ein waschechter Haudegen.

 Sie zog noch ein Mal tief die Luft ein und ging dann auf den Tisch zu. Der andere Kerl bemerkte sie zuerst, wie sie zielsicher an den anderen Tischen vorbeisteuerte, brach mitten im Satz ab und nickte in ihre Richtung. Amander wandte ihr nun das Gesicht zu und seine Augen leuchteten freudig auf, als er sie erkannte.

Aurelia trat an den Tisch. „Es tut mir wirklich unendlich leid!“ sagte sie und versuchte ein unschuldiges Lächeln. „Ich hatte kurzfristig noch eine Teambesprechung!“ Er lachte. „Schon gut, ne halbe Stunde hin oder her ist doch nicht so wild.“ Dankbar für seine Großzügigkeit wandte sie sich dem anderen Kerl zu. „Und du bist…?“

Er grinste breit und auf seinen Wangen entstanden Grübchen. „Amander, ich wusste nicht, dass dein Date so heiß ist.“ sagte er dann in anerkennendem Ton und stellte sich vor. Dazu stand er auf und reichte ihr die Hand. „Samir!“ Er hatte dunkles Haar und beinahe schwarze Augen. „Aurelia.“ gab sie höflich zurück und erwiderte den Händedruck.

„Na dann, wenn ich schon stehe, kann ich ja auch gleich verschwinden und euch zwei alleine lassen. Einen schönen Abend noch wünsche ich.“ Damit schob er sich an ihr vorbei, grüßte Amander mit einem Handwink und verließ den Raum.

„Entschuldigung, ich habe ihn hier zufällig getroffen und so musste ich immerhin nicht allein warten.“ sagte er und wies mit der Hand auf den Stuhl gegenüber.

„Warum entschuldigst du dich denn dafür?! Ich bin doch diejenige die zu spät ist. Um ehrlich zu sein wundert es mich, dass du noch hier bist.“ erwiderte sie strikt während sie Platz nahm.

„Tja, das hast du Samir zu verdanken. Außerdem bin ich ein Mann, der sein Glück beim Schopf packt!“ Er zog eine Augenbraue hoch und sah sie vielsagend an. Er wirkte sehr lässig dabei und Aurelia ertastete eine gewisse Vorfreude in sich.

„Ich hol uns mal was zu trinken.“ sagte er dann schnell und stand auf, um zur Theke zu gehen.  Es gab alles umsonst, aber eben nur eine begrenzte Auswahl. Meist beinhaltete diese Apfel- oder Orangensaft, Destilliertes, Tee, Kaffee und Wasser. Amander hatte sich für den Saft, heute war es Apfel, entschieden und stellte das gut gekühlte Getränk nur ein paar Minuten später vor ihr ab.

Nach einem Schluck merkte sie, wie durstig sie war und stürzte das halbe Glas dann auf ein Mal hinab. Er sah ihr belustigt dabei zu und meinte dann munter: „Du hattest wirklich noch keine Pause was?“ Sie schüttelte den Kopf und trank den Rest aus. Er schob ihr daraufhin sein Glas zu. „Freut mich wenn ich helfen kann!“ Er grinste selbstgefällig. „Also sag mal, was um alles in der Welt dich ausgerechnet heute dazu gebracht hat, dich endlich mit mir zu treffen?“

Aurelias Wangen erröteten zart, aber sie antwortete schnell und forsch. „Weiß nicht genau. Aus einer plötzlichen Laune heraus, schätze ich….“ Sie hoffte, sie hatte es geschafft, den letzten Teil des Satzes verheißungsvoll klingen zu lassen. Da sie es selten tat, war sie leider nicht sehr geübt im Flirten. Er zog eine Augenbraue hoch und grinste frech, was ihr allerdings zeigte, dass ihr der Versuch gelungen war.

Er beugte sich verschwörerisch über den Tisch hinweg näher zu ihr. „Hättest du die nicht schon früher haben können?“

Sie lachte und entgegnete lapidar: „Aaach, du weißt doch, wie das so ist, mit Launen. Sie kommen wann sie wollen, das lässt sich nicht vorhersagen.“ Sie schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln, während sie dachte, dass Launen aber auch genauso schnell wieder verschwanden.

„DAS gerade von dir zu hören,…. ist irgendwie absurd!“ Er lachte laut los und warf sich in seinem Stuhl zurück. Auch Aurelia musste kichern, schließlich war es das wohl auch.

Er beruhigte sich wieder und meinte dann, immer noch leicht glucksend: „Nein, jetzt mal im Ernst. Ich hab dich hier noch nie mit einem Typen, außer denen aus deinem Team gesehen… also warum heute, warum ich?“

Sie versuchte ihm mit ihren Blicken zu verstehen zu geben, warum gerade er, aber er runzelte nur die Stirn, schien es nicht zu begreifen. Sie erklärte es laut. „Also heute, wie gesagt, das war eine Laune. Und warum gerade du? Ich denke….“ Sie wusste nicht wie sie es ausdrücken sollte, ohne mit der Tür ins Haus zu fallen. „Ich würde sagen, wir haben einiges gemeinsam, ich dachte du verstehst…“ Den letzten Satz ließ sie unvollendet in der Luft hängen. Die Erkenntnis blitzte in seinen warmen, rehbraunen Augen auf.

Viel von ihrer Vergangenheit war nicht im Bunker bekannt. Viktor, der einzige der jede Einzelheit wusste, hatte das meiste für sich behalten und es ihr überlassen, wem sie es erzählen wollte. Sie glaubte, nicht einmal Pareios, sein Bruder, kannte die ganze Geschichte.

Doch so viel wusste selbst Amander, dass er ihre Andeutung nun mit seinem eigenen Wissen verknüpfen konnte. Ihm schien wohl wieder eingefallen zu sein, dass sie genau wie er, als junges Mädchen ein Hegedun gewesen war. Und dass Viktor sie herausgeholt hatte, als sie sich entschied, das alles hinter sich zu lassen.

Den zweiten Grund, der die Frage ‚Warum gerade heute?‘ beeinflusste, erwähnte sie lieber nicht. Diese blöden Glühwürmchen schwirrten ihr noch im Kopf herum und sie versuchte sie mit einem kurzen Schütteln zu vertreiben. Er registrierte diese Bewegung verwirrt, sagte aber nichts dazu. Wahrscheinlich nahm er an, dass sie irgendeine schreckliche Erinnerung aus der Vergangenheit loszuwerden versuchte, denn er setzte eine mitfühlende Miene auf.

„Ja, ich denke, ich verstehe…“ Sanft legte seine Hand auf ihre, die sie immer noch neben dem Glas auf dem Tisch positioniert hatte. Er beugte sich noch weiter herüber. Die kleinen Fältchen um seine Augen, ließen ihn erfahren und weise wirken. Das mochte sie. Es erinnerte sie ein wenig an Viktor.

„Lass mich raten, fürchterliche Alpträume und Schuldgefühle, richtig?“ Er tat ganz sachlich, als wäre er in einer Quizzshow und als ginge es hier nicht um intime Geheimnisse. Das machte es aber auch irgendwie leichter, darüber zu reden. Sie schlussfolgerte daraus, dass Amander Übung darin hatte. Er wurde ihr immer sympathischer und seine Gesellschaft war wirklich ungezwungen.

Sie nickte und lächelte wieder zaghaft. Die Hand ließ sie genau dort wo sie war. Seine lag warm und einnehmend darauf und sie konnte die Schwielen spüren, die das viele Training mit den verschiedensten Waffen hervorgerufen hatte. Sein Daumen begann über ihrer Haut zu kreisen. Jetzt grinste er wieder und zwinkerte ihr bedeutungsvoll mit einem Auge zu. „Weißt du, ich kenne da ein paar Tricks, die dich sicher ablenken werden!“

Sie grinste schelmisch zurück. „Und genau darauf hatte ich gehofft!“

 Es war ihnen nun beiden klar, worum es bei ihrem Treffen ging und sie unterhielten sich noch eine Weile über dies und jenes, um die verheißungsvolle Spannung noch ein wenig auszudehnen. Sie ließ den Blick über seine durchtrainierte Figur schweifen und betrachtete die großen starken Hände. Die sexuelle Anziehung war da, ohne Zweifel.

 

 

Nach einer halben Stunde etwa, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, wie die Tür der Kantine aufschwang. Überrascht erkannte sie Pareios große Gestalt. Als seine Augen Amander und sie erfassten, weiteten sie sich schnell. Er machte ein Gesicht, als wäre ihm jemand auf den Fuß getreten. Da waren schon wieder das Prickeln und die Übelkeit. Es wurde von Mal zu Mal schlimmer. Erst kam es nur, wenn er sie berührte, jetzt reichte schon ein solcher Blick in einer derartigen Situation.

Dann kniff er die Augenbrauen zusammen und verschwand wieder. Sie starrte auf den leeren Fleck, an dem er eben noch gestanden hatte und wurde sich bewusst, dass Amander immer noch ihre Hand hielt. Musste ihr Teamkollege gerade jetzt hier hereinschneien? Bei jedem anderen wäre es ihr egal gewesen, wenn er sie hier mit Amander entdeckt hätte. Aber bei ihm…. Wellen der Scham rollten über sie hinweg und es war ihr definitiv viel zu wichtig, was er jetzt dachte.

Moment mal, was zermarterte sie sich hier das Hirn? Pareios selbst war doch der Prototyp des Schürzenjägers, er hatte gar kein Recht sie zu verurteilen. Wieso regte er sich eigentlich so auf? Hatte er sich überhaupt über sie und ihr Date geärgert? Irgendwie hoffte sie es in diesem Moment und schon wurde ihr noch ein Stückchen schlechter. So langsam lief das Fass über. Wie sollte sie weiter mit ihm zusammenarbeiten, wenn ihre Gefühle für ihn drohten, sie regelmäßig zum Kotzen zu bringen? Zudem hatte sie sich solche Gefühle doch verboten, es würde nur ein schlimmes Ende nehmen.

Es gab nur eine Lösung: Sie mussten weg!

 Als Amander, der gerade in einer anscheinend witzigen Erzählung war, bemerkte, dass sie zur Tür starrte, grinste er anzüglich. „Willst du gehen?“ Sie nickte entschlossen. jetzt war sie noch überzeugter von ihrem Vorhaben, als sie es vorher schon gewesen war.

 

Sie standen auf und verließen die Kantine. Amander schlug sofort den Weg linker Hand zu seinem Zimmer ein, es lag in entgegengesetzter Richtung zu ihrem. Sie gingen durch die jetzt abgedunkelten Flure und erreichten dann seine Tür. Er drückte sie auf und bat sie herein. Türen waren hier niemals verschlossen, keiner klaute etwas.

Sie zögerte eine Millisekunde, als ein kleiner Teil ihres Gehirns die Frage aufwarf, wie Pareios wohl küsste, doch der Brechreiz, der mit dem Gedanken einherging, ließ sie schnell Amanders Behausung betreten. Sie konnte ihn in diesem kleinen Zimmer riechen. Es war nicht unangenehm. Fast wie Tannennadeln und Kiefernholz.

Er knipste eine kleine Nachttischlampe an und sah ihr fragend entgegen. Die großen Hände hingen unschlüssig an ihm herunter, war er sich doch nicht sicher, wie er jetzt vorgehen sollte? Sie versuchte ein ermunterndes Lächeln. Dann griff sie kühn nach unten und zerrte sich das dünne Langarmshirt über den Kopf. Es sollte eine Aufforderung sein, der er auch sofort nach kam.

Im nu war er bei ihr und drückte sie gegen die Tür.

 Seine Lippen senkten sich stürmisch auf ihre. Sie fühlten sich hart an, genauso wie seine Zunge, als sie in ihren Mund eindrang. Sie ergab sich und erwiderte den Kuss. Er stöhnte erregt und seine Hände wanderten nach oben umschlossen begierig ihre Brüste über dem BH-Stoff. Sie strich über seine festen Schultern, spürte die Wogen des körperlichen Verlangens. Seine Hände griffen jetzt nach ihrer Taille und pressten sie gegen seine Hüften. Er war mehr als bereit.

Dann hob er sie hoch und trug sie zum Bett. Das Wesen, das er im Kampf zeigte, konnte sie auch hier erkennen. Er war stürmisch bis aggressiv, aber das war ihr nur Recht.

Als er sich ebenfalls seiner Kleidung entledigte und sich auf sie legte, hoffte sie noch, dass seine Berührungen fest und intensiv genug sein würden, um alles andere in ihrem Schädel zu überdecken!

 

 

Mitten in der Nacht erwachte sie. Sie wunderte sich, dass sie eingeschlafen war und dachte zufrieden, dass Amander ihre Erwartungen erfüllt hatte. Er hatte sie fest umschlossen und war wie ein Wirbelsturm über sie hereingebrochen. Er hatte alle anderen Gedanken mit sich fortgetragen und ihr ein wenig Ruhe verschafft.

Sie drehte den Kopf und erblickte sein Gesicht mit dem rostroten kurzen Bart. Er lag auf dem Bauch, hatte die Augen geschlossen und atmete tief. Er war ebenso eingeschlafen wie sie. Sie fragte sich, ob sie auch seine Qual für eine Weile hatte vertreiben können. Aber da er so friedlich wirkte, wie er da lag, nahm sie an, dass sie ihm diesen Gefallen getan hatte.

Leise erhob sie sich von seinem Bett und zog sich langsam an. Sie betrachtete seinen Po, wie er unbedeckt vor ihr in der Dunkelheit schimmerte. Er war wirklich attraktiv, dafür, dass er normal alterte. Sie lächelte noch einmal in sich hinein, als sie auch die Schuhe überstreifte.

 

Doch schon als sie die Tür sanft hinter sich schloss, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, überkamen sie Gewissensbisse. Sie hatte diesen wirklich sympathischen Kerl dazu benutzt, ihre Schuldgefühle und die komischen Regungen für einen anderen Mann zu verdrängen. Sie benutzte andere Menschen zu ihrem Zweck, ganz so wie es ihr passte. Was war nur aus ihr geworden…?

Aber andererseits, taten so etwas nicht alle? Und sie hatte schließlich vorher geklärt, worum genau es ihr ging…. hatte sie doch, oder? Plötzlich war sie sich nicht mehr ganz sicher.

Warum wurde alles was sie tat, hinterher durch ihre Psyche mit einer schlechten Emotion verknüpft? Natürlich war es ihr klar, aber es war trotzdem zum aus der Haut fahren. Sie wollte wenigstens ein schönes Ereignis in ihrem Kopf abgespeichert haben. Wieder dachte sie wehmütig an Viktor.

Wie sie so gedankenverloren durch die Flure lief, bemerkte sie nicht, dass neben der Tür zu ihrer Kammer eine Gestalt zusammengekauert in der Dunkelheit saß. Erst als sie näher kam und die Person sich bewegte, wurde sie auf sie aufmerksam.

Erschrocken machte sie einen Satz zurück und presste sich gegen die Wand.

8

Aurelia starrte in die Dunkelheit. Während sie den Atem anhielt, versuchte sie zu erkennen, wer da mitten in der Nacht vor ihrem Zimmer saß. Urplötzlich kroch ein wohliges Gefühl direkt aus ihrem Herzen heraus. Wie eine Kettenreaktion breitete es sich von einer Zelle zur nächsten aus, bis es sie ganz und gar, von Kopf bis Fuß erfüllte. Es war wie eine warme Decke, die sie einhüllte. Sie stutzte kurz, bevor sie begriff, dass es ihre Intuition war, die sich da meldete. Nun war ihr klar, wer da stand, doch das brachte sie nicht dazu, sich zu entspannen. Sofort musste sie ihre Kehle beherrschen, um nicht wieder Galle zu schmecken, sie hatte schließlich nur ein winziges Frühstück intus. Denn wieso zum Teufel, sollte er zu dieser unchristlichen Zeit vor ihrem Zimmer sitzen und offensichtlich auf sie warten?

„Was machst du denn hier?“ rutschte es ihr dann heraus und sie konnte die Überraschung kaum verbergen.

Pareios stand auf und streckte sich. Er trat aus dem Türrahmen heraus und jetzt fiel ein Schimmer des Lichts, der noch aus dem Speisesaal bis hierher reichte, auf sein Gesicht. Er machte einen zerknitterten Eindruck. In seinen Augen war noch Schlafsand und sie waren leicht geschwollen. All diese kleinen Details verrieten, dass er hier vor ihrer Tür geschlafen hatte.

Er sah sie forschend an, dann warf er einen Blick auf seine Uhr. „Verdammt, es ist halb Fünf. Ich muss total eingepennt sein, ich ….“ Er brach mitten im Satz ab. „Es ist halb Fünf in der Nacht, Aurelia!“ sagte er  noch ein Mal, jetzt aber deutlich empört. „Wo treibst du dich denn bitte um diese Uhrzeit rum?“

Sie war total perplex. So einen Ausspruch hatte sie vielleicht von Viktor erwartet, aber doch nicht von dem leichtlebigen Pareios. Sie traute ihren Ohren kaum und dachte wieder, dass das gerade der Richtige fragte. Was sollte sie bloß darauf sagen? Wieder war er derjenige, mit dem sie als allerletztes darüber reden wollte, wo sie herkam und was sie gerade getan hatte. Der Gedanke daran trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht, da die Situation so paradox war, dass es sich wohl kaum überbieten ließ.

Da hatte sie sich Amander hingegeben, um Pareios und ihren Selbsthass zu vergessen, nur um dann prompt ein paar Minuten später wieder deren Weg zu kreuzen. Welch Ironie! Es war wie alles in ihrem Leben, sie wurde all das einfach nicht los, egal, was sie auch tat.  Ihre Aktion war also völlig sinnlos gewesen, bis auf die kurze Befriedigung natürlich. Und jetzt gesellte sich zu diesen ganzen absonderlichen Gedanken auch noch das Gefühl, dass sie ihn betrogen hatte, was den Selbsthass feurig auflodern ließ. Verstört rief sie sich selbst zur Ordnung. Es verband sie nichts mit Pareios, das es rechtfertigte, ihre Tat als Betrug zu bezeichnen.

Natürlich bemerkte er den rosigen Hauch, der auf ihren Wangen aufgetaucht war und zog sofort die richtigen Schlüsse. Welch ein Wunder, er kannte sich ja auch aus. Dann sah er sie nur an. Wortlos bohrte er seine Augen in ihre. Die Dämmerung leuchtete und die Sterne glitzerten ihr entgegen. Sie presste die Kiefer zusammen und schluckte ein paar Mal verkrampft. Dieser elendige, rebellierend Magen!

„Wusste nicht, dass dich das interessiert!“ war das einzige, was sie herausbrachte. Dann schloss sie schnell wieder den Mund, bevor sie die Beherrschung verlor und ihm vor die Füße kotzen konnte. Seine Augen weiteten sich nun ob der Erkenntnis. Da sie so schnippisch reagierte, erhärtete sich sein Verdacht und nun verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse, die sie kaum mehr wieder erkennen konnte. Es dauerte allerdings nur eine Sekunde, bis er wieder ausdruckslos dreinblickte. Verwirrt nahm sie dann seine Trauer wahr, als er sagte: „Nein, du hast natürlich recht, das hat mich nicht zu interessieren.“

Als er sich zum gehen wandte, griff sie nach seinem Arm. Er zuckte regelrecht zusammen, als ihre Haut auf seine traf. Er starrte auf ihre Hand und wieder war sein Gesichtsausdruck mehr als irritierend. So viel schwang darin mit, sie konnte es nicht deuten. Einerseits sah sie Sehnsucht, andererseits eine Qual, als ob sie ihm ein glühendes Eisen aufs Handgelenk gedrückt hätte. Sofort ließ sie ihn los.

„Warum bist du eigentlich hier?“ fragte sie dann. Es war der einzig sinnvolle Gedanke, den sie in diesem Moment noch formulieren konnte.

Es war eine Weile still, bis er antwortete. Es kam Aurelia wie Minuten vor. „Ich,… ich hatte vorhin das Gefühl, dich beschäftigt was und du könntest Gesellschaft gebrauchen!“ Die Sanftheit mit der er es sagte, floss in Aurelias Bauch und setzte sich dort als warmes, wohliges Glühen fest. Doch seine nächsten Worte waren wie Peitschenschläge, er zischte sie genauso, wie ein Hieb klang. „Und ich denke, die hast du ja auch bekommen!“

 Dann ging er endgültig davon und hinterließ eine völlig verdatterte Aurelia, der jetzt schon klar war, dass sie heute Nacht keine Sekunde mehr schlafen würde.

 

 

 

 Wütend warf sie sich von einer Seite auf die andere. Sie brodelte fast vor Selbsthass. Er war wie ein kleiner Vulkan, der immer wieder Beben durch ihren Körper sandte und vor einer nahestehenden Explosion warnte.

Sie konnte die Absurdität dieser Nacht immer noch nicht begreifen. Wie viele Anstrengungen sie doch unternommen hatte, um an etwas anderes zu denken, als an ihn und dann schaffte er es innerhalb von Minuten, mit nur ein paar Sätzen, sich unwiderruflich in ihren Verstand einzubrennen. Sich einzunisten und tiefe Wurzeln zu schlagen. Was wenn sie das nie wieder los wurde? Dann war sie für den Rest ihres jämmerlichen, viel zu langen Lebens auch noch dazu verdammt, sich jeden Tag zu übergeben. Als wäre der ganze Rest nicht schon Martyrium genug.

Zum aller ersten Mal wünschte sie sich ernsthaft, endlich etwas so schönes genießen zu können. Ohne die Gewissensbisse, die Übelkeit und die Schuldgefühle. Sie wollte wirklich, dass die Verbindung zwischen den beiden Emotionen Zuneigung und Abscheu, endlich abriss und sie frei von dieser Qual war. Zum ersten Mal wollte sie wahrhaftig vergessen. Ein neues Leben beginnen. Erneut fantasierte sie, sie könnte ihr Leben einfach tauschen, ihretwegen auch gegen eines ohne Begabung, aber vor allem ohne diese schrecklichen Fehler, die sie begangen hatte und die sie nicht wieder gut machen konnte.

Schließlich schweifte ihr Geist ab… zu Pareios. Warum zum Teufel verhielt er sich so? Bei dem Gedanken daran, traute sie sich fast nicht, ihn weiterzuspinnen. Er barg einige gefährliche Klippen aus schmerzhaften Erkenntnissen.

Sie waren in den letzten Wochen so etwas wie Freunde geworden und als wäre das nicht genug gewesen, waren da jetzt ihre Gefühle, über die sie nicht genauer nachdenken konnte, weil es ihr dabei schlecht ging. Aber was war mit ihm?

Die Nähe, die er plötzlich suchte war zwar merkwürdig, aber er war ein Frauenheld. Nur logisch, dass er es irgendwann auch bei ihr versuchen würde, hässlich war sie schließlich nicht. Und was war das in seinen Augen gewesen, als er sie fragte, ob sie überleben würde? Es war eindeutig Schmerz gewesen, ein verzweifelter Schmerz über ihr Ableben. Aber so etwas würde Aurelia selbst auch empfinden, würde Viktor etwas zustoßen, auch wenn er nicht mehr ihr Viktor war.

Doch dann Pareios‘ Blick, als er sie mit Amander gesehen hatte und das gesamte merkwürdige Gespräch vor ihrer Tür. Er hatte sich um sie kümmern wollen und sie war bei einem anderen Mann gewesen. Vielleicht wunderte er sich über ihr Verhalten. Aber  er kannte nicht ihre ganze Geschichte und er wusste nicht, warum sie es getan hatte. Nein, es war keine reine Verwunderung gewesen. Sie hatte ihn getroffen. Aber wie konnte das in einer platonischen Beziehung geschehen?

Es schien, als wären seine Gesten und seine Worte darüber hinausgewachsen, für eine Freundschaft bestimmt zu sein. Aber sicher sein konnte sie sich da nicht, denn sie hatte keinerlei einschlägige Erfahrung, was das betraf.

Sie verwünschte ihn und sich selbst, weil sie sich ernsthaft fragte, wie sie das überstehen sollte. Sie versuchte ja, diese Regungen für ihn zu beerdigen, aber wenn er sich ihr gegenüber immer wieder so…. zweideutig verhielt, dann drängte er sich damit wieder in ihr Herz, das sie gerade erst mühevoll von ihm gesäubert hatte. Mit ihm darüber zu sprechen und ihn zu bitten, das verflucht noch mal sein zu lassen, kam nicht in Frage. Dann hätte sie auch erklären müssen, warum sie es nicht ertragen konnte.

Sie könnte ihn so lange kalt und abweisend behandeln, bis er es sein ließ. Aber was, wenn er sich dann ganz vor ihr zurückzog. Und der wichtigste Punkt: konnte sie auch nur eines von beidem aushalten?

Es hielt sie jetzt nicht mehr auf ihrer Pritsche. Mit einem gurgelnden Stöhnen richtete sie sich auf, wobei sich alles zu drehen begann. Sie konnte gerade noch den Abfalleimer packen und sich darüber beugen, bevor sie Reste des Apfelsafts und kleine Fäden an Galle erbrach.

Der Reiz in ihrer Kehle war so heftig, dass sie immer wieder würgte und ihr dabei die Tränen in die Augen stiegen. Nach ein paar Minuten ließ es langsam nach, doch sie behielt vorsichtshalber den Eimer vor sich. Sie wischte sich den Mund mit einem Handtuch ab und die Übelkeit, die ihren Geist einnahm, trat langsam wieder in den Hintergrund und machte ihrem Gedankenkarussell Platz.

Eins war ihr durch ihre körperliche Reaktion sonnenklar: Sie konnte es nicht! Sie war gefangen!

Er kitzelte etwas aus ihr heraus, das sie sich in ihrem Selbsthass verboten hatte und ihre selbstauferlegten Fesseln waren so stark, dass sie sie sogar körperlich immer wieder in die Schranken wiesen. So konnte sie nicht in seiner Nähe sein, war aber auch genauso unfähig ihn loszulassen.

Als ihr klar wurde, dass es kein Entrinnen gab, war es wie immer in solchen Situationen in ihrem Leben. Sie fügte sich ihrem Schicksal. Sie würde lernen müssen, damit zurechtzukommen. Vielleicht tat ihr Pareios ja auch einen Gefallen und wandte sich irgendwann von ihr ab.

Und wieder dieser einzige Gedanke: Konnte sie das ertragen, wenn es so weit war?

 

Wütend über sich selbst lief sie ein paar Mal im Zimmer hin und her. Ihr seelischer Zustand trieb sie umher, sie konnte ihren Körper nicht mehr stillhalten. Seufzend kniete sie sich auf den Boden und begann Liegestütze zu machen. Das stetige auf und ab ihrer Bewegung lullte sie ein wenig ein. Sie machte weiter, so lange bis ihre Muskeln brannten und zitterten. Genau diesen Punkt hatte sie erreichen wollen. Jetzt musste sie alle Anstrengung darauf verwenden weiter zu machen, die Muskeln zu zwingen, die Krämpfe zu überwinden und weiter ihre Last hoch und runter zu bewegen. Bei 300 hörte sie auf zu zählen, machte aber weiter. Irgendwann spürte sie ihre Arme nicht mehr, da gaben sie unter ihr nach und sie fiel erschöpft auf den Bauch. Jetzt kreiste es langsamer, das Karussell in ihrem Kopf.

 

Sie stand auf und beschloss duschen zu gehen. Sie packte ihr Handtuch und frische Kleidung ein, dann machte sie sich auf den Weg zu den Sanitäranlagen. Hier im Bunker gab es zwei große Waschräume, einen für Männer und einen für Frauen. Sie lagen im vorderen Bereich des Bunkers und waren etwas weiter von Aurelias Kammer entfernt. Die Gänge waren einsam und verlassen und als sie die Bäder erreichte, konnte sie sehen, dass auch hier niemand war. Sie schaltete das Licht in den Frauenwaschräumen an und entledigte sich von Shirt, Hose und Unterwäsche. Sie duschte sich zuerst heiß. Schrubbte kräftig und ausdauernd, bis ihre Haut übersät von roten Flecken und Striemen war. Sie wollte schrubben, als ob sie sich damit auch den Geist sauber rubbeln könnte. Dann drehte sie auf eiskalt und blieb so lange unter dem Wasserstrahl stehen, bis ihr Körper, besonders die Schultern, die Brust und der Kopf ganz taub waren. Sie schlotterte regelrecht, als sie das Wasser abstellte und eine Gänseheut, die beinahe schmerzte, überzog ihren ganzen Leib. Sie wusste nicht, ob es ihr gelungen war, die vergangene Nacht von sich abzuwaschen, aber sie hatte den Entschluss gefasst, sich nicht schon wieder in weitere Überlegungen zu vertiefen.

 

Als sie die Duschen verließ, nachdem sie sich getrocknet und frische Sachen angezogen hatte, warf sie noch schnell einen Blick auf die große Uhr über der Ausgangstür. Es war 6:15 Uhr und sie war froh dass diese vermaledeite Nacht sich endlich dem Ende näherte.

Sie trat aus dem Waschraum heraus und bog nach rechts ab, da stieß sie heftig gegen eine große breite männliche Brust. Viktor! Sie wusste es schon, bevor sie den Kopf hob. Es war eine Mischung aus ihrer Intuition und ihrer Vertrautheit, die ihr dies ermöglichte.

Er war zwar überrascht, sie zu sehen, aber er wusste, dass Aurelia wenig und schlecht schlief, man hätte ihr öfters nachts und früh morgens über den Weg laufen können.

„Hm, kannst du nicht schlafen?“ erkundigte er sich dann leicht belustigt, denn es war eine rhetorische Frage, er wusste die Antwort ja bereits. Sie schüttelte trotzdem den Kopf und musste ebenfalls lächeln, schließlich stand auch er hier, ihm ging es folglich genauso.

„Die Steine?“  

Er nickte und seine Miene verdüsterte sich. „Es frustriert mich ungemein, nicht Handeln zu können. Und dass die Dinger hier im Bunker sind beunruhigt mich auch.  Ich meine, Meredia und der Kleine…, was wenn…? Wir müssen das klären, damit sie in Sicherheit sind!“ Er hatte sich dabei ein wenig in Rage geredet, rang die Hände und seinen grauen Augen waberten wild. Als er dann schmerzvoll die Kiefer zusammenpresste und durch die Nase schnaubte, erkannte sie seine Angst. Blanke Angst um das Leben seiner Frau und seines Sohnes.

 „Viktor, kann ich dich was fragen?“

Er hob gewährend die Hand, um ihr zu bedeuten, dass sie sprechen konnte. „Sicher… alles, was du willst…“

„Ähm, wie ist das…, ich meine….“ sie suchte nach Worten. Über diese Thema, oder ein ähnliches hatten sie noch geredet. „Wie fühlt sich das an, mit seinem Gegenstück zusammen zu sein?“

Verdutz sah er sie an und zog die Brauen nach oben. Es bildeten sich kleine Fältchen auf seiner Stirn. Dann überwand er seine Überraschung und überlegte kurz. Dabei legte er die Hand in den Nacken, wie er es oft tat. Daran wie er dastand konnte sie erkennen, dass es ihm irgendwie unangenehm war, mit ihr darüber zu reden. Trotzdem setzte er zu einer Erklärung an. Viktor war kein Feigling, der sich rausredete.

„Also, wie beschreibt man das am besten?... Es ist… nichts bedeutet dir mehr, als dieser eine Mensch. Du willst bei ihm sein, du wirst von ihm angezogen, wie die Motte vom Licht. Wenn man mit ihm zusammen ist, fühlt man sich komplett, voll und ganz, ist man ohne sein Gegenstück, ist es, als ob einem der rechte Arm fehlen würde. Man ist aus dem Gleichgewicht, kann sich auch nicht 100%ig konzentrieren. Es nimmt alles ein, was du bist, ohne dass du es merkst und du bist einfach nur glücklich. Und….“ Er stoppte kurz und Aurelia sah verwundert, wie er leicht errötete.

„Der Sex… es ist unbeschreiblich, ich kann es glaube ich nicht in Worte fassen. Die Verbindung kennt keine Grenzen, du fühlst alles vom Anderen. Er könnte dir nichts verheimlichen, selbst wenn er wollte.“  Er räusperte sich verlegen und war bemüht, sie nicht anzusehen. Stattdessen starrte er irgendwo an ihren Füßen vorbei an einen Fleck auf dem Boden.

„Es wundert mich wirklich, dass gerade du danach fragst!“ sagte er dann in die entstandene Stille hinein. Sie wusste, dass er von ihr eine Erklärung haben wollte, aber was hätte sie sagen sollen? Früher konnten sie sich alles erzählen, auch über ihre Affären hatten sie gesprochen. Aber jetzt fühlte es sich anders an. Ihre Beziehung hatte sich verändert und wie hätte sie erklären sollen, in welcher Lage sie war. Schließlich war der, der das ganze Schlamassel ausgelöst hatte, Viktors Bruder. Sie hatte nie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, ob es ihn stören könnte, wenn sie etwas für Pareios empfand. Sie hatte das Gefühl, dass es besser war, nicht mit Viktor darüber zu reden. Es würde die ganze Sache nur unnötig komplizieren, denn sie versuchte ja mit aller Macht, es abzustellen. Wenn sie es aussprach, wurde es nur umso realer.

Deshalb zuckte sie nur die Schultern und sagte stattdessen, um eine andere Richtung einzuschlagen: „Und… als du sie gesehen hast, wusstest du es da? War dir sofort klar, worum es sich handelt?“  Er nickte. „Ja, ich wusste es sofort. Die Gewissheit drängt sich einem förmlich auf, würde ich sagen…“ er lächelte jetzt ein wenig verträumt in sich hinein.

„Warst du vorher schon mal verliebt?... Also, wie ist das im Vergleich?“ ließ sie nicht locker, weil sie nicht richtig greifen konnte, wie man sein Gegenstück erkennen konnte.

Jetzt erstarrte Viktor für den Bruchteil einer Sekunde. Etwas schien ihn zu durchfahren. Dann fuhr er fort. Der Hauch einer uralten Trauer schwang in seiner Stimme, als er sagte: „Ja…, ich war schon mal verliebt… und es fühlt sich nicht im mindesten gleich an…. nicht zuletzt, weil dein Gegenstück mit Sicherheit das Gleiche empfindet, wie du…, normale Liebe kann unerwidert bleiben.“ Bei den letzten Worten, trafen sich kurz ihre Blicke. Er sah schnell weg, aber trotzdem war es, als hätte er beinahe mit dem Finger auf sie gezeigt.

Ihr wurde heiß und kalt und jetzt bereute sie es zutiefst, dieses Thema angesprochen zu haben. Was deutete er da an? Hatte er in all den Jahrhunderten…?

Sie hatte Angst vor der Antwort und es war ihr schrecklich unangenehm, darüber nachzudenken. Sie überlegte, was sie auf seine kryptischen Aussagen erwidern, die Beklemmung zerstreuen könnte, ohne dieses Thema auch noch zu vertiefen.

„Aber… was, wenn man gar nicht im Stande ist zu lieben?“

Sie hatte den richtigen Satz gewählt. Viktor verstand ihr verschlüsseltes Zeichen, er wusste es ja auch so. Sie sah beinahe bildlich wie er die Traurigkeit hinunter schluckte, dann legte er ihr die Hand versöhnlich auf die Schulter.

„Glaub mir, du wirst es wissen und du wirst lieben…. !“ seine Stimme war tief und rau, dann wurde sie etwas bitter, als er fortfuhr. „Es gibt diesen Mann, den sogar du lieben kannst.“

Da erkannte sie, dass es nicht nur Meredia gewesen war, die ihrer beider Beziehung abgewürgt hatte. Sie selbst hatte es getan, weil sie unfähig gewesen war, wahre Nähe zuzulassen. Ihr Herz war jetzt nur noch ein harter Klumpen Fleisch.

 

Wäre sie normal gewesen, hätte sie sich jetzt bemitleidet, aber so wollte sie nie sein. Es geschah ihr recht und sie hatte es verdient. Sie war sogar fast… zufrieden. Aber sie hatte nicht die Gelegenheit, sich zu malträtieren oder zu beglückwünschen, denn plötzlich vibrierte Viktors Comunicator. Er funktionierte nur im Bunker und lediglich Teamleiter besaßen einen.

  Mit seiner Schnelligkeit beförderte er das kleine silberne Gerät aus seiner Tasche an sein Ohr, ohne dass sie die Bewegung sehen konnte. „Markus?“

Er hörte dem Ratsmitglied zu und seine Gesichtszüge verhärteten sich langsam, dann nickte er ein paar Mal ernst. „Ok, wir kommen gleich!“ Mit diesen Worten legte er blitzschnell auf. „Markus will mit uns reden, vor allem mit dir! Syrus ist mit der Analyse fertig!“

9

Aurelia war auf dem Weg zu Pareios Zimmer. Viktor hatte die glorreiche Idee gehabt, dass er aufgrund seiner Schnelligkeit rascher bei den weiter entfernt liegenden Behausungen von Row und Aiden sein konnte und Aurelia deshalb Pareios holen sollte, dessen Heim näher am Eingang und bei den Duschen lag. Sie hatte vehement protestieren wollen, doch Viktor war bereits verschwunden gewesen, als die den Mund aufgemacht hatte. Ja, so war er jetzt, alles was die Sicherheit seiner Familie betraf, hatte höchste Dringlichkeit.

 

Frustriert blieb sie vor der Tür stehen, die ihr Ziel darstellte. Sie fürchtete sich, Pareios unter die Augen zu treten, aber ihr war klar, dass sie das überwinden musste, um weiter mit ihm zusammenarbeiten zu können. Sie riss sich am Riemen und zwang ihre Faust, gegen das dunkle, rissige Holz zu klopfen.

 Ein paar Augenblicke lang war alles still, dann wurde die Tür aufgerissen. Pareios, der zwar verschlafen wirkte, aber trotzdem wie ein junger Gott aussah, erschien im Rahmen. Er trug eine schwarze Jogginghose und der Oberkörper war unbekleidet. Sein Sixpack und die ausgeprägte, definierte Muskulatur an Brust, Schultern und Oberarmen lockten sie, riefen ihre Hände, sie zu berühren. Wie in Trance hob sie schon den Arm, als ihr Blick auf sein erzürntes Gesicht fiel. Er hatte eben erkannt, wer da vor seiner Tür stand und schien weniger erfreut. Er machte einen hastigen Schritt zur linken Seite des Rahmens und zog die Tür so hinter sich, dass sie ihr die Sicht in sein Zimmer versperrte. Doch es ging nicht schnell genug, um zu verhindern, dass Aurelia die Frau entdecken konnte, die nackt auf seinem Bett lag und schlief. Die goldenen Locken wirkten wie ein Kranz aus Sonnenstrahlen um ihr Engelsgesicht herum und die großen Brüste hoben und senkten sich im Rhythmus ihres gleichmäßigen, flachen Atems. Das Bild brannte sich Aurelia ins Gedächtnis.

Etwas in ihr, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es da war, zerbrach. Ein Krampf erfasste die Brust, samt Herz und Lungen, am liebsten hätte sie die Arme um sich geschlungen, aber sie war wie gelähmt, stand nur still da und zerbrach. Sie hätte nicht für möglich gehalten, dass sie so empfinden konnte. Sie konnte ihn wirklich nicht loslassen! Aber er hatte sich bereits befreit, so schien es.

 „Wieso bist du hier?“ fragte er leise, wohl um die Blondine nicht zu wecken. Aurelia bemerkte, wie sich seine Hand um die Klinke krallte. Er war eindeutig verärgert, sie hier zu sehen. Es dauerte bis sie sich wieder so weit konzentrieren konnte, um eine Erwiderung zu formulieren. Sie blickte noch immer starr auf den Fleck der Tür, wo sie eben noch seine letzte Eroberung liegen sehen hatte können. Ihr Herz tat weh und jetzt wurde ihr davon schlecht. So oder so, ob er sie wollte oder sie abwies, sie fühlte sich beschissen! Bei dem Gedanken, dass er eine andere berührte, sie küsste…. sie konnte nicht mehr. Sie drehte sie zur Seite, stützte die Linke am Holz ab und würgte. Hätte sie etwas im Magen gehabt, hätte sie es jetzt zu Tage befördert. Sie spürte seinen entsetzten Blick im Nacken, aber sie konnte sich nicht beherrschen, der Reiz war doppelt so heftig wie der vorhin in ihrem Zimmer. Es gab also etwas, das sie noch mehr verstören konnte, als sein merkwürdiges Verhalten: Wenn er genau das einer Anderen angedeihen ließ!

Sie verstand jetzt seine Reaktion von gestern, als sie nachts von einem anderen Mann gekommen war. Es war Eifersucht gewesen. Lodernde, alles verzehrende Eifersucht. Genau das, was sie in diesem Moment empfand. Nur dass sie die Tatsache, dass sie so etwas überhaupt fühlte, wenn sie eine Frau in seinem Bett sah, dazu brachte ihr Inneres nach außen zu stülpen. Ihr Magen brannte, als hätte sie ihn rausgerissen und sie umklammerte das Paket, das aus dem nassen Handtuch und der alten Kleidung bestand.

Sie hörte wie er die Tür ganz zuzog, dann spürte sie seine Hand am Rücken. Wie von Blitz getroffen zuckte sie zurück. Sie wollte sich jetzt auf keinen Fall von ihm berühren lassen. Nicht auszudenken, was dann noch passieren würde. Sie war völlig verwirrt, sie mochte diesen Mann viel zu sehr, aber sie ertrug ihn nicht. Verzweiflung belegte sie, ließ längst vergessene, für immer verbotene Tränen aufsteigen. Sie konnte sie nicht zurückhalten und fühlte sie dann nass über ihre Wange kullern. Wie merkwürdig sich das anfühlte!  Sie betete, er würde es auf die Würgerei schieben. Es war so peinlich, sich hier vor seiner Tür so aufzuführen.

„Was ist denn los? Wieso reiherst du mir hier fast vor die Bude?“ fragte er nervös. Sie versuchte die Augen auf den grauen runzligen Beton am Boden zu halten, seine Anwesenheit aus ihrem Bewusstsein zu streichen. Ihr Hals tat weh, als hätte jemand eine Kreissäge hineingesteckt. Die Magensäure würde ihr noch die gesamte Speiseröhre wegätzen!

Seine erschreckende Beharrlichkeit sie zu berühren, ging ihr langsam auf die Nerven, als er jetzt vor sie trat und seine Hand langsam zu ihrem Kinn wanderte. Er wollte sie so dazu bewegen, ihn anzusehen. Sie kam ihm zuvor, in der Hoffnung, er würde die Arme wieder sinken lassen. Da war die Sommerdämmerung, die durch die entschwindende Sonne aufleuchtete, während die ersten Sterne am Horizont erschienen. Sie sah im Flackern seines Blickes Ratlosigkeit, seine Wangen waren leicht gerötet… war das Scham? Nein wahrscheinlich nur der Nachhall des Liebesspiels, das er eben noch genossen hatte. Die fürchterliche Eifersucht fraß sie von innen heraus auf.   

 

Doch diesmal war es plötzlich ganz anders, als er sie anfasste. Seine Fingerspitzen trafen jetzt auf ihre Wange und strichen langsam hinab zum Kinn. Die Wärme seiner Berührung erregte jede noch so winzige Nervenzelle in ihrer Haut. Sie fühlte die bekannten Schauer, aber auch das Glühen, das er in ihr weckte.  Doch das Verwunderlichste war, dass das wohlige Brennen, alles was es jemals in ihrem Körper gegeben hatte, löschte. Wie eine Welle, zog es sich durch die Blutbahnen, verteilte sich rasend schnell in ihrem Organismus. Dann, als es auch die kleinste Zelle erobert hatte, war es, als ob es etwas aus ihr herausdrückte. Eine Lobektomie schien ein Scheißdreck dagegen. Und in dem Moment, da sie von ihm völlig überwältigt war, verschwand die Übelkeit auf einmal. Sie war wie weggeblasen!

Die Schauer erreichten nun jede einzelne Synapse in ihrem Körper und ließen sie Transmitter freisetzten. Das ganze ausgeschüttete Serotonin und Dopamin schufen eine tiefe Zufriedenheit in jeder Faser und wenn sie selbst ein Glühwürmchen gewesen wäre, hätte sie jetzt aus aller Kraft geleuchtet.

Wie konnte das sein? Sie verstand die Welt nicht mehr. Er war wie ihre persönliche Odyssee. Doch wann würde sie endlich wieder den Weg nach Hause finden? Moment, hatte sie überhaupt eines?

 

Er nahm seine Hand weg und der Bann war gebrochen. Ihr war wieder schlecht, aber nicht mehr so stark, wie zuvor. Wie konnte sich seine Wirkung auf sie von einer Minute auf die andere ins Gegenteil verkehren?

Weil sie gesehen hatte, dass er eine Andere hatte?

Weil die Möglichkeit, ihn ebenso wie Viktor zu verlieren nun allzu real war?

Obwohl er die Übelkeit gelindert hatte, blieben da doch dieser fiese Schmerz und die rasende Eifersucht. Aurelia wurde von einer plötzlichen Hitze erfasst, ihre Wut bäumte sich in ihr auf, ihre Arme bebten, sodass die Hände unwillkürlich hin und her ruckten. Sie hatte größte Mühe, sie zu beherrschen. Ihre Rationalität schaltete sich kurz aus. Sie hasste diese Schönheit in dem Raum jenseits der Tür. Die Intuition verselbstständigte sich und spielte in Gedanken tausende von Möglichkeiten durch, wie sie sie beseitigen konnte. Ein entsetzlicher Rachedurst vergiftete ihre Seele.

Jetzt packte sie auch noch die Furcht, denn da war es wieder! Das Monster in ihr, das sie so lange im Griff gehabt, hinter meterdicken Stahltüren eingekerkert hatte. Das Tier, welches sie Dinge tun ließ, die unvorstellbar waren, die Aurelia sich selbst ihr Leben lang verabscheuen ließen. Pareios hatte endgültig seine Fesseln gesprengt, es befreit und nun war sie nicht sicher, ob es sie nicht ein zweites Mal ins Verderben führen würde.

Ihre viele Übung, Emotionen zu unterdrücken kam ihr zu Gute und sie schaffte es fast, das Monster zu beherrschen. Sie sah ihn an, doch er musste trotzdem etwas in ihren Augen entdeckt haben, das ihn erschreckte.

„Aurelia, … ich,… sie….“ er brach ab. „Ich wusste nicht, dass dir das was ausmacht.“ Er wurde noch röter, um nicht zu sagen, er leuchtete wie eine Tomate. Als sie nicht antwortete, sondern ihn nur weiter mit diesem undeutbaren Gesichtsausdruck fixierte, kam der Zorn. „Du warst doch selbst bei diesem Rotschopf!! Was zum Teufel erwartest du von mir?“ brauste er auf. Er hob die Hände und ballte sie zu Fäusten. Dann schlug er eine gegen die Wand und ließ den Kopf nach vorne fallen. „Verdammt Aurelia, ich….“

 

Die Tür wurde plötzlich geöffnet und die blonde Schönheit streckte ihren Kopf durch den kleinen Spalt. Sie war wohl durch den dumpfen Aufprall seiner Knöchel auf dem Beton geweckt worden und hatte bemerkt, dass er nicht da war. Die Frau entdeckte die beiden und nahm auch die Spannung wahr, die in der Luft lag, denn sie setzte einen misstrauischen Ausdruck auf und öffnete die Tür noch ein Stück weiter. Sie war nur mit dem Shirt bekleidet, das Pareiosgestern getragen hatte und das mit Sicherheit nach ihm roch. Aurelia empfand Neid darüber, dass sie es anhaben durfte. Es reichte ihr bis knapp über den Po und ihre ellenlangen, makellosen Beine ragten darunter hervor. Auch das nahm Aurelia mit Missgunst zur Kenntnis, was sie dazu brachte, dieses Miststück noch mehr zu verabscheuen.

„Was ist los Pareios, warum bist du nicht mehr im Bett?“ sagte die Frau mit einem wundervollen glockenklaren Sopran. Wie hatte er es mitten in der Nacht in nur knapp zwei Stunden geschafft, Aphrodites Ebenbild aufzutreiben und sie flach zu legen?

 Aurelia versuchte innerlich, ihren Geist zu ohrfeigen, damit er endlich wieder aufwachte. Sie musste es schaffen, die Oberhand über dieses Gefühlschaos zu erlangen. Sie versuchte, sich zumindest so weit zu kontrollieren, dass sie der jungen Frau nicht an den Hals sprang, um ihr die Gurgel herauszureißen. Als Pareios seinen Blick von ihr abwandte und ihn auf sein Betthäschen richtete, schaffte sie es schließlich.

Sie  nutzte die Gelegenheit, um sich aus der Affäre zu stehlen, es war ihr derartig unangenehm hier zu stehen, quasi zwischen den beiden Turteltäubchen, selbst gebeutelt durch ihre Verwirrung. „Markus hat gebeten, dass wir zu ihm kommen.“ versuchte sie äußerst ruhig zu sagen, es kostete sie alle Kraft, doch sie brachte feste, selbstbewusste Worte heraus. Gott sei Dank schauspielerte sie schon Jahrhunderte. Dann drehte sie sich um und ging, zwang sich Schritt für Schritt vorwärts. Sie konnte keinen Blick zurück werfen, sonst hätte sie das Weibsstück gerade hier vor seinen Augen zerfetzt. Sie wusste, es wäre ein leichtes gewesen und sie hätte es genossen….

Ja, das Monster war wieder da….

 

 

 

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer versuchte sie den Zorn zu zügeln. Mit jedem Meter, den sie sich von ihm entfernte, wurde die Übelkeit nun größer, während der Drang zu Wüten ein wenig nachließ. Wieder war sie erschrocken von sich selbst. War sie doch eben noch entschlossen gewesen, sich standhaft gegen ihre Gefühle zu wehren, oder einfach damit zu leben, ohne ihnen nachzugeben, war sie nun schwuppdiwupp restlos in diesem Morast versunken. Ihre Eifersucht und der Hass auf die Blondine bewiesen ihr, dass es zu spät war. Sie konnte es nicht mehr rückgängig machen, wie viel ihr Pareios nun bedeutete. Und die Tatsache, dass er vom Auslöser ihres Unwohlseins zum Gegenmittel mutiert war, gab ihr die Hoffnung, dass nun endlich etwas geschehen war. Ein Schritt heraus aus dem endlosen Selbsthass, auch wenn er nur klein gewesen war. Denn jetzt gab es etwas Wichtigeres für sie. Es gab kein Zurück mehr. Das Monster war zu gefährlich, wenn es nicht bekam, was es wollte.

 

Nun musste sie jedoch einen Weg finden, einen Drahtseilakt zu vollbringen. Unter ihr auf der einen Seite, die Gefahr, wieder in diese abstoßende Lethargie zu verfallen, aus Angst die Kontrolle zu verlieren, auf der anderen Seite das Ungeheuer, das in seinem Verlangen blind war und dessen Urteil sie nicht trauen konnte. War dies überhaupt möglich?

Und dann diese andere Frau! Wie sollte sie damit umgehen? Sie war kein unfairer Typ. Im Endeffekt konnte sie Pareios noch nicht einmal verdenken, dass er sich mit einer Anderen getröstet hatte. Sie hatte es ja auch getan, vorher! Und was konnte er dafür, dass sie nicht im Stande gewesen war, alles zu begreifen. Trotzdem hasste sie den blonden Engel, der seine dreckigen Hände auf seinen Körper gelegt hatte. Der einzige Trost war, dass sie die Frau noch nie gesehen hatte, woraus sie schloss, dass es ein unüberlegter Onenightstand gewesen war.

Aber wie Pareios auf sie, Aurelia, reagiert hatte, schien zu bedeuten, dass sie ihm alles andere als gleichgültig war. Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte die Blondine nicht gesehen. Und er war mit seinen Worten auf etwas Unausgesprochenes, das zwischen ihnen stand, eingegangen. Daraus konnte sie jedoch nicht erschließen, was genau seine Absichten ihr gegenüber waren. Sie wusste nur eins: Würde sie jemals wieder eine andere Frau in seinen Armen sehen, würde sie sich nicht beherrschen können!

 

Sie brachte die Kleidung in ihr Zimmer und lief dann schnurstracks weiter zu den Räumen, in denen der Rat tagte. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie diese Angelegenheit nun zurück stellen musste, es galt jetzt etwas wesentlich Gefährlicheres zu besprechen. Sie drängte die Wut in das hinterste Eckchen ihres Hirns und atmete viele Male tief durch, um das rasende Herz zu beruhigen. Der kurze Weg half, sich ein wenig abzukühlen.

 Vor der großen blankpolierten Stahltür angekommen, warteten bereits Viktor, Row und Aiden auf sie.

„Du warst auch schon mal schneller!“ bemerkt Viktor mürrisch, als sie sich zu ihrem Team gesellte. „Wo ist Pareios?“

Ein Stich und ein Prickeln. Sie zuckte mit den Schultern. „Wollte sich noch schnell was überziehen. Kommt bestimmt gleich.“

Alle sahen sie verwundert an. „Was ist passiert?“ erkundigte Row sich sofort. „Du wirkst so verändert!“

Aurelia fragte sich ernsthaft, seit wann sie so leicht zu durchschauen war! So viel zu Zurückstellen!! Sie versuchte es zu überspielen, indem sie lässig grinsend sagte: „Ich hoffe doch zum Positiven!?“

Row sah sie forschend an, die Erkenntnis blitzte in ihren Augen auf. Sie als Frau konnte die Aura, die Aurelia nun ausstrahlte wohl besser zuordnen. Ihr ehemals bester Freund und Aiden schienen zwar leicht irritiert, nahmen die Veränderung aber nicht in einem speziellen Licht wahr. Sie fragte sich, ob Viktor zu beschäftigt war und eins und eins zusammenzuzählen, besonders im Hinblick auf ihre vorherige Unterhaltung.

Da hörte sie Schritte hinter sich und ein warmes Gefühl schlug die leichte Übelkeit in die Flucht, die sie verspürt hatte, seit sie Pareios da an der Tür stehen gelassen hatte. Seine Anwesenheit war eine Erleichterung, aber sie musste beinahe den Kopf darüber schütteln, wie schnell sich das Blatt gewendet hatte.

Plötzlich packte Row sie am Arm. „Aurelia, Liebes?“ zischte sie ihr ins Ohr, während sich die anderen begrüßten. „Ich hab dich in 60 Jahren nicht ein einziges Mal so verträumt lächeln sehen und das in dem Moment, in dem Pareios auftaucht!“ Sie hatte gelächelt? Es war ihr nicht aufgefallen! Sie war doch eigentlich wütend!

Rowena grinste jetzt über beide Ohren. Seit wann wollte sie solche Gespräche mit ihr führen? Es war bisher noch nie vorgekommen. Vielleicht hatte sich noch etwas anderes verändert, von dem Aurelia überhaupt nicht mehr gewusst hatte, dass es existierte. Trotzdem war sie unter all dem immer noch die Aurelia, die über so etwas eher ungern sprach. Worüber auch? Genau genommen war ja nichts passiert. Also sagte sie so unbestimmt wie möglich: „Zufall!“

Row blieb sich treu und bohrte nicht weiter. Sie war wirklich angenehm!

 

Nachdem sie jetzt komplett waren, klopfte Viktor an die Tür. Kurz darauf tönte von drinnen ein lautes „Herein!“ und Viktor zog die 50 Zentimeter dicke, gepanzerte Schiebetür auf.

Das Innere des Raums hob sich deutlich vom Interieur des restlichen Bunkers ab. Es enthielt zentral einen großen ovalen Plenartisch, in dessen Mitte ein kleiner Computer eingelassen war. Er projizierte verschiedene Karten und Modelle von Gebäuden über sich in die Luft und konnte mit einigen Fingerschwüngen bedient werden. Es gab jede Mange hochwertige Technik. Mess- und Sonargeräte, Geigerzähler, verschiedene Kommunikationssysteme. An der einen Wand waren riesige Monitore angebracht, über die sie sich in die Systeme der Hegedunen hackten. Ein riesiges Backupmodem stand in der einen Ecke, es beherbergte die elektronische Abwehr für Cyberangriffe.

Die Hochwertigkeit der Apparate hier war kein Luxus, er war eine Notwendigkeit. Der Raum war eine große Schaltzentrale, die nicht nur den Bunker, sondern auch die Operationen der verschiedenen Teams, die gerade auf der Jagd waren, koordinierte.

Die Beleuchtung war nicht schick, aber effizient. Es gab ein paar Deckenstrahler und so war das Zimmer insgesamt für die Verhältnisse unter der Erde sehr gut erhellt. Um die schön gemaserte ovale Tafel standen große, bequem gepolsterte Stühle, genügend, um eine größere Versammlung abzuhalten.

 Markus saß an der Kopfseite. Er hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und hielt die Hände verschränkt vor sein Kinn. Er war kein großer Mann, hatte aber trotzdem eine imposante Erscheinung. Das schokoladenbraune Haar war lang und fiel ihm glatt und seidig über die Schultern. Die vordersten Strähnen waren zurückgenommen, und zu einem Zopf geflochten, der locker auf dem ebenmäßigen Vorhang des Restes seiner Mähne lag. Die Bernsteinfarbenen Augen lagen tief in den Augenhöhlen und betonten den ausgeprägten Kiefer mit dem schmalen Mund. Mit einer eleganten Bewegung bedeutete er ihnen, sich zu setzen und während sie es taten faltete er wieder die Hände. Er war bedacht und wirkte immer vornehm, egal was er trug.

Aurelia hatte ihre Gründe, warum sie es möglichst vermied, mit ihm zu sprechen. Seine Gabe war, zu erkennen ob jemand log, oder die Wahrheit sagte. Das machte ihn selbst allerdings zum besten Lügner, den Aurelia jemals getroffen hatte. Er tat es nicht oft, soweit sie wusste, aber er war brillant darin. Sie glaubte, nur Viktor, seinem Freund aus Kindertagen, war es möglich, ihn zu durchschauen. Im Großen und Ganzen vertraute sie ihm aber, da Viktor voll und ganz hinter ihm stand, zumindest bisher. Also wartete sie jetzt skeptisch darauf, dass er zu sprechen begann.

 „Kleinen Augenblick noch.“ bat er. Der Klang seiner Stimme war fast wie Honig, der sich dickflüssig über jede Art von Zweifel legen konnte. Damit war er sehr überzeugend, er besetzte wohl zu Recht einen Ratsposten. „Es fehlt noch jemand.“

10

Wie aufs Stichwort glitt die Tür abermals auf und Syrus trat ein. Der mittelgroße, schmächtige Mann trug einen weißen Kittel, dessen Taschen mit allerhand Krimskams vollgestopft waren. Sein schütteres graues Haar hatte sich schon bis weit nach hinten in den Nacken zurückgezogen und die kahle Haut auf den freien Flächen glänzte im Schein der Deckenstrahler.  Das von oben kommende Licht betonte die tiefen Furchen im Gesicht und die Hornbrille verstärkte noch den Alterseindruck.

Auch er war ein Mensch ohne Gabe und so um die Mitte 50,  doch er war ein begnadeter Mediziner und Chemiker. In seinem früheren Leben hatte er in einem Pharmaunternehmen in der Entwicklung gearbeitet. Er war ein Idealist höchster Güte und hatte es sich zum Ziel gesetzt, ein Heilmittel für Krebs zu finden. Doch als er immer weiter in die Materie vorgedrungen war und die ganzen anderen existierenden Studien Stück für Stück widerlegt hatte, war er misstrauisch geworden. Er hatte noch tiefer gegraben und war auf ein Geheimnis gestoßen, das ihm jeglichen Glauben an die Menschheit genommen hatte.

Er hatte herausgefunden, dass Krebs ein uraltes Notfallprogramm des Körpers war, beispielsweise konnte er nachweisen, dass bestimmte Konflikte, denen der Mensch machtlos und alleine ausgeliefert war, Tumore an ganz bestimmten, der Art des Konflikts zuordenbaren Stellen auftauchten. Als er dies erkannt hatte, hatte er sein Augenmerk auf die bisherigen Therapien gerichtet, die gängigerweise eingesetzt wurden. Er hatte sie zerpflückt und war zu dem Schluss gekommen, dass sie das Problem nur verschlimmerten, den lauernden Tod zur Gewissheit machten. Diese Therapien konnten nur Wochen bis ein paar Jahre rausholen, aber früher oder später verstarb der Patient nach einem langen Leidensweg daran. Nur eine dieser perfiden Methoden der Hegedunen, den lästigen Parasiten, genannt Mensch vom Erdboden zu tilgen. Jedoch nicht, ohne dass er vorher Unsummen an Geld für seine vermeintlich Heilung ausgegeben hatte.

Als Syrus dann aufgestanden, sich gerade gemacht und seine alternative Heilmethode propagiert hatte, nämlich die Lösung des Konflikts, war er den Hegedunen ein Dorn im Auge geworden. Er hatte geahnt, dass seine Zeit in der Öffentlichkeit abgelaufen gewesen war und so war er schließlich untergetaucht. Auf eigene Faust hatte er Verbündete gesucht, bis er eines Nachts in einer Bar mitten in Manhattan auf Viktor und Aurelia getroffen war, ihrer Intuition sei Dank. Er war ein wirklich beeindruckend standhafter und über die Maßen intelligenter Mann.

 

Syrus ging jetzt schlurfend auf den Tisch zu und stellte einen Glaskasten darauf ab. Er war so groß wie ein Goldfischglas, nur eckig, gefüllt mit chemischer Flüssigkeit und beinhaltete sechs Fassungen, in denen die kleinen schwarzen mysteriösen Steine befestigt waren, um die sich ihre Gedanken nun schon zwei Tage lang drehten.

Aurelia beobachtete ihn dabei, wie er einen davon mit einer Pinzette herausnahm nahm und in ein Porzellanschälchen legte. Dann setzte er sich ebenso auf einen der rot bezogenen Stühle.

Markus ergriff wieder das Wort. „Also Syrus. Willst du uns nicht allen berichten, was du herausgefunden hast?“ Er sagte es sanft und lockend.

Syrus räusperte sich. „Gut, ähm, während wir warten, dass die Flüssigkeit verdunstet, werde ich euch erklären, was es mit dem dunklen Gestein auf sich hat.

Die äußere Hülle besteht aus einer doppelten Schicht einer Legierung, die ich noch nie vorher gesehen habe. Sie ist molekular veränderbar. Sie reagiert in einem ständigen Austausch mit ihrem Umfeld. Es passieren zudem lauter kleine chemische Prozesse zwischen den einzelnen Molekülen innerhalb der Legierung, es ist wie ein Ping-Pong-Mechanismus. Es funktioniert fast wie ein Organismus, wie eine Zelle des Menschen.

Darin ist das Mitochondrium das Kraftwerk. Es besitzt eine Membran in der ebenfalls verschieden Moleküle interagieren. Sie bauen über einen komplizierten Weg  von verschiedenen Oxidationen und Reduktionen einen Protonengradienten an seiner Membran auf. Das heißt, dass die Protonen, das sind übrigens H⁺-Ionen, nach dem Prinzip „von viel nach wenig“ in das Mitochondrium hinein drängen und so eine Pumpe aus Proteinen in der Membran antreiben, die dann Energie, beim Menschen in Form von Adenosintriphosphat, kurz ATP, erzeugt.

Ihr könnt es euch wie ein Mühlrad vorstellen, die Protonen sind das Wasser, das dann die Mühle, die Proteinpumpe, antreibt und das Mehl, das steht in diesem Gleichnis für die Energie, die dabei rumkommt.

Nun, genauso funktioniert auch die Legierung, sowie sie irgendetwas zum Interagieren bekommt potenziert sie die Energie, die ihr zugeführt wird. Um wieder mein Gleichnis aufzugreifen:  hier steht die Energie die man reinsteckt für das Wasser, die Proteine in der Legierung sind die Pumpe und in dem Fall steht das Mehl für noch mehr Energie.

Die äußere Hülle des Steins reagiert auch mit der Luft, sowie mit der Wärmestrahlung eurer Körper, was den Eindruck vermittelt, er könne selbst Energie produzieren. Dies findet aber de facto nicht statt. Er macht nur aus einem Quäntchen Energie, so gar aus der Reaktion mit der bloßen Luft in seiner Umgebung eine unfassbare Menge und gibt diese wieder an sie ab. Deshalb schimmert er auch so.

Die Legierung enthält übrigens Spuren von fast allen Metallen die ich kenne, verwoben mit mir völlig fremden Proteinverbindungen. Die chemische Flüssigkeit im Glaskasten komplexiert die einzelnen Proteinmoleküle. Das bedeutet, sie besetzt mit verschieden Ionen, vor allem Magnesium und Kalzium, die Bindungsstellen der Proteine und blockiert somit weitere Reaktionen. Wenn sie allerdings verdunstet ist, dann geht es los.

Ich denke wir müssen nicht mehr lange warten.“ endete er und richtete nun den Blick auf den einsamen Stein in der blütenweißen Schale.

 Aurelia nahm an, dass keiner von ihnen alles verstanden hatte, was Syrus versucht hatte, zu erklären, aber so viel sie begreifen konnte, deckten sich ihre Vermutungen mit seinem Ergebnis. Denn selbst wenn die Steine nicht selbst Energie produzierten, dann kam es im Endeffekt fast auf dasselbe raus!

 

Plötzlich bemerkte sie, dass das Steinchen still und leise zu glimmen begonnen hatte. Doch es war nur ein Schimmer, fast wie ein Heiligenschein um ihn herum, die schwarze Oberfläche selbst veränderte sich nicht. Syrus zog eine Glühbirne und ein kleines Stück Papier aus seiner Tasche, dann hielt er Ersteres mit der Fassung voran an den Stein. Das Metall hatte ihn noch nicht ganz berührt, da leuchtete sie schon auf. Ihr Licht wurde schnell heller, bis der Wolframdraht im Innern mit einem leisen Klicken durchbrannte. Alle registrierten es beeindruckt, als Syrus auch schon das Stücken Papier in das Schälchen legte. In der Sekunde, in der es auftraf, ging es mit einem Zischen in Flammen auf. Die Reste türmten sich nun als kleine Häufchen Asche um den Stein herum, doch er lag still und scheinbar unbeschädigt am selben Ort wie vorher.

„Und dennoch kann man ihn berühren!“ sagte er und nahm den Stein in die Hand. Er reichte ihn Markus, der ihn neugierig betrachtete. „Er ist warm!“ sagte er dann und seine Bernsteinaugen leuchteten vergnügt auf.  

„Ja, wie gesagt, er ist wie ein Organismus. Er produziert seine eigene Betriebstemperatur, genau die, bei der die Proteinverbindungen stabil sind, genauso wie der Mensch. Doch seine Normaltemperatur liegt bei etwa 42,4 Grad Celsius. Ich wollte eigentlich unbedingt ein Blick in sein Inneres werfen, deshalb habe ich von einem ein Stück abgeschnitten und wollte dann den eröffneten Stein im Elektronenmikroskop untersuchen. Aber kaum war er drin, blitzte es ein paar Mal und mein schöner Apparat ist mir um die Ohren geflogen. Jetzt kommt jedoch das Merkwürdigste… Ich habe also den Stein aus den Trümmern gegraben und siehe da, er war wieder ganz!“

Er machte eine Pause und ließ seine Worte auf sie wirken. Aurelia konnte in den Gesichtern der anderen Personen im Raum genau dasselbe erkennen, das sie fühlte, maßloses Erstaunen. Viktor streckte Markus seine Hand hin und wollte den Stein ebenfalls halten. Nach einem kurzen Zögern reichte Markus ihn weiter.

Da keiner selbstständig eine Schlussfolgerung aus dem Gesagten ziehen konnte, erklärte Syrus weiter: „Ich vermute, dass er sich, genau wie eine Zelle, selbstständig regeneriert. Er lebt!“ er machte wieder eine Pause und genoss das beeindruckte Schweigen. „Ich wollte mir eine DNA-Probe beschaffen, aber wie gesagt, ich komme nicht schnell genug an seinen Kern ran, bevor er sich wieder verschlossen hat. Der Stein kann sich jedoch nicht selbstständig fortpflanzen, deshalb bin ich mir fast 100%ig sicher, dass er von Menschenhand geschaffen wurde. Ich nehme an, zu einem bestimmten Zweck. Aber ab hier kann ich nur noch wild herumraten. Ich meine, die Dinger haben jedes Messgerät, das ich dran gehalten hab gesprengt, das bedeutet, dass ich im Moment nichts kenne, das die grenzenlose Energie, die sie produzieren oder verstärken, einfangen und verwerten könnte!“ Es entstand eine kurze Pause, in der Syrus erwartungsvoll umherschaute. Als jedoch keiner einen Mucks von sich gab, resignierte er seufzend und fragte: „Wundert sich denn keiner von euch, warum man den Stein trotzdem berühren kann?“

Alle dachten einen Moment nach, dann fragte Pareios: „Du meinst, eigentlich müssten wir auch von der Energie gesprengt werden?“

Syrus nickte. „Warum passiert das nicht?“ warf dann Row neugierig ein.

„Es sieht so aus, als ob der Stein erkennt, dass ein Mensch ihn da in der Hand hält. An die Fläche seiner Haut gibt er nichts ab. Warum, das so ist, ist mir völlig schleierhaft. Und dann sind da noch diese merkwürdigen Zeichen. Alle sehen gleich aus.“ Der Stein war inzwischen von Viktor zu Row und Aiden gewandert, die ihn gerade an Aurelia weitergaben.

 

Schon als sie den Stein berührte, fühlte sie, dass er beinahe summte. Es war nur eine winzige, kaum wahrnehmbare Vibration, fast wie ein hundertfach beschleunigter Herzschlag. Erstaunt untersuchte sie seine lupenreine, glänzende Oberfläche genauer und ihre Augen blieben an dem geschwungenen Zeichen, das eingraviert war, hängen. Sie erschrak, aber nach all dem was in letzter Zeit passiert war, sollte sie nach einem jahrhundertelangen Leben eigentlich über nichts mehr wundern. Sie fasste sich wieder, um dann laut zu sagen: „Ähm Leute, ich hab dieses Zeichen schon mal gesehen, es war über dem umgedrehten goldenen Dreieck auf der Uniform des Kerls aus meiner Vision eingestickt!“ Heute war wohl kein Tag für viele Worte, denn das Entsetzen machte sie alle stumm.

Markus war der Erste, der weiterfantasierte. „Das könnte also dafür sprechen, dass sie für Elevender gemacht sind. Um speziell ihre Energie zu stärken oder zu speisen.“

Das hieße sechs Steine, sechs Elevender?

Pareios meldete sich nun zu Wort. Er sah Aurelia aufmerksam von der Seite an. „Das passt. Du hast doch erzählt, dass du die Kraft, die von ihm ausging spüren konntest und er hielt den Stein in der Hand.“

Sie zuckte zusammen, aber das andere, das sie noch gesagt hatte, behielt er für sich. Sie wagte nicht ihn anzusehen, wer weiß, wie genau sie diesmal reagieren würde. Sie fühlte noch den Zorn von vorhin widerhallen, trotzdem sog sie mit jedem Atemzug seine Gegenwart ein, hieß das Wohlgefühl willkommen, das er nun verursachte. Im Moment war es einfach noch zu unberechenbar. Aber sie war dankbar für seine Loyalität, dass er nicht ausplauderte, was sie ihm im Vertrauen erzählt hatte.

Aus den Augenwinkeln sah Aurelia, wie Row langsam und reflektorisch den Kopf schüttelte. „Wir haben doch eben gesagt, dass er mit menschlicher Haut nicht interagiert!“

Jetzt räusperte sich Viktor, um sich Gehör zu verschaffen. „Das muss er ja auch nicht. Wenn die Steine elektrische Energie verstärken, dann hat der Elevender aus Aurelias Vision vielleicht eine Gabe die mit Strom zu tun hat.“ Diese Spekulation war nahe liegend, aber im Moment gab es keine Beweise dafür. Sie brauchten mehr Informationen, dringend!

„Ok. Ich schlage vor, wir fangen da an, wo die Steine herkommen. Es muss doch dort irgendwo einen Hinweis geben, wer die Dinger gemacht hat.“ fuhr Viktor besonnen und logisch wie eh und je fort. Er hatte sich in seinem Stuhl aufgerichtet und die Schultern gestrafft.

Noch mal da einbrechen? Das war sehr riskant. Doch Markus nickte sofort zustimmend. „Und sowie ihr rausgefunden habt, wer es ist, findet ihn und bringt ihn zu mir.“

 

Das war immerhin schon mal ein Plan, der sie aus der erzwungenen Untätigkeit erlösen würde. Doch Aurelia fragte sich, was Markus dann mit dem Erfinder vorhatte. Verstohlen sah sie sich um. In den Gesichtern der anderen konnte sie lesen, dass sie sich ebenso unwohl bei dem Gedanken fühlten, den Schlüssel zu all ihren Informationen und damit vielleicht die Macht über die Steine dem kühl kalkulierenden Markus auszuliefern. Sicher war es praktisch, dass er erkennen konnte, ob der Erfinder die Wahrheit sprach, aber sie konnte beinahe schmecken, ja intuitiv ertasten, dass das angesehene Ratsmitglied etwas vor ihnen verbarg. Er log nicht, aber er verheimlichte definitiv etwas. Frustriert kaute sie sich auf den Lippen. Sie brannte darauf, mit ihren Kollegen alleine sprechen zu können.

 

Markus trug ihnen auf, ohne Umweg zu packen und sich auf den Weg zu machen. Als sich alle erhoben, ermahnte er sie aber noch ein Mal eindringlich: „Und ich muss wohl nicht betonen, dass die Sache absoluter Geheimhaltung unterliegt. Ihr müsst unbedingt verdeckt vorgehen. Die Hegedunen dürfen nicht ahnen, in wie weit wir Bescheid wissen. Ihr müsst es irgendwie schaffen, die Geschichte unbemerkt über die Bühne zu bringen!“ Er wusste, dass diese Einheit die einzige war, die die Fähigkeiten für diese beinahe unmögliche Operation besaß. Er brauchte sie!

„Jetzt los, der Hubschrauber wird für euch bereit stehen! Ich werde dafür sorgen, dass ihr umfangreich mit allem ausgestattet werdet, das euch irgendwie nützlich sein könnte.“

Syrus packte seine Sachen zusammen und verließ als erster, gefolgt von Viktor, Row und Aiden den Raum. Als auch Aurelia und Pareios bei der Tür angekommen waren, räusperte sich Markus.

„Aurelia, würdest du mir noch einen Moment deiner Zeit schenken?“ Die Worte waren höflich und seine Stimme war süß und schmeichelnd. Auch Pareios war stehen geblieben, doch Markus fügte nun wesentlich kälter an: „Allein!“

Pareios suchte ihren Blick. Er hatte ohne Zweifel lautlos und stumm Viktors Platz in ihrem Leben eingenommen, ohne dass sie es zunächst bemerkt hatte und war nun noch viel mehr als das für sie geworden. Die Wärme ging immer noch von ihm aus und sie vermisste sie schon, als sie beklommen nickte, um ihm zu bedeuten, dass er sie allein lassen konnte. Die Wehmut über seine bevorstehende Abwesenheit überstieg die Wut bei Weitem.

Der Gedanke gleich mit Markus allein zu sein, beunruhigte sie zu tiefst, er würde sie durchleuchten wie ein Röntgengerät, aber was blieb ihr anderes übrig? Es gab keine Ausrede, die sie nicht verdächtig gemacht hätte, dass sie ihm misstraute.

Nachdem Pareios die große stählerne Schiebetür hinter sich zugezogen hatte, fixierte Markus sie mit seinen Bernsteinaugen. „Gibt es vielleicht noch irgendeine Einzelheit, die du mir noch nicht über deine Vision erzählt hast?“ Der Tonfall war weiter sanft. Markus fing seine Fliegen mit süßem Honig, an dem sie dann kleben blieben.

Sie versuchte ein unschuldiges Gesicht zu machen und plötzlich tat ihr ihre Gabe einen Weg auf. Jetzt wusste sie, wie sie drum herum kommen konnte!

 „Nichts, was von primärer Bedeutung für die Steine wäre.“ Das war nicht gelogen, zumindest wusste sie nicht ob es so war oder nicht, und somit konnte sie es ehrlich annehmen.

„Aha, und was war das nun?“ drängte er sie, weiter zu berichten.

„Das möchte ich lieber für mich behalten, es ist sehr privat.“ Auch das war nicht gelogen, die verwirrenden Gefühle betrafen schließlich in erster Linie sie. Markus roch den Braten natürlich, ganz so wie beabsichtigt. Die Skepsis stand ihm ins Antlitz geschrieben. Er machte sozusagen den Testbiss am Köder. „Genauer bitte!“ Er lächelte jetzt gewinnend.

Sie versuchte blitzschnell die Gefühle ihrer Vision heraufzubeschwören, sich wieder in sie zurück zu versetzen und wand ihren Körper hin und her, als es klappte. Markus bemerkte es irritiert. Jetzt setzte sie zum letzten Stoß an.

„Es, es ist wirklich intim…, da war ein Mann…!“ Wieder nicht gelogen. Sie versuchte, es kokett und mädchenhaft zu sagen. Natürlich nahm er ihr Gefühlschaos wahr, doch sie hoffte inständig, dass er falsch kombinieren würde. Dass sie dank dieses Durcheinanders rot anlief, gab ihrer Vorstellung erheblich mehr Überzeugungskraft.

Sein Gesichtsausdruck verzog sich, als ob sie ihm auf die Finger geklopft hätte, wie einem unartigen Kind. Er zappelte an ihrem Haken. „Schon gut!“ meinte er dann freundlich und nahm eine ablehnende Haltung ein. „Ich denke, das geht mich nun wirklich nichts an….“

Sie nickte und schlug den Blick schüchtern zu Boden. Nicht übertreiben Aurelia, ermahnte sie sich selbst. „Kann ich dann…?“ Sie deutete zur Tür. Er gewährte ihr ihre Bitte mit einem leichten Neigen des Kopfes.

„Viel Glück Aurelia!“ sagte er noch, als sie schon die Finger am Türgriff hatte.

Tja, mit Glück hatte das bei ihr bekanntlich eher weniger zu tun.

11

Draußen angekommen verschloss sie sorgfältig die Schiebetür, legte die Stirn gegen den kühlen Stahl und atmete dann zwei Mal tief ein und aus. Sie konnte es selbst nicht glauben, dass sie es geschafft hatte, etwas vor Markus zu verbergen.

Ein Feuer begann  sie von links zu Wärmen. Es war wie ein Leuchten, das sie sofort in seinen Bann zog. Da bemerkte sie, dass Pareios an die Wand gelehnt auf sie gewartet hatte. Wie er da so stand, sah er wirklich aus, wie Adonis in Person. Er wirkte äußerst lässig und hatte die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Bei seinem Anblick, seinen bewegten Augen, war es, als schlüpften tausende von Schmetterlingen in Aurelias Bauch. Nun flatterten sie dort wild umher, verursachten ein flaues Gefühl, dachten aber nicht daran, ihn wieder zu verlassen. Im Gegenteil, sie besiedelten jetzt auch noch das Innere ihrer Brust und führten dort ihren magischen Tanz fort. Sie strichen mit ihren zarten Flügeln über ihr Herz und kitzelten es zurück ins Leben, was es mit einem heftigen Anstieg der Schlagfrequenz quittierte.

„Und wie war‘s?“ fragte er sie gespannt.                                 

Sie legte den Finger auf die Lippen. Markus konnte sie wohl kaum durch den 50 Zentimeter dicken Stahl belauschen, doch es war ihr lieber, nicht hier direkt vor seiner Nase mit Pareios darüber zu sprechen.

Sie nickte nach rechts und setzte sich in Bewegung. Pareios löste sich von der Wand und folgte ihr. Er holte auf, bis sie neben einander liefen. Sie fragte sich, ob er ihr Herz wummern hören konnte, denn sie selbst hörte beinahe nichts anderes mehr. Es war so laut, als wolle es dringend ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken… und aus irgendeinem Grund auch seine.

 Nachdem sie ein paar Abzweigungen zwischen sich und den Konferenzraum gebracht hatten, schilderte Aurelia ihm flüsternd, was geschehen war. Sie sah ihn schmunzeln und dann sagte er: „Weißt du Aurelia, du bist immer für eine Überraschung gut, das li….“ Er brach ab und eine peinliche Stille trat ein, in der sie spürte, wie er ihr einen flüchtigen Blick zuwarf. Ihr war schmerzlich bewusst, dass das, was heute und in der letzten Nacht geschehen war, jetzt irgendwie zwischen ihnen stand. Ihr Herz pochte empört noch einen Takt schneller. Sie empfand immer noch eine mörderische Wut auf das wunderschöne Biest. Und auch ein klein wenig auf ihn. Schließlich musste er sich ja nicht blöd anstellen, nur weil sie es tat. Aber sie sah ein, dass sie ihn wohl zuerst verletzt hatte. Und sie wusste absolut nicht, wie sie jetzt mit dem ganzen Chaos und den vielen Schmetterlingen umgehen sollte. 300 Jahre ohne diesen Kram, dachte sie sehnsüchtig, doch der Tanz der vielen Flügel verdichtete sich in ihrer Brust zu diesem Leuchten, das sie vorhin bei ihm gespürt hatte und durchströmte nun auch sie. Es verursachte, dass sich ihre ganze Sehnsucht nun auf Pareios einzupendeln schien. Ob sie wollte oder nicht, sie hatte keine Macht mehr darüber.

Sie waren schon fast bei ihrem Zimmer angekommen, da wollte sie all ihren Mut zusammen raffen und sich bei ihm entschuldigen. Aber wie sollte sie das anfangen? Sie hatten keine Verpflichtungen einander gegenüber, also kam es ihr irgendwie absurd vor, dennoch spürte sie, dass es notwendig war.

„Pareios, ich… es tut mir leid. Ich…, die ganze Sache ist irgendwie verfahren. Als du da nachts vor meiner Tür gestanden hast, da habe ich dich verletzt, oder?“ Er starrte zu Boden. Sie meinte erkennen zu können, wie die Muskelstränge an seinem Hals hervortraten, als er sie und den Rest seines Körpers anspannte. Dann hob er den Kopf und sah sie an. Seine Augen waren jetzt keine güldene Sommerdämmerung mehr, sie waren von einem tiefen graublau und die Sterne funkelten in ihnen intensiver denn je. Sie konnte sich dem Magnetismus seines Blickes nicht entziehen und verlor sich in den unendlichen Weiten die er ihr darin offenbarte. Es war, als hätte er jede Schotte, die es zwischen ihnen gegeben hatte, fallen gelassen und nun stand die Tür weit offen, um sie endlich willkommen zu heißen.

„Genauso wie ich dich heute morgen. Du sahst so wütend aus…“ Er gab es somit indirekt zu und machte ihr klar, dass er durchaus durchschaut hatte, wie sie sich gefühlt hatte. Aber sein Ton verriet, was sie ebenfalls fühlte, die Gewissheit mit ihrem Handeln nicht nur den anderen verletzt zu haben, sondern auch sich selbst. Mittlerweile war ihr kaum noch schlecht, es hatte sich in den letzten Stunden, in denen sie mit ihm zusammen in dem Raum gesessen hatte, nahezu vollständig verflüchtigt. Seine Anwesenheit war wie ein Segen und die Wut war unter Kontrolle, solang sie kein anderes Weibsstück bei ihm sah.

Doch sie wusste nicht wie sie jetzt vorgehen sollte. Sie hatte noch nie versucht mit einem Mann darüber zu reden, dass sich etwas zwischen ihnen entwickelt hatte und wie es nun weiter gehen sollte. Doch sie hatte Pareios wieder ein Mal gründlich unterschätzt.

„Na dann schlage ich vor, dass wir BEIDE das in Zukunft unterlassen!“ sagte er vollkommen lässig, dann lächelte er verschmitzt. Seine Augen funkelten und zeigten die unsichere Vorfreude, die er äußerlich verbarg. „Deal?“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

„Deal!“ Sie ergriff sie ohne zögern, als hätte sie sie schon gehoben, während seine noch schlaff an seiner Seite gehangen hatte. Sofort war wieder jegliches Unwohlsein, sogar die Wut verschwunden. Da war nur noch seine Wärme und das Bedürfnis noch mehr von ihm in sich aufzusaugen und es für Zeiten ohne ihn zu speichern. Das Kribbeln der Schmetterlinge war jetzt auch in ihrer Hand, ihrem Kopf, einfach überall!

Sie war beinahe euphorisch und diese zarten Gefühle, die in ihr aufstiegen, waren so köstlich! Bei dem Gedanken daran, was er noch alles in ihr bewegen könnte, erfasste sie eine freudige Erregung! Mehrere Sekunden hielten sie die Verbindung mit den Händen und sahen sich tief in die Augen. Sie gaben sich hier gerade ein Versprechen, das war Aurelia klar und sie war definitiv mehr als erleichtert darüber! Vielleicht ließe sich das Monster so besser zügeln.

Sie trennten den Kontakt schließlich wieder und setzten ihren Weg beklommen fort. Sie gingen so nah neben einander, dass ihre Arme auf ganzer Länge aneinander rieben. Auf die Weise erfuhr sie immer wieder warme Schauer und musste sie nach einer Weile fest an die Seite klemmen, damit sie sich nicht von selbst um ihn warfen.

 

In ihrem Zimmer packte sie ein paar Habseligkeiten in eine schwarze Tasche und legte auch ihr Waffenarsenal dazu. Dann holten sie gemeinsam Pareios Ausrüstung. Sie sah immer wieder zu ihm hoch, um sich zu vergewissern, dass es auch wirklich er war, der sie sich so fühlen ließ. Er bemerkte ihre Blicke und nahm dann ihre Hand! Es war wie ein kleines, verstohlenes Zeichen und fühlte sich wunderschön an, als ob sie auf Zuckerwatte ginge. Sie glühte jetzt vor Freude und Gefühle, die sie so lange unter der Oberfläche vergraben hatte, drängten heraus, vermischten sich mit den Schmetterlingen. Wie wäre es erst, ihn zu küssen, zu berühren…? Sie schmunzelte, weil sie Pareios noch nie mit einer Frau Händchenhalten gesehen hatte. Wie er sie bezirzte, sie küsste, das schon, aber hier schien auch er mit Aurelia eine andere Kategorie von Beziehung im Sinn zu haben. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel und sie konnte es kaum fassen, wie sich alles durch ihn in so kurzer Zeit verändert hatte.

Als sie dann das Waldstück durchquert hatten und das Industriegelände erreichten, auf dem der Hubschrauber auf sie wartete, befreite sie sich automatisch aus seinem Griff, doch es tat ihr beinahe körperlich weh. Sie wusste nicht genau warum sie es trotzdem tat, aber sie hielt es für besser, diese Geschichte zwischen Pareios und ihr nicht breitzutreten. Zumindest nicht, bis sie wusste, wohin sie das führte. Er schien leicht angefressen, aber respektierte ihren Wunsch, es war ja keine Zurückweisung an sich.

 

 

Die anderen waren schon eingestiegen und hatten sich zwischen die verschiedenen Taschen und Koffer gezwängt, mit denen die Maschine vollgestopft war. Sie stieg vor Pareios ein und versuchte Rows unverschämt auffälliges Grinsen zu ignorieren. Pareios setze sich neben sie, die Kopfhörer wurden verteilt und der Pilot fuhr die Drehzahl des Motors hoch, um abzuheben.

Langsam ließ sie ihre Hand neben sich auf den stählernen Boden sinken. Sie hoffte die Bewegung würde niemandem auffallen, aber sie wollte undbedingt wieder seine Haut spüren. Das Verlangen nach seiner Nähe und sein Versprechen gaben ihr Auftrieb. Was war nur mit ihr los? Fragte sie sich zum hundertsten Male in diesen letzten Tagen. Sie musste sich wirklich zusammenreißen!

Erleichtert fühlte sie endlich seine Wärme, wie von selbst verschränkte er die Hand mit ihrer. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und diesmal nahm sie es bewusst wahr.

 

Viktor unterbrach ihre Gedanken unwirsch. „Aurelia! Was wollte Markus von dir?“ Der herrische Ton war so fremd für sie. Sie berichtete knapp umrissen was sich zugetragen hatte, ohne es jedoch zu erklären und Viktor nickte zufrieden. „Gut, alles weitere besprechen wir später.“ Er machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung des Piloten, denn dieser würde sonst alles über das Funksystem der Kopfhörer mitbekommen.

Sie brachten den mehrstündigen Flug schweigend hinter sich und Aurelia genoss jede Sekunde, in der sie Pareios nahe sein konnte. Dann fühlte es sich an, als wären die Schuldgefühle und der Selbsthass weit, weit weg. Als gehörten sie in ein anderes Leben.

 

 

Der Hubschrauber setzte sie am Stadtrand ab, wo sie ein Fahrzeug knackten. Es war bereits Abend geworden und die Dämmerung schützte sie vor ungebetenen Beobachtern. Viktor riss das Ortungssystem des schwarzen SUV, wie nun jeder Wagen eines besaß, heraus und setzte sich ans Steuer. Die anderen luden das Gepäck ein und Aiden tauschte das Nummernschild gegen ein gefaktes aus. Dieses nicht regestierte Schild würde auch auffallen, wenn man es explizit nachprüfte. Aber es war immerhin besser, als mit einem durch die Gegend zu fahren, das offensichtlich gestohlen worden war, da es vom Schirm der Hegedunen verschwunden war. Ordnungshüter würden nach dem alten Kennzeichen Ausschau halten, sie überwachten jedes einzelne Fahrzeug, das seit dem Jahr 2060 gebaut und verkauft worden war.

Aiden saß vorne und dirigierte sie durch den Feierabendverkehr der belebten Metropole. Berlin war in den letzten hundert Jahren in die Breite, aber vor allem in die Höhe geschossen. Die Hegedunen hatten sie nach ihren Vorstellungen geformt. Wohnräume wurden in Hochhäuser verbannt, die gesamten Außenbezirke mit Industrie zugebaut und in den Zentren der Stadtviertel hatte man die alten Kieze erhalten, damit sich die Bevölkerung nach der Arbeit in die Besinnungslosigkeit saufen konnte.

Sie kurbelte das Fenster runter und ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen. Es war jedesmal wieder schön, über der Erde zu sein. Ein weiterer Grund, warum sie das Jagen im Allgemeinen gegenüber den Aufenthalten im stickigen Bunker favorisierte.

Sie bestaunte die vorbeiziehenden Gebäude, die verschwenderisch mit bunten Lichtern bepflastert waren. Sie war schon oft hier gewesen und freute sich als sie die bekannten Wege über ‚Unter den Linden‘ und die ‚Straße des 17. Juni‘ nahmen. Viele von den schönen alten Steinbauten, waren gegen modernere kalte metallische Gebäude ausgetauscht worden. Sie waren glatt, besaßen nichts von den Ecken und Kanten und dem Flair eines der schönen alten neoklassizistischen Häuser. Es gab viele Einkaufspaläste, in denen die Arbeiterschaft nach 19 Uhr das sauer verdiente Spielgeld wieder an den Mann bringen konnte. Genau wie die Amüsierviertel dienten sie dazu, die Menschen ruhig zu halten, ganz nach dem Motto „Brot und Spiele“ für das Volk.

Immer wieder sah sie rüber zu Pareios, der auf der anderen Seite der Rückbank saß und betrachtete sein hübsches Gesicht mit dem Dreitagebart und diesen soften Lippen. Manchmal bemerkte er es und zog einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln hoch, ließ den Blick jedoch nach draußen gerichtet.

Sie erreichten Moabit, den Stadtteil, in dem  das Labor lag, in das sie vor zwei Nächten eingedrungen waren. Bald schon fanden sie ein Motel, das vom Labor aus nur ein paar Häuser die breite Straße hinunter gelegen war.

Rowena hatte während der Fahrt bunte Jacken und anderes Schuhwerk verteilt. Mit ihren schwarzen Uniformen, die sie meistens trugen, wären sie zu sehr aufgefallen. Da viele Plätze in den größeren Städten kameraüberwacht waren, war es zudem nötig, sich zu vermummen. Row zauberte jetzt fünf Perücken in verschiedenen Brauntönen hervor und reichte ein Schächtelchen mit fünf Paar Kontaktlinsen, auch alle braun, herum. Aurelia band die dicken Haare zu einem engen Knoten im Nacken und setzte das sandelholzfarbene Haarteil auf. Auch die Kontaktlinsen fummelte sie sich in die Augen, zuerst war es ein komisches Gefühl, doch nach ein paar Mal Blinzeln hatten sich die kleinen flexiblen Scheiben an die Wölbung ihrer Augäpfel angepasst.

Sie parkten in einer Seitenstraße, etwa 500 Meter von dem Motel entfernt und gingen den Rest des Weges zu Fuß. Man hätte sie dank der vielen Koffer auch für Touristen halten können, die ein besonders billiges Schlafplätzchen suchten, doch der Stadtteil war eigentlich für eben jene wenig attraktiv. Der größte Vorteil war wahrscheinlich, dass es hier extrem billig war.

 

Das Motel hatte nur einen schäbigen kleinen Eingangsbereich. Überall waren alte Poster und Hinweise auf Veranstaltungen an die Wände geklebt worden. Über die Jahre hatten die sich vorbei schiebenden Schultern das Papier abgenutzt und ein paar ganz Freche hatten Tecks darüber gesprüht. Der ‚Portier‘, wenn man ihn denn so nennen konnte, denn er hatte nur ein fleckiges, abgeranztes Feinripp-Unterhemd und eine ausgebeulte Jogginghose an, saß hinter einer Plexiglasscheibe, durch die nur ein paar Löcher zur Verständigung gestanzt waren.  

Viktor verlangte zwei nebeneinander liegende, zur Straße gerichtete Doppelzimmer und legte das Geld, zwei Mal soviel wie nötig, in ein Schubfach, das man unter der Scheibe hindurch in den abgeriegelten Raum ziehen konnte, in dem sich der Mann befand. „Ich habe meinen Ausweis auf der Reise verloren!“ behauptete Viktor jetzt. Der Mann betrachtete mit großen Augen die Geldmenge und fixierte ihn kurz. Er zog etwas Luft durch die gelblichen Schneidezähne, musterte sie alle abschätzend von oben bis unten und rieb sich nachdenklich den verfilzten Bart. Dann nickte er, verkündete mit schnarrender Stimme ihre Zimmernummern und übergab, wieder über das Schubfach, die elektronischen Schlüsselkarten.

 

Sie fuhren mit einem winzigen Aufzug, in dem das Licht flackerte, nach oben in den 8. Stock und betraten ihre Zimmer. Die Frauen nahmen sich das Linke, die Männer das Rechte. Danach versammelten sie sich im Männerzimmer, da man von dort aus einen perfekten Blick auf den Großteil des Eingangsbereiches und einen Teil der Front des 40stöckigen Hochhauses, das das Labor beherbergte, hatte.

Sie verteilten sich auf die abgewetzte Couchgarnitur. Die Zimmer sahen beide gleich aus. Brauner abgewetzter Flokati und beige Tapeten, dazu schwere dunkle Samtvorhänge, die an manchen Stellen angesengt waren. Row öffnete eine der vielen Taschen und reichte jedem eine Plastikdose mit einer Art Eintopf und sie begannen zu essen. Aurelia schlang ihre Portion förmlich hinunter. Da sie seit zwei Tagen kaum etwas gegessen hatte, wurde ihr Hunger aber währenddessen immer größer und sie war keineswegs satt, als sie die letzten Reste der Flüssigkeit in ihren Mund schüttete.

Die anderen unterhielten sich während des Essens über die Jagd. Sie klärten zuerst das Wichtigste.

„Noch ein Mal in das Gebäude einzubrechen, kommt für mich nicht in Frage. Die haben es bestimmt hermetisch abgeriegelt!“ sagte Viktor grimmig und sie stimmten ihm alle zu. „Daher schlage ich vor, wir beobachten es ein paar Tage und informieren uns über jede winzige Kleinigkeit, Personal, Grundriss, Bewachung, einfach alles. Ich will wissen wann wer kommt, wann die Post geliefert und der Müll abgeholt wird! Und wir müssen herausfinden, wo der Zentralrechner steht, ich nehme an, da besteht die größte Chance, dass wir fündig werden!“

Viktor war einfach der geborene Anführer. Er hatte meist einen logisch durchdachten Plan parat und lenkte jeden der anderen entsprechend ihrer Fähigkeiten. So teilte er auch die Aufgaben zu, obwohl sich mittlerweile meist von selbst verstand, wer was übernahm. Sie waren so gut eingespielt, dass nur das Nötigste besprochen werden musste. Das sparte Zeit und sie waren sehr effizient.

Aiden meldete sich nun zu Wort: „Ich muss mir die Sicherheitsanlage ansehen, dann können wir überlegen, wie und wann wir am Besten reingehen.“

Mehr gab es im Moment nicht durchzugehen und so wechselte das Gespräch bald zu dem Thema Markus.

„Ich brauche nicht Aurelias Gabe, um zu sehen, dass er was vor hat.“ meinte Row aufgebracht. Sie spielte dabei mit einer Strähne des langen glatten strohblonden Haars. Viktor stimmte ihr betrübt zu. Sie waren immer gute Freunde gewesen und er verstand nicht, was das Ratsmitglied dazu bewegte, ihm etwas zu verheimlichen.

„Wir müssen unbedingt vor Markus an die Infos rankommen!“ fasste Pareios zusammen und machte ein entschlossenes Gesicht. Er steckte voller Tatendrang und strahlte eine unruhige Vorfreude aus. Aurelia sonnte sich immer noch in seiner Wärme und genoss die kleinen wohligen Schauer, die entstanden, wenn sie sich zufällig oder gewollt berührten, und die Schmetterlinge, die um ihr Herz tanzten.

Viktor und die anderen waren voll und ganz seiner Meinung. Aurelia spielte die vergangenen Tage im Kopf durch, um irgendwelche Unregelmäßigkeiten im Ablauf ihrer Mission feststellen zu können. Da fiel ihr ein kleines Detail auf, das bisher keiner bedacht hatte, wahrscheinlich, weil alles so schnell gegangen war.

„Viktor, hast du in den letzten Tagen irgendein anderes Ratsmitglied im Bunker gesehen?“ Er überlegte kurz, dann stutzte er. „Nein, ich glaube nicht…“ flüsterte er erschrocken. Aurelia rümpfte die Nase. Viktor glaubte nicht, er wusste es, da war sie sich sicher.

„Bist du vielleicht Cassiopaia oder Liif begegnet?“ fragte er Row, da ihre Schwester mit den beiden Frauen und Ratsmitgliedern befreundet war. Doch auch sie schüttelte stumm und beklommen den Kopf.  

„Meint ihr, sie wurden in Sicherheit gebracht?“ fragte Aiden in die Runde, doch Viktor verneinte. „Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Diese Leute sitzen doch im Rat, weil sie immer an vorderster Front gekämpft haben. Dass sie jetzt den Schwanz einziehen, wo etwas so Bedrohliches auf uns zu kommt, will ich nicht glauben.“

Nur war es hier völlig belanglos, was Viktor wollte oder nicht, dachte Aurelia bitter bei sich. Außerdem hieße das, dass sie davon überzeugt waren, dass auch jetzt schon eine Gefahr für ihr Leben von den Steinen ausging. In diesem Fall war es aber wiederum ungewöhnlich, dass sie dann alle anderen im Bunker unwissend ließen und damit mutwillig mit deren Leben spielten. Das konnte und wollte diesmal selbst Aurelia nicht unterstellen.

Aber was, wenn doch? Agierte Markus autark oder waren auch andere Ratsmitglieder in die Sache involviert?

 „Im allergrößten Notfall, da hatte Aurelia von Anfang an Recht, müssen wir Verantwortung übernehmen und die Steine zerstören. Das ist euch doch klar, oder?“  sprach Viktor diese beängstigende Wahrheit aus und unterbrach damit ihre Gedanken. Alle nickten sie ernst, fragten sich jedoch zu gleich, wie genau sie das schaffen sollten.

 

Row übernahm schließlich die erste Nachtwache und beobachtete das Gebäude gegenüber durch ein Infrarotfernglas. Aiden und Viktor steckten die Köpfe über den Grundrissplänen, die sie noch vom ersten Mal besaßen, zusammen und auch Aurelia und Pareios schlossen sich ihnen an.

Aurelia prägte sich jeden Gang, jede Nische und jedes Treppenhaus ein. Sie legte eine kleine zweite Kopie der Karte in ihrem Gedächtnis an, auf der alle Zimmer und Büros verzeichnet waren. Nach einer Stunde gab es für sie nichts mehr zu tun. Sie stand auf, ging zum Fenster und überlegte schon, ob sie laufen gehen sollte.

Pareios Wärme umschloss sie plötzlich von der Seite. Er war neben sie getreten und hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt.

„Lust auf ein bisschen Bewegung?“ fragte er und zwinkerte ihr mit einem Auge mit seinem Spiegelbild auf dem Fensterglas zu und brachte die Schmetterlinge zum Auffliegen. Er meisterte Viktors Rolle par Exellance, definitiv!

Sie musste grinsen, da er scheinbar ihre Gedanken gelesen hatte und nickte dankbar.

„Bereit für ein Experiment?“ Seine Stimme war rau und er neigte den Kopf verschwörerisch zu ihr rüber, sodass ihn die anderen nicht hören konnten. Sie sah ihn erstaunt aus den Augenwinkeln an, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Sie wollte sein kleines entzückendes Spiel mitspielen.

„Was heißt Experiment?“ fragte sie misstrauisch flüsternd und hob eine Braue an.

„Na gut, lass es mich anders sagen. Warst du in deinem Leben schon mal richtigen, ausgelassenen?“ Nein, wahrscheinlich eher nicht, dachte sie und schüttelte dann zögernd den Kopf. Sie war jetzt neugierig geworden, was er mit ihr vorhatte.

„Na dann will ich dir was zeigen. Komm schon, es wird dir bestimmt gefallen!“ sagte er drängender und sie konnte seine Aufregung spüren. Eine freudige Erwartung machte sich auch in Aurelia breit und ihr Herz begann fröhlich mit den Schmetterlingen zu flattern. Sie nickte und Pareios ging daraufhin zu Viktor, um mit ihm einen kurzen Wortwechsel zu führen. Viktor sah Aurelia abschätzend an, dann stimmte er zu, dass sie gehen durften. Es tat ihm wohl immer noch ein wenig Leid, wie er sich jetzt ihr gegenüber benahm, so rücksichtslos.

Pareios kam wieder zu ihr herüber. „Ok, pass auf, du ziehst dir jetzt was Normales an. Ausgehtauglich! Und bequeme Schuhe wären bestimmt auch nicht schlecht! Wir treffen uns in 10 Minuten vorm Fahrstuhl!“

Verwirrt, aber mit teenagerhafter Erregung verließ sie das Männerzimmer. Die Schmetterlinge in ihr tanzten wie wild und ließen sie beinahe dahin schweben. An der Tür fiel ihr ein, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was ausgehtauglich bedeutete, aber da musste sie jetzt wohl oder übel alleine durch.

12

In ihrem Motelzimmer kramte sie nervös in den verschiedenen Taschen nach etwas, das vielleicht in diese Kategorie fallen könnte. Irgendwo unter Bergen von bunten Klamotten in Rows und ihrer Größe fand sie schließlich einen schwarzen kurzen Rock aus Sweatshirtstoff. Sie mochte es bequem, aber es war Herbst im ehemaligen Deutschland, deshalb überwand sie sich auch zu einer schwarzen Feinstrumpfhose. Dazu wählte sie noch ein schwarzes T-Shirt, dessen Ausschnitt mit Spitze besetzt war. Alles lag passgenau an und sie fand, dass das hier dem Wort ausgehtauglich so weit sie wusste doch recht nahe kam. Die Allzweckstiefel und die Uniformjacke nahm sie trotzdem, es waren einfach bequeme und praktische Kleidungsstücke, die für sich gesehen keine Rückschlüsse zuließen. Bei dem letzten Blick in den Badezimmerspiegel erkannte Aurelia sich kaum wieder. Nicht nur dass sie immer noch die sandelholzfarbene Perücke mit den langen Locken  und die braunen Kontaktlinsen trug. Auch der Rest war ihr fremd. Sie hatte lauter hektische rote Flecken in Gesicht und Dekolleté und die Augen wirkten gespenstisch groß. Trotzdem leuchteten sie und die Wangen schimmerten rosig vor Aufregung. Die Schmetterlinge zogen ihre Bahnen und sie fühlte sich wirklich wie ein Teenager vor seinem ersten Date. Wie lächerlich das nach 300 Jahren klang. Pareios brachte sie völlig aus dem Häuschen. Verwundert fragte sie sich noch einmal, wo wohl die Übelkeit geblieben war, denn sie hatte sich nicht wieder gemeldet. Aber wie sie so dastand, fiel ihr wieder ein, dass sie sich doch all das verboten hatte… Nicht jetzt, ermahnte sich und versuchte die aufflammenden Schuldgefühle auszutreten. Um nicht weiter Gelegenheit zu haben, darüber zu brüten, löschte sie das Licht und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl.

 

Pareios wartete dort bereits. Er trug ebenfalls die schwarze Lederjacke, die zu seiner Uniform gehörte. So wirkte es fast, als hätten sie sich unbewusst zu einem Partnerlook entschieden. Aurelia musste darüber lächeln und ihr Herz machte ein paar fröhliche Hüpfer. Darunter trug er ein dünnes Hemd in einem edlen Grau, das zu seinen wundvollen Augen gepasst hätte, wären sie nicht durch braune Kontaktlinsen verdeckt gewesen. Das Hemd steckte in einer dunklen Jeans, die er mit einem schwarzen mattledernen Gürtel an den Hüften befestigt hatte. Die Hosenbeine fielen lässig gerafft über dunkle sportliche Slipper. Nur die teakholzfarbene kurze Perücke irritierte ein wenig. Trotzdem sah er extrem sexy aus und Aurelias Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen. Es kribbelte in ihrem Bauch und das war sicher nicht der spärlichen Mahlzeit von vorhin zuzuschreiben. Vergessen war jegliches Schuldgefühl, ihr Pulsschlag beschleunigte sich und sie bekam fast weiche Knie.

Pareios pfiff leise durch die Vorderzähne als sie näher kam. „Verdammt, Aurelia. Du siehst heiß aus! Ich glaube, ich hab dich noch nie in einem Rock gesehen!“ Sie konnte seiner Stimme entnehmen, dass er es ernst meinte und beobachtete wie seine Augen langsam über ihren Körper wanderten. „Und was für Beine…“ fügte er schwärmerisch hinzu, als ob er über ein schmackhaftes Gericht reden würde und brachte Aurelia damit in Verlegenheit. Sie freute sich unheimlich darüber, dass sie ihm anscheinend gefiel. Seit langer Zeit war es ihr nicht wichtig gewesen, auch nur irgendjemandem zu gefallen, geschweige denn einem Mann.

„Danke! Ich habe eben dasselbe über dich gedacht!“ gab sie zu. „Und dass du mich noch nie in einem Rock gesehen hast, liegt wohl daran, dass du an Viktors Hochzeit mit Meredias brünetten Brautjungfer beschäftigt warst!“

Er machte ein entschuldigendes Gesicht und antwortete dann aber wieder selbstsicher: „Andere Zeiten!“ Dann umspielte ein verschmitztes Lächeln seine wunderbaren Lippen. „Und heute werde ich mich ausschließlich mit dir beschäftigen!“

Der Aufzug kam und sie stiegen ein. Sowie die Türen zugeglitten waren, nahm Pareios wieder ihre Hand in seine und behielt diese warm umschlossen. Das Zuckerwattegefühl kehrte zurück, wobei es noch stärker war als am Nachmittag. Sie sahen sich an, sagten aber kein Wort. Genossen nur die Gegenwart und Berührung des anderen.

 

Immer noch so verbunden verließen sie das Motel und spazierten eine Weile durch die frische, kühle Nachtluft. Diese wehte Aurelia um die Nase und sie konnte den Geruch der Großstadt ausmachen. Ein paar Querstraßen weiter stiegen sie dann in die U-Bahn hinab.

Pareios kannte sich im Liniensystem des Nahverkehrsnetzes aus und sie wechselten mehrmals im Laufe ihrer Fahrt die Bahn. Es war jetzt ca. 23 Uhr und die Züge waren voll von Nachtschwärmern, die alle zurechtgemacht unterwegs zu irgendwelchen Verabredungen oder Partys waren. Viele Frauen zupften immer wieder nervös an ihre Outfits rum und kleine Männergrüppchen, die schon getrunken hatten, grölten sich gegenseitig idiotische Parolen zu. In einer der Bahnen fragte Aurelia schließlich als sie sich auf einen bunten vollgeteckten Sitz fallen ließ: „Also, was hast du nun mit mir vor?“ Sie war einfach zu neugierig, da sie immer noch keine Vorstellung hatte.

„Tjaaa, das wird noch nicht verraten, soll doch schließlich eine Überraschung sein!“ gab er gespielt empört zurück. „Wundert mich sowieso, dass du‘s noch nicht weißt.“ Aurelia war ganz perplex. Natürlich hatte er Recht, aber auf die Idee, ihre Intuition zu benutzen, war sie in ihrer Aufregung gar nicht gekommen. Und jetzt wollte sie sich ehrlich gesagt selbst nicht die Überraschung verderben. „Ähm, nö, hab‘s mir verkniffen!“ behauptete sie deshalb, konnte ihn aber nicht ansehen. Er grinste jetzt bis über beide Ohren.

Nach einer halben Stunde Fahrt stiegen sie in Prenzlauerberg aus und gingen noch ein Stück zu Fuß. Hier waren vor allem junge Menschen unterwegs. Manche zeigte ausgeflippte, grellbunte Klamotten, andere hatten sich die Haare rot, grün oder lila gefärbt, oder trugen die unterschiedlichsten Sorten an Körperschmuck. Ein junger Mann mit einem Irokesen und einigen Pearcings im Gesicht starrte ihr anzüglich hinterher. Sie ignorierte es und tauchte ins Getümmel ein. Sie konnte die Stadt atmen und den Puls der Menschenmenge pumpen spüren. Die Nacht war verheißungsvoll und ihre Stimmung mittlerweile blendend! Mit Pareios war alles so leicht und beschwingt, dass sie in seiner Gegenwart voll und ganz aufging.

 

Pareios lenkte sie nach links in einen Hinterhof, in dem sich eine riesige Schlange an Menschen vor einem doppeltürigen Eingang gebildet hatte. Darüber war ein riesiges dreieckiges Leuchtreklameschild mit dem Wort „Trésor“ angebracht. Es sah auf den ersten Blick aus wie ein Club, und als die Tür aufging und sich zwei betrunkene Mädchen an den Türstehern vorbei nach draußen drängten, ertönten kurzzeitig die tiefen wummernden Drum’n’Bass-Rhythmen aus dem Inneren. 

Aurelia strahlte und sah hoch zu Pareios.

„Na, zufrieden? Gelungene Überraschung?“

„Nicht schlecht! Ich liebe Drum’n’Bass!“ gab Aurelia zu, was er natürlich gewusst hatte. „Aber ich warne dich, ich kann keinen Fatz tanzen!“

„Nur, weil du’s noch nie probiert hast!“ sagte er sanft. „Notfalls kannst du dich ja an mir festhalten!“ fügte er fröhlich hinzu und versprühte seinen Charme über ihr, in dem er ihr ein gewinnendes Lächeln zuwarf. Das verursachte wieder ein Kribbeln in ihrem Bauch und die Schmetterlinge schienen jeden Winkel ihres Körpers anzustuppsen.

Es dauerte nicht lange, da erreichten sie den Eingang und Pareios bezahlte ihren Eintritt, woraufhin jeder von ihnen einen Stempel auf die Hand gedrückt bekam. Hier in dieser Welt kostete einfach alles Geld, ganz anderes als im Bunker und unter Ihresgleichen, aber auf Missionen hatten sie immer welches dabei, hier war es schließlich nötig. Auch als sie ihre Jacken an der Garderobe abgaben, leisteten sie einen bestimmten Betrag pro Kleidungsstück. Das ganze Prozedere war Aurelia unbekannt, deshalb folgte sie einfach Pareios weiter hinein in den Club und eine Treppe hinunter, die von hellen sandfarbenen Natursteinwänden begrenzt wurde. Die Musik wurde immer lauter, bis sie irgendwann ohrenbetäubende Lautstärke erreich hatte. Der Boden unter ihren Füßen bebte durch die dröhnenden Bässe. Auch die Luft wurde zunehmend stickiger, je weiter sie hinunter kamen. Da tat sich plötzlich ein riesiger Raum vor ihnen auf, der bis zum Brechen mit einer tanzenden Menschenmenge angefüllt war. Sie bewegten sich im selben Rhythmus auf und ab, hin und her. Die Stimmung erfasste Aurelia sofort. Der Raum war mit Hitze und Feuchtigkeit angereichert sodass sich ein tropisches Klima gebildet hatte, sogleich fühlte sie den dünnen Film auf der Haut. Das Licht war gedämmt und einige bunte Scheinwerfer schweiften immer wieder über die Köpfe der Menschen.

Pareios drehte sich zu ihr um und zeigte wieder sein unwiderstehliches Lächeln. Sein kantiges Gesicht war unglaublich verführerisch. „Wollen wir?“ brüllte er und hielt ihr die Hand hin. Er versetzte sie in eine willenlose Trance. Benommen ergriff sie, was ihr dargeboten wurde und ließ sich von ihm ins Getümmel ziehen.

Nachdem sie einen winzigen Fleck gefunden hatten, an dem sie noch stehen konnten, begannen sie zu tanzen. Die Menge stand so dicht gedrängt, dass sie sich keine Sorgen hätte machen brauchen, dass sie es nicht konnte. Sie wurde quasi einfach mitgetragen von den vielen Leuten um sie herum. Sie fühlte mehrere Körper an sich gedrängt, unter anderem auch Pareios‘, was sie zusätzlich beflügelte. Schon nach einigen Minuten war ihr klar, was er mit ‚Bewegung‘ gemeint hatte. Die Rhythmen waren so schnell, dass die passende Bewegung zum Takt wirklich anstrengend war. Bald war sie komplett durchgeschwitzt und die Haare der Perücke klebten ihr im Nacken. Trotzdem war sie vollkommen eingenommen von der Musik und der Atmosphäre. Sie ließ den Körper los, ließ ihn sich selbstständig zu den Klängen bewegen und fühlte sich leicht, so unglaublich leicht.

Es wurde immer enger um sie herum und Aurelia wurde, ob sie wollte oder nicht, gegen Pareios gedrückt. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ob er es wohl deswegen geplant hatte. Doch da auch das völlig in Ordnung für sie gewesen wäre, stellte sie keine Anstrengungen an, sich zu wehren.

Plötzlich spürte sie, wie er den rechten Arm um ihre Taille legte und sie noch näher zu sich zog. Er ging ein wenig in die Knie und schob ein Bein zwischen ihre. So waren ihre Hüften leicht versetzt aneinandergedrängt. Ein wildes Prickeln durchfuhr sie. Die Schmetterlinge stoben auseinander und verwandelten sich in Wunderkerzen, deren prasselnde Funken sie überall auf der Haut kitzelten. Es war wie ein Feuerwerk, das sie entflammen ließ. Die Arme schlangen sich wie von selbst um seinen Hals und eine Hand landete in seinem Nacken. Das nächste Lied begann, es war ‚Encoder‘ von Pendulum, ein uraltes Stück, aber Aurelia liebte es.

Sie sah zu ihm auf und erhaschte seinen leidenschaftlichen Blick. Die Haare der Perücke hingen ihm feucht und verwegen in die Stirn. Pareios‘ Anziehungskraft auf sie war elektrisierend. Seine noch freie Hand wanderte nun zu ihrem Rücken und drückte auch ihren Oberkörper gegen seinen. Sie spürte seine muskulöse Brust und den stahlharten durchtrainierten Bauch und wieder meldete sich eine Region südlich ihres Bauchnabels. Sie verschränkten die Augen ineinander, fixierten sich gegenseitig und bewegten sich so zum Rhythmus vor und zurück. Es war so intim, so nah.

Aurelia krallte sich regelrecht an seinen breiten, starken Schultern fest und fragte sich, ob es ihm nicht wehtat, doch er verstärkte den Druck nur noch. Sie fühlte seinen keuchenden Atem an ihrem Ohr und sein Herz raste an ihrer Brust. Ihr Hirn schaltete sich ab und der Körper übernahm die Führung. Sie ließ die Hüften gegen seine kreisen und hörte, wie er beinahe schluchzend seufzte. Dann presste er die verschwitzte Stirn gegen ihre, sodass sich die Nasenspitzen berührten und ließ die Hände zu ihren Hintern hinunter gleiten. Sie umschlossen ihn vorsichtig aber fest. Seine Berührungen an ihrem Körper brachten sie um den Verstand, der sich ja sowieso schon verabschiedet hatte. Sie gab sich voll und ganz seiner Lebendigkeit hin und ließ sich von seinen Bewegungen mitreißen. Nach einer Weiler die sie in dieser Pose tanzten, fühlte Aurelia nichts mehr außer dem unbändigen Verlangen nach ihm. Es ziepte in jeder Zelle, als wollte es aus ihr herausbrechen. Sie nahm nun zufrieden zur Kenntnis, dass sich etwas in seiner Hose regte und packte ihn dadurch angestachelt am Kragen, um ihn zu sich runter zu ziehen. Jetzt hörte sie die Musik nur noch entfernt und auch die Menschen um sie herum nahm sie kaum mehr wahr. In diesem Moment war er das Einzige, das sie begehrte, was ihr ganzes Denken beherrschte. Und endlich fühlte sie seine Lippen auf ihren, es gab kein Zögern und kein Zaudern mehr. Diese warmen, weichen Lippen! In ihrem Gehirn explodierten die Neuronen buchstäblich und entluden eine geballte Menge an Hormonen und Glücksgefühlen. Wenn sie vorher in Flammen gestanden hatte, dann brannte sie jetzt lichterloh. Jeder noch so kleine Zweifel verkohlte dabei und hinterließ nichts als die Sehnsucht, mit Pareios zu verschmelzen.

Zuerst war es ein sanfter, zarter Kuss, doch schon bald mutierte er durch ihre Bewegungen zu einem heißen und innigen. Fordernd öffnete er ihre Lippen und spielte mit ihrer Zunge. Er ließ seine weich aber gierig in ihrem Mund tanzen und sie schmeckte nach mehr. Seine Rechte packte sie ihm Nacken und sie vergrub ihre in seiner Perücke, wodurch sie etwas verrutschte. Es war wie ein Rausch, alles versank in einem einzigen Wust an feurigem Begehren. Doch sie fühlte sich so losgelöst, so erhaben, so glücklich, dass ihr alles andere egal war.

So tanzten sie eine Weile. Sie konnten gar nicht die Finger von einander lassen. Es schien als ob keiner von beiden den Kuss unterbrechen wollte, wodurch man ihn nach einigen Minuten eher als wilde Knutscherei bezeichnen konnte.

Sie war so lebendig wie noch nie in ihrem Leben. Als wäre sie aus einem 300jährigen Winterschlaf aufgewacht. Als wäre sie vorher taub, blind und stumm gewesen und jetzt konnte sie das Licht sehen, die Musik wirklich hören und die Lippen zu etwas so Wunderschönem benutzen. Und all das dank ihm, diesem grandiosen Mann, der die ganze Zeit vor ihrer Nase gewesen war.

Irgendwann löste er sich doch atemlos von ihr und tauchte zu ihrem Hals ab, um diesen zu liebkosen. Obwohl es im Club brütend heiß war, bekam sie eine Gänsehaut und ein Schauer rieselte ihre Wirbelsäule hinab, als sie seinen Atem auf der Haut fühlte. Die Härchen richteten sich trotz des klebrigen Schweißes auf und bildeten einen empfindlichen Flaum. Dann hauchte er ihr ins Ohr, nicht laut, aber sie konnte es mit ihrem exzellenten Elevender-Gehör trotzdem verstehen. „Ich glaube du hast nicht die geringste Ahnung, wie lange ich mir das schon gewünscht habe!“

Ihr Herz drohte überzufließen vor lauter Freude. Als Antwort drückte sie ihre Lippen auf die Senke oberhalb seines Schlüsselbeins, unter der die Hauptschlagader verlief. Jetzt hielten sie sich einfach nur noch in den Armen und wippten sachte hin und her. Aurelia war so zufrieden, in diesem Moment wäre sie glücklich gestorben und wer hätte das bei ihr gedacht?!

 

Sie tanzten die halbe Nacht lang und verausgabten sich, bis sie jegliche Flüssigkeit ausgeschwitzt hatten und die Muskeln zitterten. Auf dem Weg nach draußen, tranken sie noch etwas an der Theke. Dort war die Musik ein bisschen leiser, so dass man sich unterhalten konnte. Sie setzten sich mit zwei alkoholfreien Cocktails an den Bartresen und Pareios zog sie samt Hocker näher heran, damit er seine Hand auf ihr Knie legen konnte. Sie waren einander zugewandt und hatten die Beine auf die Querstrebe des Hockers des jeweils Anderen gestellt. Ihre befanden sich zwischen seinen. 

Er lehnte sich vor und grinste frech. „Weißt du Aurelia, man könnte meinen, du stehst auf mich!“

‚Stehen‘ war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts, aber sie erwiderte ihrerseits ein unverschämtes Grinsen und sagte dann herausfordernd: „Gleichfalls!“ Sein unbefangener, glücklicher Gesichtsausdruck raubte ihr den Atem.

„Und wie geht’s jetzt weiter?“ Aurelia nahm an, dass er definitiv erfahrener in diesen Dingen war als sie.

„Um ehrlich zu sein, hab ich keine Ahnung.“ gab er nach kurzem Zögern zu. „Aber wenn du auch willst würde ich mich gerne darauf einlassen. Ich meine, wir müssen ja nichts überstürzen. Ich habe keine Erfahrungen mit so etwas, eher mit…“ Er ließ den Satz unvollendet, doch Aurelia vervollständigte ihn. „Bettgeschichten?“ Sie versuchte zu lächeln, obwohl das Monster in ihr nagende Eifersucht verbreitete. Aber wenn er es ihr leicht machte, dann wollte sie dasselbe für ihn tun. Diese Seite gehörte genauso zu seinem Charakter und letztendlich war es ein Ausdruck seiner Leidenschaft, sie hatte nur noch nicht den richtigen Kanal gefunden. Er nickte erleichtert. „Na, da haben wir doch was gemeinsam!“ sagte sie munter. „Ich vielleicht nicht ganz so wie du, aber ich meine…“ Er zog eine Augenbraue hoch, ging aber nicht weiter darauf ein.

„Ok, ähm dann lassen wir den Dingen ihren Lauf und sehen was passiert?“ schlug er unsicher vor, doch dann schien ihm etwas einzufallen. „Ich hab nur eine Bedingung!“ Sie erforschte seinen Gesichtsausdruck, der plötzlich zu ziemlich ernst und seriös wechselte.

„Und die wäre?“ Sie nagte gespannt an ihrer Unterlippe, was ihn jedoch sofort wieder schmunzeln ließ. Er strich sachte mit den Fingern über ihre Hand, die auf dem Tresen lag. „Ehrlichkeit!“ sagte er und sah ihr tief in die Augen. „Ich will Ehrlichkeit zwischen uns. Die Welt ist schon voll genug mit Lügen!“ Aurelia konnte nicht anders, das Grinsen, das nun ihre Mundwinkel umspielte wurde immer breiter und breiter und dann nickte sie heftig und aus vollem Herzen. Ihr Körper reagierter noch stärker auf die innere Freude und beugte sich vor, um Pareios leidenschaftlich zu küssen. Er erwiderte ihn genauso stürmisch und sie konnte spüren, dass auch er seine Lippen nicht davon abhalten konnte, während des Kusses zu lächeln. Beide gaben sie so ohne Worte ihre Zustimmung zu dem eben Besprochenen.

Sie stellte verdutzt fest, dass jetzt, wo sie sich nicht mehr gegen ihre Gefühle für ihn wehrte, er die allerbeste Ablenkung für sie war. Und noch dazu war diese Ablenkung äußerst süß und verführerisch!

 

Sie holten ihre Jacken und machten sich auf den Rückweg. Die Sonne würde zwar noch nicht aufgehen, trotzdem war die Nacht schon fortgeschritten, als sie den Club verließen. Hand in Hand ließen sie sich mit dem Strom von Menschen treiben, die jetzt zu den öffentlichen Verkehrsmitteln drängten, entweder um weiter durch die Bars und Kneipen zu ziehen, oder um nach Hause zu fahren. Auf halber Strecke fing Aurelia einen atemberaubend leckeren Duft ein und ihr Magen knurrte laut. Sie hatte noch kein Wort gesagt, da zog Pareios sie schon hinüber zu dem Imbissstand, der diesen köstlichen Geruch verströmte. An einem der Stehtische verzehrten sie die zwei Portionen Currywurst, die Pareios ihnen besorgt hatte und alberten laut lachend herum. Während er sich ein Stückchen Baguette in den Mund schob, zuppelte sie seine Perücke wieder zu Recht. „Frag mich, wie es ist, dich ohne den ganzen Kram zu küssen!“ flüsterte sie und freute sich ob der Raffinesse der Situation. „Da bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als das Risiko einzugehen und dich überraschen zu lassen!“ erwiderte er frech.

„Heißt das, ich könnte dich küssen, wann immer ich will?“ Daraufhin wirkte er mehr als erfreut und ein Lächeln umspielte die schmalen aber geschwungenen Lippen. Dann sagte er empört: „Ich bitte darum!“

Aurelia musste wieder lachen. Es war so unbeschwert mit ihm, so offen und sorglos.

Satt und zufrieden kuschelte sie sich in der U-Bahn in seinen Arm und sog seinen Duft ein. Da er viel geschwitzt hatte, roch er intensiv nach sich selbst. Aber keineswegs schlecht, noch nicht einmal herb. Sein Duft war eine feine Mischung aus Moschus und Hyazinthe, sowie einer leicht rauchigen Note. Vielleicht lag das an seiner Gabe dachte sie verwundert, doch sie mochte es.

 

Vor ihrer Türe angekommen, war ihr etwas beklommen zumute, weil sie sich nun von ihm trennen musste. Jedoch wollte Aurelia noch etwas loswerden, so lange sie nur zu zweit waren.

„Es ist, als würde ich dich jetzt erst richtig kennen lernen. Ich meine, ich hätte nicht gedacht, dass dir so etwas…“ sie wedelte mit der Hand zwischen ihnen beiden hin und her. „viel bedeuten würde!“

Er kam näher und legte die Stirn an ihre. „Das hat es auch nicht…. Aber… du bedeutest mir etwas…“ Er gab ihr einen saften, zarten Gutenachtkuss, der jede Faser jauchzen ließ. Seine Lippen strichen wie ein Hauch über ihre, die sofort erzitterten, währen sie keuchend nach Atem rang. Mit einem letzten leidenschaftlichen Blick verabschiedeten sie sich und Aurelia schob sich auf Zehenspitzen in ihr dunkles Zimmer.

Kaum traf ihr Kopf auf dem Kissen auf, fiel sie in einen tiefen erholsamen Schlaf und zum ersten Mal seit Ewigkeiten war er einfach nur schwarz, ohne quälende Alpträume.

13

 Der nächste Morgen begann laut. Ein Tumult brach um sie los, als die Zimmertür aufgerissen wurde. Mehrere Hände rüttelten und verschiedene Stimmen riefen sie, zerrten sie aus ihrem Schlaf, solange bis sie blinzelnd die Augen öffnete.

Sie wurde von hellem Tageslicht geblendet und sie brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Aurelia befand sich in ihrem Hotelzimmer, mit dem braunen Flokati. Sie lag im Bett, während drei Mitglieder ihres Teams um sie herum standen und laut auf sie und einander einredeten. Plötzlich fühlte sie, eher als dass sie es sah, wie sich zwei kräftige, männliche Arme unter sie schoben. Es war Viktor, der sie mit atemberaubender Geschwindigkeit hochriss und sie aus dem Raum in das Männerzimmer trug.

„Er hat kein Dreieck!!“ rief Aiden hinter ihnen. „Das bringt doch nichts! Wir sollten uns auf das Gebäude konzentrieren!“

„Aiden, dass er jetzt keins auf der Brust hat, heißt nicht dass er es nicht sein könnte!“ hörte sie Pareios draußen lauter sagen. Sie vernahm die Aufregung und die Besorgnis in seinem Ton und fragte sich sofort, was passiert war! Automatisch suchten ihre Augen nach ihm, wollten den warmen Schauer und das Auffliegen des Schmetterlingsschwarms fühlen. Doch Viktor war zu schnell für die anderen Beiden, sie waren noch außer Sichtweite im Flur.

Er stellte, bzw. knallte  sie direkt vor dem Fenster auf die Füße und Row drückte ihr ein Fernglas in die Hand. Viktor packte sie bei der Schulter, drehte sie ein wenig herum und deutete mit dem Finger auf den Eingangsbereich des Wolkenkratzers. „Schnell!“ jetzt brüllte er schon fast und drückte ihre Hände samt Fernglas vor ihre Augen. Es tat ein wenig weh  und kurz konnte sie nichts sehen, weil das Gerät noch auf Row eingestellt war. So langsam ging ihr Viktor mit seiner neuen Seite wirklich erheblich gegen den Strich. Ärgerlich befreite sie sich aus seinem Griff, damit sie flink an den Stellrädchen drehen konnte.

Al sie endlich ein scharfes Bild hergestellt hatte, erkannte sie eine lange, mattschwarz lackierte Limousine, die am Bürgersteig vor dem Wolkenkratzer gegenüber parkte. Die hinteren Türen standen offen. Schnell ließ sie den Fokus weiter zum Eingang schweifen und erkannte gerade noch, wie ein Mann mit braunem Haar und marineblauer Uniform durch eine große gläserne Drehtür im Gebäude verschwand. Sie hatte nur noch einen Blick auf seinen Hinterkopf erhaschen können, trotzdem packte die Aufregung nun auch sie. Hibbelig trat sie von einem Bein aufs andere und leckte sich über die Lippen. Fünf Männer in schwarzen Anzügen folgten dem Mann in blauer Uniform auf den Fersen, offensichtlich die Leibwachen. Aurelias Augen erfassten sofort die verräterischen Beulen an Hüften und Knöcheln, die ihre Waffen unter der Kleidung verursachten.

„Und?“ drängte Viktor. „Ist das der Kerl aus deiner Vision?“

„Ich konnte ihn nur von hinten sehen!“ sagte Aurelia enttäuscht und mit kratziger Stimme. Hatte sie gestern so viel geschrien? Sie ließ den Blick weiter über den Vorplatz schweifen, während Viktor ein lautes, wütendes Knurren ausstieß.

Drei der Männer waren ebenfalls ins Haus hinein gegangen, zwei standen nun vor dem Eingang und beobachteten die Straße. Sie bemühte ihre Intuition nicht, sie wusste, es hätte keinen Sinn, wenn sie nicht heute noch mit diesem Mann zusammen treffen würde. Sonst war er für sie nicht sichtbar. Also entschied sie, am Fenster stehen zu bleiben, bis die Delegation wieder herauskam. Mit ein wenig Glück würde sie dann freie Sicht auf die Vorderseite des Mannes haben.

„Warts ab!“ ermutigte sie Viktor, der begonnen hatte zwanghaft im Zimmer hin und her zu laufen, wie eine Wildkatze im Käfig. „Die müssen ja auch irgendwann wieder raus kommen. Dann krieg ich ihn schon!“ Er schnaubte ein wenig besänftigt, ließ aber nicht von seiner Bewegung ab.

Während sie weiterhin den Platz im Auge behielt, hörte sie, wie hinter ihr jemand verschiedene Taschen öffnete und wieder schloss. Dann vernahm sie Geklapper, das von aneinanderstoßendem Metall erzeugt wurde. „Was machst du da?“ fragte Viktor in die Geräuschkulisse hinein.

„Ich bereite mich darauf vor, ihnen zu folgen, was glaubst du denn?“ hörte sie Pareios‘ entschlossene Stimme. Jetzt musste sie ihr Vorhaben kurz vernachlässigen und sich zu ihm umwenden.

Er stand am Fußende eines der beiden großen Betten und hatte die Arme verschränkt. Die Augen hatte er auf sie geheftet und sah ihr liebevoll entgegen. Der warme Schauer ließ nicht lang auf sich warten und Aurelia musste sich am Riemen reißen, um nicht in den bewegenden Erinnerungen an die gestrige Nacht zu versinken. Kurz war sie gefesselt von seinen tiefen Augen, die nun so viel mehr versprachen. Sie zwang sich, den Blick von ihm abzuwenden und drehte den Kopf weiter, sodass Viktor in ihr Sichtfeld kam.

Er starrte ebenfalls sie an, aber definitiv erzürnt: „Aurelia! Augen auf die Straße!! Was zur Hölle ist nur los mit dir?“

Ertappt drehte sie sich schnell wieder zum Fenster und beobachtete weiter den Eingang. Zum Glück regte sich dort noch nichts, nur die beiden Bodyguards standen immer noch unverändert links und rechts der Glastüren. Ihre Anzugjacken wehten leicht in der kühlen Brise, die an diesem Morgen vom grautrüben Himmel herab wehte. Sie versuchte ihre Gesichter genauer zu erkennen, vielleicht hatte sie eines ja schon vorher mal irgendwo gesehen. Der eine war groß und eher schlank und hatte einen dunkelblonden GI-Schnitt, der andere war eher klein und stämmig und hatte den Kopf kahl rasiert. Beide waren ihr unbekannt. Jedoch konnte sie dank ihrer Elevender-Augen eine winzige Tätowierung hinter dem Ohr des Glatzkopfes entdecken. Dünne, schwarze geschwungene Linien.

„Pareios hat Recht!“ sagte sie mit dem Fernglas beinahe am Fenster. „Einer von den Gorillas hat eine Tätowierung. Sie ähnelt der Gravur auf den Steinen!“

Jetzt fing auch Viktor hektisch an seine Sachen zusammen zu packen, wobei er die Aufgaben verteilte.

„Row, besorg‘ Aurelia was zum Anziehen! Aiden, hol‘ ihre Waffen! Ihr beiden bleibt hier und behaltet das Labor im Auge. Sobald sie draußen sind, folgen Aurelia, Pareios und ich ihnen. Wir müssen uns beeilen!“

Alle stoben auseinander und taten wie ihnen geheißen. Viktor sammelte noch ein paar Gegenstände zusammen und Pareios trat neben sie ans Fenster, so nah, dass sich ihre Schultern berührten. Sie hätte so gerne in seine schönen Augen mit dem golden glitzernden Sternenstaub gesehen, um darin zu versinken, aber sie traute sich nicht die Szenerie unten an der Straße zu vernachlässigen. Sie fühlte das Feuer seines Körpers auf ihren abstrahlen und genoss die Berührung. Wieder schuf es diese neue unerklärliche Zufriedenheit in der die Schmetterlinge mit ihrem Herz tanzten. Jetzt war es nicht mehr so, dass es alles andere verdrängte, er küsste sie ja auch nicht, aber es tauchte alles in ein ganz anderes Licht. Die Farben waren strahlender, die Gerüche intensiver und die Gefühle echter. Plötzlich verspürte sie auch seine freudige Unruhe. Er umgab sie mit dieser lebendigen Aura, die so ganz anders war als sie selbst, und die sie in den letzten Wochen an ihm fasziniert hatte.

Schließlich kam Rowena zurück und nahm ihren Posten ein, damit Aurelia sich umziehen konnte. Sie hatte noch dieselbe Montur wie gestern an und wünschte sich, kurz duschen zu können. Aber dazu war keine Zeit, deshalb zog sie schnell die dunkle Jeans über die Strumpfhose, erst danach zog sie den Rock aus. Über das dunkle T-Shirt warf sie sich einen grauen Sweater  und schob sich eine ebenfalls graue Wollmütze auf den Kopf. Darunter befand sich immer noch die sandelholzfarbene Perücke. Ihre Augen brannten jetzt ein wenig. Sie waren ganz trocken, weil sie die Kontaktlinsen darin vergessen und damit geschlafen hatte. Trotzdem mussten sie jetzt einfach bleiben, wo sie waren.

Auch die anderen waren in unauffällige Kleidung geschlüpft und Viktor verteilte ein paar kleine Handys. Sie verstauten die kleinen Handfeuerwaffen, Messer, Wurfsterne und vieles mehr in den Taschen und Falten ihrer Montur und zogen die Stiefel über. Die beiden Männer schulterten die Rucksäcke.

„Sind sie schon draußen?“ fragte Viktor an Row gerichtet.

„Nein. Die beiden Gorillas haben sich ‘ne Kippe angezündet. Schätze ihr habt genug Zeit, es runter zu schaffen!“ antwortete sie in geschäftigem Ton und wedelte mit der Hand, um sie aus dem Zimmer zu scheuchen.

Pareios, Viktor und Aurelia stürmten zur Tür hinaus. Sie nahmen die Treppe, der Aufzug hätte zu lange gebraucht. Bevor sie die Rezeption passierten, bremsten sie ihr Tempo und schlenderten betont lässig am Portier vorbei, der sie immer noch misstrauisch beäugte.

Draußen angekommen trennten sie sich kurz. Viktor verschwand buchstäblich, um den SUV zu holen. Es war riskant weiter mit demselben gestohlenen Wagen durch die Gegend zu fahren, aber sie hatten keine Wahl. Es war keine Zeit, um am helllichten Tag ein anderes zu klauen.

Es hatte zu regnen begonnen. Dicke schwere Tropfen fielen vom Himmel und verdichteten sich bald zu einer wolkenbruchartigen Sintflut. Ihre Kleidung zeigte dunkle große Flecken, und saugte sich sogleich mit der Feuchtigkeit voll. Die beiden Leibwächter drängten sich unter den kleinen Unterstand, den ihnen ein kleiner Glasvorsprung über dem Eingangsbereich bot.

Da drehte sich die Tür abermals und die anderen drei Männer in den dunklen Anzügen traten auf den Vorplatz hinaus. Sie streckten die Hände aus und wandten die Köpfe zum Himmel, dann öffneten sie mehrere Regenschirme.

Aurelia fluchte leise, ohne die Lippen zu bewegen. Der Sturm begann jetzt aus ihrer Richtung zu peitschen und die Leibwächter wandten die Regenschirme dadurch ihnen entgegen. So verdeckte der schwarze Stoff den Mann, der jetzt ebenfalls das Gebäude verließ. Sie konnte gerade noch seine Beine und einen Teil des Rumpfes erkennen. Er war ca. 1,85 Meter groß  und trug eine marineblaue Jacke samt einer Hose derselben Farbe, dazu feste Stiefel mit breiter Sohle. Während Pareios nach dem dunklen Geländewagen Ausschau hielt, rief sie ihre Intuition zur Hilfe. Sie musste einen Winkel finden, in dem sein Gesicht nicht verdeckt war. Wenige Menschen waren auf der Straße zu sehen, also packte sie Pareios‘ Arm, legte ihn um sich und zog ihn dann mit sich, weiter durch den Regen auf das Glasgebäude zu. Sie plapperte irgendwas vor sich hin und drückte immer wieder sein Handgelenk, um ihn aufzufordern auf ihre Finte einzusteigen und mit zu plappern, damit sie wie irgendein Pärchen wirkten, das zufällig hier unterwegs war. Schließlich waren sie gegenüber des Wolkenkratzers auf der anderen Straßenseite angelangt.

‚Jetzt!‘ meldete sich wieder ihre Intuition und sie drehte sich schwungvoll vor Pareios, schlang ihre Arme um seine Hals und zog sich ein Stück an ihm hoch. Er ließ ihr freie Hand, da er wusste, wie sie vorging.

Für einen kurzen Moment hatte sie perfekte Sicht auf das Gesicht des Mannes. Es war schmal und zierlich, mit einer kurzen etwas breiteren Nase und vollen, kindlichen Lippen. Der Teint war fahl, aber die Augen wanderten belebt über die Straße. Sie hatten die Farbe von Moos. Als seine Augen in ihre Richtung schweiften schob sie schnell den Kopf auf der abgewandten Seite an Pereios‘ Hals. Kurz überraschte sie das heftige Pochen ihres Herzens, das seine Nähe verursachte. Sein Duft stieg ihr in die Nase, doch sie riss sich wieder zusammen.

„Er ist es nicht!“ zischte sie ihm ins Ohr und entdeckte im selben Moment über seine Schultern hinweg den dunklen Geländewagen mit Viktor am Steuer. Er parkte etwa 50 Meter entfernt hinter einem Baum und während die Männer nach einander in die Limousine einstiegen überquerten Pareios und Aurelia Arm in Arm die Straße. Es fühlte sich merkwürdig gut an, registrierte sie dabei und konnte sich einen Seitenblick auf das markante Profil Pareios‘ nicht verkneifen. Er sah einfach unvergleichlich gut aus.

Als das lange Fahrzeug vor ihnen anrollte, stiegen sie zu Viktor ins trockene Auto und dieser gab sogleich sachte Gas, um sich in den leichten Verkehr einzuordnen. Sie informierte ihn darüber, dass sie da nicht dem Mann aus ihrer Vision folgten und er schlug verärgert mit der flachen Hand gegen das Lenkrad. „Egal!“ murmelte er dann trotzdem. „Wer weiß, wo die uns noch hinführen!“

Mit einigem Abstand folgten sie der Delegation der Hegedunen. Wenn sie zu weit zurück fielen, sprang Aurelia mit ihrer Intuition ein, solange bis sie sie wieder vor sich entdecken konnten. Die Scheibenwischer glitten in schnell aufeinander folgenden Abständen über die Windschutzscheibe und befreiten sie von dem unaufhörlich fallenden Regen.

Je länger sie den Männern vor ihnen in der Limousine folgten, desto unwohler fühlte sich Aurelia, obwohl Pareios vorne neben Viktor im Auto saß. Ihr sechster Sinn alarmierte sie und versetzte sie in gespannte Wachsamkeit. Ampel für Ampel und Straße für Straße wurde es schlimmer, weitete sich zu einem Gefühl aus, das ihr sagte, dass etwas nicht stimmte. Was sie zu erst für eine glorreiche Idee gehalten hatte, schien ihr nun immer verdächtiger.

„Viktor, findest du’s nicht merkwürdig, dass die nur Tage nachdem da eingebrochen wurde eine so auffällige Einheit hier her schicken? Ich hab kein gutes Gefühl dabei!“ sagte sie nachdenklich und Viktors Augen suchten sie im Rückspiegel. Aus dem grau wabernden Aufruhr, den sie darin vorfand, konnte sie entnehmen, dass er hin und her gerissen war. Er wusste, dass sie Recht hatte, aber sein Verlangen danach, dieser ganzen Geschichte endlich ein Gesicht zu geben, war genauso groß. Vielleicht sogar so groß, dass er jetzt Risiken eingehen würde, die er früher gemieden hätte, schoss es Aurelia durch den Kopf, was sie noch zusätzlich beunruhigte. Nicht nur, dass sie sich mit einem oder mehreren aus der Reihe tanzenden Ratsmitgliedern rumschlagen mussten, jetzt drehte auch noch Viktor so langsam durch. Auch Pareios wirkte nun ernsthaft skeptisch, obwohl er zunächst für eine Verfolgung gestimmt hatte. Langsam wandte er den Kopf und fixierte seinen Bruder forschend. Dieser machte keine Anstalten langsamer zu fahren, oder umzudrehen. Er war entschlossen der Limousine bis zum bitteren Ende zu folgen, egal, wohin sie sie führte.

Jetzt war ihr gesamtes Inneres in Bewegung und sie überlegte, ob sie es riskieren sollte, in ihren Zukunftsvisionen nach ihrem Ziel zu suchen, vielleicht konnte sie einen Eindruck erhaschen, was sie dort erwarten würde. Gerade als sie die Augen geschlossen hatte, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, packte sie eine Hand an der Schulter.

Pareios hatte sich über seinen Sitz nach hinten gelehnt. „Nicht, Aurelia! Du weißt nicht, wie lange wir ihnen noch folgen müssen. Wir können es jetzt nicht gebrauchen, dass du wieder in Ohnmacht fällst!“ Dann strich er mit den Fingern über ihre Wange und vertrieb jedes Unwohlsein, hinterließ dagegen nur ein warmes Brennen und sachte Schauer. In diesem Fall ein echter Nachteil, da sie das Bedürfnis hatte, ihrer Vorahnung nachzugehen. Sie seufzte, was ihr einen verwirrten Blick von Pareios einbrockte. Sie konnte nicht anders, als ihn anzulächeln, schob aber bestimmt seine Hand weg. „Nicht jetzt!“ formte sie lautlos mit den Lippen, da Pareios breite Schultern Viktors Blicke durch den Rückspiegel abschirmten. Mit einem letzten liebevollen Zwinkern ließ er sich in seinen Sitz zurückfallen und beobachtete wieder die mattschwarze Limousine zwei Autos weiter vorn.

 

Nach etwa einer halben Stunde bog sie auf ein großes Müllverwertungsgelände ein. Dieses sah jedoch alt und verlassen aus. Viktor fuhr noch eine Querstraße weiter und parkte ihren eigenen Wagen dort knapp hinter der Ecke, sodass von der Anlage aus allenfalls das Nummernschild zu sehen sein würde.

„Du bleibst hier und behältst den Eingang im Auge.“ sagte er entschieden zu Pareios.

Dieser versteifte sich kurz und es war ihm anzusehen, dass er damit überhaupt nicht einverstanden war. Das Auflodern seines Feuers erfüllte den Wagen mit einer durchdringenden Hitze, die die Scheiben beschlagen ließ. Er warf Aurelia durch den Spiegel einen sehnsüchtigen Blick zu. Dann schien er einen Entschluss zu fassen. „Meinetwegen!“ murrte er und beugte sich daraufhin erneut über seinen Sitz nach hinten.

Diesmal ließ er sich nicht von ihrer abweisenden Haltung zurückstoßen. Seine Rechte fasste sie im Nacken und zog sie ein wenig zu sich vor. Er sah sie fest an, jedoch nicht, um ihre Erlaubnis einzuholen, sondern um abzuschätzen, ob sie es zulassen würde. Er einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln hoch und strich mit dem Daumen an ihrem Kinn entlang. Ihre Haut dort kribbelte wie wild und sie vermochte weder den Blick abzuwenden, noch sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Dann trafen seine weichen Lippen auf ihre, schmiegten sich sanft an sie und löschte wieder alles andere in ihrem Kopf aus. Wie von selbst öffneten sich die ihren und erwiderten den Kuss mit einem Seufzen. Er schmeckte genauso gut, wie am Tag zuvor und ihr Herz vollführte wahre Freudensprünge. Das wilde Kribbeln drohte, sie aufzulösen, bis nur noch Sternenstaub von ihr übrig geblieben wäre. In diesem Kuss lag seine ganze Sorge und Angst, die er nun empfand, da sie sich trennen mussten und er angesichts ihrer schlechten Vorahnung nicht wusste, ob er sie wiedersehen würde. Dieses Gefühl, dass da plötzlich etwas, nein jemand war, für den es sich zu überleben lohnte, ergriff sie mit voller Wucht und sie nahm sein Gesicht in ihre Hände, intensivierte den langen Kuss, bevor sie ihn mit ein paar kleineren gehauchten ausklingen ließ. Das Glühen in der Magengrube erwärmte sie von Kopf bis Fuß. Sie lehnte die Stirn an seine. „Ich komme wieder!“ wisperte sie und stupste mit ihrer sanft gegen seine Nase. Es war so fremd und doch so einfach, liebevoll zu ihm zu sein. Er war wie ein Schatz, der behütet und umsorgt werden wollte. Sie hatte es nie geübt, aber es war als hätte diese Seite von ihr nur auf den richtigen Moment gewartet, sich zu zeigen. Er sah ihr noch einmal tief in die Augen, dann sagte er: „Ich hoffe, das liegt in deiner Macht!“

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Viktor sie beobachtete hatte. Seine Miene war glatt und undurchdringlich und er wich ihrem Blick aus. Vielleicht gingen ihm gerade ein paar Lichter im Bezug auf Aurelias Verhalten in der letzten Zeit auf. Aber er hütete sich davor, es äußerlich zu zeigen. Sie meinte eine ablehnende Aura um ihn herum wahrnehmen zu können, aber er hatte nicht das geringste Recht, etwas gegen ihre Verbindung sagen zu dürfen. Schließlich räusperte er sich vernehmlich.

„Können wir jetzt?“ fragte er genervt, wobei er schon seine Tür aufstieß.

Aurelia löste sich von Pareios, zwinkerte ihm noch ein Mal aufmunternd zu und stieg dann ebenfalls aus.

14

„So, also du und Pareios?“ fragte Viktor ungehalten flüsternd, als sie sich langsam um die Ecke schlichen und möglichst unauffällig an der großen Mauer der Anlage entlang liefen. Schon nach wenigen Metern waren sie wieder bis auf die Konchen durchnässt und ihre Kleidung, die im Wagen ein wenig getrocknet war, verfärbte sich dunkel.

Sobald sie seinen Bruder im Auto zurückgelassen hatten, kam das ausgesprochen miese Gefühl wieder. Es war, als würde es ihr die ganze Zeit mit einem kleinen Hämmerchen gegen den Hinterkopf klopfen. Erst als sie endlich die Seite erreichten, die man von der Straße aus nicht mehr einsehen konnte, gab sie Viktor eine Entgegnung, obwohl sie nicht geringste Lust hatte ihm Rede und Antwort zu stehen, vor allem nicht in diesem Moment. Schließlich musste sie sich konzentrieren!

„Ich hab’s nicht drauf angelegt, das weißt du!“ Zumindest hätte er es früher mal gewusst. Er starrte sie entgeistert von der Seite an. So langsam stieg auch in ihr die Wut auf. Diesen Viktor da neben sich kannte sie nicht mehr. Warum war er so offensichtlich gegen diese Geschichte zwischen seinem Bruder und ihr?

„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“ fragte er weiter deutlich verstimmt. „Ich meine, du warst immer so… kalt. Und er ist, sagen wir mal genau das Gegenteil von dir! Und er… er ist mein Bruder!“ Er zischte es erbost, als ob sie die ganze Sache geplant hätte, um ihm damit eins auszuwischen.

„Viktor, worum geht’s hier eigentlich? Ich wusste nicht dass du irgendein Vetorecht besitzt!“ konterte Aurelia nun fauchend und stieg dabei in Viktors verschränkte Hände, die sie mit einem schnellen Ruck in die Höhe katapultierten. Nach einer graziösen Schraube landete sie rittlings auf der ca. 3 Meter hohen Mauer, kniff die Knie für einen besseren Halt zusammen und beugte sie runter, um ihrem Begleiter die Hand zu reichen. Er sprang ab und sie zog ihn zu sich hoch. Dann rollten sie sich geduckt auf die andere Seite und landeten in der Hocke im Staub vor der Mauer.

„Ich meine, er hat das nicht verdient…! Nicht noch ein Mal!!!“ raunte er dann. Aurelia traute ihren Ohren nicht und riss die Augen auf während sie Viktors Blick suchte. Ihr Mund der ebenfalls aufgeklappt war, wollte gerade eine Entgegnung formulieren, da legte er sich den Finger auf die Lippen und zog mahnend die Augenbrauen zusammen, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie nun gefälligst die Klappe halten solle. Aurelia kochte innerlich. Er durfte sie mit all diesen mysteriösen Vorwürfen bombardieren und sie durfte sich noch nicht einmal danach erkundigen, was zur Hölle er damit meinte! Sicherlich war ihr klar, dass jetzt wohl kaum der richtige Zeitpunkt für weitere Diskussionen war, aber er hatte doch mit diesem verflixten Thema angefangen. Sie biss die Zähne zusammen, um sich einen wüsten Kommentar zu verkneifen, doch ein verächtliches Schnauben entfuhr ihr trotzdem. Viktor bedachte sie mit einem weiteren zurechtweisenden Blick, dann setzte er sich in Bewegung.

Aurelia wusste, dass sie ihre Konzentration nun auf das was vor ihnen lag richten sollte, aber es gelang ihr nicht so ganz. Ein Teil ihres Hirns war immer noch mit dem kurzen Intermezzo mit diesem fremden Viktor beschäftigt und fragte sich lebhaft, warum er so reagiert hatte.

War es verletzter Stolz, der da aus ihm sprach? Das passte so gar nicht zu ihm, doch Aurelia erinnerte sich nun an das Gespräch, das sie vor den Duschen im Bunker geführt hatten. Da hatte er etwas angedeutet, was hier wieder ins Bild passen könnte. Dann fiel ihr ein weiteres Detail dieser Unterhaltung ein. Er hatte sehr bitter über ihre Eigenart, unzugänglich zu sein geredet und plötzlich erkannte sie, was in seinen Worten gesteckt hatte.

Natürlich war verletzter Stolz darin enthalten, wenn es stimmte, dass er sie für so lange Zeit mehr gemocht hatte, als es für eine Freundschaft üblich war. Aber vor allem, und das traf sie nun zutiefst, ging er davon aus, dass Aurelia seinen Bruder auf irgendeine Weise verletzten würde, vielleicht genauso wie ihn selbst. Und so weit weg von Pareios und hier zusammen mit dem ungnädigen Viktor, der nun ein für alle Mal genug von ihren Macken zu haben schien, meldete sich wieder der Selbsthass, der sie so lange gequält hatte. Er vergiftete ihren Geist und sie fragte sich, warum sie dazu verdammt war, egal was sie tat, den Menschen in ihrer Umgebung weh zu tun. Jeden, dem etwas an ihr lag, stieß sie zurück oder trat ihm auf die Füße. Heiß brannte der Hass jetzt in ihrem Herzen und in den Augen. Vielleicht hatte Viktor Recht und sie sollte Pareios zu seinem eigenen Wohl in Ruhe lassen, bevor auch er sich so tief in die Geschichte verstrickte, dass es kein Zurück mehr gab. Für sie selbst gab es das ja sowieso schon nicht mehr, aber sie musste ihm nicht auch noch diese Qualen aufbürden.

Während ihr Hirn diese Gedanken wieder und wieder durchspielte, folgte sie Viktor geduckt durch die Haufen von Restmüll und verharrte dann und wann hinter einem, wenn sie meinte ein Geräusch zu hören. Nirgends war jemand zu sehen nur die Limousine stand einsam und verlassen am gegenüberliegenden Ende des Geländes. Sie steuerten geradewegs auf ein heruntergekommenes Gebäude in der Mitte des Platzes zu. Der eierschalenfarbene Putz war von der Witterung verfärbt und bröckelte an einigen Stellen ab. Manche Fensterläden, waren halb herausgerissen und hingen nur noch an einer Angel herab, was das Gemäuer wie ein Geisterhaus wirken ließ. Als Viktor die letzte schützende Deckung verlassen und darauf zu schleichen wollte, packte sie ihn an der Schulter, weil sich trotz ihrer Gedankengänge ein massives Gefühl der Irritation meldete. Es ließ alle Haare zu Berge stehen und den Atem schneller gehen. Die plötzliche Aufregung kurbelte die Adrenalinausschüttung in ihrem Körper an und nur eine Sekunde später, war ihr gesamtes System wach und in Reaktionsbereitschaft.

Sie unternahm einen letzten Versuch, das ganze zu stoppen. „Ich glaube wirklich nicht, dass das hier eine gute Idee ist, wir sollten…“

Ihr Teamkollege unterbrach sie mit einem rüden Zischen. „Ich will wissen, was da vor sich geht. Vielleicht vertun wir sonst unsere einzige Chance.“

Seufzend resignierte Aurelia. Wenn Viktor schon den Verstand zu verlieren schien, dann musste sie wenigstens voll da sein und ihren Weg gegen alle Eventualitäten absichern. Sie fummelte in ihren Taschen nach ihrem Player, beförderte ihn schließlich zu Tage und verschloss ihr Gehör gegen störende Einflüsse von außen. Im Moment reichte ihre Konzentration sicher nicht aus, um es ohne zu schaffen. Augenblicklich wummerten die Bässe gegen ihr Trommelfell und erfüllten ihren Geist mit der gewohnten Jagdlust.

Sie schickte ihre Intuition aus, um die nächsten Sekunden zu erkunden. Der Weg zum Haus schien erst Mal ungefährlich, also ließ sie Viktor gewähren. Er stand blitzschnell auf und war schon an die gegenüberliegende Hauswand gepresst, ehe sie überhaupt blinzeln konnte. Sie tat es ihm nach, natürlich nicht ganz so schnell, dann schoben sie sich langsam zur Ecke vor, um einen Blick zu riskieren. Sie nutzte wieder ihre Gabe, um einen unbeobachteten Moment abzupassen, dann streckte sie den Kopf so weit vor, dass sie den Eingang erkennen konnte. Dort standen wieder die beiden Gorillas und sahen unbeteiligt auf dem Gelände umher. Es wirkte nicht so, als ob sie erwarteten angegriffen zu werden. Sie erklärte Viktor mit einem Handzeichen was sie sah und er nickte Richtung Haus. Er wollte irgendwie hinein, um zu belauschen, was darin vor sich ging. Also bewegten sie sich wieder in die entgegengesetzte Richtung um das Gebäude herum, bis sie auf der Seite zur Straße im zweiten Stock ein beschädigtes Fenster entdeckten, das sachte im Wind hin und her schaukelte. Es war riskant an diesem gut einsehbaren Ort in das Haus einzusteigen, aber Aurelia war klar, dass sie Viktor sowieso nicht davon abbringen konnte. Wieder wagte sie sich ein paar Sekunden in die Zukunft und wartete auf eine gute Gelegenheit.

„Jetzt!“ gab ihr ihre Intuition grünes Licht und sie lief los. Flink sprang sie auf einen der mannshohen Container, die dort standen und konnte mit einem weiteren Satz den Fenstersims erreichen, an dem sie sich sogleich hochzog. Sie stoppte kurz und warf einen schnellen Blick in den Raum, doch alles schien ruhig und ungefährlich. Folgedessen ließ sie sich drinnen leise auf die Zehenspitzen fallen und half Viktor hereinzuklettern. Der Dielenboden unter ihnen knarrte verräterisch unter seinem Gewicht, als er sich neben ihr hinein gleiten ließ, Aurelia konnte die feine Vibration durch ihre Fußsohlen wahrnehmen. Ihre beiden Köpfe flogen gleichzeitig zur Tür herum, die nur angelehnt war, dort rührte sich jedoch nichts. Der Raum schien genauso verlassen, wie das Gelände. Dicke Spinnweben hingen in den Ecken und die schönen alten Holzbretter zu ihren Füßen waren mit Vogeldreck verkrustet, der unter ihren Sohlen leise knirschte. Sie nahm nur das Gefühl unter ihren Schuhen wahr, das Geräusch wurde durch die Musik überdeckt.

Still durchquerten sie den Raum und machten an der Tür abermals Halt. „Los!“ befahl wieder die Intuition und sie schob sich durch den Spalt ohne das Holz zu berühren, Viktor folgte ihr auf den Fersen. Hier im Kampf waren sie wieder ein eingespieltes Team, aber sie wusste, dass dieser Eindruck trog. Das miese Gefühl, das sie schon die ganze Zeit beherrschte war mittlerweile zu einem einzigen großen Ball an Abneigung heran gewachsen und sie musste alle Macht zusammenkratzen, um ihre Beine von der Flucht abzuhalten. Sie sah sich kurz zu Viktor um, suchte seine Augen und gab ihm zu verstehen, dass sie sich mehr als unwohl fühlte, doch er überging es einfach und stieß ihr die flache Hand in den Rücken um sie voran zu treiben. Was sollte sie bloß mit diesem Viktor anfangen, zu dem er jetzt geworden war?

Am Treppengeländer angekommen blieben sie kurz stehen. Die Miene ihres Begleiters verhärtete sich und sie ahnte, dass er unten leise Stimmen gehört hatte. Dies veranlasste ihn dazu, sich an ihr vorbei zu drängen und den Fuß auf die oberste Treppenstufe zu stellen.

 

Im selben Moment ging ein Ruck durch Aurelia. Ihre Alarmglocken schrillten durchdringend und ihre Intuition brüllte ihr beinahe zu: „RAUS!!!“ Ehe sie wusste, was eigentlich los war und was ihre Muskeln da taten, hatte sie zum Sprung angesetzt. Sie hatte in einer Millisekunde bevor sie sich in Bewegung gesetzt hatte, den Flur und die Wände um sie herum gecheckt. Etwas unterhalb von Viktors Position befand sich ein Fenster, welches sie nun zu ihrem Ziel auserkoren hatte. Sie prallte im Flug von hinten gegen Viktor, der völlig überrascht war und das Gleichgewicht verlor, sodass sie ihn mitreißen konnte. Sie kettete ihre Arme um seinen Brustkorb und beugte ihren Kopf über seinen, um ihn vor Glassplittern zu schützen, als sie so umschlungen durch dieses Fenster knapp unterhalb des zweiten Stocks hindurch brachen.

Gerade spürte sie an ihrem linken Bein einen spitzen Stich, da erfasste sie schon eine heiße Druckwelle am Rücken. Es entstanden ein paar feurig brennende Stellen daran und sie wusste, dass ihr Sweater durch gesengt wurde. Der Knall der Explosion ließ ihre Trommelfelle trotz der Ohrstöpsel des Players ächzen und vernichtete ein Paar Härchen in ihren Gehörgangen. Die Druckwelle erfasste sie nun ganz und unterbrach die Flugbahn, die Aurelia eingeschlagen hatte. Stattdessen schleuderte sie sie gemeinsam mit einer Unmenge an feurigen Hausteilen mit voller Wucht etwa 10 Meter weiter, wo sie auf den staubigen Boden aufschlugen und noch ein Stück durch den Dreck rutschten. Sie lag seitwärts neben Viktor, einen Arm um seine Schultern geschlungen, mit dem anderen drückte sie sein Haupt gegen ihre Brust, während es um sie herum brennende Trümmer und dicke fette Regentropfen regnete. Aurelias Atem ging schwer und Wellen von Aufruhr durchfluteten sie.

„Drehen!“ befahl die Intuition. Aurelia packte Viktor am Kragen, rollte sich flink auf ihn und nutzte ihren Schwung um ihn mit sich zu zerren und ihn seinerseits auf sich zu rollen, so hatten sie sich ein gutes Stück nach links bewegt. Keinen Moment zu früh, denn schon krachte ein ehemaliger Dachbalken an der Stelle zu Boden, wo Viktor eben noch gelegen hatte. Er zersplitterte in tausend Einzelteile, die nun auf sie hinab fielen.

Sie hatten keine Gelegenheit auch nur ein Wort zu wechseln. Beiden war klar, dass das hier eine Falle gewesen war und sie nicht wussten, ob sie noch immer hinter ihnen her waren. Sie kamen strauchelnd auf die Beine und stolperten Richtung Mauer. Sie liefen von Schrotthaufen zu Schrotthaufen, um dort Deckung zu suchen, doch nirgends regte sich etwas, außer dem brennenden Schutt der immer noch vom Himmel herab kam.

Sie hatte schon fast die Hände an den roten Backstein gelegt, da kam erneut eine Eingabe. Sie schubste Viktor hinter einen alten, halb verrotteten VW Tuarek und hechtete dann selbst unversehens hinter einen weiteren Berg an alten Metallteilen. Sie brauchte die Schritte nicht zu hören, obwohl ihre Kopfhörer bei der Explosion den Geist aufgegeben hatten, um zu wissen, dass es die zwei Gorillas waren, die vor dem Haus gestanden hatten.

Sie durften sich jetzt auf keinen Fall verraten. Sie sah sich nach Viktor um, auch er hatte die beiden bemerkt und kauerte mucksmäuschenstill hinter den zerstochenen Reifen des blauen Kleinbusses. Die herabstürzenden Holzteile hatten ihre Spuren verwischt und wenn sie sich jetzt ganz ruhig verhielten, würden die beiden Gegner wahrscheinlich annehmen, dass sie direkt bei der Explosion zerfetzt worden waren…. genauso, wie der Rest deren Teams! Was zum Teufel lief hier? Ihr Herz raste wie wild, als ob es ihr aus der Brust springen wollte. Sie betete, dass Pareios nicht kommen würde, wo er die Explosion doch sicher mitbekommen hatte.

Die Männer waren stehen geblieben. Sie hörte ein metallisches Klicken, dann ein Ratschen und kurz darauf das Aufzischen einer Flamme. Einer der beiden steckte sich wieder eine Zigarette an. Sie vernahm das Knistern des verbrennenden Tabaks, als er genüsslich daran zog. Dann sagte eine tiefe sonore Stimme: „Ich glaube das war’s. Wir können gehen!“ Der andere ließ daraufhin ein zustimmendes Brummen verlauten und sie setzten sich langsam in Bewegung. Ihre gemächlichen Schritte verklangen langsam, während sich weit entfernt eine Sirene in die Geräuschkulisse mischte. Die Bullen, die Feuerwehr, was auch immer, war unterwegs hier her. Sie hatten nicht mehr viel Zeit, sie mussten dringend hier weg!

Sie riskierte einen Blick, doch sie konnte keinen der beiden Männer mehr entdecken. Erleichtert atmete sie aus und bemerkte dabei, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.

Als ob sie sich abgesprochen hätten, trafen Viktor und sie gleichzeitig an der Mauer ein und überwanden sie auf die gleiche Weise, wie vorhin. Auf der anderen Seite sondierten sie sofort geübt die Lage, suchten die Straße nach Gefahr oder anderen auffälligen Indizien ab. Doch sie konnten nichts weiter entdecken, also rannten sie sogleich los.

 

Aurelia hatte tausend Fragen im Kopf und beschleunigte ihre Schritte, um dem fast von Sinnen davon sprintenden Viktor nicht verloren zu gehen. Sie riss die Beine weit auseinander, machte große Sätze und flog jetzt beinahe die Straße hinunter auf ihr Fluchtfahrzeug zu. Sie konnte schon die schwarze Schnauze mit der silbrigen Stoßstange erkennen, wobei ihr Blickfeld durch ihren sich verändernden Winkel zur Hausecke mit jedem zurückgelegten Meter größer wurde. Sie war so fixiert darauf, Pareios wieder zu sehen, dass sie nicht bemerkte, dass Viktor stehen geblieben war. Sie wollte gerade um die Ecke schlittern, als Viktor sie am Schlafittchen packte und sie zurück gegen die Hauswand des Eckgebäudes schleuderte. Er drückte sie mit dem ausgestreckten Arm an die Wand, aber all seine Aufmerksamkeit galt der Szenerie hinter der Ecke.

Was…?“ setzte sie ärgerlich an, aber er presste ihr die Hand auf den Mund. Wutentbrannt befreite sie sich aus seinem Griff, quetschte sich an ihm vorbei und schielte um die Ecke, doch was sie sah ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren!

 

Hinter ihrem dunklen SUV parkte ein weiteres großes schwarzes Auto. Es war ein Escalade mit getönten Scheiben und blitzenden Chromfelgen. Zwei Männer saßen auf Fahrer- und Beifahrersitz. Die Türen ihres eigenen Wagens waren wie in einem wilden Durcheinander aufgerissen worden und standen nun alle in verschiedenen Winkeln vom Auto ab. Ein ihr unbekannter Mann saß hinterm Steuer und drehte einen weißen großen Pinsel schnell zwischen seinen Fingern. Der Staub, der daraus herab rieselte, verteilte sich überall auf dem Lenkrad und dem Armaturenbrett, woraufhin er sich, mit einigen Klebestreifen bewaffnet, auf Fingerabdruck-Suche begab.

Ein weiterer Kerl stand an das Auto gelehnt mit dem Rücken zu ihnen und murmelte einen Befehl in die andere Richtung. Sie konnte nicht verstehen, was er sagte, aber sie vernahm den herrischen Ton. Dann hörte sie, wie ein Dritter etwas hochhievte und dann rückwärts gehend hinter sich her schleifte. Sie wusste, bevor sie es sehen konnte, dass es Pareios lebloser Körper war, der da über den Asphalt gezogen wurde. Sie erkannte ihn, sein fahles, aber noch lebendig wirkendes Gesicht war gerade zwischen den beiden Wagen aufgetaucht. Er hatte einen winzigen Pfeil im Hals stecken, mit blauer Spitze und einem Federpaar am Ende. Der Kerl der ihn zog zeigte deutlich Brandspuren. Das Haar auf der linken Kopfhälfte war verschwunden und die Haut dort, sowie die des halben Gesichts war mit bösen Blasen verunstaltet. Der schwarze Anzug hing in verkohlten Fetzen an seinem Oberkörper.

Aurelia sah Rot, sie fühlte Mordlust. Es war, als ob sie sich aus einem Fallschirm ausklinkte und dann ins bodenlose Nichts fiel. Alles, was von jetzt an passieren würde, könnte sie nicht mehr steuern. Das schreckliche Ungeheuer in ihr hatte die Führung übernommen. Es dürstete nach Rache und nach dem Blut von Pareios‘ Peinigern. Sie würde sie einfach hier und jetzt zerfleischen!

Sie hatte schon einen Fuß vorgeschoben, die Zähne gefletscht und die Muskeln zum Angriff angespannt, da riss sie Viktor abermals an den Schultern zurück. Wie von Sinnen schlug sie nach ihm, biss in alles das sie erwischen konnte und setzte auch ein paar Tritte ein. Doch Viktor war mit seiner Schnelligkeit einer der wenigen ernsthaften Gegner für Aurelia und so hatte er sie, dank ihrer Besinnungslosigkeit bald unter Kontrolle, indem er ihre eigenen Arme um ihren Körper gedreht hatte und diese hinter ihrem Rücken mit einer Hand fixierte. Er drückte sie mit seinem ganzen Gewicht gegen die raue Mauer und schüttelte sie an den Schultern, dass ihrer Zähne aufeinander klapperten.

„Komm zu dir, verdammt!“ zischte er ihr ins Ohr, doch sie überlegte nun ernsthaft, ob sie erst Viktor beseitigen musste, bevor sie ihre Aufmerksamkeit den Schergen der Hegedunen widmen konnte. Eine uralte Erinnerung traf sie wie ein Blitz, versengte ein paar Gehirnzellen und ließ ihr Herz beinahe stehen bleiben. Im selben Moment erschlaffte ihr Körper reflexartig, als hätte sie sich die Hände an einer heißen Herdplatte verbrannt. Dieser Gedankengang, indem sie Viktors Tod ohne mit der Wimper zu zucken in Kauf genommen hatte, lichtete ein wenig den Nebel, der ihren Geist erfasst hatte. Diese Vorstellung kam ihr beängstigend bekannt vor und ließ grauenhafte Bilder vor ihren inneren Augen aufsteigen. Es widerstrebte ihr zutiefst, Viktor zu verletzten, sie konnte nicht schon wieder dieselben Fehler begehen, die sie so lange in ihren selbstgeschmiedeten Käfig aus Selbsthass gebannt hatten. Er kannte sie lange genug, um sich dessen bewusst zu sein und ließ ihr keine Wahl, als die Woge mühevoll abebben zu lassen. Erleichterung durchströmte sie jetzt, da Viktor sie davon abgehalten hatte, ihrem Drang blindlings zu morden, nachzugeben. Doch gleichzeitig war sie wütend auf ihn, sie mussten schließlich Pareios retten. Wieder bäumte sie sich gegen seinen Schraubstockgriff auf, doch er war wesentlich stärker als sie und sie war wieder so weit bei sich, dass sie selbst gegen den Anfall ankämpfte. Er drückte seinen Unterarm gegen ihren Hals, damit sie endlich Ruhe gab. „Aurelia, wir können nicht gewinnen, die sind zu fünft und es sind alles Elevender! Du hast keine Ahnung, welche Kräfte sie besitzen!“

Das wusste sie selbst, sie hatte es in dem Moment gespürt, als sie den Ersten erblickt hatte. Doch sie war so in Sorge, dass es dem Ungeheuer gleich war, was aus ihr selbst werden würde. Sie war definitiv zu allem bereit!

„Wenn sie ihn töten wollten, dann hätten sie es doch schon längst getan, oder?“ knurrte er jetzt.

Und endlich konnte sie die Arme aus den Schlingen des Monsters in ihr befreien. Sie versteifte die Glieder, um die unbändigen Zuckungen unter Kontrolle zu bekommen. Wie sie da so in seiner Umarmung hing und an seinen Bruder dachte, fragte sie sich, ob eine Situation wohl noch surrealer sein konnte?

Viktor holte sie zurück in die Realität, indem er ihren Kiefer mit der rechten Hand packte. Er übte leichten Druck aus, sodass ihre Lippen zwischen seinem Daumen und den anderen Fingern leicht nach vorn gepresst wurden. Er zwang sie so, ihn anzusehen.

„Hör mir jetzt zu Aurelia!!!“ zischte er. „Das war eindeutig eine Falle! Du hattest recht, ok?!“ Er redete so schnell, dass sie Mühe hatte dem Schwall an Worten zu folgen. „Aber die halten uns für tot! Und das ist in diesem Moment unser einziger Trumpf! Wer weiß, was mit Row und Aiden passiert. Wenn die Hegedunen wussten, dass wir kommen, dann haben sie sicher die gesamte Gegend im Auge behalten. Ich wette, sie wissen wo sie uns finden können. Das Ganze war nur eine Finte, um uns zu trennen. So hatten sie leichteres Spiel!“ Er redete nun beschwörend eindringlich auf sie ein. Eine kalte Gewissheit kroch ihr Rückgrat hinauf und bestätigte seine Worte auf so ungewöhnliche Weise. Leise stahl sich eine einzelne Träne aus Aurelias Auge und fiel neben ihr auf den grauen Beton. Sie hatte ihr schlechtes Gefühl immer wieder Kund getan, aber Viktor hatte es schlichtweg ignoriert und nun bezahlten sie alle dafür, manch einer vielleicht sogar mit dem Tod. Und in diesem Moment hasste sie ihn deswegen. Sie konnte nichts dafür, es bahnte sich den Weg durch sie nach draußen wie ein Urschrei. Sie rang die Linke frei und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Es knackte entsetzlich, gefolgt von einem leichten Knirschen und aus Viktors Nase schoss Blut. Ihr Glück war, dass die Kolonne in diesem Moment die Türen des schwarzen SUV zuschlugen. Einer hatte sich ans Steuer gesetzt und startete sogleich den Motor. Auch der des Escalades sprang an und sie hörte wie die Reifen auf dem Asphalt drehten.

Viktor spuckte kurz zur Seite aus und richtete die Nase mit einem kleinen Ruck, dann wischte er sich mit dem Ärmel über den Mund. Die Autos wendeten auf der Straße und beide beschleunigten, als sie sich langsam entfernten.

„Aurelia, du musst mir jetzt vertrauen!“ raunte er weiter drängend. „Du musst zurück zum Motel und nach Aiden und Row sehen, sie warnen! Aber sei vorsichtig, vielleicht warten sie da auf uns. Ich werde dem Wagen folgen und sehen, wo sie Pareios hinbringen. Ich melde mich so bald ich kann!“ Er sah sie noch ein Mal prüfend an und drückte sie dann kurz. Mit einem gehauchten „Es tut mir Leid!“ war er auch schon verschwunden.

15

Da sie nun Viktors Griff plötzlich entbehrte, verlor sie den Halt und fiel auf die Knie. Ihr Geist war in heller Aufregung und die einzelnen Neuronen schienen sich zu verselbstständigen. Zu tief saß die Erschütterung durch das eben Geschehene. Hätte Pareios doch nur zugelassen, dass sie sich weiter in die Zukunft vorwagte. Lieber wäre sie noch tausend Mal in Ohnmacht gefallen, als mit ansehen zu müssen, wie sie seinen leblosen Körper über den Boden schleiften und mitnahmen! Das war keine Ohnmacht, das war das Grauen höchstpersönlich, das in diesem Bild steckte. Ohne Viktor brannte der Hass auf Pareios‘ Entführer nun wieder lichterloh. Das Monster ließ ihre Arme zittern, sie raste vor Wut!

Doch sie wusste, dass Viktor in diesem Fall wohl einen kühleren Kopf bewahrt hatte als sie, also befolgte sie vernünftiger Weise seine Anordnungen. Die Sorge um Pareios floss ätzend durch ihre Adern und beschleunigte den Puls unwillkürlich, während sie aufstand. Wenn sie ihn jetzt verlor, wo sie ihn nach all den Jahren gefunden hatte, ihn endlich wahrgenommen hatte… Sie versuchte nicht, sich auszumalen, was dann mit ihr geschehen würde. Wie viel würde dann noch von ihr übrig bleiben?

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und machte das Atmen schwer. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, doch gleichzeitig mobilisierte das Monster ungeahnte Kräfte, die ihre Muskeln beben ließen. Jetzt rannten ihre Beine wie von selbst los. Das Programm für diese Bewegung war so tief in ihr Gehirn eingegraben, dass es wahrscheinlich sogar in der größten Schockstarre funktionieren würde.

Und während des Laufens wurde ich Geist wie gewohnt wieder ein wenig klarer. Sie rannte, als ginge es um ihr Leben, was es ja auch im Endeffekt tat, und der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Die Kleidung klebte ihr mittlerweile am Körper und machte jeden Schritt etwas schwerer. Sie war sich bewusst, dass ihr Sweater am Rücken große Löcher haben musste, konnte es aber jetzt nicht ändern. Kurzerhand packte sie alles aus dem grauen Kleidungstück in ihre Hosentaschen, zog ihn dann aus und schleuderte ihn im hohen Bogen über einen Zaun. Sie brauchte dringend eine U-Bahnstation. Suchend rannte sie weiter durch die Straßen, bis sie eine Ecke in Neukölln wiedererkannte. Hier war es schon belebter, aber insgesamt waren immer noch wenig Menschen auf den Straßen unterwegs. Kein Wunder, da es einen von den Hegedunen festgelegten Arbeitsplan gab, der jedem nur einen freien Tag in der Woche zugestand, und diese waren an verschiedenen Tagen, was dazu führte, dass die meisten Paare und Familien wenig gemeinsame Freizeit hatten. So pflegten sie persönliche Bindungen und somit die Menschlichkeit der Bevölkerung zu untergraben.

Es gab hier einige Geschäfte, die ihre Auslagen unter Sonnenparavants vor den Boutiquen ausstellten. Als sie an einem vorbei hastete, griff sie wahllos in einen Ständer und erwischte eine lilane Softshell-Jacke. Sie zog sie rasch über, ohne jedoch stehen zu bleiben. Da sie nun wusste, wo sie sich ungefähr befand, lenkte sie weiter nach Westen. Sie meinte, dort müsste irgendwo eine Haltestelle zu finden sein. Nach knapp drei Minuten kam endlich das blaue Schild in Sicht, unten angekommen legte sich noch Mal einen Schlussspurt ein und erreichte eben noch eine Bahn, die sie zurück bringen sollte. Drinnen atmete sie schwer und  stützte sich vornübergebeugt mit den Händen auf den Knien ab.

Die Passanten um sie herum betrachteten sie neugierig, während sie die Karte der Untergrundlinien über dem Eingang studierte und dabei die graue Mütze zurecht schob. Ihr Herz hämmerte immer noch von innen gegen die Rippen und ein Teil ihres Hirns machte ständig Ausflüge zu Pareios‘ fahlem Gesicht. Sie bekämpfte das innere Chaos mit aller Macht, konnte es jedoch nicht ganz verbannen. So trug sie es den ganzen Weg mit sich herum, genauso wie die Sorge um ihre anderen Teamkollegen. Würde sie noch rechtzeitig im Motelzimmer eintreffen? Würde Viktor es schaffen, an dem Auto dran zu bleiben?

Als sie ihren Zielbahnhof nach einer gefühlten Ewigkeit erreicht hatte, wäre sie in ihrer Eile beinahe die Treppen hinauf gefallen, doch sie konnte sich gerade noch abfangen, um dann ihren Weg fortzusetzen.

 

Schon von Weitem erkannte sie das Leuchtreklameschild ihres Motels, die Straße war wie leer gefegt. Etwa 500 Meter davor bremste sie ab. Gemesseneren Schrittes schlenderte sie betont lässig auf ihre Unterkunft zu und vergrub die Hände tief in den Taschen, wo sie sich um die P8 und das Wurfmesser schlossen. Sicher ertastete sie die Griffe und spürte die Vertrautheit, die von ihnen ausging. Es war klüger, nicht direkt durch den Haupteingang hineinzuspazieren, also bog sie kurz vor dem Gebäude in eine kleine Seitengasse ein und suchte nach einer Tür am Nebengebäude. Es war ein Wohnhaus und schon nach wenigen Sekunden hatte sie eine gefunden und sich Zugang verschafft. Sie sprintete das Treppenhaus hinauf und erreichte keuchend das Dach. Sie blieb jedoch nicht stehen, sondern nutze den Schwung, den sie bereits drauf hatte, um auf die Begrenzungsmauer zu zu rennen und sich dann kräftig von ihr abzustoßen. Der Weg bis auf das Dach des Motels war weiter, als sie gedacht hatte. Ein paar Sekunden segelte sie durch den eisigen Regen, bevor sie sanft auf dem rauen Sandfaserboden aufkam und sich abrollte.

Schon stand sie wieder und rannte weiter, jetzt die Treppe hinunter bis in den achten Stock. An der Tür, die in den Flur führte blieb sie endgültig stehen und lauschte angestrengt. Sie musste ihren hektischen Atem und den frenetischen Herzschlag zügeln, um überhaupt etwas wahrnehmen zu können. Dies wollte aber auf die Schnelle nicht funktionieren, deshalb zog sie ihre Intuition zu Rate, ob es sicher für sie war, die Zimmer zu betreten. Da sich ein positiver Drang einstellte, den Weg fortzusetzen, nahm sie an, dass es ungefährlich für sie wäre.

Langsam drückte sie die schwere Feuerschutztür auf und schob sich in den langgezogenen Flur. Nichts regte sich, und so setzte sie leise einen Fuß vor den anderen. Ihre Gefühlslage blieb konstant, also ging sie nun zügiger und bald kam das Frauenzimmer in Sicht. Die Tür war verschlossen und so wanderte ihr Blick weiter zum Männerzimmer, in dem sie vorhin Rowena und Aiden zurückgelassen hatten.

Da traf sie fast der Schlag!

Die Tür war nur angelehnt und ein schmaler Lichtschimmer drang durch den Spalt in den Flur. Die beiden hätten sie niemals offen gelassen!

Trotzdem verspürte sie immer noch keine tiefe Abneigung dagegen, das Zimmer zu betreten. Ihre Intuition führte sie definitiv direkt dort hinein! Sie zog die P8 und entsicherte sie. Das sanfte Klicken rief noch ein Mal alle Lebensgeister zusammen und sie bereitete sich innerlich auf einen hässlichen Kampf vor. Augenblicklich wurde sie ganz ruhig. Sie wünschte, ihre Ohrstöpsel würden noch funktionieren, aber sie hatte sie sowieso während ihres Sprints von sich geworfen. Ihr Geist war jetzt voll präsent und ihre Intuition glitt durch die nächsten Sekunden, doch sie schien sie nicht daran hindern zu wollen, einzutreten.

Aurelia stieß die braune Holztür mit dem Fuß auf und streckte ihre Waffe in den Raum hinein. Nach ein paar Drehungen stellte sie fest, dass der er menschenleer war. Dies bewirkte zuerst Erleichterung, dann Bestürzung. Zwar waren keine Hegedunen hier, Row und Aiden waren aber auch nirgends zu sehen. Jetzt rutschte ihr das Herz in die Hose, sie fiel in ein tiefes Loch. Die beiden waren weg! Getötet oder verschleppt, sie wusste es nicht.

 

Sie machte einen Schritt auf dem Teppichboden und es knirschte unter ihren Sohlen. Es waren kleine Splitter eines Injektionspfeiles mit blauer Spitze. Die feine Nadel war verbogen und der abgeflachte vordere Teil war abgebrochen. Nach diesem bemerkenswerten Fund widmete sie sich den restlichen Eindrücken.

Der Raum war fast nicht wiederzuerkennen. Die Stühle und Tische waren umgeworfen, die Taschen durchwühlt und deren Inhalt überall verstreut worden. Die Matratze lag schief über dem Bett. Sie war der Länge nach ein paar Mal aufgeschlitzt worden und Federn lagen überall verteilt. Sie stammten von dem ebenfalls zerfetzten Bettzeug und den Sofakissen. Der Blick nach links machte es nicht besser. Die gesamte Wand zum Badezimmer zeugte von Rows Gabe. Ein Teil war eingestürzt und aus den abgerissenen Rohren sprudelte klares und bräunliches Wasser heraus, das sich zwischen den Trümmerhaufen schon zu einem kleinen See gestaut hatte. Auch der große Kleiderschrank war von Row ins Bad hinein geblasen und da zerhackstückt worden. Einzelne Türen und Bretter davon lagen über den Trümmern verteilt.

Der noch stehende Teil der Wand war an der Seite zum Zimmer leicht eingedrückt. Es war ein großer Krater entstanden, da wo Row‘s Druckwelle sie getroffen hatte. Die Fensterscheiben des Zimmers mussten ebenso deswegen zerborsten sein. Oder hatte das Eindringen der Hegedunen dies verursacht? Aurelia war verwirrt. Sie stellte sich bildlich vor, wie eine Horde schwarz gekleideter, vermummter Gestalten in den Raum eindrang. Sie mussten über das Fenster oder die Tür gekommen sein. Wenn Row die Angreifer zurückschlagen hätte wollen, dann müssten doch die Wände rund um die Tür oder das Fenster ebenso zerstört sein…

„Grab!“ flüsterte ihr ihre Intuition zu. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Ohne nachzudecken steckte sie die Waffe in den Hosenbund und stürzte zum größten der Schutthaufen. Mit bloßen Händen schaffte sie ein paar schwerere Trümmer beiseite, dann wühlte sie in den Bergen aus Staub und Splittern von Fließen und Spiegeln. Ihre Haute zeigte schon bald Schnitte und Risse, doch sie machte einfach weiter, sie wusste, sie würden bald verschwunden sein. Dann, nach einer halben Ewigkeit, so kam es Aurelia vor, berührten ihre Finger etwas Weiches. Jetzt ergriff sie die helle Aufregung. Sie schob ein weiteres Teil der Wand weg und darunter kam eine weiße Hand zum Vorschein. Sie beschleunigte entsetzt das Tempo und grub, bis sie Aidens Gesicht und den Brustkorb freigelegt hatte. Er war bleich und über und über mit weißlichem Staub bedeckt. Die Augen waren geschlossen, er rührte sich nicht. Sie packte einen Teil des ehemaligen Badezimmerspiegels und hielt es ihm vorsichtig unter die Nase. Als er leicht unterhalb der Nasenlöcher beschlug, atmete sie erleichtert aus. Aiden war noch am Leben!

Mit etwas Mühe zerrte sie ihn an den Achseln aus den Trümmern und legte ihn sacht auf dem Boden ab, da wo er noch trocken war. Flott untersuchte sie geübt seinen Körper nach Knochenbrüchen, die geschient werden mussten, bevor sie dank der schnellen Wundheilung der Elevender schief wieder zusammen wuchsen. Sie tastete die Extremitäten und die verschiedenen Gelenke ab, stellte aber fest, dass sie zum Glück unversehrt waren. An seinem Hinterkopf entdeckte sie schließlich verkrustetes Blut, das von einer schon verheilten Kopfwunde zeugte, die ihn wahrscheinlich in die Bewusstlosigkeit verbannt hatte. Gerade als sie sein Haupt wieder auf dem Flokati ablegen wollte, begannen seine Lider zu flattern.

Schließlich schlug er sie ganz auf und die Pupillen verengten sich reflexartig während die Augäpfel suchend in den Höhlen herum kullerten. Dann fanden sie Aurelia und blieben an ihr hängen.

„Was..?“ stieß er hervor und versuchte sich auf die Arme zu stützen. Dabei schien sein Kopf sich zu melden, denn die eine Hand wanderte sofort dorthin und legte sich auf das hellblonde Haar. „Ohhh…!“ stöhnte er und ließ sich wieder nach hinten fallen.

„Wie fühlst du dich?“ Aurelia zog besorgt die Augenbrauen zusammen. Sie war so erleichtert gewesen, wenigstens einen ihrer Kameraden augenscheinlich unverletzt vorzufinden, doch jetzt drängte sich die Angst um die anderen wieder in den Vordergrund.

„Geht schon!“

„Was ist passiert?“

„Ich weiß nicht genau!“ murmelte er. „Ich war nur kurz im Bad, da hörte ich drüben die Fenster zu Bruch gehen und ein Tumult brach los. Es war ziemlich laut und klang nach vielen Eindringlingen. Ich wollte zur Tür und sie öffnen, aber da kam mir schon die Wand entgegen!“ Er fluchte. „Row! Scheiße, sie…!“

Auch Aurelia war aufgegangen, dass Row sich aus irgendeinem Grund in einer aussichtslosen Lage gesehen hatte, also hatte sie das einzige getan, das noch in ihrer Macht gelegen hatte. Sie hatte Aiden geschützt, indem sie ihn unter einem Haufen Schutt begraben und gehofft hatte, dass er vor den Augen der Gegner verborgen bleiben würde.

„Heißt das, sie haben sie mitgenommen?“ unterbrach er. Es waren weder Spuren von ihr, noch von ihrem Blut zu entdecken, dafür aber der zersplitterte Injektionspfeil.

„Sieht so aus!... Genauso wie Pareios!“

Nun setzte sich Aiden doch ruckartig auf. Ihm schien ein wenig schwindlig zu werden, denn wieder kreisten die Augen haltlos durch den Raum. Er fing sich aber bald und bat sie schwer atmend, von den Ereignissen des frühen Nachmittags zu berichten. Sie schilderte, was vorgefallen war und sie hatte nicht gedacht, dass es möglich wäre, aber Aiden wurde noch blasser. Das kalte Grauen erfasste ihn, genauso wie Aurelia eine halbe Stunde zuvor. Die Gewissheit, blindlings in eine Falle gerannt zu sein, raubte ihnen beiden den Atem. Die Hegedunen hatten sie erwartet und dann allzu leichtes Spiel mit ihnen gehabt.

 

Die Vibration ihres Handys ließ sie beide zusammenzucken. Aurelia nahm es aus der Tasche und klappte es auf. Viktors Stimme meldete sich flüsternd. „Hast du Row und Aiden gefunden?“

„Nur Aiden.“ sagte sie. „Die Anderen waren hier und haben Row mitgenommen.“ Stille am anderen Ende der Leitung. „Wo haben sie Pareios hingebracht?“ Vielleicht würden sie dort auch Row finden, dachte sie bei sich, sie wollte keine unbegründete Hoffnung wecken. Doch die anderen schienen wie so oft dieselben Schlüsse zu ziehen. Aiden rappelte sich hoch und torkelte zu den Resten ihres Gepäcks. Während Viktor ihr seinen Standpunkt durchgab und beschrieb, dass die Kolonne noch unterwegs war, kramte der Blondschopf nach allem, was noch zu gebrauchen war.

„Aurelia, ich weiß, du wirst jetzt gleich durchdrehen, aber hör‘ dir erst mal meinen Vorschlag an, bevor du mich auf den Mond wünschst, ok?“ Viktors Worte drangen eindringlich durch den Hörer. Sie blieb ruhig, obwohl sie sogleich von einer unerklärlichen Aufregung erfasst wurde.

„Hör zu! Die Hegedunen glauben immer noch, dass sie unser Team zerschlagen haben. Einen Teil halten sie für tot, den anderen haben sie sicher verwahrt, also rechnen sie jetzt nicht damit.“ Aurelia biss sich mit aller Kraft auf die Zunge, um es nicht laut auszurufen.

Nein!!! Er wollte doch nicht…! Erneut erfasste sie eine Welle der Verzweiflung.

„Aiden und du, ihr müsst jetzt die Gelegenheit nutzen und im Labor einsteigen! Wenn wir überhaupt noch eine Chance haben wollen, dann jetzt sofort!“

„Aber…, wir wissen doch noch gar nichts Konkretes, und…“ Viktor unterbrach sie barsch.

„Die werden nicht schlafen, Aurelia. Sie wissen, dass wir ein zweites Team schicken werden, aber sie rechnen nicht sofort damit. Sie glauben bestimmt, es dauert, bis sich die Nachricht unseres Ablebens verbreitet hat. Du musst es tun, jetzt gleich!!! Ich verspreche dir, ich kümmere mich um Pareios! Er ist mein Bruder, glaubst du, ich könnte zulassen, dass ihm etwas zustößt?“

Sie konnte nicht Antworten. In ihr tobte das Chaos. Das Monster schäumte vor Wut darüber, dass er sich trotz ihrer wiederholten Warnungen in die Falle hatte locken lassen. Warum sollte sie ihm jetzt gehorchen? Im Moment fühlte es sich an, als könnte sie keinen einzigen klaren Gedanken fassen, der nichts mit der grauen Sommerdämmerung von Pareios‘ Augen zu tun hatte. Wenn dann sollte sie sich um ihn kümmern, während Viktor in dem vermaledeiten Labor einstieg und den Kopf für etwas riskierte, das ihnen bisher nur Schwierigkeiten gebracht hatte!

„Vergiss‘ nicht, dass es hier um DEINE Zukunft geht!“ argumentierte Viktor nun scharf.

Das leuchtete ihr siedend heiß ein und wieder packte sie der Selbsthass, denn im Endeffekt hatte sie ihr Team mit ihrer Vision selbst in diese Situation manövriert. Hatte sie das Recht, jetzt ihren Kopf für ihren persönlichen Wunsch durchzusetzen, während sie alle sich für sie eingesetzt hatten?

Sie schluckte ein paar Mal verkrampft und versuchte den Kloß im Hals loszuwerden.

„Glaubst du, du schaffst das allein?“ hakte sie dann mit brüchiger Stimme nach.

Viktor zögerte einen Augenblick. „Wenn nicht, melde ich mich.“

Er wollte sich gerade verabschieden, aber Aurelia konnte sich ein paar letzte Worte nicht verkneifen. „Du weißt, sie könnten sie foltern oder noch Schlimmeres! Wenn ihm etwas zustößt Viktor, werde ich dir das nie verzeihen!“

Er blieb kurz still, doch dann sagte er mit kaltem, leblosem Ton: „Ich weiß! Ich mir auch nicht!“  Damit legte er auf und Aurelia vernahm nur noch das Tuten des Besetztzeichens.

 

Aiden riss sie aus ihren düsteren Vorahnungen. „Hat Viktor herausgefunden wo sie sind?“ Er barg gerade einen Berg an Munition und ein paar Karten und Pläne.

Aurelia schüttelte den Kopf. „Er will, dass wir ins Labor einsteigen, du und ich. Er kümmert sich derweil um Pareios. Ich hoffe, dass sie Row auch dort hinbringen, wo er hin soll.“ Sie konnte nicht anders, sie musste ihm angesichts dessen, was nun vor ihnen lag, einen Funken Hoffnung geben und wenn er noch so klein war. Wie hätte er sonst auch nur eine Sekunde kampfbereit sein können?

Aiden riss die ritterspornblauen Augen auf, dann verspannte sich seine Kiefermuskulatur und er blähte die Nasenlöcher. Kein Laut kam über seine Lippen, während er so da stand und mit seinem eigenen Zorn rang. Doch er hatte sich angewöhnt, Viktors Entscheidungen zu respektieren und zu befolgen, da die Chancen hoch standen, dass sie von Erfolg gekrönt wurden. Er war immer einer von Viktors größten Verfechtern gewesen und hatte sich ihnen vor ca. 140 Jahren freiwillig angeschlossen, weil er an ihn glaubte. Und an Aurelia.

Sie wusste, er war nun halb verrückt vor Sorge um Row. Welch Ironie, dass gerade sie beide nicht an der Rettung ihrer Liebsten teilhaben sollten! Wenn sie überhaupt noch lebten…

Sie verbot sich diese Gedanken. Die Minuten verstrichen und mit jeder Sekunde wurde ihr Zeitfenster kleiner. Sie mussten sich sputen!

 

„Aiden, was habt ihr bisher beobachtet? Sag mir nur das, was jetzt irgendwie wichtig sein könnte!“ Sie atmete tief durch und versuchte sich zu konzentrieren. Je schneller sie das hier hinter sich gebracht hatte, desto schneller konnte sie sich um Pareios und Row kümmern. Mit diesem Ziel vor Augen schaffte sie es schließlich, den rastlosen Zorn des Ungeheuers zu kanalisieren. Um einen kühlen Kopf bewahren zu können, verpackte sie die Gedanken an Pareios in ein massives Gefängnis in ihrem Hinterkopf und verschloss es sorgfältig, sodass nichts mehr nach außen dringen konnte.

Aiden sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. Das Uhrglas war zersplittert, aber die Zeiger bewegten sich noch. Es war 15:30 Uhr. „Um vier kommt jeden Tag ein Kurier, der Unterlagen aus der Chefetage im Zentrum bringt. Ich habe das in den Listen des Sicherheitspersonals gefunden, die wir noch von Markus‘ Spitzel hatten. Wenn wir es schaffen ihn abzufangen…“

„Dann könnten wir ihn ersetzen!“ beendete Aurelia seinen Satz und war schon mit dem Kopf zwei Schritte weiter. Aidens Vorschlag war mehr als brauchbar, auch wenn er riskant war. „Wie kommt er ins Gebäude rein?“ fragte sie dann.

„Wohl mit Zugangsberechtigungskarte. Aber in der Eingangshalle befinden sich Wachen, die ihn sicher vom Aussehen her kennen…!“

„Ok. Es ist helllichter Tag. Wir müssen so oder so vorne rein.“ Sie überlegte und ließ die Augen über die Überbleibsel ihrer Ausrüstung schweifen. Da fiel ihr Blick auf einen weißen Kittel und endlich schoss ihr ihre Intuition eine Idee zu.

16

Aurelia kauerte in einer dunklen Seitengasse neben Aiden im Regen. Sie war ja bereits durchnässt, also nahm sie die Tropfen, die ihr den Rücken hinunter rannen nur peripher wahr. Ihre Finger zitterten vor Kälte, aber sie war so angespannt, dass sie es gar nicht registrierte. Neben sich hatten sie eine der wenigen heil gebliebenen Taschen abgestellt. Sie war vollgetopft mit Kleidung und ein paar weitere Gegenständen. Waffen besaßen sie nur noch die, die sie am Leib trugen, doch sie hoffte inständig sie würden sie nicht benutzen müssen. Denn dann hätten sie auf sich aufmerksam gemacht und Row‘s und Pareios‘ Leben waren verloren.

Während sie warteten gestattete sie sich kleine Ausflüge zum gestrigen Abend, als noch alles so wunderbar nach Plan verlief und sie mit Pareios unterwegs gewesen war. Er hatte ihr eine Seite des Lebens gezeigt, die sie bisher nicht gekannt hatte. Es war wie ein Ausschnitt aus einem anderen Dasein mit einer anderen Zukunft. Sie brauchte ihn, ansonsten, so fürchtete sie, würde sie wieder in diese Starre fallen, verbannt zwischen richtiger wacher Lebendigkeit und dem Tod, unfähig etwas anderes zu fühlen, als Selbsthass, Schuldgefühle und den unmöglichen Drang, alles wieder gut zu machen. Pareios hatte sie an der Hand genommen und war mit ihr eine Gradwanderung eingegangen. Er hatte sie aus ihrem düsteren Dornröschenschlaf erweckt und sie hatte es trotzdem geschafft, ihrem inneren Ungeheuer nicht zu erliegen. Es hatte nicht die komplette Macht über sie erlangen können, wie es es früher schon ein Mal getan hatte. Obwohl es Viktor gewesen war, der sie zurückgehalten hatte, hatte sie selbst ebenso gegen ihre Impulse angekämpft, sonst wäre auch er dem Monster zum Opfer gefallen und wie hätte sie damit erneut leben sollen?

Vielleicht rief Pareios in ihr genau die richtige Mischung zwischen Verlangen und Kontrolle hervor, so dass sie sich frei von Zwängen fühlen konnte, ohne Gefahr zu laufen die Oberhand zu verlieren. Und jetzt, da sein Verlust drohte, wurde ihr bewusst, dass sie ihn nicht nur mochte, nicht nur brauchte, nein, sie verliebte sich gerade in ihn!

Sie erschrak selbst darüber, dass sie das Wort überhaupt gedacht hatte, aber sie konnte vielleicht andere belügen, nicht jedoch sich selbst! Der Gedanke transformierte sich zu einer unumstößlichen Tatsache, krallte seine Wurzeln in ihre Seele, bereit zu einem mächtigen Baum heranzuwachsen. Sie war gewillt, notfalls direkt durchs Fegefeuer zu marschieren, um ihn wieder zu sehen und ihn in Sicherheit zu wissen. Es war völlig belanglos geworden, was Viktor darüber dachte und ob ein Zusammensein mit seinem Bruder überhaupt klappen konnte oder nicht, sie wusste nur, dass sie innerlich draufgehen würde, wenn sie nicht einmal die Chance dazu bekommen sollte, es wenigstens zu versuchen. Wenn es überhaupt mit jemandem funktionieren würde, dann mit Pareios.

 

 Aiden stieß sie an, wodurch sie aus ihrer Traumwelt zurück auf den nassen kalten Asphalt fiel. „Er kommt!“

Sofort war sie wieder hoch konzentriert und nickte Aiden zu. Es dauerte keine Sekunde, da hatte er den kleinen, schmächtigen Boten schon mit einem Ruck in die Gasse gezogen und ihn gleichzeitig mit einem gezielten Schlag niedergestreckt. Es war so schnell gegangen, dass der arme Junge noch nicht einmal einen Laut hatte von sich geben können.

Nun lag er auf dem Rücken zwischen den beiden Elevendern in der dunklen Gasse und der Regen prasselte auf sein jugendliches Gesicht. Seine Tasche war aufgegangen und der Inhalt war über den Boden verstreut worden. In Windeseile fesselten und knebelten sie ihn, nachdem sie ihm seine gelbe Kurierjacke ausgezogen und ihn stattdessen in ein paar Decken aus dem Hotel gewickelt hatten. Aurelia schlüpfte in das gestohlene Kleidungsstück und tauschte ihre graue Wollmütze gegen sein Baseballcap, auf dem der Name des Kurierdienstes stand. Aiden trug weiterhin den Trenchcoat und einen Anzug, den sie aus ihren zerstörten Zimmern hatten retten können.

„ Wir haben nur den einen Versuch! Wir dürfen nicht das geringste Aufsehen erregen. Bereit?“ fragte sie, während sie die Haare der neuen blonden Perücke unter das Cap stopfte, nur vorne hingen noch ein paar Strähnen heraus, und mit der anderen Hand nach der Tasche mit den Sendungen fischte. Er nickte zur Bestätigung und Aurelia begab sich auf die Straße. Aiden würde ihr erst in ein paar Minuten folgen.

 

Sie steuerte direkt auf das verglaste Hochhaus zu, in dem das Labor gelegen war. Die Tropfen lösten sich vom Schirm ihrer Mütze und fielen ihr immer wieder auf die Schuhe, als sie eilig den Vorplatz überquerte und sich schließlich, genau wie die Gorillas, unter dem Glasvorsprung vor der Nässe in Sicherheit brachte. Ihr Herz schlug jetzt vor Aufregung bis zum Hals und sie drückte die gläserne Drehtür in eine Richtung, damit sie zu rotieren begann.

Drinnen angekommen, sondierte sie die Eingangshalle sofort mit ein paar Blicken. In allen vier Ecken waren Kameras angebracht und zur Rechten befand sich ein Empfangstresen, hinter dem zwei Security-Typen in schwarzen Anzügen saßen. Sie trugen winzige Knöpfe im Ohr, über die sie sich mit dem anderen Wachpersonal verständigen konnten. Links war ein kleiner Wartebereich für Geschäftspartner eingerichtet, die wegen Terminen herkamen.

Sie verdrängte die aufkeimende Nervosität und räusperte sich, damit ihre Stimme fest und sicher klang, dann schlenderte sie lässig auf den Tresen zu. Der Dunkelhaarige der beiden Männer entdeckte sie bald und fixierte sie mit anzüglichem Grinsen.

Sehr gut, dachte sie bei sich, so musste sie nur noch einen ablenken, der andere hatte es ihr soeben abgenommen. Sie zog den Reißverschluss der Jacke ein Stück auf, sodass ihr von Spitze bedeckter Ausschnitt zum Vorschein kam, sie trug immer noch das T-Shirt von gestern Abend. Der Gedanke versetzte ihr einen kleinen schmerzhaften Stich, doch sie schob ihn beiseite.

Sie lächelte jetzt dem Wachmann entgegen, legte ihre Hände auf die fein säuberlich polierte Marmorplatte des Tresens und versuchte einen charmanten Augenaufschlag.

„Ähm..., hi Jungs…“ sagte sie mit ihrer Mädchenstimme. „Ähm, heute ist mein erster Tag! Könnt ihr mir sagen, wo ich lang muss?“ Sie legte den Kopf schief und griff nach einer der blonden Haarsträhnen, um damit zu spielen, wie Row es immer tat. Row…. Ein weiterer unangenehmer Stich.

Der Eine musterte weiterhin ihren Körper, während der Andere nun widerwillig den Blick von seiner Lektüre löste. Desinteressiert erfasste er ihre Uniform, doch als er ihr Gesicht wahrnahm, wurde sein Ausdruck misstrauisch.

„Ich hab sie hier noch nie gesehen!“ sagte er dann und stand auf. „Haben sie ihren Firmenausweis dabei?“

Damit hatte sie gerechnet und sich bereits eine Antwort auf diese Frage zurecht gelegt. „Der ist noch nicht fertig, wie gesagt, es ist mein erster Tag! Aber ich hab‘ hier die Zugangsberechtigungskarte.“ Sie tat beschämt und sah den Mann bittend an. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, wie Aiden in seinem Trenchcoat die Eingangshalle betrat. Er setzte sich in den Besucherbereich mit den vielen eleganten Stühlen auf der linken Seite, als ob er auf jemanden warten wolle.

„Ich will doch nur was abliefern. Ich kann es auch hier bei ihnen lassen, wenn sie es dann weitergeben!“ schlug sie vor und faltete die Hände.

Unschlüssig sahen sich die beiden Männer an. Dann griff der eine zum Telefon. „Ich rufe schnell in ihrer Zentrale an, dann lässt sich das bestimmt gleich klären.“ Auch damit hatte sie gerechnet.

„Nein! Nein, bitte nicht…“ stotterte sie und machte ein schuldbewusstes Gesicht, als die Köpfe der Wachmänner wieder zu ihr hoch schnellten. Sie gab sich genervt und stöhnte frustriert, aber keiner von beiden sagte etwas. „Na gut, sie haben gewonnen, ich hab den Ausweis verloren! Sind sie jetzt zufrieden? Aber bitte rufen sie nicht meinen Boss an! Der wirft mich doch gleich am ersten Tag wieder raus!!! Bitte, ich brauche diesen Job!!!“ Flehend presste sie ein paar Tränchen aus den Augen.

Beide sahen nun eher bestürzt als misstrauisch aus und Aurelia nutzte die Gelegenheit, Aiden hinter ihrem Rücken ein Zeichen zu geben. Die beiden Männer hatten die Köpfe zusammen gesteckt und berieten sich. So merkten sie nicht, wie Aiden aufstand und langsam an ihnen vorbei schlenderte. Er war gerade hinter dem Mauervorsprung zum Treppenhaus verschwunden, als der eine Wachmann, der Dunkelhaarige, seine Worte mit einem süffisanten Grinsen wieder an sie richtete. „Na gut, Süße! Aber das ist eine Sondergenehmigung! Nächstes Mal bringst du deinen Ausweis mit, verstanden?“ ‚Nächstes Mal‘ zog er in die Länge und hob bedeutungsvoll eine Augenbraue. Sie nickte eifrig und fuhr sich mit dem Handrücken über das nasse Gesicht.

„Und du musst dich hier eintragen, mit Name und Uhrzeit. Wenn du wieder runter kommst, musst du dich wieder austragen!“ Er schob ihr ein dunkles Klemmbrett mit Lederbezug vor die Hände. Darauf war eine Liste mit zwei Spalten befestigt, es befanden sich schon einige Einträge mit blauer Tinte darauf. Sie nahm den Stift entgegen, den er ihr hin hielt und trug den erstbesten Namen ein, der ihr einfiel, Leonie Schneider, dann schrieb sie noch die Uhrzeit dahinter. Sie gab ihm schließlich beides zurück, drehte sich um und ging auf die Aufzüge zu. Ihre Intuition signalisierte ihr, wann sie unbemerkt ins Treppenhaus huschen konnte, wo Aiden auf sie wartete. Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, entledigten sich beide ihrer Jacken, zerrten die zwei weißen Laborkittel aus der Posttasche und schlüpften hinein. Aurelia ließ die Basecap verschwinden und strich sich ein paar Mal durch die blonden Locken. Sie waren etwas feucht, aber da sie künstlich waren, verloren sie kaum an Halt. Beide setzten sie Brillen auf und zogen Latexhandschuhe an, die sie versteckten, indem sie die Hände zu den Waffen in den Kitteltaschen steckten. Die Tasche stopften sie hinter ein Heizungsrohr und eilten dann die Treppen hinauf.

Aurelia wünschte sich sehnlichst ihren Player herbei, aber es musste jetzt eben auch so klappen. Sie sammelte ihre Konzentration und schickte ihren Geist voraus. So folgten sie schnell dem kürzesten Weg zum Labor. Die Karte in ihrem Gedächtnis war präzise und sie erreichten den Chemietrakt nach nur wenigen Minuten.

Die Tür war massiv. Sie ähnelte dem Stahlkoloss, der den Konferenzraum im Bunker verschloss. An der rechten Wandfläche daneben befand sich ein großes Schalttableau, dessen Display hellblau aufleuchtete. Darin waren zwölf blinkende Unterstriche zu sehen, die als Platzhalter für die zwölf Zeichen des Passworts dienten. Aurelia lehnte sich lässig mit dem Rücken an die Wand neben dem Tableau, während Aiden sich davor positionierte und die Hände an einander rieb. Sie kannte seine Vorgehensweise, dennoch war es jedesmal etwas Besonderes, das wundersame Schauspiel verfolgen zu können.

Jetzt breitete er die Hände nebeneinander aus. Die Flächen wiesen nach unten und schwebten nur zehn Zentimeter über dem Tableau. Aidens Augen waren geschlossen und er schien sich zu sammeln. Die langen hellblonden Wimpern zuckten hin und her während seine Lippen sich in schnellem Rhythmus bewegten. Das Display leuchtete kurz auf, dann flogen seine Finger über die Tastatur und gaben das Passwort ein. Seine Gabe war vielleicht keine typische Angriffswaffe, aber auf der Jagd in einer hochtechnisierten Welt war er wie ein magischer Dietrich. Er öffnete Tür und Tor und ermöglichte es ihnen, bis in die verborgensten Winkel des Kaninchenbaus vorzudringen.

Das Schloss der Tür sprang wie von Geisterhand auf und sie flutschten schnell durch den entstandenen Spalt hinein. Auf dem Flur, der sich nun vor ihnen erstreckte, war keine Menschenseele zu entdecken. Aber Aurelia wusste, dass um die Uhrzeit sicher noch jede Menge Personal anwesend sein musste, deshalb entsandte sie erneut ihre Intuition und überließ sich ihren Weisungen. Aiden folgte ihr, wie schon so oft, auf dem Fuße. Auch er verließ sich nun voll und ganz auf ihre Gabe.

„Schritt, Schritt, Stopp.“ wurde sie dirigiert. So blieb sie vor einer Tür stehen, die aufging und sie beinahe im Gesicht erwischt hätte. Die Person, die das Zimmer verlassen hatte, ging allerdings unverändert weiter in die andere Richtung und verschwand dann hinter einer Ecke. Sie hatte ihnen die ganze Zeit den Rücken zugewandt und sie nicht bemerkt.

Sie befolgte die Hinweise ihres sechsten Sinnes genau. Sie bewegten sich wie Gespenster durch die Gänge. Eine Pause legten sie vor einem Flur ein, der seitlich von ihrem abzweigte. Während sie die Sekunde da standen und warteten, hörten sie, wie sich Stöckelschuhe klackernd entfernten. Dann hasteten sie weiter und stürzten in das Zimmer zu ihrer Rechten, als Aurelia es für notwendig hielt.

Es war eine Art Teeküche mit einer Zeile aus Schränkchen und diversen Geräten. Verflucht noch eins, sie hatten gerade einen öffentlichen Raum erwischt! Wieder hörten sie Schritte vor der Tür, diesmal die von mehreren Personen. Einer hatte die Hand schon an die Tür gelegt und sie ein Stück aufgedrückt.

 „Warte eben, ich hol‘ mir nur noch schnell ‘nen Kaffee!“ sagte eine tiefe Männerstimme. Aurelia drängte Aiden hinter den Kühlschrank, der ihn vor Blicken vom vorderen Teil des Raumes aus, wo die Kaffeemaschine stand, schützen würde. Aber da war kein Platz mehr für sie selbst. Fieberhaft betete sie um eine Eingabe.

Als die Tür aufschwang, sprang endlich ihr Hirn an. Sie konnte sich gerade noch mit dem Rücken zu dem hereinkommenden Mitarbeiter drehen, sich bücken und eine der Türchen der Küchenzeile öffnen. Als ob sie etwas suchte, streckte sie den Arm samt Kopf hinein und schob die Gegenstände darin hin und her. Der Mann blieb kurz stehen und sie fühlte seine Blicke beinahe ätzend auf ihrem Hinterteil.

Langsam ging er weiter zu Kaffeemaschine und nahm sich die Kanne von der Heizplatte. Dabei räusperte er sich und sagte: „Mann, Jenny, das Pilatestraining scheint sich bei dir ja echt zu lohnen.“ Er schenkte ein und nahm einen Schluck. „Also wenn du mal Lust auf eine Fortsetzung haben solltest… ich hoffe, du hast meine Nummer noch.“ fuhr er dann widerwärtig selbstsicher und aalglatt fort, wobei er sich zur Tür bewegte. Doch davor blieb er stehen.

Es verstrichen einige Sekunden, bis sie begriff, dass er offensichtlich eine Antwort von ihr erwartete.  Verflucht, sie brauchte irgendwas...  etwas Unverfängliches, keine Worte, mit denen sie ihre Stimme verraten hätte! Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie ins Blaue hinein riet und einen überdeutlich verärgerten Grunzton ausstieß.

„Verflucht noch mal, das wirst du wohl nie vergessen, oder?“ Er war deutlich erzürnt und verließ endlich den Raum, ohne sie zu einer weiteren Reaktion zu nötigen. Erleichtert atmete sie auf, als sich der Geräuschpegel vor der Türe wieder legte und so das Verschwinden der Mitarbeiter anzeigte.

Sie flohen flink aus der Küche und setzten ihren Weg fort. Aurelias Intuition leitete sie auf diese Weise durch die Flure, passte Gelegenheiten ab, sich am Personal vorbei zu schleichen und ließ sie ungesehen an den vielen Kameras vorbeitanzen. Wenn sie doch mal eine einfing, sorgten sie dafür, dass sie nur von hinten zu sehen waren und die weißen Laborkittel wiesen sie als Personal aus. Endlich signalisierte ihr Geist ihr, dass die Luft vor dem Raum mit dem Zentralrechner rein war. Dieser war nicht an das weltweite Hegedunensystem angeschlossen, sondern konnte nur hier in diesem Gebäude bedient werden. So wollte man sich vor Hackerangriffen schützen, eigentlich. Sie lächelte kurz hämisch in sich hinein.

Aiden wiederholte seine Prozedur über dem Sicherheitsschloss mit Zugangscode und verschaffte ihnen damit Zugang zu dem kleinen beengten Raum, indem ein Terminal stand. Aurelia verweilte an der Tür und behielt den Gang im Auge, während Aiden sich an den Computer setzte. Wenn sie im Bunker stationiert waren arbeitete er oft im Kontrollzentrum und half den IT-Leuten in die Systeme der Hegedunen einzudringen. Seine Gabe konnte jede noch so starke Firewall knacken, da kein einziges Passwort vor ihm sicher war. Dabei hatte er gelernt, mit den Programmen der Hegedunen umzugehen, auch das Hacken hatten sie ihm beigebracht.

Sie hörte, wie seine Finger wie wild in die Tasten hämmerten. Es dauerte eine Weile und er knirschte immer wieder frustriert mit den Zähnen, dann hielt er kurz inne, der Stoff seiner Kleidung raschelte. Er hatte einen kleinen Datenstick aus der Tasche gezogen und ihn in den USB-Port des PCs gesteckt. Aurelia bekam langsam das Gefühl, dass sie sich besser verziehen sollten.

„Mach schnell, ich glaube, wir müssen gehen.“ Sie wandte sich zu ihm um.

„Moment noch, muss diesen Login verschwinden lassen, damit es nicht die leiseste Spur von uns gibt.“ sagte er angespannt.

Da fiel ihr Blick auf etwas bläulich Glänzendes, das neben dem Tischbein des Terminals, unweit eines Abfalleimers lag. Zuerst dachte sie, es wäre ein zusammengeknülltes Verpackungspapierchen, aber bei genauerem Hinsehen, war die Form zu geradlinig, um Müll zu sein. Sie wusste nicht genau warum, aber etwas in ihr bewegte sie dazu, ihren Posten an der Tür zu verlassen, um den kleinen Gegenstand aufzuheben. Aiden registrierte kaum, dass sie sich neben ihn stellte und sich bückte.

Es war ein kleines blaues Kreuz aus blauem Glas. Kaum größer als ihr Daumennagel und leicht wie eine Feder lag es nun in ihrer Hand und kam ihr so merkwürdig deplatziert vor in diesem sterilen Computerraum mit der vielen empfindlichen Technik. Zur Einrichtung gehörte es sicherlich nicht.

„Ha!“ flüsterte Aiden triumphierend und zog den Stick wieder heraus. Unschlüssig über die Bedeutung ihres Fundes, steckte Aurelia das Kreuz kurzer Hand in die Hosentasche und richtete sich wieder auf. Dafür war später auch noch Zeit.

 Das Passwortgenie loggte sich aus. „So weit, so gut!“ flüsterte er schalkhaft grinsend. Er sah erschöpft und abgeschlagen aus und die fahlen Lichter des Bildschirms und der vielen LED-Lämpchen an der Schaltwand hinter ihnen verstärkten den Eindruck noch. Sie lächelte müde zurück und fühlte sich für einen kurzen Moment so, wie er aussah, doch dann schossen wieder Bilder von Glühwürmchen in einer graublauen Sommerdämmerung durch ihren Kopf und sofort war sie hellwach.

Keine Sekunde zu früh, denn ihr sechster Sinn drängte sie nun stärker als zuvor, den Raum zu verlassen. Er duldete keinen Aufschub, also packte sie Aiden am Handgelenk und zog ihn heraus aus der Computerzentrale, quer über den Flur in das gegenüber liegende kleine Labor. Die Tür besaß einen Glaseinsatz, durch den sie den Durchgang beobachten konnten. Sie glitt gerade hinter ihnen zu, da kam ein Mann um die Ecke und betrat genau den Raum, aus dem sie eben geflüchtet waren. Doch es war keine Zeit, sich darüber zu freuen, die Intuition drängelte sie schon wieder. Sie führte sie auf die gleiche Art zurück, wie sie gekommen waren, nur dass sie an der Tür mit Passwort nicht anhalten mussten und es keine weiteren Zusammenstöße mit irgendwelchen Menschen gab, was die Sache erheblich beschleunigte.

Im Treppenhaus tauschten sie wieder die Kleider. Aurelia schnappte sich Cap und Tasche und diesmal ging sie zuerst. „Du folgst mir in fünf Sekunden!“ zischte sie ihm noch zu, während sie das Treppenhaus verließ. Bevor sie um die Mauer davor bog, setzte sie ihr bezauberndstes Lächeln auf und steuerte nun abermals auf die beiden Wachmänner zu. Der Dunkelhaarige erkannte sie sofort wieder und zeigte sein anzügliches Grinsen von vorhin.

Sie blieb am Tresen stehen, zog sich ein Stück daran hoch und lehnte sich mit dem Oberkörper weit über die spiegelnde Marmorfläche. Sie setzte den Ellenbogen auf, hob die Hand und krümmte ein paar Mal lockend den Zeigefinger, damit sich der Dunkelhaarige zu ihr vorbeugte. Das tat er dann auch, obwohl er ein ziemlich perplexes Gesicht machte. Sein Kollege verfolgte wie gebannt die Situation. Sie überbrückte mit einem Satz den kleinen Abstand zwischen ihren Köpfen und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Wange, jedoch verdächtig nah an seinem rechten Mundwinkel. Aiden nutzte die Überraschung der beiden Wachmänner, um sich unauffällig an Aurelias Rücken vorbei zu schleichen und war im nu durch die Eingangstür verschwunden. Das einzige, das seine Anwesenheit verriet, war, dass sich nun die gläsernen Flügel drehten. Sie seufzte vor Erleichterung, nachdem er nicht mehr zu sehen war. Dann hauchte sie dem Kerl ins Ohr „Danke Süßer!“ Als keiner von beiden in ihrem Erstaunen etwas sagte, fragte sie mit einer koketten Geste: „Muss ich mich nicht noch austragen?“

Wortlos wurde ihr das Klemmbrett gereicht, in das sie wieder den unsinnigen Namen und die Uhrzeit, es waren keine 10 Minuten vergangen, eintrug. Schwungvoll wandte sie sich zum gehen, nicht jedoch, ohne den verdatterten Security-Männern noch ein Zwinkern zu zuwerfen. Dann hatte auch sie die gläserne Drehtür erreicht und spürte endlich den erlösenden kalten Wind im Gesicht. Der Regen prasselte auf ihren Kopf und bildete einen krassen Kontrast zu ihrem dahin rasenden Herzen, das sie nun, da die direkte Anspannung vorbei war, umso bewusster wahrnahm. Ihr Kopf war müde und sie genoss die dicken Tropfen, die ihr ins Gesicht klatschten, als sie es gen Himmel richtete.

Es war vorbei! Sie hatten es geschafft! Sie schmunzelte darüber, wie einfach es gewesen war, wo sie doch angenommen hatten, dieses Vorhaben erfordere eine enorme Menge an Planung und Vorbereitung. Aber sie hatten in genau diesem Augenblick das Überraschungsmoment auf ihrer Seite gehabt. Dagegen waren die Ereignisse des Nachmittags wesentlich bedrohlicher und ihre Planungswut wirkte angesichts dessen beinahe absurd. Sie schüttelte den Kopf. Jetzt endlich war Zeit, sich um Pareios zu kümmern. Der Gedanke an ihn flutete ihren Verstand und Körper und nahm sie vollständig ein.

Plötzlich fühlte sie eine Hand auf der Schulter. Ihr Herz blieb fast stehen, wobei der eben gesunkene Adrenalinpegel sofort wieder in schwindelerregende Höhen schoss. Sie drehte sich blitzschnell um und hatte schon das Handgelenk des Störenfriedes gepackt und leicht verdreht, da erkannte sie den dunkelhaarigen Wachmann. Wieso hatte sie diese Gefahr nicht kommen sehen? Abrupt ließ sie ihn los, war aber immer noch bereit, ihn in Sekundenbruchteilen zu eliminieren.

„Wow, du bist ganz schön wehrhaft!“ meinte er mit aufgerissenen Augen, aber dann entspannte er sich unter den Falten seines schwarzen Anzugs. Sein Gesicht nahm wieder das süffisante Grinsen an. „Gefällt mir!“

Verwundert atmete sie nicht sichtbar aus, er bedeutete also keine Gefahr.

„Leo, ich darf dich doch so nennen?! Vielleicht hast du ja mal Lust auf einen Kaffee, oder ein nettes Abendessen, oder… was anderes.“ Er machte eine Pause und zog ein kleines Stück weiße Pappe aus der Tasche. „Hier hast du meine Nummer! Es wäre mir ein großes Vergnügen!“ Er sagte es so anzüglich, dass sie es schon als abstoßend empfand, trotzdem hob sie zögerlich die Hand, um ihm die Visitenkarte abzunehmen. Er leckte sich über die Lippen und musterte sie noch einmal scharf, dann drehte er sich um und verschwand im Glasgebäude. Langsam verfiel ihr stotternder Herzschlag wieder in den normalen Rhythmus. ‚Männer!‘ fluchte sie innerlich über diese berechenbare Spezies Mensch, anscheinend hatte sie ein wenig zu überzeugend geschauspielert. Sogleich setzte sie sich eilig in Bewegung. Sie musste sich sputen, um ihren Treffpunkt mit Aiden zu erreichen.

 

Während sie in flottem Tempo die Straße hinunter hastete, kramte sie in ihren Taschen nach ihrem Handy. Auch wenn sie Viktor für seine Nachlässigkeit und Verbohrtheit verachtete, ging es hier immer noch um seinen Bruder. Er war im Moment vielleicht nicht der beste Verbündete, aber zusammen mit Aiden, waren es die beiden einzigen.

Sie hatte Viktor auf Kurzwahl. Es klingelte nur ein Mal, bevor er abnahm. Er flüsterte: „Ja?“

„Erledigt!“ flüsterte sie zurück. „Wo bist du?“

17

Es war Zeit!

Sie spürte es mehr, als dass sie es sah. Die Dunkelheit umfasste sie, schenkte ihr Schutz und bestach mit Vertrautheit. Sie war allein. Aber sie hatte es ja so gewollt. Die Entscheidung war ihr leicht gefallen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Markus keine Verstärkung schicken würde. Obwohl Viktor sich standhaft gegen ihren Entschluss gewehrt hatte und auch Aiden kurz davor gewesen war, ihr den Kopf abzureißen, hatte sie sich durchgesetzt. Wahrscheinlich war es weniger sie gewesen, als das Wissen um den schieren Wahnsinn ihres Unternehmens. „Ein mal den Tod! Aber zum Mitnehmen bitte!“ hatte Aiden ihr sarkastisch entgegen gebrüllt, aber sie war ruhig geblieben und hatte sachlich argumentiert. Sie hatte den beiden etwas voraus, das sie viel gekostet hatte. Die Beherrschung ihrer Impulse hatte sie bis zur Perfektion trainiert und Pareios war ihr ‚grand final‘ gewesen. Irgendwie hatte er sie dazu gebracht, zu guter Letzt sogar ihr gefürchtetes Monster einigermaßen zu kontrollieren. Das, wovor sie all die Jahrhunderte Angst gehabt hatte, hing nun in der Schwebe vor ihr und ein Sieg darüber war zum greifen nah. Und sie war fest entschlossen zu gewinnen, um Seinetwillen, aber auch um Ihretwillen. Ja, sie spürte, dass es Zeit war. Zeit, sich selbst und Pareios‘ und Rowenas Entführer zu bezwingen.

Sie blinzelte ein paar Mal gegen den starken Ostwind. Ihre Augen taten immer noch weh, aber seit sie die Kontaktlinsen endlich los geworden war, schien es langsam besser zu werden. Auch die Perücke lag in einer ihrer Taschen und wartete auf einen neuerlichen Einsatz. Aurelia trug nun wieder die Skimaske, die nur die Augen frei ließ und den Rest unter dicker schwarzer Wolle versteckte.

Nachdem sie die beiden überzeugt hatte, dass sie ihre Konzentration nur stören würden, hatte Viktor ihr in irgendeinem Laden neue Kopfhörer für ihren Player besorgt. Sie und Aiden hatten draußen gewartet und er hatte sie die ganze Zeit über bedrängt, ihn mitkommen zu lassen. Seit Viktor sie übers Handy informiert hatte, dass er beobachtet hatte, wie auch Row in den Sicherheitstrakt der Justizverwahrungsanstalt gebracht worden war, war dies Aidens einziger Gedanke gewesen. Sie konnte es in jeder seiner Bewegungen und Worte, ja sogar in seinem Geruch erahnen. Er roch nach Angst, nackter, verzweifelter Angst. Und genau so etwas konnte sie da drin nicht um sich herum gebrauchen.

Für die weiteren Besorgungen hatten sie sich aufgeteilt und sie war froh gewesen, ihr Vorhaben alleine durchdenken zu können. Erst später, als sie zusammen in einem Hinterhof saßen und die verschiedenen Reinigungsmittel, Chemikalien und weitere Ingredienzien in Plastikflaschen füllten, hatte sie den beiden davon berichtet. Sie waren einverstanden gewesen und hatten dann die verbleibenden Rollen ihres Plans unter sich aufgeteilt.

Kurz bevor sie sich verabschiedet hatten, hatten die beiden Männer ihr all ihre übriggebliebenen Waffen in die Hände gedrückt, sie würde sie schließlich am nötigsten brauchen. Nun war sie um einige Waffen reicher, wobei sie Viktors rasiermesserscharfe Machete am meisten schätzte. Sie lag gut in der Hand und ihr enormes Gewicht verstärkte ihre tödliche Wirkung. Beruhigend spürte sie sie nun im Rücken, während sie da im Gebüsch hockte.

Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Wind war immer noch stark und das Gras nass. Sie ließ den Blick über das riesige graue Gebäude vor ihr schweifen. Die Lichter waren schon vor Stunden gelöscht worden und jetzt sah es nur noch aus, wie ein riesiger, elefantenhäutiger Koloss, übersät mit tausenden von schwarzen vergitterten Augen. Zuerst hatte sie geglaubt, die 5 Meter hohe Mauer mit dem Stacheldraht wäre ihr größtes Problem, aber nun da sie sie überwunden hatte, kam es ihr lächerlich vor. Sie war einfach an einem der Wachtürme hinaufgeklettert, genau im Schatten zwischen Turm und Mauer hatte sie sich eng an den Stein gepresst und war mit Hilfe ihrer Intuition den Wachen über ihr und denen gegenüber entgangen. In letzter Zeit konnte sie ihrem Urteil nicht mehr ganz so vertrauen wie früher. Vor allem über- oder unterschätzte sie Situationen. Aber mal ganz ehrlich, in was war sie da hineingeraten, wer hätte damit schon gerechnet? War es ihr eigenes Schicksal, das sie da rief, oder das eines anderen, das sie nur zufällig tuschierte? Es spielte jetzt sowieso keine Rolle mehr.

Sie hörte eine Turmuhr in der Nähe zur vollen Stunde schlagen. Jetzt waren es nur noch Sekunden, bis es losging. Die alte innere Ruhe vor dem Sturm setzte ein. Sie nutzte sie, die Muskeln vorzuspannen und die Konzentration zu sammeln.

Dann ertönte der laute Knall der ersten Explosion. Die Erschütterung übertrug sich auf den Boden und ließ das gesamte Gebiet erzittern. Viktor hatte mit seinem Ablenkungsmanöver ganze Arbeit geleistet. Sie konnte aus ihrer Position sehen, wie die Mauer an der Vorderseite des Gebäudes weggerissen wurde und sich in Staub und Trümmern auflöste. Kurz schoss ihr die Erinnerung an den heutigen Nachmittag durch den Kopf und sie freute sich darüber, es den Hegedunen mit ihren eigenen Mitteln heimzahlen zu können. Im Gebäude gingen kurz nacheinander die Lichter an und sie hörte wirres Gebrüll durch die geöffneten Fenster. Die Insassen des Gefängnisses waren außer Rand und Band, weil eine Explosion gefolgt von Feuer in ihren Zellen den sicheren Tod bedeutete.

Von jetzt an hatte sie 30 Sekunden. Als ihre Intuition sie drängte, rannte sie los und zählte dabei mit. Quer über den Innenhof des Gebäudes flitzte sie, während ihre Füße absolut geräuschlos über den Asphalt tappten. Gerade rechtzeitig erreichte sie das rückwertige Eck des Gefängnisses, bevor sie einer der Scheinwerfer einfangen konnte, die nun suchend über den geteerten Platz wanderten. Sie wussten nicht mit Sicherheit, wo die Hegedunen Pareios und Row untergebracht hatten, aber der Hochsicherheitstrakt erschien ihnen für zwei Elevender der richtige Ort. Und der befand sich im hinteren Teil des Gebäudes, genau vor Aurelia.

Sie rammte die Plastikflasche vor der Hauswand in den Boden und als sie bei Fünf angelangt war, zündete sie sie an. Auf der anderen Seite des Ecks wartete sie. Dann kam die Detonation und sie war erleichtert, dass sie sich die Ohren zugehalten hatte. Die Lautstärke war doppelt so hoch gewesen wie vorhin. Ihr Eindringen an der Rückseite des Gebäudes war von einer weiteren Explosion vorne am Eingang überdeckt worden, genauso, wie sie es mit Viktor zusammen abgestimmt hatte. Nun konnte sie nur noch hoffen, dass die Wachen auf den Türmen zu gefesselt von dem Inferno an der Vorderseite waren, um einen Blick in den hinteren Teil des Innenhofs zu werfen. Sie brauchte zumindest so viel Zeit, um zum Sicherheitstrakt zu kommen, wenn sie bis dahin nicht vom Wachpersonal unbemerkt blieb, würden sie Pareios und Row wegschaffen, bevor sie sie erreichen könnte.

Nur einen Moment, nachdem der Krach verklungen war, suchte sie sich einen Weg durch die Gesteinsbrocken und schlüpfte durch das kleine Loch, das ihre Bombe in Wand gezaubert hatte. Sie überließ sich ihrer Intuition, schaltete den Player ein und erfüllte ihren Kopf mit den lauten Rhythmen und der Jagdlust. 

Drinnen war es genauso dunkel wie draußen. Als die Staubwolken sich legten, konnte sie erkennen, dass sie sich in einem kleinen Versorgungsraum befand. Überall standen Putzmittel, Waschmittel, Schrubber und diverses Werkzeug herum. Sie durchquerte den Raum und öffnete die eiserne Tür einen Spalt. Ihre Sinne übernahmen die Führung und leiteten sie hinaus aus dem Raum, die dunklen Flure entlang. Zuerst begegnete sie niemandem, dann kamen ihr flüchtende Gefangene entgegen. Die Gitterstäbe vor den Zellen hatten sich geöffnet, als das Feuer ausgebrochen war. Im Gebäude herrschte nun ein einziges Chaos, womit sie gerechnet hatten und welches sie zu ihrem Vorteil nutzen wollten. Vor den ersten Männern versteckte sie sich noch hinter diversen Ecken, aber als der Ansturm nicht nachließ, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich einen Weg mitten durch sie hindurch zu bahnen. Die Männer erschraken heftig, als sie ihre vermummte Gestalt erkannten. Sie musste martialisch wirken, mit dem ein Meter langen Messer auf dem Rücken, den zwei Automatikwaffen in den Händen und der wilden Entschlossenheit in ihren eisblauen Augen. So machten die meisten einen großen Bogen um sie, oder nahmen in die andere Richtung Reißaus.

An der Tür zum Sicherheitstrakt setzte sie die nächste Plastikflasche ab. Jetzt war es egal, ob man sie hörte. Sie würde so oder so entdeckt werden. Die Tür gab der Explosion widerillig nach und Aurelia musste sie danach mit aller Kraft aufstemmen, damit sie durch passte. Endlich konnte sie dem Monster freien Lauf lassen. Nachdem sie zuletzt geübt hatte, es zu kontrollieren, war nun an der Reihe, es zu nutzen, wenn sie es wollte. Das war auch der Grund gewesen, warum sie Aiden und Viktor nicht dabei haben wollte. Sie konnte nicht einschätzen, was passierte, wenn sie sich dieser unbändigen Raserei überantwortete. Sie fühlte wie sein Zorn und seine Kraft durch ihre Adern flossen und sie wie eine Fackel entzündeten. Die Kälte ihrer Jagdlust vermischte sich mit der Hitze ihres Rachedurstes.

Schon flog ihr das erste Geschoss entgegen. Ihre Intuition veranlasste sie, sich auf den Boden zu werfen und weiter zu robben. Eine der Wachen hatte eine Rauchgranate gezündet und der Flur, der sich vor ihr erstreckte füllte sich schnell mit einem dicken beißenden Nebel. Diesmal besaß sie keine Atemmaske, sondern wickelte sich nur das schwarze T-Shirt von gestern um Mund und Nase. Sie kroch weiter und rammte ihr Messer in ein paar Waden. Die Aufschreie der Besitzer gingen in ihren Drum’n’Bass-Rhythmen unter, aber jeder einzelne Stich befriedigte sie auf eine gewisse Weise.

Sie stand auf und rannte den Flur hinunter, immer ihrem Gefühl hinter her. Nach der nächsten Abzweigung konnte sie die schemenhaften Gestalten mehrerer Männer erkennen, die sich an verschiedenen Stellen positioniert hatten. Sie konnte außerdem riechen, dass ein Elevender hier war, vielleicht sogar zwei. Die ersten drei Angestellten der Anstalt streckte sie mit gezielten Kopfschüssen nieder, was die anderen dazu brachte, wild um sich zu feuern. Aurelia drehte sich zum Takt der Musik, Schritt für Schritt, durch den Kugelhagel. Sie war in ihrem Element und das Monster machte sie noch schneller, noch präziser, noch todbringender.

Bei der letzten Drehung ihres Tanzes hatte sie den erreicht, den sie für den Elevender hielt. Sie wusste nicht, welche Kräfte er besaß, deshalb war es klüger, gar nicht erst darauf zu warten, dass er sie einsetzte. Sie zog die Machete vom Rücken. Die schwere Waffe fungierte nun als tödliche Verlängerung ihres Armes und bei der nächsten Drehung spürte sie den Widerstand von Fleisch an der Klinge, doch sie trieb sie weiter, bis sie wieder frei durch die Luft schwang. Trunken von ihrer Raserei beobachtete sie in Zeitlupe, wie der Mann röchelnd zusammensackte, aber sie hatte keine Zeit, sein Leiden zu beenden. Denn ihre Intuition signalisierte ihr eine gute Gelegenheit. Drei Männer näherten sich ihr von hinten, einer war der zweite Elevender. Schon als sie loslief freute sie sich, dass die drei so töricht nah bei einander standen, es würde ein leichtes Spiel werden!

Sie machte zwei Schritte bevor sie die Wand erreichte, nutzte den Schwung, um einen weiteren daran hinauf zu tun, dann stieß sie sich mit aller Kraft nach hinten ab. Sie drückte den Rücken durch, um schon in der ersten Flugphase ihres Rückwärtssaltos eine bessere Sicht auf die drei zu haben. Sie zog die P8 mit der linken und als sie direkt über ihnen war, schoss sie einem in den Kopf, während sie den anderen beiden mit einem Machetenstreich die Schädel spaltete. Das triumphale Gefühl, das ihr Hinscheiden in ihr auslöste, floss direkt in ihre Arme und Beine und verstärkte noch ein Mal die Kräfte, die ihrer Muskulatur innewohnten. Jetzt war sie nicht mehr zu bremsen. Als mehr Gegner anrauschten, diesmal alles Menschen, formten ihre Lippen wie von selbst ein bestialisches Lächeln. Sie landete direkt vor dem ersten und schoss ihm in den Bauch. Das Geschoss drang durch ihn hin durch und erledigte noch einen Kerl, der hinter ihm herangestürmt war.

„Kugel!“ warnte Aurelias sechster Sinn und sie drehte nach links ab, um die Salve aus einem Maschinengewehr zu umgehen, dann spürte sie, wie sich vier Wachen hinter der nächsten Ecke bereit machten, um sie zu erledigen. Sie musste jetzt nah an ihrem Ziel sein. Da warf sich ihr ein großer stämmiger Mann in den Weg. „Elevender!“ schrie die Intuition. Für eine Flucht war es zu spät, also war ihre beste Chance der Nahkampf. Fliegend wechselte sie den Griff an der Machete, sodass die Klinge nun wie ein Flügel an Ihrem Unterarm lag. Die Kampfeswut züngelte heiß in ihren Adern. Der Elevender schlug nach ihr, doch sie duckte sich flink unter seinen Armen durch und machte noch einen Schritt auf ihn zu. Er hatte die Betonwand getroffen und da wo seine Faust aufgeprallt war, fehlte jetzt ein großes Stück.

Seine Gabe war also Stärke, aber er war langsam, viel zu langsam für Aurelia. Er konnte gerade noch den Kopf senken, zu ihr herabschauen und erkennen, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte, als ein kaltes Lächeln in ihren Mundwinkeln zuckte. Mit der Linken boxte sie von unten in seinen Solarplexus, dann drückte sie die Beine durch und ließ die Rechte vor seinem Kopf vorbei wandern. Seine Augen, sie waren blau soweit sie durch den dicken Rauch erkennen konnte, weiteten sich ungläubig als er annahm, sie hätte ihn verfehlt. Doch schon ergriff ihn das Entsetzen, während Aurelia ihren Flügel aufklappen ließ und die Klinge der Machete ihn enthauptete.

Beinahe hätte sie den Kopf in den Nacken geworfen und das Ungeheuer siegesberauscht aufheulen lassen, so mächtig fühlte sie sich gerade in diesem Moment. Sie sprang über seine Leiche und schoss jetzt wiederholte Male durch den Raum, jede Kugel war ein Treffer. Sie kam sich vor wie ein entflammter Racheengel, der bittere Vergeltung einforderte und diese wie einen Napalmschauer über den Feinden entlud.

Jetzt hatte sie die nächste Ecke erreicht und sprang einfach über die Wiedersacher hinweg, die dort warteten.  Die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern, weshalb sie nicht mehr wagte, sich mit ihnen aufzuhalten. So sprintete sie weiter nach hinten Schüsse abgebend den Gang entlang. Endlich erkannte sie, dass sie ihr Ziel erreicht hatte.

Es war eine riesige Tür. Sie war nicht aus Metall, sonder aus einem Material, das Aurelia nicht kannte. Sie wusste nicht, ob es möglich war, sie zu sprengen, aber sie hatte kein gutes Gefühl dabei. Also stellte sie die Sprengflasche an die Wand daneben und zündete sie an. Sie selbst brachte sich in Sicherheit, aber einige ihrer Verfolger hatten die Bombe im Rauch nicht wahrgenommen und wurden von der neuerlichen Detonation erfasst. Sie empfand keine Reue, als sie verfolgte, wie ihre Körper in den Flammen versengten und die Männer vor Schmerzen schrien.

Ohne zu zögern nahm sie Anlauf und sprang durch die kleine entstandene Öffnung in der Mauer, drinnen angekommen rollte sie sich ab, blieb in der Hocke mit gezogener Waffe und sah sich schnell um. Der kleine Raum war nun mit Wolken von Staub gefüllt, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass er da war. Ihr wurde sofort warm und eine unglaubliche Erleichterung ergriff ihr Herz. Während es bisher wie eine Dampflock seinen Dienst getan hatte, schlug es nun wilde Kapriolen vor Freude. Nach ein paar umherschweifenden Blicken konnte sie erkennen, dass die Pritsche der Zelle von der Wand gerissen worden war und nun als Schutzschild diente und zwei zusammengekauerte Personen, die in die rückwärtige Ecke gedrängt saßen, abschirmte. Endlich konnte sie Luft holen, ihre Lungenflügel blähten sich auf und ihr Hirn wurde wieder mit Sauerstoff versorgt. Das Kribbeln, das ihren Körper durchfuhr, machte es zur Gewissheit. Sie hatte Pareios gefunden und auch Rowena streckte jetzt ihren Kopf hinter dem Metall hervor.

Als ihre Augen Aurelia erfassten traten Tränen hinein und lösten sich schnell aus den Winkeln, um ihren Weg über die schmutzigen Wangen nach unten anzutreten. Jetzt flog die Pritsche zur Seite und die Körper ihrer beiden abgekämpften und zerschlissen wirkenden Teamkollegen kamen zum Vorschein. Sie konnte ihre Beine nicht davon abhalten, geradewegs auf Pareios zuzustürmen und sich vor ihn zu knien. Sofort wanderten ihre Hände über Arme und Beine, die Augen waren in seine eingetaucht. Es war, als ob sie aus dem Schatten heraus in die strahlende Sonne getreten wäre, sie spürte seinen Blick wie Strahlen auf ihrem Gesicht und eine Wonne jenseits dieser furchtbaren Nacht breitete sich in ihr aus. Sie war unheimlich erleichtert, beide zu sehen, aber die Anspannung hatte sie immer noch gnadenlos im Griff.

Es war keine Zeit zu sprechen, zu verweilen, also überprüfte sie beide nur auf Verletzungen, aber ihre Hände wurden alsbald bestimmt weggeschoben. Ihre Freunde sahen übel zugerichtet aus, aber es schien nichts gebrochen. Und wenn es das gewesen war, war es wahrscheinlich mittlerweile wieder verheilt.

Sie sah sich um. Die Wände waren mit einer dunklen Paste beschmiert. Sie strich mit dem Finger darüber und roch dann daran. Es war eine klebrige Mischung, die anscheinend Pareios Feuerbälle abhalten sollte. Folgedessen würden ihre Brandbomben daran auch nichts ausrichten. Aber da meldete sich wieder ihr sechster Sinn. Sie war ja auch von draußen herein gekommen. Mit fliegenden Fingern löste sie ihre Gürtelschnalle und zog ihn mit einem Ruck aus den Schlaufen. Dann knotete sie das eine Ende um die Plastikflasche, die Schnalle verhakte sie in den Gitterstäben, die am Fenster befestigt waren. Die Scheibe war bereits zerbrochen, wahrscheinlich durch ihr Eindringen. Nachdem sie den Halt geprüft hatte, zündete sie die Flasche an und warf sie im hohen Bogen durch die Gitterstäbe nach draußen, wo sie ein Klacken hörte, als die Flasche am Gürtel baumelnd außen an der Betonwand aufschlug. Nur wenige Sekunden später folgte die Explosion, die ein Loch in die Außenwand riss und sie duckten sich diesmal zu dritt hinter die ehemalige Pritsche. Sofort konnte sie die frische Luft und den schneidenden kalten Wind von draußen spüren.

Sie befanden sich im zweiten Stock, wie sie feststellte, als sie den Kopf in die Nacht hinausstreckte. Nicht zu hoch zum Springen, dachte sie zufrieden, während Row zuerst an den Abgrund trat. Schon war sie mit wehendem blondem Haar in der Dunkelheit verschwunden, da stellte sich Pareios neben sie und reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie, fühlte endlich wieder seine berauschende Nähe und sah in die Dämmerung mit den goldenen Sternchen, dann sprangen auch sie gemeinsam.

Die Begrenzungsmauer des Innenhofs, der voll von verzweifelt durcheinander laufenden Häftlingen war, war Rowenas Druckwellen und Pareios Feuerbällen nicht gewachsen. Schon nach ein paar Versuchen gab ein Teil nach und sie konnten die Gesteinsbrocken mit vereinten Kräften zur Seite schaffen, dann endlich rannten sie in die Freiheit. Das Sicherheitspersonal würde genug damit zu tun haben, die Gefängnisinsassen wieder einzufangen, die nun hinter ihnen aus ihrem Fluchtloch strömten. Sie blickten nicht zurück, sondern sprinteten nur so schnell sie konnten über die kleine Wiese vor dem Gefängnis, bis sie in den Schatten von ein paar Trauerweiden abtauchen konnten, die hier am Ufer eines kleinen Baches standen. Er reichte ihnen bis zu den Knöcheln, während sie ihren Weg durch sein Bett fortsetzten. Das Rennen war so erquickend, nun da sie Pareios und Row neben sich hatte und sie fühlte wieder, wie seine Lebendigkeit auf sie überschwappte. Sie atmete, ihr Puls trommelte und sie lebte. Sie hatte ihn aus dem Gefängnis befreit, aber er hatte ihr die innere Freiheit geschenkt. Sie waren sozusagen Quitt. Der Nebeneffekt war, dass es sie auf eine Weise zusammenschweißen würde, die keiner von beiden im Moment auch nur erahnte.

 

Unter einer Brücke ein paar Kilometer weiter machten sie Halt und warteten, bisher waren sie von Verfolgern verschont geblieben. Hier war ihr Treffpunkt, an dem Aiden und Viktor sie abholen sollten. Ihre Schritte hallten unter dem steinernen Gewölbe wieder, doch Aurelia konnte trotzdem die noch weit entfernt klingenden Motorengeräusche eines Wagens hören. Schließlich kam er mit quietschenden Reifen direkt über ihnen zum Stehen. Sie verließen ihre Deckung, kämpften sich den kleinen Abhang hinauf und retteten sich in das Innere eines kleinen alten Renault Clio.

Viktor beschleunigte die Karre schlingernd und drückte das Gaspedal durch, um sie auf dem schnellsten Weg aus der Stadt herauszubringen, sie würde schon bald mit Straßensperren abgeriegelt werden. Er nahm einen verborgenen Feldweg direkt durch den Grunewald und benutzte erst wieder in Potsdam reguläre Straßen.

Row saß auf Aidens Schoß auf dem Beifahrersitz. Dieser murmelte an Viktor gerichtet: „Verdammt, ich kann noch nicht glauben, dass diese waghalsige Scheiße funktioniert hat!“ Dann wiegte er Row in seinen Armen und unterhielten sich leise mit ihr. Diese wirkte abgerissen und mitgenommen, aber jetzt strahlte sie eine aufkeimende Ruhe aus. Aurelia vernahm den liebevollen Ton und sah die Intensität der Blicke, die sie sich zuwarfen. Erst jetzt wurde ihr klar, wie schwer es Aiden gefallen sein musste, sie allein gehen zu lassen. Aber wie gesagt, er glaubte an sie. Und sein Glaube, so war ihr nun bewusst, war das, was sie alle zusammen hielt. Er setzte all sein Vertrauen in sie, dass sie Großes bewirken konnten und bisher hatte er Recht behalten.

Endlich war der Moment gekommen, sich Pareios zu widmen. Er saß rechts neben ihr auf der Rückbank und sah sie unvermindert an. Jetzt hatte sie die Muße, ihn genauer zu betrachten. Die Kleidung von heute Nachmittag war an vielen Stellen gerissen und übersät mit blutigen, verdreckten Flecken. Auf Gesicht, Armen und Rücken waren tiefe Striemen zu sehen, außerdem einige Risse, aus denen noch etwas Blut sickerte. Die Hegedunen hatten ihn gefoltert, das war deutlich. Die Schläge und Schnitte mussten hart gewesen und tief gegangen sein, wenn man sie jetzt noch erkennen konnte. Das Monster in ihr heulte auf, wünschte sich, sie hätte mehr Zeit gehabt, sich an seinen Peinigern auszutoben. Sie dasselbe spüren zu lassen, wie sie ihm angetan hatten. Das Ungeheuer, ihr altes Ego, war ein blutrünstiger Wächter dessen, was sie liebte, es vergab und vergaß nicht und es kannte kein Mitleid und keine Gnade. Sie war militärisch und präzise vorgegangen, um ihre Kameraden so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen, jetzt wünschte sie sich jedoch, sie hätte es mehr genossen. Endlich hatte sie zumindest eine Art der Verwendung für das Monster in ihr  gefunden und sie hoffte, dass sie es auch in Zukunft kontrollieren würde können.

Pareios streckte die Hand aus, streichelte ihre Wange und ließ sie dort verweilen. Aurelia legte fast unmerklich ihren Kopf in seine Handflächen und rieb ihre Haut an seiner. Das wohlige Prickeln erfasste sie und das Glühen in der Magengegend erwachte zum Leben. Sie rutschte auf dem Rücksitz näher zu ihm heran und registrierte am Rande, wie Viktor sie im Rückspiegel beobachtete, aber es war ihr egal. All ihre Aufmerksamkeit galt Pareios, der sie jetzt sanft in seine Arme zog.

„Ich wusste, dass du kommst! Aber ich hatte gehofft, sie würden dich abhalten!“ flüsterte er ihr ins Ohr und strich mit der Nase ihren Hals hinunter, was sie zufrieden erschauern ließ. „Naja, du kennst doch meinen Hang zu Himmelfahrtskommandos! So was kann mir keiner ausreden!“ Er beließ es dabei, obwohl er genau wusste, dass das nicht ihre einzige Intention gewesen war. Er bedrängte sie niemals, überließ jeden weiteren Schritt ihr und passte sich der Geschwindigkeit an, die sie ertragen konnte. Sogar jetzt in diesem Moment, in dem sie sein Verlangen nach ihr und seine überschäumende Freude darüber, dass sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um ihn zu retten, spüren konnte, hielt er sich trotzdem zurück. Sie legte die Hand an seine Brust, genau über sein Herz und fühlte die Vibration des pumpenden Muskels darin. Es beruhigte sie, verlieh ihr Zuversicht und sie sagte schlicht: „Du lebst, das ist das Wichtigste!“ „Und wenn sie dich am Mittelpunkt der Erde versteckt hätten, dann hätte ich mich eben bis dahin durchgegraben!“ fügte sie grimmig in Gedanken hinzu und das Ungeheuer in ihr fauchte zustimmend. Aber das alles war jetzt belanglos, er saß hier, direkt neben ihr und er atmete immer noch. Es ließ sogar die Trauer darüber verblassen, wie viele eigentlich unwissende Marionetten, sie an diesem Abend wieder hatte töten müssen.

Sie hätte vor Erleichterung weinen können, aber das war nicht ihre Art, also packte sie nur fest seine große schwielige Pranke und drückte sie wie eine Wahnsinnige. „Sorg gefälligst in Zukunft dafür, dass das auch so bleibt!“ Dabei starrte sie stur auf die Rückseite des Vordersitzes. Aurelia konnte den Schmerz in ihren Worten nicht restlos verbergen, was Pareios veranlasste, sie am Kinn zu sich zu drehen. Sein Blick war mitfühlend und er tröstete sie, in dem er sich langsam zu ihr hinunter beugte. Er stoppte kurz vor ihrem Gesicht und überließ es ihr, den Kuss wahr werden zu lassen. Doch seine Nähe und seine Aura waren so überwältigend, dass sie nicht lange überlegen musste. Sie reckte den Kopf und überwand den kleinen Abstand, der noch zwischen ihren Gesichtern bestand.

Seine Lippen waren weich und warm und gaben ihrem Druck leicht nach, als sie aufeinander trafen. Wegeblasen war alles andere in ihrem Hirn, als das Gefühl, das sein Kuss in ihr auslöste. Sie stieß fordernd die Zunge zwischen seine Zähne, wissend, dass sie alles geschehen lassen würde. Sie erkundete ihn sanft und atmete ein, um seinen Duft bis tief in die Bronchien zu inhalieren. Sie ließ die Zunge weiter über das Rot seiner Lippen wandern, senkte aber sogleich wieder begierig den ganzen Mund darauf. Er genoss ihren Kuss sichtlich, aber drückte sie dann seufzend von sich weg, was sie in ihrem Rausch mit leichter Gegenwehr versuchte abzutun. Das Gefühlschaos in ihr, das ihm allein zu gehören schien, verlangte nach mehr, so vielem mehr. Aber seine Reglosigkeit verwirrte sie zusehends, brachte sie dazu, sich widerwillig zu unterbrechen und ihn fragend anzusehen. Seine Augen ruckten kurz nach vorn und Aurelia folgte seinem Fingerdeut.

Die anderen hatten damit aufgehört, sich zu unterhalten und es war mucksmäuschenstill im Wagen geworden. Rowena und Aiden starrten beide nach hinten auf den Rücksitz. Die blonde Elevenderin lächelte müde, sie hatte es ja schon geahnt, und ihr Gesicht spiegelte eine aufrichtige Freude für wider. Aidens Mund stand zuerst offen, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Er lachte eine Weile, sodass Row auf seinem Schoß durchgeschüttelt wurde und dann stieß er Viktor von der Seite an. „Hätt ich mir ja denken können, dass nur dein feuriger Bruder es irgendwann schaffen konnte, diesen Eisblock zu schmelzen!“

Viktor brummte nur unbestimmt.

18

Sie fuhren die ganze Nacht hindurch. Sie alle wollten so weit weg, wie möglich. Viktor machte  einen großen Bogen um Berlin herum und lenkte den Wagen weiter Richtung Nordosten. Seit die Vereinigten Staaten von Europa in den 2020er Jahren gegründet worden waren, gab es keine Landesgrenzen mehr innerhalb von Europa, weswegen sie schnell und ohne Zwischenstopp voran kamen. Da sie im Moment weder dem Rat noch seinen Verbündeten trauen konnten, mussten sie sich auf persönliche Seilschaften berufen.

Viktor, der im Jahre 1695 in Königsberg geboren war, hatte im Laufe der Jahrhunderte viele nützliche Freundschaften geknüpft und gepflegt. Uns so war ihm als erstes ein Freund aus seiner Jugend eingefallen, der sich mit seiner Frau und seinem Kindern Ende des 18. Jahrhunderts aus dem politischen Geschehen um die Elevender zurückgezogen hatte. Er war früher ein Ratsmitglied der Legion gewesen und als er sich aufgrund seiner Gefährtin, seines Gegenstücks, aus dem aktiven Dienst zurückgezogen hatte, hatte Viktor ihm Markus als seinen Nachfolger empfohlen. Ezekiel hätte den jungen, kalten, undurchsichtigen Mann bestimmt nicht von selbst in Betracht gezogen, wenn Viktor nicht so heftig insistiert und sich für diesen eingesetzt hätte. So wurde Markus zum jüngsten Ratsmitglied aller Zeiten und erfüllte seine Pflichten zu größter Zufriedenheit. Wie so viele setzte Ezekiel blindes Vertrauen in Viktor und ihr Teamleiter hoffte, dass ihn dies auch jetzt empfangen und verstecken würde.

Im Auto wurde wenig gesprochen. Es herrschte eine düstere Stimmung, überlagert von dem kurzen Hochgefühl der Befreiung ihrer Kameraden, aber schon wieder untergraben von der Gewalt, die ihnen angetan worden war. Sie befanden sich in einer verzwickten Lage und sie mussten erst sichten, was Aiden hatte aus dem Zentralrechner entwenden können. Daraus und aus all den anderen Geschehnissen mussten sie nun irgendwie schlau werden und einen Schlachtplan entwerfen, zunächst ohne den Rat. Erst wenn sie wussten, wie genau sie mit der Sache weiter verfahren sollten, wollten sie sich wieder mit Markus in Verbindung setzen.

Aurelia war erschüttert darüber, welch großen Aufwand Markus betrieben hatte, um an die Steine zu kommen und ihr Geheimnis zu lüften, aber für ihre Kameraden und Freunde hatte er keinen Finger gerührt. Sie hatte bisher ein ganz anderes Bild von dem Ratsmitglied gehabt. Viktor war sein Vertrauter gewesen und daher hatte sie noch nicht einmal nachgefragt. Alles was Viktor gesagt hatte, hatte sie ohne Widerstand als Realität akzeptiert, doch wie sich die letzten Tage gestaltet hatten, schien darauf hinzudeuten, dass sie es sich da zu leicht gemacht hatte. Sie konnte Viktors Verhalten noch in gewissen Zügen nachvollziehen, aber die Überlegenheit, die alles kennzeichnete, was er tat, war nicht ganz so lupenrein, wie sie geglaubt hatte.

Alles, was sie bisher erreicht hatten, was die Steine betraf, war trügerisch. Nichts daran passte wirklich zusammen, und wenn es das tat, und sie eine Spur verfolgten, führte es sie ins absolute Chaos. Sie dachte an Syrus, der ihr einmal erzählt hatte, dass alle Dinge im Kosmos danach streben, ihre Entropie zu vergrößern, das bedeutete dass die Unordnung die natürlichste Form des Universums war. Dinge in eine Ordnung, oder ein System zu packen bedurfte eines Energieaufwandes. Natürlich hatte er das naturwissenschaftlich gemeint und über Moleküle gesprochen, aber nun schien es Aurelia, als würde dieses Naturgesetz nicht nur materielle Stoffe betreffen. Sie empfand eine unglaubliche Schwere in ihrem Geist, die alle Gedanken langsamer ziehen ließ und verhinderte, dass sie sich zu einem kompletten Puzzle zusammen legten.

Sie befand sich in einem Zustand, der ihr seltsam fremd war. Es war eine Mischung aus der neuerlangten, pulsierenden Stärke, die sie aus der Kontrolle ihres Ungeheuers und der Rettung ihres Liebsten zog, sowie der neuen Frucht darum, dass er ihr wieder genommen werden könnte. Die Möglichkeit Pareios zu verlieren hatte Tür und Tor für viele andere verrückte Sorgen geöffnet und als wäre ihr Gedankenkarussell nicht schnell genug, begann sie nun auch noch ernsthaft an Viktor zu zweifeln, was sie niemals auch nur eine Sekunde in Betracht gezogen hätte. Sie wusste, dass er keine schlechten Absichten hatte, aber seine Besonnenheit hatte sich verändert, genauso wie ihre Vorbehaltlosigkeit. Ein Teil von ihr hasste ihn noch immer für seine Sturheit. Damit musste sie nun zu Recht kommen. Sie und ihr Team hatten alles zurück gelassen, standen ohne Ausrüstung und Hilfe da. Die Welt war auch so schon kompliziert genug, ohne dass es in ihren eigenen Reihen kriselte.

Aurelia starrte in die Dunkelheit hinaus. Je weiter sie sich von Berlin entfernten, desto ruhiger wurde sie. Sie betrachtete Pareios‘ friedliches Gesicht und strich ihm über die Stirn. Er hatte seinen Kopf in ihren Schoß gebettet und war eingeschlafen. Sie bewunderte die breiten massigen Schultern des hünenhaften Mannes, der mit seiner Aura einen Raum dominieren konnte und nun zusammengefaltet neben ihr auf der Rückbank lag. Seine Lebendigkeit und Stärke hatte sie an ihn gefesselt und er hatte ihr immer so unverwüstlich und gelassen erschienen. Auch in ihrem kurzen Gespräch vorhin hatte er sich in allen seinen Gefühlsäußerungen kontrolliert, hatte seine Verletzung und seine Sehnsucht nach ihr gezügelt, um sie zu trösten. Selbst in dieser Situation sorgte ER für SIE. Doch wie er nun so anmutig schlummerte, wirkte er so schutzlos und verwundbar, es tat ihr im Herzen weh. Jetzt konnte sie zusehen, wie kleinere Wunden langsam verheilten. Die größeren, tieferen waren immer noch mit verkrustetem Schorf bedeckt. Sein Körper konnte sich vielleicht erholen, aber konnte es auch seine Seele?

Sie hatte keine Vorstellung davon, was die Hegedunen ihm angetan hatten. Sie fühlte sich schwach und machtlos gegenüber dessen und wünschte sich, seinen Schmerz auf sich nehmen zu können. Sie kannte sich schließlich damit aus, aber ihn eventuell gebrochen zu sehen, mitzuerleben, wie sein Feuer und seine Leichtigkeit vielleicht abgetötet worden waren, war zu viel. Er war wie die Essenz des Lebens, er war Leidenschaft, und die Möglichkeit, dass die Anderen es möglicherweise geschafft hatten, dies alles aus ihm heraus zu treiben, belegte sie mit tiefer Trauer. Auch wenn es im Moment nicht so schien, als hätte sich etwas verändert, so war sie sich sicher, dass so etwas nicht spurlos an einem Menschen vorbei gehen konnte.

Sie vermochte nicht zu glauben, dass irgendwelche Gefühle noch stärker sein konnten, als die, die sie nun für Pareios empfand. Bis zum letzten Atemzug, bis ihr letzter Herzschlag verklungen war, würde sie für ihn kämpfen. Und es gab nichts mehr, das sie hätte von ihm fernhalten können. Nicht einmal das Wissen darum, dass sie ihn verletzten könnte. Dieser harte, mächtige Krieger, der ihr eine so sanfte fürsorgliche und liebevolle Seite von sich zeigte, besaß sie nun mit Haut und Haaren. Trotz all der schrecklichen Erlebnisse und Befürchtungen über die Steine und das was ihnen möglicherweise bevorstand, überlegte sie nun, ganz untypisch, wie sie sein Herz gewinnen und es geborgen in ihren Händen halten konnte. Sie wusste, dass er sie mochte, sie begehrte, aber das reichte ihr nun nicht mehr aus. Sie wollte dass er ihr genau die gleichen Gefühle entgegenbrachte wie sie ihm, aber das Wort „Liebe“ hatte eine ganz andere Dimension. Wie könnte sie seine Liebe erobern und ihn an sich binden?

Wie ein helllichter Tagtraum schossen Bilder von einer lächerlich idyllischen Zukunft durch ihren Kopf. Sie sah seine Augen, das graue Wabern samt den Glühwürmchen in einem zierlichen Kindsgesicht. Ihre Kehle begann zu prickeln und zum aller ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich nichts sehnlicher als das, mit ihm als ihren Gefährten an ihrer Seite, obwohl sie wusste, dass der erste Teil dieser Vorstellung außerhalb des Erreichbaren lag. Erstaunt klappte ihr der Kiefer herunter.

Sie hatte nicht geahnt, was eine Zuneigung, frei von verträumter kindlicher Verliebtheit in ihr auslösen würde. Der Gedanke an ein Zusammensein mit Pareios hatte nichts von der träumerischen Verklärung, die sie damals vor so langer Zeit in ihrer Jugend verspürt hatte, als sie geliebt hatte, so hatte sie damals zumindest geglaubt. Ganz in Gegenteil, jetzt sah sie alles glasklar, nahm jede Veränderung, jede Farbe und jedes Geräusch in aller Schärfe und Deutlichkeit wahr und wieder fühlte sie das pulsierende Leben, das er in ihr geweckt hatte. So schien die Erinnerung an ihre Vergangenheit fast wie die eines betäubten Zombies, der sie wohl auch gewesen war. Pareios hatte ihre Welt auf den Kopf gestellt und ihr gezeigt, dass in ihr Ungeahntes schlummerte. Er rief danach, mit jeder seiner Gesten und sie veränderte sich mehr als bereitwillig unter seinem Einfluss, wie eine aufblühendes Knospe wandte sie sich ihrer Sonne zu, ihm. Sie schmunzelte über die Übelkeit, die sie anfänglich bei seiner Berührung empfunden hatte und fand diese fast erbärmlich, da sie den Kontakt mit ihm nun mehr als genoss, sie verlangte danach.

Irgendwann lullte sie diese Wohligkeit ihrer Hände auf seiner Haut und die gleichbleibende Bewegung ihrer Streicheleinheiten ein. Das sachte andauernde Rütteln des Wagens trug seines dazu bei und sie döste weg. Entschwand wieder in den erholsamen Schlaf, den ihr der Mann in ihrem Schoß schenkte.

  

 

 

Die Dämmerung kündigte sich an, als Viktor vor einem großen Anwesen vorfuhr. Es erstreckte sich weitläufig zu beiden Seiten vor ihnen und die dicken steinernen Mauern des herrschaftlichen Landsitzes wurden von ein paar Bodenstrahlern, die darum herum in die Erde gelassen worden waren, schemenhaft erleuchtet. Das Gelände war von einem hohen Zaun, der oben mit Stacheldraht gesäumt war, umrandet. Die Grenzen des Anwesens lagen allerdings weit außerhalb der Reichweite ihrer Elevenderaugen, so groß war das eingezäunte Areal.

Vor ihnen ragte ein massives stählernes Tor mit engstehenden Speichen empor. Dahinter erstreckte sich die lange Auffahrt, die in einem großen, mit Kies aufgeschütteten Platz vor dem Schloss mündete. An regelmäßigen Abständen waren Kameras an dem Zaun angebracht und links vor dem Tor befand sich eine Art silbernes Terminal, das eine Gegensprechanlage, gekennzeichnet durch den Kreis kleiner runder Löcher, enthielt. Viktor atmete tief durch und ließ den Wagen langsam seitlich neben den silbernen Kasten rollen. Das sachte Bremsen weckte Aurelia schließlich und sie vernahm sofort die tiefe Baritonstimme, die aus dem qualitativ hochwertigen Lautsprecher dröhnte.

„Himmel, was sehen meine Augen hier an diesem klaren Septembermorgen? Viktor?  Ich kann nicht glauben, dass du hier bist!“ Und jetzt überschlug sich die Stimme fast vor unüberhörbarer Freude. „Alter Freund, komm herein!“ fuhr er ohne Zögern fort und es ertönte ein lautes Summen, woraufhin das schwere Tor sich in der Mitte zu teilen begann. Der kleine Spalt wurde schnell größer, während die Flügel bedächtig aufschwangen.

Bis sie vor dem Eingang des majestätischen dreistöckigen Gebäudes hielten, bewunderte Aurelia stumm die vielen Zinnen und Türmchen, die das Haus mehr wie ein kleines mittelalterliches Schloss, denn wie ein Einfamilienhaus wirken ließen. Es hatte eine merkwürdige Mischung von alt und neu an sich, da die Fenster- und Türrahmen metallisch glitzerten und die Beleuchtung äußerst modern anmutete.

Aurelia selbst hatte Ezekiel noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen, aber sie kannte ihn aus vielerlei Erzählungen von Viktor, aber auch von anderen älteren Bewohnern des Bunkers. Alle beschrieben ihn als Fels in der Brandung, unzerstörbar, kontrolliert und intelligent. Anders als Markus, der mit seinen verworrenen Redekünsten Anhänger um sich scharte, war Ezekiel mit einer offenen direkten Freundlichkeit gesegnet, die ihm jedermann mit ein paar Worten zum Freund machte. Er war pflichtbewusst und verhielt sich immer angemessen, seine Intentionen waren sowohl rechtschaffend, als auch moralisch integer und sein Weggang war ein großer Verlust für die Legion gewesen.

 Als sich schon die breite, oben abgerundete, stählerne Eingangstür öffnete, war Aurelia verblüfft von der Erscheinung, die Ezekiel darbot, wie er so im Türrahmen erschien und freudig lächelnd die Arme ausbreitete. Anhand der Beschreibungen seiner Person und seiner Stimme hatte sie mit einem groben und massigen Mann gerechnet, vollbepackt mit breiter Muskulatur. Aber hier stand vor ihr ein Gentleman, der zwar sehr groß war, annähernd an die zwei Meter schätzte sie, womit er Pareios und Viktor mit noch ein paar Zentimetern überragte, aber er war alles andere als grobschlächtig. Er hatte breite Schultern, ja, aber die Extremitäten waren lang und elegant, genauso wie seine Bewegungen, während die Muskulatur eher drahtig denn aufgepumpt wirkte. Sein schmales jugendliches Gesicht, das auf einem bemerkenswert langen, schlanken Hals ruhte, wurde von weißem kurz gehaltenem Haar umrahmt. Aus seinen länglichen schmalen Augen, die von einem dichten Kreis weißer Wimpern umrandet wurden,  leuchtete helles funkelndes Silber.

Aurelia brauchte Pareios nicht wachzurütteln, er richtete sich von selbst auf und sah verschlafen aus dem Fenster. Bei dieser Bewegung roch Aurelia den Duft seines Schlafes und kürte ihn sofort zum köstlichsten, den sie je erschnuppern hatte dürfen. Kurz rieb er sich die Augen, dann breitete sich auf seinem Gesicht sichtliche Erleichterung über ihren Aufenthaltsort aus. Schon hatte er den Türgriff gepackt und war aus dem Wagen ausgestiegen, wie sein Bruder es nur einen Moment vorher getan hatte.

Auch Viktor breitete die Arme aus und lief auf den alten Freund zu. Sie umarmten sich, lachten und klopften sich immer wieder auf die Schultern, genauso herzte Ezekiel auch Pareios. Sein besorgter Blick registrierte sofort dessen zerschlissene Kleidung und dass sie in ihrem winzigen Wagen zu fünft unmöglich viel Gepäck dabei haben konnten. Aus all diesen Details schloss sein messerscharfer Verstand sofort, welche Stimmung in diesem unerwarteten Wiedersehen lag. Nur kurz zuckten seine Augen beinahe unmerklich unter der Erkenntnis, dann bat er sie ohne Umschweife ins Haus.

 

 

 

Aurelia stand am Meer. Die Sonne zeichnete die ersten Strahlen in den Himmel und tauchte ihn in ein zartes, helles Rosarot. Es waren keine Wolken zu sehen, nur dünne Dunstschleier hingen darin wie seidige Tücher und nahmen die Farbe der aufgehenden Sonne an. Das Meer war unruhig und schäumte gemeinsam mit den stürmischen Windböen gegen den Strand. Sie hielt ihr Gesicht in die kalte Brise, atmete tief die feuchte Ostseeluft ein, um Körper und Gehirn von der ganzen Anspannung reinzuwaschen.

Sie stellte sich vor, wie der Wind durch sie hindurch fuhr, sie mittrug, ihren Geist fliegen ließ. Sie fühlte sich so geborgen an diesem Ort, sie konnte gar nicht genau sagen warum. Das Anwesen von Ezekiels Familie grenzte rückwärtig nach einer großen saftig grünen Wiese an den Strand der polnischen Ostsee. Die Dünen versperrten die direkte Sicht auf den Strandabschnitt, der nun vor ihr lag. Sie war auf dem Scheitel eines Sandhügels stehen geblieben und spürte nun das große, harte und doch familiäre Bollwerk im Rücken, das ihnen ihr Gastgeber für unbegrenzte Zeit als Unterschlupf zur Verfügung gestellt hatte.

Es gab so viel zu besprechen, aber sie waren alle abgekämpft und aufgewühlt, deshalb hatte Viktor eine Zwangspause verordnet und Ezekiel hatte ihnen den Gästeflügel des Hauses zugewiesen, welcher drei geräumige Zimmer mit Doppelbetten umfasste. Row und Aiden hatten sich bald entschuldigt und sich in einen der Räume zurückgezogen. Aurelia hatte mit einem merkwürdigen Lächeln auf den Lippen, das wohl von ihrer neuentdeckten Seite stammte, beobachtet, wie die beiden nun wesentlich offener mit ihrer Zuneigung für einander umgingen. Keiner sagte auch nur einen Ton dazu, dass sie sich einen gemeinsamen Schlafplatz nahmen und ein wenig Zeit für sich beanspruchten. Es wirkte nur zu natürlich in den gemütlichen Hallen von Ezekiels großer Familie. Überall lag Spielzeug herum, wobei der Schmuck und Dekor der Räume sich eher dezent aber doch erhaben im Hintergrund hielt. Dicke flauschig bezogene Sessel und Sofas waren in fast jedem Raum zu finden und schufen eine geborgene Atmosphäre, die eines besonderen Platzes zum Aufziehen von acht Elevenderkindern würdig war.

Sie schliefen nun alle so früh am morgen noch und die einzigen Geräusche in der malerischen Szenerie waren die der Wellen, wenn sie sich etwa zehn Meter vom Strand entfernt brachen. Auch sie hatte sich bald aus dem Kreis der Freunde gestohlen und war ihrem immerwährenden Drang nach Bewegung nachgegangen. Dieser hatte sie hinaus getrieben und jetzt begann sie begeistert die Schuhe aufzuschnüren. Sie kickte sie eilig in den Sand und der Rest ihrer Kleidung folgte unversehens. In ihrer schwarzen Unterwäsche rannte sie mit langen Sätzen auf die Gischt der See zu, die mit ihren Zungen am Strand leckte. Der Sand fühlte sich herrlich unter ihren nackten Füßen an, hinten war er zuerst weich und sie versank tief darin. Weiter vorn wo er feuchter wurde, bildete er harte Flächen, die nur zögerlich unter ihrem Gewicht nachgaben. Endlich erreichte sie das kühle Nass, das ihr sogleich zischend um die Knöchel strich und watete weiter hinein, wobei eine Gänsehaut ihren Körper überzog.

Sie wusste, sobald sie schwamm, würde sie vergehen, also beeilte sie sich mit den ersten Schwimmzügen. Immer wieder tauchte sie dabei unter, ließ das eisige Wasser ihren Kopf umschließen und in die Haut stechen. Wieder nutzte sie die sportliche Betätigung um ihren Geist zu klären und zu alter Stärke zurück zu finden. Sie hatte im Auto gut geschlafen und fühlte sich nun an diesem wundersam vertrauten Ort, zusammen mit Pareios und dem Rest ihres Teams zusehends wohler und wohler. Erst nach einer gefühlten Stunde richtete sie sich wieder gen Strand aus und paddelte soweit, bis ihre Füße den morastigen Grund berührten. Der Fjord war flach und sie befand sich immer noch ziemlich weit draußen, trotzdem konnte sie hier stehen.

Da erfasste sie mit ihren Elevenderaugen eine große, muskulöse Gestalt, die langsam über die Dünen gestapft kam. Aurelia erkannte ihn sofort und ihr Herz schlug unwillkürlich schneller, in einem neuen Rhythmus, der an ein fröhliches seichtes Lied erinnern wollte. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzten mit spielerischer Leichtigkeit zur Melodie und nicht nur das Wasser gab ihr das Gefühl, schwerelos zu sein.

Pareios blieb da stehen, wo der Saum der Wellen den Sand dunkelfärbte und sah zu ihr herüber. Sein Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an, verharrte in zögerlicher Unentschlossenheit. Er fuhr sich mit der Hand über das kurze Stoppelhaar und fixierte sie unablässig mit einem lodernden Blick. Die Glühwürmchen stoben belebt durcheinander und sie erkannte, dass er mit sich rang. Dann ließ er ganz langsam den Arm sinken. Er wanderte zum Saum seines Langarmshirts, der andere kreuzte und fasste ebenfalls den dunklen Stoff.

Nun nickte er sich selbst entschlossen zu und zog sich das Kleidungsstück in einer fließenden Bewegung über den Kopf. Aurelia erstarrte, als sie seinen Körper erblickte. Seine gemeißelten Brust- und Bauchpartien und die starken definierten Schultern zeichneten ihn als tödliche Waffe, als Krieger aus. Er war wunderschön anzusehen und sein Anblick erregte Aurelia, aber zugleich erfassten die scharfen Adleraugen die rötlich schimmernden Striemen, die seinen gesamten Oberkörper überzogen. Ein unfassbar stechender Schmerz ergriff sie und ließ sie nun am eigenen Leib spüren, was sie ihm angetan hatten. Sie fragte sich, ob die Narben überhaupt verheilen würden, wenn sie jetzt noch nicht verschwunden waren. Eine grausame Frage schoss ihr durch den Kopf.

Welch widerwärtiges, abscheuliches Werkzeug hatten sie benutzt, das einen Elevender so verletzten konnte, dass ihre übermenschliche Wundheilung nicht damit fertig wurde? Sofort wurde ihr heiß und kalt im Wechsel und sie versuchte die schrecklichen Vorstellungen in ihrem masochistischen Hirn zu unterdrücken, während in ihr das Ungeheuer erwachte und bedrohlich knurrte. Er hatte gezögert, weil er vermutete hatte, dass sein Anblick sie treffen würde. Und er hatte nicht daneben gelegen, nur war es ein verdammter Güterzug, der sie da gerade überrollte. Und schon wieder fühlte sie sich ungerechtfertigter Weise von ihm beschützt, wo doch nicht sie in diesem Knast gefangen gehalten und misshandelt worden war. Sie hätte ihn beschützen und trösten sollen, aber sie wusste, dass er das nicht wollte, auch deshalb hatte er sich mit dem Entkleiden Zeit gelassen.

Sie legte den Kopf schief und hob einen Arm aus dem Wasser, um ihn zu sich zu winken. Er atmete erleichtert aus und ließ die Hose ebenfalls in den Sand fallen, dann sprang er nur noch mit dunklen Shorts bekleidet ins Wasser und schwamm zu ihr herüber. Er stoppte kurz vor ihr, seine breite Brust ragte aus dem Wasser, er war bestimmt über einen Kopf größer als sie. Die Sonne die sich mittlerweile über den Horizont geschoben hatte, tauchte seine Haut in ein feuriges Bild aus Rot, Orange und Gold, welches sich auch auf den bewegten Wellen, die gegen seinen Körper schwappten, zeigte. Sie war gefesselt vom Lichtspiel, das sich auf seinem Bauch und seiner Brust von den sachten Wasserbewegungen wiederspiegelte. Es brachte die Striemen zum schimmern und ließ sie noch gefährlicher, noch grausamer in ihrem Ursprung wirken.

Sie hob die Hand, strich vorsichtig mit den Fingern eine breite Linie auf seiner Brust nach und war erschrocken über die rohe Gewalt, die aus den Spuren seiner Peinigung sprach. Das Monster in ihr heulte verzweifelt auf, drängte danach, jeden Einzelnen, der ihm das zugefügt hatte zu suchen und auf schrecklichste Weise hinzurichten. Ein Gemetzel zu veranstalten, das ihre anderen Feinde das Fürchten lehrte, damit sie begriffen, dass Pareios für sie Tabu war, oder sie es ansonsten bitter bereuen würden.

Sie nahm wahr, wie er unter ihrer Berührung erschauerte. Er hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Um keinen Preis der Welt würde er sie das volle Ausmaß der Auswirkungen dieser Nacht sehen lassen. Er strahlte eine ruhige Kontrolle aus, während sie bemerkte wie seine Haut unter ihren Fingern heißer und heißer wurde. Er entflammte förmlich in dem eiskalten Wasser und schon bald begann die Luft um ihn herum zu dampfen. Sie wanderte mit dem Blick seinen Hals hinauf und erfasst schließlich sein Gesicht.

Er hatte die Augen mittlerweile geöffnet und fand jetzt ihre, um sie hungrig anzusehen. Die Glühwürmchen in der Sommerdämmerung leuchteten aus voller Kraft. Sie tauchte ein und ließ sich mitreißen, verzaubern von den Farben und Eindrücken, die sie darin erkennen konnte. Die Aufrichtigkeit, die darin mitschwang raubte ihr den Atem und sie wunderte sich darüber, wie er aus der Folter der Hegedunen, die als Ziel hatte diesen stolzen Mann vor ihr zu brechen, wie Phoenix aus der Asche aufgestiegen war und sich sogar diese zarte, weiche Seite behalten hatte, die er ihr nun wieder zeigte. Sie dachte an ihr eigenes Schicksal und stellte verbissen fest, dass sie selbst nicht so stark wie Pareios gewesen war. Sie hatte sich nach der Tortur der Hegedunen in sich zurück gezogen, sich verdammt und gehasst, sich geschworen für immer allein zu bleiben, sich nie wieder jemandem zu öffnen, zum Schutz für andere und für sich selbst.

Und nicht nur, dass Pareios ihre harte Schale geknackt hatte, nach allem, was er durchgemacht hatte, stand er immer noch unverwandt hier und bot ihr großherzig und selbstlos alles was er hatte: sich selbst. Er verheimlichte nichts und beschönigte nichts, er lebte einfach nur, mit einer solchen unversehrten Intensität, dass die Kraft ganze Wälder aus dem Boden hätte schießen lassen können. Sie empfand maßlosen Respekt für seine Zähigkeit und die ungebrochene Lebendigkeit.

Jetzt legte sie das Ohr an seine Brust und lauschte dem frenetischen Herzschlag, der ihm das Blut in kraftvollen Wellen durch die Adern pumpte. Wie von Geisterhand passte sich ihr Puls seinem an, während seine Hitze ebenso auf sie überging, sie wärmend in der eisigen See umschloss. Sie trat noch einen Schritt näher heran und lehnte sich sanft auf voller Länge gegen seinen Körper, spürte zufrieden die stählerne Muskulatur, die sich gegen ihren Bauch und Oberkörper drückte.

Seine Arme hingen absolut regungslos an seiner Seite, als wagte er nicht, sich zu bewegen, er wirkte plötzlich befangen. Auch Aurelia rang mit ihren Emotionen, die sie zu überfallen drohten und sie jegliche Selbstbeherrschung kosten würden.  Sie löste sich von ihm, aber nur, um ihn mit dem Worten „Komm mit.“ hinter sich herzuziehen.

Sie schwammen weiter die Küste rauf, bis sie hinter einer Landzunge die nächste Bucht erreichten, sie war vom Haus aus nicht mehr sichtbar.

19

Sie legten sich in den trockenen Sand zwischen zwei Dünen und ließen sich von den Sonnenstrahlen wärmen. Sie sahen in den Himmel, die Hände hatten sie verschränkt, damit die zarte Verbindung zwischen ihnen nicht unterbrochen wurde. Nach einer Weile wandte sie den Kopf, betrachtete wieder den mächtigen Körper und das klar geschnittene Gesicht ihres Begleiters.

„Was wollten sie von dir?“ fragte sie dann schließlich, wohlwissend, dass diese Umstände ihn sonst irgendwann auffressen würden, wenn er nicht darüber sprach. Sie kannte die eisernen Klauen, die solche Ereignisse in die Seele schlugen und drohten, sie in einen finsteren Abgrund zu ziehen. Aus diesem Grund kannte Viktor jedes noch so schreckliche Detail ihrer Vergangenheit, einiges davon hatte er ja selbst miterlebt, deshalb war es naheliegend gewesen, sich ihm anzuvertrauen.

Pareios sah sie nicht an, verzog keine Miene, als er zu sprechen begann: „Ich weiß es nicht. Sie haben keine einzige Frage gestellt.“ Verblüfft richtete sie sich auf und die roten Striemen über seiner Brust waren jetzt wie Messerschnitte in ihrem eigenen Herzen. Sie hatten nichts von ihm erfahren wollen, sie hatten ihn aus reiner Boshaftigkeit gefoltert? Wie konnte man einem anderen Lebewesen so etwas nur antun?

Nun, sie wusste es, sie hatte es oft genug miterlebt. Es diente dazu, den Willen zu brechen, jegliche Hoffnung auszulöschen und die absolute Hilflosigkeit zu demonstrieren. Sie erinnerte sich an den heißbrennenden Hass, den sie für Viktor empfunden hatte und schwor sich, dass sie ihm diese Nachlässigkeit niemals vergeben würde. Gleichzeitig kam der Gedanke auf, dass auch sie eine gewisse Schuld an den Ereignissen trug, was sie schwer traf. In Zukunft, so versprach sie sich selbst, würde sie sich vehementer mit ihrem Teamleader auseinandersetzen, wenn sie glaubte, seine Entscheidung sei ein Fehler.

Pareios fuhr mit einer unheimlichen Miene fort: „Ich bin in einem dunklen Raum aufgewacht. Zuerst dachte ich, ich wäre allein, aber sie haben noch einen anderen Gefangenen zu mir gesperrt. Zu unserer ersten Folterrunde wurden wir gemeinsam ‚gebeten‘….“ Das letzte Wort triefte nur so vor bitterem Sarkasmus. „Sie fesselten uns gegenüber, damit jeder von uns am anderen sehen konnte, was gleich mit uns selbst passieren würde…. Er war noch ein junger Elevender, ich glaube wesentlich jünger als wir beide. Verfluchte Scheiße, sein bleiches Gesicht hat sich mir in den Kopf eingebrannt, ich sehe es jedes Mal, wenn ich die Augen schließe…“ Er stöhnte und riss die Augen weit auf, als wolle er mit aller Macht verhindern, dass sie sich schlossen.

„Aber er war so… stoisch, hat nicht mal die Miene verzogen, hat mich mit diesem verbissenen Blick angeschaut und keinen Mucks gemacht, nicht mal, als sie ihm den glühenden Kaliumstab auf die Haut gedrückt haben.“ Er stockte und kniff die Lippen zusammen. „Ich glaube, er wollte mir das Wissen ersparen, wie furchtbar die Schmerzen tatsächlich waren.“ Seine Stimme war erfüllt von einer tiefen Bewunderung für seinen Leidensgenossen in diesen todbringenden Kerkern, wo sie ihr Schicksal und ihre Qual geteilt hatten. „Ich habe ihm denselben Gefallen getan.“

„Was ist aus ihm geworden?“ fragte sie vorsichtig, da sie sich sicher war, dass er und Rowena die einzigen Insassen der Zelle gewesen waren, aus der sie sie befreit hatte. Er zuckte nur mit den Schultern.

„Vielleicht tot…, bin irgendwann ohnmächtig geworden… und dann in der Zelle mit Row wieder aufgewacht. Ich weiß noch nicht mal wie er hieß, oder warum er dort war. Vielleicht wollten sie ein Exempel an uns statuieren und unsere Leichen später zur Schau stellen.“ Er lächelte bitter. „Aber im Grunde kann ich froh sein, dass ich ein Mann bin. Sie haben Row zwar nicht so hart gefoltert wie mich, aber ich möchte trotzdem nicht tauschen…“ Ganz leise und ausdruckslos formulierte er die Sätze, aber Aurelia begriff sofort, was er damit sagen wollte. Ein eisiger Griff umschloss ihr Herz und es weinte, trauerte mit ihrer Teamkollegin um die verlorene Reinheit ihres Körpers.

Aber ihre Kollegin war eine Kriegerin. Sie hatte gelernt, unter widrigsten Umständen zu überleben und Aurelia wusste, dass das Erlebte sie nicht zerstören würde. Sie waren als Frauen in ihrer Ausbildung darauf vorbereitet worden, dass so etwas passieren konnte, es noch nicht einmal eine Seltenheit war. Vielleicht gab es deswegen unter den Jägern nur wenige weibliche Mitglieder. Die ganze Geschichte würde Row‘s Zorn und ihre Verbissenheit, gegen die Hegedunen vorzugehen, nur noch anfachen. Genauso, wie es bei Aurelia selbst der Fall gewesen wäre, obwohl sie wusste, dass sich etwas Unwiederbringliches verändert hatte, diese Last konnte ihrer Mitstreiterin keiner abnehmen.

Aurelia legte Pareios eine Hand auf die Brust und sah ihn mit aller Zuneigung an. Nicht, um ihn zu bemitleiden, das, so wusste sie, hätte er nicht gewollt. Aber um ihm zu zeigen, dass er immer noch hier war… bei ihr und wie viel ihr sein Überleben bedeutete. Er drehte sich auf die Seite, ergriff ihre Hand und drückte sie noch fester gegen die steinerne Muskulatur genau über seinem Herzen. Dann führte er sie zu seinem Gesicht und küsste zärtlich einen Knöchel nach dem anderen, bevor er an ihrer Haut murmelte: „Das Einzige, das ich nicht hätte ertragen können, war zu sterben, ohne dich noch ein letztes Mal zu berühren…“ Dabei sah er ihr geradewegs in die Augen und sie fühlte sich wieder getragen von diesen unglaublich tiefen Gefühlen, die er in ihr weckte. Dieses Geständnis ließ Tränen aus einer unbekannten Ecke ihres Seins aufwallen, doch sie drückte sie weg. Eine Heulsuse hätte nicht zu diesem mächtigen, feurigen Krieger gepasst, auch nicht zu der Situation, in der neben all der Grausamkeit auch die Freude über ihre Verbindung lag. Sie wagte zu hoffen, dass seine Worte genau das versprachen, was sie selbst fühlte.

Ein letztes Mal…., diese Silben wischten ihr durch den Kopf und legten eine nun fast uralt wirkende Erinnerung frei.

„Nicht noch ein Mal!“ hatte Viktor am vergangenen Nachmittag zu ihr gesagt, bevor dieses ganze Gerüst aus Intrigen über ihren Köpfen zusammengebrochen war und hatte damit so viele Fragen aufgeworfen. Jetzt drängte die Ungewissheit, Pareios danach zu fragen, zumal ihr in diesem Moment auffiel, wie wenig sie eigentlich über ihn wusste.

Sie kannte seine Bewegungen und Gesten, seine Art, im Kampf zu denken und vorzugehen ganz genau, aber alles andere war ihr noch nie bewusst aufgefallen. Ehrlichkeit war SEINE Bedingung gewesen und so dachte sie, hatte sie durchaus ein Recht darauf, zu erfahren, was Viktor gemeint hatte. Und diesen würde sie ganz bestimmt nicht danach fragen! Sie verspürte nicht die geringste Lust, sich ihm gegenüber jemals wieder für ihre Gefühle für seinen Bruder zu rechtfertigen und ärgerte sich, dass sie es überhaupt schon mal getan hatte, als hätte sie einen Fehler gemacht. Dabei fühlte es sich überhaupt nicht wie ein Fehler an, eher goldrichtig. Aber wie nun davon anfangen? Sie fasste sich ein Herz und versuchte es eher auf die lustige Art, wie Pareios es getan hätte.

„Ähm, Viktor hat übrigens den großen Bruder raushängen lassen…“ sagte sie und versuchte ein ironisches Grinsen. Überrascht schob er die Augenbrauen in die Höhe und runzelte so die Stirn. „Er meinte, ich solle meine gefäääährlichen Finger von dir lassen, weil du schon zu viel durchgemacht hättest….“ dabei hob sie die freie Hand, krümmte sie zur Kralle und führte sie spielerisch neben ihr Gesicht, das sie zur Fratze verzogen hatte. „Was genau meint er damit?“

Sein erst verwunderter Gesichtsausdruck wechselte während ihren Worten zunächst zu verwirrt, dann zu eindeutig beunruhigt. Sie wusste, er würde sie nicht anlügen, aber sie konnte seiner zögerlichen Miene entnehmen, dass er sich gewünscht hätte, dieses Gespräch erst viel später führen zu müssen. Er setzte sich auf und legte die Unterarme auf die angezogenen Knie, während er seinen Blick gen Horizont richtete, weg von ihr, wie sie enttäuscht feststellte.

„Er meint damit, dass ich jemanden verloren habe, der mir sehr viel bedeutet hat.“ Sie war vor allem erstaunt, aber irgendwo stupfte eine kleine Nadel der Eifersucht.

„Wen?“ fragte sie leise, obwohl sie es sich schon denken konnte.

„Mein Gegenstück.“ Er klang ruhig, aber ein kleiner Funke Schmerz trat in seine Stimme. Dieser war jedoch so ätzend, dass er auf einen ganzen See von Bitterkeit schließen ließ, der dahinter verborgen lag. Dass er ihre Vermutung bestätigte, brachte sie ein wenig aus dem Gleichgewicht. All die Jahre hatten sie neben einander her gelebt und sie hatte es nicht gewusst, nicht einmal geahnt. Und plötzlich gab sein Verhalten, seine ganze Art einen Sinn für sie.

Viele Elevender waren ihr ganzes Leben lang auf der Suche nach ihrem Gegenstück, nicht nur um die vollkommene Erfüllung zu erfahren, sondern auch um Nachkommen zu zeugen. Dies war nur mit einem Gegenstück möglich, wobei es natürlich auch zufällige Mutationen aus anderweitigen Verbindungen gab. Sie selbst zum Beispiel, war die Tochter einer Begabten und eines Menschen, aber das kam nur sehr selten vor;  ihre Schwester war auch kein Elevender gewesen; genauso, wie Kinder aus Elevenderehen, die keine Gegenstücke waren. Noch seltener waren Begabtengeburten aus rein menschlichen Verbindungen.

Sie hatte immer gedacht, Pareios wechsele die Betten wie seine Unterwäsche, weil er auf der Suche nach dem war, was Viktor und Meredia hatten. Doch nun wurde ihr klar, dass es völlig belanglos für ihn gewesen war, wer da mit ihm die Laken geteilt hatte, es hatte bereits nichts mehr gegeben, wonach er hätte suchen können. Nichts mehr, das sein Bedürfnis nach dieser Erfüllung je wieder hätte stillen können.

Obwohl die Eifersucht darauf, dass es jemanden gegeben hatte, den er immer mehr lieben würde als alles andere auf der Welt, sich wie ein Schwert tief in ihr Herz bohrte, war da noch etwas anderes, das in ihr aufflammte und von der emotionalen Bindung zeugte, die sie unbewusst zu ihm eingegangen war. Sie fühlte Schmerz und Trauer, nicht wegen ihm, sondern wegen ihr, seiner verstorbenen Partnerin. Sie weinte um ihren Verlust, als wäre es ihr eigenes Gegenstück, das da verloren gegangen war.

Sie keuchte auf, als sie sich dessen bewusst wurde und konnte nicht anders, als die Arme von hinten um seine breite Brust zu schlingen und den Kopf auf seine Schulter zu betten. Er wollte sich daraus befreien, sie abschütteln, aber sie ließ ihn nicht. Sie wollte ihm verständlich machen, dass sie ihn nicht bemitleidete, sondern lediglich mit ihm fühlte, um nicht zu sagen, genau dasselbe fühlte wie er.

Also sagte sie sanft: „Wie war ihr Name?“ Sein Haupt fuhr herum und er prüfte ihren Gesichtsausdruck, doch als er darin nichts als mildes, verständnisvolles Interesse ausmachen konnte, antwortete er schließlich.

„Nuria…“ Sein Flüstern wäre beinahe im Rauschen der Wellen untergegangen, aber ihr feines Gehör konnte die Worte gerade noch einfangen. Er versuchte es emotionslos zu sagen, aber die tiefe Ehrerbietung, die in seiner Stimme mitschwang, erreichte Aurelia trotzdem.

Sie schluckte sie herunter, jede bissige Bemerkung die ihr das Monster auf die Zunge legte, während es dem Feuer dieses nagenden Neids mehr Zunder zuschob. Sie bekämpfte es mit aller Macht und sie wusste, sie würde wieder gewinnen. Pareios gab ihr die Kraft, weil sie einfach alles, was er brauchte, für ihn sein wollte, egal was es kostete. Und da wurde ihr bewusst, dass sie ihm niemals weh tun würde können, lieber hätte sie selbst Harakiri begangen.

Endlich fiel diese Angst von ihr ab, wie ein riesiger Felsen, den sie die ganze Zeit auf ihrem Rücken durch die Gegend geschleppt hatte. Und wenn Viktor sie das nächste Mal mit Vorwürfen bedenken würde, könnte sie ihm offen und ehrlich ins Gesicht sehen und sie guten Gewissens zurückweisen!

„Was ist passiert?“ fragte sie vorsichtig weiter, da sie nun das tiefe Bedürfnis erfasste, alles über Pareios herauszufinden. Aber als er nicht gleich antwortete, musste sie nachhaken. „Erzähl es mir,… bitte!“

Es kam immer noch nichts und eigentlich wollte sie ihn nicht zücken, diesen letzten Trumpf, aber er war der einzige, den er ihr gelassen hatte. „Ehrlichkeit…?“ stieß sie nun noch leiser hervor und bemerkte selbst verwundert, dass es fast flehend klang.

Wieder suchten seine Augen ihre. Die aufgegangen Sonne schien ihm seitlich ins Gesicht und erleuchte seine rechte Iris in allen Farben, die ihr inne wohnten. Jetzt strahlte mehr das Blau als das Grau und die Glühwürmchen glichen eher feurigen Kohlenstückchen. Seine langen dunklen Wimpern warfen einen Schatten auf die nicht zu kurz geratene, aber schmale Nase.

„Hab‘ sie kennen gelernt, als ich 15 war, es war das Jahr 1737…“ Pareios schloss die Augen, als versuchte er, alte Erinnerungen zu visualisieren. „Meine Kräfte hatten gerade begonnen, sich zu zeigen. Wir lebten zu der Zeit in einem Stützpunkt der Legion bei Königsberg. Damals war die Welt noch anders, wir waren nicht so viele wie heute und die Hegedunen regierten offener, grausamer. Sie gaben sich Fürstennamen, um ihre Herrschaft zu rechtfertigen und unterjochten die Menschen, sowie die anderen Elevender. Viktor war viel mit Markus in unserer Sache unterwegs, hab‘ ihn damals nur selten gesehen, aber ich wollte unbedingt auch in die Legion, wollte kämpfen. Deshalb war ich oft unterwegs und suchte Streit, ich wollte wenigsten ein bisschen… Spannung.“ Er stoppte und schüttelte den Kopf. Offensichtlich schien ihm der Gedanke aus heutiger Sicht dumm und töricht.

„Auch andere junge Elevender waren scharf drauf, sich zu beweisen, also haben sich ein paar von uns regelmäßig in den Wäldern getroffen, um… ein wenig ernsthafter zu trainieren.“ Den letzten Satzteil formulierte er so vorsichtig, wie man ein rohes Ei auf einem Messer balanciert hätte. „Eines Nachts habe ich mich mit einem Jungen aus einem Dorf in der Nähe des Stützpunktes geprügelt, seine Eltern waren Elevender, Gegenstücke, aber sie hatten sich der Legion nicht angeschlossen. Ihr Sohn und ihre Tochter dagegen….“ Pareios räusperte sich vernehmlich. „… Auf jeden Fall, war ich gerade dabei, ihm den Arsch aufzureißen, als sie sich dazwischen geworfen hat, seine Schwester Nuria.“

Wieder fuhr er sich mit der Rechten über das kurzgeschorene Haar, doch dann kämpfte er sich weiter durch die unheilvollen und doch schönen Erinnerungen. Aurelia blieb ganz ruhig, folgte jeder seiner Bewegungen und lauschte den vielfältigen Gefühlen, die er aussandte. Sie drängte nicht, sondern wartete reglos, bis er von selbst weitersprach, der Damm war bereits gebrochen und es würde bald mehr kommen.

„Die nächsten zwei Jahre waren wir unzertrennlich. Niemand stellt die Elevation in Frage, und damals war es nicht unüblich, in unserem Alter zu heiraten. Warum auch nicht, wir waren für einander alles, was wir jemals brauchen würden.“ Aurelia schluckte angesichts dieses Bekenntnisses und es machte sie plötzlich eigenartig beklommen, dass er schon einmal verheiratet gewesen war, mit jemandem, der ihm mehr verbunden war, als sie es je sein konnte. Sie versuchte es zu verdrängen und sich nicht wie ein Trostpflaster zu fühlen, aber es war hartnäckig da und ließ sich nicht so einfach wegwischen.

Er ersparte ihr weitere Details dieser glücklicheren Zeit seines Lebens, sondern schilderte ihr stattdessen den Untergang seiner Welt.

„Eines Nachts haben die Hegedunen ihr Dorf angegriffen, sie lebte mittlerweile bei mir, in unserem Lager. Ich konnte sie nicht zurückhalten, als wir den Überfall bemerkt haben. In jener Nacht starb sie für ihren Bruder, wie sie es damals getan hätte, als wir uns kennen lernten. Ich war da, aber ich konnte sie nicht retten, ich…“ Ihm entrang sich ein Laut, ähnlich einem unterdrückten Schluchzen. „ In der Stunde ihres Todes habe ich mir geschworen, die Hegedunen zu zerschlagen und wenn es das Letzte ist, was ich tun werde. Ich hab mich von der Legion ausbilden lassen und bin dann einige Jahrzehnte allein auf die Jagd gegangen. Ich dachte damals, ich könnte nie wieder für jemanden eine solche Zuneigung empfinden.“

 

Sein Blick vermittelte nun, dass er sie damit ansprechen wollte, aber sie sah  ratlos zurück, noch immer gebannt von seiner Geschichte, in der so viel Leid steckte, das sie nun doppelt so stark verspürte, da ein winziger Teil von ihr auch darum trauerte, dass sie all das nicht für ihn sein konnte.

„Und dann kamst du…“ sagte er, um ihre Verwirrung zu lichten. Sie hob erstaunt den Kopf von seiner Schulter.

„Wie bitte?“ War sie so verdammt blind gewesen? Sie musste wirklich Tomaten auf den Augen gehabt haben, oder ganze Bretter vorm Kopf. Erst Viktor und nun Pareios… Moment, Viktor…? Jetzt formte ihr Verstand ein dumpfes Begreifen und das Kartenhaus ihrer Weltanschauung fiel in sich zusammen, als sich verschieden Assoziationen bildeten. Wie um ihren Verdacht zu bestätigen erzählte er weiter, aber mit einer neuen Intensität in der Stimme, als wolle er ihr verständlich machen, was das alles für ihn bedeutete.

 „Als Viktor von dir erzählt hat, dieser Hegedunin, die ausbrechen wollte, hab‘ ich zuerst über die Vorstellung gelacht, dass er ernsthaft vorhatte, dich am Leben zu lassen… Aber als ich dich sah… wusste ich sofort, warum er es getan hatte. So ein Geschöpf wie dich kann man nicht einfach töten… Es wäre ein Verbrechen, etwas so Wundervolles, so Besonderes zu zerstören.“

Noch nie hatte sie solche Worte aus seinem Mund gehört und noch nie hatten solche Sätze ihr gegolten. Es klang komischer Weise nicht kitschig, da er es eher aus tiefster Überzeugung, denn schmeichlerisch sagte. Sie errötete sofort heiß und ihre Wangen pochten vor lauter Blut, das sich darin sammelte. Aber sie fühlte sich gleichzeitig geehrt und so glücklich, fast erhaben, wie er über sie sprach. Sie platzte beinahe vor Stolz und sie wollte die Arme um Pareios schlingen, ihn küssen, ihn spüren….

„Aber Viktor wollte dich,… und ich dachte immer, du wolltest ihn auch. Also habe ich mich zurückgehalten.“

Das war ein Hieb in die Magengrube. Was zum Teufel war da die ganze Zeit hinter ihrem Rücken gelaufen? „Habt ihr über mich gesprochen?“ Sie konnte die leicht verstimmte Frage nicht zurückhalten.

Er schüttelte energisch den Kopf. „Nein, nie. Aber ich bin nicht blind…“

Sofort verflüchtigte sich die Rauchwolke ihres Zorns so schnell, wie sie gekommen war, weil sie mit ihren Sinnen ertastete, dass er sich offenbar ebenso wie ein Trostpflaster fühlen musste. Erschrocken biss sie sich auf die Lippen. Nein, das konnte sie nicht zulassen, er kannte nicht die Wahrheit, doch gleichzeitig war sie nicht fähig, es zu sagen. Noch nicht.

Wie erklärte man jemandem überhaupt, dass man ihn liebte, ohne ihn mit der eigenen Unzulänglichkeit zu verschrecken? Und davon besaß Aurelia so viel, dass sie erwartete, dass Pareios sich von ihr abwenden würde, falls er es jemals erfahren sollte. Doch…was, wenn er genau das in diesem Moment mit seinem Geständnis hatte herausfinden wollen, wie Aurelia dazu stand?

Aber so viel von sich Preis zu geben, sich so offen und verwundbar zu machen, jetzt wo ihr seine Zuneigung so wichtig war, wagte sie noch nicht. Trotzdem wurde ihr bewusst, dass sie hier etwas klar stellen musste.

Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihm wieder tief in die Augen, um die Aufrichtigkeit ihrer Worte zu unterstreichen. „Ich habe Viktor nie so gemocht, wie ich dich jetzt mag!“ sagte sie schlicht, aber bestimmt. Zur Bekräftigung gab sie endlich dem Drang nach, Pareios zu küssen. Sie wollte all ihre Zärtlichkeit mit ihrem Mund darbieten, ihm mit ihren Lippen klar machen, wie viel er ihr bedeutete.

Er reagierte sofort mit seinem ganzen Körper auf die Berührung und entflammte an ihrer Haut. Seine gesamte Muskulatur erstarrte in der stählerneren Anspannung seiner Beherrschung, aber er machte die Lippen ganz nachgiebig weich, so himmlisch sanft folgten sie den Bewegungen der ihren. Dann legte er eine Hand seitlich an ihren Hals und ließ sich langsam nach hinten auf den Rücken sinken, während er sie mit sich hinunter zog. So lag sie halb auf ihm, spürte sein Herz gegen ihre Brust trommeln und seine Finger ihre Wirbelsäule hinab gleiten.

Aurelia schmolz in seinen Armen dahin, ließ sich von ihren Empfindungen treiben, die ihre Hände ganz von selbst beflügelten, über die heiße Haut und die vielen Narben zu streichen. Das Glühen in ihrem Herzen schwoll immer weiter an und senkte sich in alle Winkel ihres Leibes, ließ sie vor Verlangen seufzen, während sich der sengende Strudel zwischen ihren Beinen konzentrierte. Als sich ihre Zunge zwischen seinen Zähnen hindurch drängelte, stöhnte er verzweifelt mit sich ringend, doch dann schien er seine Zurückhaltung in den Wind zu schießen.

Pareios schlang fest die Arme um sie und rollte sich mit einer eleganten Bewegung auf sie, ohne den Kuss zu unterbrechend. Sein Gewicht drückte sie in den kühlen Sand und seine starken Schultern umschlossen sie, versprachen Halt und Sicherheit. Schließlich wanderten seine fordernden Lippen ihren Hals hinunter, während sie spürte wie seine Rechte immer noch zögerlich die nackte Haut ihres Bauches hinauf fuhr. Genüsslich reckte sie ihm ihren Brustkorb entgegen, konnte es gar nicht mehr erwarten, von ihm berührt zu werden.

Endlich umschloss er sanft eine Brust über dem Stoff ihres Büstenhalters und sein Mund gesellte sich dazu, strich leicht wie ein Hauch über die Stelle, wo der Saum begann. Die Gänsehaut, die er damit verursachte, überzog die komplette Körperseite. Noch nie hatte sie ein solch inniges Verlangen gespürt. Es war mehr als sexuelles Begehren, es war wie der Wunsch in ihm aufzugehen, sich mit Pareios zu verbinden.

Gott, wie gut er sich auf ihr anfühlte, als hätte sie ihr ganzes Leben nur nach diesem Moment, nach seiner Nähe gedürstet. Und sie wollte ihn, sie brauchte ihn so sehr, dass sie fürchtete, sonst zu zerspringen. Dann drängte er seine Hüften zwischen ihre Beine und sie fühlte seine Erektion gegen ihren Oberschenkel gepresst. Im nu hatte er flink einen BH-Träger über ihre Schulter geschoben und die dunkle Brustwarze glänzte nun freigelegt in der Morgensonne, bevor sich seine Lippen darum schlossen. Sie ließ die Lider zufallen und ließ sich von seinem Mund verzaubern. Ihre Gedanken lösten sich von ihr und entflohen in wundervolle Tagträume. Dieses tiefe Gefühl der Zuneigung verdichtete sich zu der Gewissheit, dass sie mehr als nur das für ihn fühlte, sie wollte ihn ganz, ganz für sich allein. In dem Moment versuchte Pareios gemächlich den Slip nach unten zu schieben, da durchfuhr sie eine Erinnerung wie ein ätzender Strom Säure.

Sie durchflutete ihr Hirn und ihr Herz, während Aurelia machtlos dabei zusah, wie eine unglaubliche Abscheu in ihr aufstieg. Fast wie eine Panikattacke ergriff sie ihre Kehle und drückte zu, nahm ihr die bitter benötigte Luft zum Atmen und schnürte enge Seile mit Dornen um ihren Brustkorb. Jeder bohrte sich wie ein winziger Giftpfeil in sie, verseuchte sie mit dieser urplötzlichen Abneigung. Sie konnte ihren Mund nicht daran hindern ein Schluchzen zu formulieren.

Zuerst nahm Pareios an, der Laut wäre ein Ausdruck ihrer Leidenschaft und liebkoste ihren Körper noch ausgiebiger, aber dann ergriff der Aufruhr in Aurelias Inneren auch ihre Arme. In benommener Trägheit ballten sich ihre Fäuste und schlugen schwach und widersinnig immer wieder  gegen seine Oberarme und Schultern. Währenddessen verwandelte sich das Schluchzen ohne ihr Zutun in ein Wimmern. Obwohl sie es nicht wollte, schrie alles in ihr danach, sein Gewicht auf ihr loszuwerden und da sah er sie erschrocken an. Zuerst war sein Blick nur verwirrt, aber als er die rohe Panik in ihrem Gesicht las, verzerrten sich seine Züge zu blankem Entsetzen. Wie von der Tarantel gestochen rollte er sich von ihr herunter. „Aurelia, hab ich dir wehgetan?“ fragte seine zittrige Stimme von tiefer Besorgnis erfüllt. Ohne sein Gewicht auf ihr ließ die Panik langsam nach und sie schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Mit stockendem Herzschlag setzte Aurelia sich auf und schlang die Arme um den schmerzenden Brustkorb.

 „Nein, ich… ich weiß auch nicht, eigentlich war es schön…“ brachte sie schließlich stoßweise hervor.

Kurz blieb es still. „Was ist es dann?“ Pareios‘ Tonfall war diesmal noch sanfter und sie hörte auch den Schmerz, den die Zurückweisung verursacht hatte. Er stach ihr tief in die Seele und sie wünschte, sie hätte sich beherrschen können. Sie verstand nicht, warum ihr Körper ihr gerade in diesem Moment diesen grausamen Streich spielte, wo doch alles eben noch in bester Ordnung gewesen war, der besten seit langem, eigentlich seit Anbeginn ihres Daseins. Es zerriss sie innerlich, ihn, den sie liebte, fortstoßen zu müssen.

Aurelia schwieg. Sie brachte es nicht über die Lippen, ihm ihr krankes Wesen zu erklären. Was wenn er dann genauso genug von ihr haben würde, wie Viktor? „Ich…, weiß es einfach nicht, ich… ich glaube,… ich kann nicht…“ setzte sie wieder an, bekam es aber nicht fertig, den Satz zu Ende zu führen.

„Was kannst du nicht?“ Er fasste ihr Kinn, um ihren Kopf zu drehen. Seine Augen zeigten deutlich die Enttäuschung, aber immer noch war er liebe- und verständnisvoll.

„Ich glaube, ich kann nicht mit dir…“ gab sie dann mit brüchiger Stimme zu und senkte den Blick. Sie konnte nicht mit ansehen, wie sie das zarte Pflänzchen ihrer Beziehung mit diesem einen Satz zerstörte und unbarmherzig mit den Füßen zertrampelte. Abrupt nahm er die Hand weg.

„Was soll das heißen?“ Pareios klang getroffen. „Soll das heißen, du kannst mit Hinz und Kunz schlafen, aber nicht mit mir?“ Er fauchte aus tiefer Brust und offenbarte das Ausmaß der Verletzung, die sie ihm zugefügt hatte. Er hatte sich ihr eben geöffnet, so viel von sich in die Waagschale geworfen und war ihr so nah gekommen, physisch und seelisch, wie keiner zuvor und wieder hatte sie die Flucht vor seiner Nähe ergreifen müssen, die Flucht vor seiner Liebe, begriff sie plötzlich. Natürlich ging es nicht um den Sex, den sie nicht ertragen konnte.

„Pareios, nein, ich…“

Doch er war schon aufgesprungen und unterbrach sie in einer Eiseskälte. „Schon gut! Du brauchst nichts weiter zu erklären. Ich habe schon verstanden.“ Damit kehrte er ihr den Rücken zu und stapfte zurück durch den Sand in die Wellen der Ostsee. 

20

„Ja genau! Liebe erobern! Von wegen!“ dachte sie voller bitterem Spott über sich selbst, als sie die Terrassentür des herrschaftlichen Landsitzes öffnete und in die einladende Geborgenheit des Hauses zurückschlüpfte. So konnte sie das ja wohl vergessen. Da war sie sich sicher gewesen, dass er der einzige war, dem sie alles geben wollte und konnte, und was war jetzt? Wieder hatte ihr die Vergangenheit ein Hundehalsband angelegt und hielt sie an der kurzen Leine. Hatte den strahlendsten Moment aller Zeiten in ein absolutes Desaster verwandelt.

Viktor hatte Recht behalten, fiel ihr zu ihrer Bestürzung ein. Sie hatte seinen Bruder kaum 24 Stunden nach ihrem Gespräch so verletzt, dass er völlig übereilt die Flucht angetreten hatte. Was für eine Heldin sie doch war! Die aufwallende Wut über ihr vermaledeites Wesen schnürte ihr die Kehle zu, während sie auf nackten Füßen, die Schuhe in den Händen, ansonsten wieder vollständig bekleidet, in die Küche taperte, die man ihr vorhin gezeigt hatte. Der Raum war hell und gemütlich, lud ein, sich auf der bequem gepolsterten, runden Bank, die hinter einem großen, ebenfalls runden Tisch in einem gläsernen Erker stand, niederzulassen. Sie ließ den gefüllten Wasserkocher auf der Anrichte neben dem marmornen Spülbecken, aufbrühen und durchforstete die vielen Schränkchen der cremeweißen Zeile im Landhausstil. Sie kramte eine Tasse und Aufgusskaffee hervor. In der anheimelnden Atmosphäre bewegte sie sich zwanglos und fühlte sich jetzt schon mehr zu Hause, als sie es im Bunker jemals getan hatte.

Aus diesen Empfindungen Kraft schöpfend, zwang sie sich, den Ärger ohne Reaktion über sich ergehen zu lassen und stellte sich vor, wie er von ihr abperlte, wie Regentropfen von einem wächsernen Pflanzenblatt. Dabei hielt sie sich an der Arbeitsplatte aus Grafitstein fest und atmete tief durch, die Augen geschlossen. Sie sog den Duft der ganzen Familie ein, irgendwo lag ein Hauch Waschmittel in der Luft, vermischt mit dem samtig weichen Kleinkindgeruch. Sie entspannte sich ein wenig, zog die Schultern nach unten, lockerte den Nacken.

Wenn Pareios und die ganze Geschichte mit ihm sie eins gelehrt hatte, dann dass sie sich nicht mehr von solchen negativen Gefühlen beherrschen lassen durfte. Sie brachten ihr Chaos und Unglück, während sie, wenn sie mit ihren Gefühlen im Reinen war, vor Kraft und Klarheit nur so strotzte. Und die kleine Verwirrung vorhin hatte ihr dies nur noch ein Mal eindrucksvoll bestätigt. Negative Gefühle, negative Konsequenzen.

Sie schüttelte sich angesichts dieser Erkenntnis.

Sie hatte endlich erkannt, wo das Problem liegen mochte und war jetzt bereit, es mit Pareios aufzunehmen, da sie einen Einblick in eine vielleicht mögliche, wunderschöne Zukunft erhaschen hatte können. Sie hatte nicht vor, tatenlos darauf zu verzichten. Die Frage war nur, ob Pareios noch mit im Zug saß, oder schon wieder abgesprungen war.

Im Moment war sie nicht besonders scharf darauf, es herauszufinden. Mit ihm zu sprechen, hätte bedeutet, sich erklären zu müssen, ihre ganze beschissene Vergangenheit vor ihm auszubreiten wie einen Teppich. Nur dass es kein eleganter, samtroter Läufer war, sondern eher ein schwarzgrauer, dreckverkrusteter Fußabtreter. Bei dem Gedanken, wie er reagieren würde, lief es ihr kalt den Rücken runter und sie erschauerte.

 

Da räusperte sich jemand hinter ihr.

Beinahe zu Tode erschrocken, zuckte Aurelia zusammen und fuhr herum. Dabei setzte ihr Herz einen Schlag aus und sie hielt unwillkürlich die Luft an. Ihre Augen suchten in hektischen Bewegungen die Küche ab, glitten über leere Möbel und in dunkle Ecken, doch es war keine Menschenseele außer ihr im Raum. Die Härchen auf ihrem Unterarm richteten sich auf, als die Präsenz eines Elevenders in ihr Bewusstsein sickerte. Obwohl sie nichts sehen konnte, war sie sich ganz sicher.

Ein tiefer, amüsierter Laut, es klang wie ein Kichern, ertönte rechts in ihrem Blickfeld und sie versuchte sofort den Fleck zu fixieren, an dem ihre feinen Ohren das Geräusch geortet hatten.

„Ja, jetzt haben sie mich!“ ertönte Ezekiels Stimme und kurz darauf tauchte er direkt vor ihren Augen auf. Er materialisierte sich einfach aus der Luft, absolut leise und abrupt. Er saß in einer entspannten Haltung leicht schräg auf dem weichen Polster eines Ohrensessels an der rechten Wand und hatte ein Bein lässig übers andere geschlagen. Ein Ellenbogen ruhte auf der Armstütze, das Kinn hatte er auf die Fingerknöchel gestützt und seine silbernen Augen leuchteten in schalkhafter Freude.

„Verzeihen sie mir bitte. Ich habe um diese Uhrzeit nicht mit Gesellschaft gerechnet. Als ich sie kommen hörte, setzte wohl ein Reflex aus meiner aktiven Zeit ein.“ gestand er höflich.

Endlich stieß Aurelia die angehaltene Luft aus und aspirierte einen neuen tiefen Zug. Er hatte die ganze verfluchte Zeit dort gesessen? Dann waren ihm die merkwürdigen Regungen sicher nicht entgangen, die während ihrer stummen Gedankengänge durch ihren Körper gefahren waren. Sie fühlte sich gedemütigt, aber ließ auch dieses Gefühl einfach wie Regentropfen abperlen und befahl sich, den Fokus auf etwas andres zu richten.

„Sie können sich unsichtbar machen?“ Sich nach der Gabe ihres Gegenübers zu erkundigen war etwas heikel, immerhin stellte das Wissen darum eine Schwäche für den Besitzer der Kraft dar. Doch Ezekiel schmunzelte lediglich mit einem tiefen Grollen und wechselte die Position, jetzt lagen seine Fingerspitzen an einander. Das war wohl eine Ratsmitgliedsgeste, dachte sie, als sie sich unwillkürlich an Markus erinnert fühlte.

Mit sanfter Stimme erklärte er: „Ja, und nein. Der Effekt ist tatsächlich, dass ich für sie nicht sichtbar bin. In Wahrheit sitze ich aber immer noch genau hier in diesem Stuhl, nur in einer anderen Dimension.“ Sie bemühte sich, das Gesagte zu verstehen, war sich jedoch nicht sicher, ob ihr das auch gelang.

„Könnten sie von da aus jemanden in dieser Dimension berühren?“

Er schaute ihr anerkennend entgegen. „Ich muss sagen, sie begreifen äußerst schnell, Aurelia. Viktor hat sie in den höchsten Tönen gelobt, aber ich bin von Natur aus ein Skeptiker. Sie jedoch, übertreffen seine Beschreibungen noch. Und um ihre Frage zu beantworten: Nein, das kann ich nicht.“  Ezekiel hatte eine gemächliche Art zu sprechen, trotzdem wirkte es nicht zögerlich, sondern eher wohl durchdacht. „Sie würden direkt durch mich hindurch laufen. Ihr Wasser ist fertig.“ In dem Moment stellte sich das Gerät automatisch aus.

Aurelia bereitete sich ihren Kaffee, fügte ein wenig Milch aus dem Kühlschrank zu. „Kann ich ihnen auch…“ erkundigte sie sich daraufhin auch beim Hausherren, als sie sich an ihre guten Manieren erinnerte.

Er lehnte dankend ab und bot ihr dann den Stuhl zu seiner Linken an. Bereits das heiße Gebräu schlürfend, ließ sie sich dort nieder und betrachtete Ezekiel nachdenklich. Obwohl das wohl eher unhöflich war, hielt er ihrer Musterung selbstbewusst stand, hatte sogar ein leichtes Lächeln auf den Lippen.

„Ist diese andere Dimension leer?“ Jetzt schon wesentlich neugieriger, konnte sie es sich nicht verkneifen, genauer nachzuhaken.

„Nein. Genau genommen ist sie wie hier.“ gab er schlicht zu und zog die Mundwinkel noch weiter nach oben.

„Sind sie dann dort sichtbar?“

„Du lieber Himmel, nein! Das wäre wohl fatal!“

„Warum kann man sie dort ebenso wenig sehen? Und warum wäre es schlimm, wenn es doch so wäre?“ Das Gespräch begann langsam, sich ihrer Vorstellungskraft zu entziehen.

„Weil ich da nicht hingehöre. Und das ist die Antwort auf beide ihrer Fragen!“ Sein Tonfall signalisierte eine Grenze. Mehr würde er zu dem Thema nicht mehr verraten. Ezekiels ganzes Auftreten  strahlte eine ruhige Würde aus und er wirkte auch jetzt noch wie ein Ratsmitglied. Seine Worte hatten Gewicht, er musste sie noch nicht ein Mal aussprechen.

 

„Nun, da ich so offen war, möchtest du vielleicht darüber reden, was dich eben beschäftigt hat, bevor ich dich erschreckt habe?“ Seine silbrigen Augen stachen ahnungsvoll in ihre. Sie fühlte sich augenblicklich von diesem weisen Blick durchschaut und dachte verblüfft, dass Ezekiel Markus‘ Gabe wohl nicht brauchen würde, um ihr jedes Geheimnis aus den Rippen zu leiern. Außerdem lockerte die Tatsache, dass sie sich hier beinahe zu Hause fühlte und sein lässiger, ungebetener Wechsel zum Du, auf listige Weise ihre Zunge, ohne dass sie sich bewusst dazu entschied.

„Naja, es gibt da, etwas in meiner Vergangenheit, das mich einfach nicht loslässt, egal wie weit ich sie auch wegschiebe.“ Ihr Blick wanderte in die Ferne, während verschiedene Bilder durch ihren Kopf changierten. Allerdings behielt sie sich, wie er, vor, die Sache nicht weiter auszuführen.

„Meiner Erfahrung nach, ist die Vergangenheit eine überschätzte Zeit. Du kannst sie nicht mehr ändern und darin leben kannst du auch nicht. Du solltest loslassen, akzeptieren. Solange man etwas mit Gewalt von sich schiebt, kommt es immer wieder wie ein Bumerang zurück und wenn man nicht aufpasst, trifft es einen hart und unerwartet am Kopf!“

Sie schmunzelte über die Metapher und war erstaunt, wie genau er ihre Situation mit seinen Worten getroffen hatte, ohne Näheres zu wissen. Bei dem Gedanken daran, das alles als Teil von ihr zu akzeptieren, alles was sie getan hatte, durchfuhr sie tiefe Ablehnung. 

„So etwas kann man nicht dulden. Aber ich versuche, damit zu leben, dass ich es getan habe.“ murmelte sie vage, woraufhin er wieder dieses merkwürdige Augenzucken zeigte, das ein jäh aufblitzendes Verständnis kennzeichnete.

„Du musst dir verzeihen, sonst wirst du niemals frei davon sein!“ Sein sanftes Beharren fühlte sich alt vertraut an, Ezekiel ihr Herz auszuschütten schien das einzig Richtige und so langsam ging ihr auf, dass er ein begnadeter Netzwerker sein musste, wenn er so fabelhaft mit Menschen umgehen konnte.

Sie seufzte leise und nickte. Er hatte wohl Recht, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals zu diesem Schritt fähig sein würde. Sich selbst zu verzeihen war eine wesentlich größere Sache, als jemand anderem Vergebung zu schenken.

Warum konnte sie mit einem völlig Fremden über dieses Thema sprechen, aber nicht mit Pareios?

Weil sie ihn liebte. Und diese Tatsache dämpfte ihre Redseligkeit gehörig!

 

Plötzlich ertönte ein leises Plop-Geräusch. Ein kleiner Junge, fast noch ein Baby war wie aus dem nichts auf Ezekiels Schoß aufgetaucht. Während Aurelia ordentlich zusammengefahren war, schien dieser nicht im Mindesten überrascht. Seine Arme schlossen sich wie selbstverständlich um den kleinen, rundlichen Körper seines Sohnes.

Das war offensichtlich, denn die Ähnlichkeit ließ sich kaum von der Hand weisen. Die weißen Löckchen kringelten sich wie ein Haufen Daunenfedern auf dem Kopf des Kleinkindes. Die riesigen Augen waren von demselben flüssigen Silber, das auch sein Vater besaß. Zwischen den pausbackigen Wangen prangte ein kleiner Mund mit rosaroten Lippen, dahinter blitzten erste winzige Zähnchen. Trotz des Schrecks war sie sofort gefangen von dem Anblick des kleinen, zauberhaften Wesens und sie fragte sich sogleich, wie sich wohl die Haut über dem Babyspeck anfühlte.

Sie hatte noch nie ein Kind in den Armen gehalten. Ihre Schwester war nur anderthalb Jahre nach ihr geboren worden und ihre Berufung war nicht gerade kinderfreundlich, also liefen ihr bei der Arbeit nicht viele davon über den Weg. Viktors Sohn Mathia war das einzige Kind im Bunker, aber obwohl sie es nur ungern zugab, hatte sie sich immer bewusst von ihm ferngehalten.

Sie wusste, dass es unfair war, aber sie hatte Meredia und ihren Sohn immer als Eindringlinge in ihrer geordneten Welt gesehen, die ihr das Vertrauteste genommen hatten. Das war Viktor natürlich nicht entgangen, was die heikle Situation im Bunker zusätzlich verschärft hatte. Meredia hatte sich offen um ihre Freundschaft bemüht, aber Aurelia hatte nichts als kühle Höflichkeit aufbringen können. Sie gönnte Viktor sein wohlverdientes Glück, konnte aber doch nicht umhin, mit dem Resultat daraus, ihrer Einsamkeit, zu hadern.

„Tut mir Leid, in dem Alter will Elia sich einfach noch nicht an den guten Ton halten. Schlimmer als ein Sack Flöhe!“ schmunzelte Ezekiel und stand mit dem Jungen auf dem Arm auf. Erst bei seinen Worten verschlug es Aurelia die Sprache, nachdem sie zuerst von dem zarten Babygesicht gefesselt gewesen war.

Elia hatte sich soeben direkt auf den Schoß seines Vaters teleportiert und das war äußerst bemerkenswert. Es war weniger die Gabe, diese kam relativ häufig unter den Elevendern vor, als die Tatsache, dass er sie in seinem zarten Alter schon benutzen konnte. Normalerweise regten sich Begabungen erst in der Pubertät, meist zwischen 14 und 16, und es dauerte dann noch Jahre, bis sie voll ausgebildet waren. Ezekiels Familie war zweifellos vollgestopft mit überragenden Talenten. 

Sie sah zu, wie ihr Gastgeber ganz in der Rolle des fürsorglichen Vaters aufging, während er einen Brei bereitete und sich dann wieder in den Sessel setzte, um Elia zu füttern. Dieser hatte jedoch anderes im Sinn und griff verwegen nach dem Löffel, wobei der Brei durch den Raum spritzte. Dabei quietschte er vergnügt.

Ezekiel seufzte vernehmlich. „Könntest du kurz?“ Er hielt ihr seinen kleinen Sohn vor die Nase, der währenddessen aufgeregt die kleinen, pummligen Fingerchen gegen einander patschte und lachte. Schon saß er auf ihrem Schoß und Ezekiel widmete sich der Beseitigung der Sauerei.

Aurelia wusste nicht wohin mit ihren Händen. Das Gefühl dieses leichten Gewichts auf ihren Oberschenkeln und der Kleinkindgeruch waren berückend. Etwas in ihr regte sich. Ihr Herz schien förmlich aufzublühen, unter einer Zuneigung, die nichts Romantisches an sich hatte. Es war etwas Besitzergreifendes, etwas Mächtiges. Ein Bedürfnis, von dem sie noch nicht einmal ernsthaft angenommen hatte, dass sie es besaß. Sie wollte dieses Kind an sich drücken und es beschützen, es sicher in ihren Armen wiegen.

War das etwa gerade ein Mutterinstinkt, der sich ihrer da bemächtigte?

Sie versuchte energisch, es zu leugnen, aber der weiche Kinderkörper zog sie mit magischer Anziehungskraft in seinen Bann. Sie berührte den samtigen Flaum weißer Härchen und verfolgte jede fahrige Bewegung mit vor Interesse geweiteten Augen. Was für ein wundervoller Anblick! Jetzt brabbelte er etwas Unverständliches, dann streckte er die Hand nach ihrem Gesicht aus, und da war es um sie geschehen.

Es war definitiv ein Mutterinstinkt und dieser zog ihre Mundwinkel jetzt auch noch zu einem dämlichen, verträumten Lächeln!

Sie erschrak innerlich und schalt sich automatisch! Als ob sie nicht genug Probleme gehabt hätte, entwickelte sie jetzt auch noch einen Kinderwunsch? War sie denn völlig irre?  Dieser Ort war nicht nur einnehmend, er schien sie geisteskrank zu machen!

Natürlich hatte sie sich schon gestern Nacht im Auto gewünscht, irgendwann ein normales Leben mit einer Familie führen zu können, aber jetzt war der Wunsch genauer, definierter. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie das Gefühl wie das Ticken ihrer biologischen Uhr beschrieben, dabei hatte sie unbegrenzt Zeit, Kinder zu gebären. Das hoffte sie zumindest, ihrer bedrohlichen Vision zum Trotz.

Wie konnte sie es wagen, von so etwas zu träumen, wo sie noch nicht einmal eine vermeintlich so einfache Sache wie Sex hinbekam? Mal ganz abgesehen davon, dass Pareios nicht ihr Gegenstück war und somit die Chancen auf Nachwuchs einem Sechser im Lotto samt Zusatzzahl gleich kamen. Wie lächerlich überhaupt darüber nachzudenken, wo sie Pareios doch eben mit kalter Präzision zurück gewiesen hatte. Wie konnte sie da annehmen, dass sie fähig war, einem Kind die Liebe zu geben, die es brauchte, die es verdiente?

Ezekiel nahm ihr den kleinen Wonneproppen wieder aus den Händen, um die Mahlzeit fortzuführen. Aurelia betrachtete das friedliche Bild versunken, doch als sie bemerkte, dass ihr hirnverbrannter Geist Ezikiels Gesicht gegen Pareios‘ ausgetauscht hatte, zwang sie sich aufzustehen. Schnell raus hier, bevor sie noch völlig den Verstand verlor!

Im Türrahmen angekommen, vernahm sie noch ein Mal Ezekiels Stimme und es hörte sich an, als ob er unverschämt breit grinste. „Falls du übrigens einen hitzigen Elevender suchst, der hier vorhin Hals über Kopf durchgestürmt ist, der ist glaube ich im Gästeflügel verschwunden!“

 

 

Sie schlich sich auf den Zehenspitzen die marmorne Treppe hinauf und weiter zu den Zimmern, die Ezekiel ihnen zugewiesen hatte. Das Linke hatten Row und Aiden besetzt, also öffnete sie zunächst das Mittlere. Ein unruhig schlafender Viktor lag angezogen auf dem Bett. Er schreckte sofort hoch, als sie den Kopf durch den Türspalt geschoben hatte.

„Deins ist nebenan.“ raunte er ein wenig ungehalten über die Störung. „Wir sehen uns um elf.“ Er seufzte und drehte sich um.

Schließlich betrat sie ihr eigens Zimmer und fragte sich eben, wo wohl Pareios schlafen würde, als sie ihn ausgestreckt auf dem breiten Doppelbett entdeckte. Er war unter die taupefarbene, samtige Tagesdecke gekrochen und hatte sie bis zum Bauch hochgezogen. Sein breiter Oberkörper hob sich dunkel und perfekt geformt von den weißen Laken ab. Da stand sie nun völlig erstaunt in mitten ihres Gemachs und zerfloss vor glücklichem Kribbeln, das die Freude über seine Anwesenheit auslöste.

Er schenkte ihr ein unsicheres Lächeln, das völlig untypisch für seine sonst so lässige Fassade war. Sie hatte schon befürchtet, ihn ernsthaft verschreckt zu haben, aber er hatte ihr nicht den Rücken zugekehrt. Er war bei ihr geblieben, obwohl sie das nicht im Entferntesten verdient hatte. Er überraschte sie einfach immer wieder aufs Neue!

Pareios fixierte sie mit einem forschenden Blick und stützte den Kopf auf den angewinkelten Arm, wobei er mit der anderen Hand auf die leere Fläche neben sich im Bett klopfte. Sie blieb unschlüssig an ihrem Platz und wusste nicht, wie sie die Einladung aufnehmen sollte, immerhin hatte er doch vorhin gesehen, was passierte wenn…. Sie hatte wirklich vor, diese Reaktion in Zukunft zu unterdrücken, aber sie war sich nicht hundertprozentig sicher, ob sie es im Griff hatte.

Er erfasste ihr Misstrauen sofort, denn er sagte leise: „Keine Sorge, ist schon gut. Ich werde dich nicht bedrängen! Du musst mir noch nicht ein Mal sagen, was da los war,…. zumindest nicht, bis du bereit dazu bist.“ Er sah sie fest dabei an und ließ den Magnetismus aufwallen, der vertraut zwischen ihren Körpern knisterte. Schon hatten sich ihre Beine nach vorn geschoben, der überwältigenden Anziehung des Anblicks von Pareios auf dem Bett nachgebend. Am Matratzenrand angekommen zögerte sie beim Ausziehen der Kleider wieder.

„Wirklich, alles was ich will, ist neben dir liegen!“ Er brachte die wiederholte Beteuerung in solch ehrfurchtsvollem Ton vor, dass sie unwillkürlich schmunzeln musste. Pareios als Wächter ihrer Tugend kam ihr irgendwie absurd vor. Aber wie um ihre Gedanken zu negieren fügte er frech an: „Außerdem kenn‘ ich ja jetzt, was da drunter steckt. Also keine falsche Scham!“

Zuerst wollte sie empört reagieren, aber sie stellte verdutzt fest, dass sich keine Empörung einstellte. Sie empfand eher eine merkwürdig wohlige Vertrautheit, welche sie letztendlich überredete, die Kleider abzulegen und sich in der nassen Unterwäsche zu ihm unter die Decke zu legen. Dort würde sie in seiner Wärme schon bald trocken sein.

Sie rollte sich auf die Seite mit dem Rücken zu ihm, doch er schlang sogleich den Arm um ihre Taille und zog sich fest an seinen heißen Körper, was sie kurz zusammenzucken ließ.

„Ich hab gesagt, ich werde dich nicht drängen, nicht, dass ich dich nicht mehr anfassen werde!“ Sie spürte seine Lippen an ihrem Ohr und die kleinen Härchen dort wankten im Strom seines Atems hin und her. Ihr gefiel, dass er sich nicht von ihr abschrecken ließ. Er drängte nicht, aber er war mit sanfter Unnachgiebigkeit an ihrer Seite geblieben. Sie bewunderte ihn für diese stoische Art, wie sie so vieles an ihm bewunderte. Trotz allem, was sie getan hatte, hatte er sich nicht abgewendet.

Sie lag nun mit Rücken und Po an ihn gepresst und konnte jeden Muskel, einige härter, als andere, fühlen. Die Hitzewelle übertrug sich auf ihre nackte Haut und ihr Körper entspannte sich unwillkürlich. Sie fühlte sich geborgen und beschützt, eingemummelt in seine Umarmung und die weichen Falten des kuschligen Nachtlagers. Ihr normales Leben, das blutrünstige Geschäft und die Kälte, die damit einher ging, waren ganz weit weg.

Ja, das war er, ihr persönlicher Himmel, dachte sie, während sie von innen heraus vor Liebe zu glühen begann. Sie fragte sich, ob sie unter der Decke in ihrer gemeinsam erzeugten Hitze nicht vergehen würden, dabei lagen sie nur an einander geschmiegt da!

Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, während er ihr mit einer Hand immer wieder sachte über die Haare strich. Diese liebevollen Berührungen verflüssigten die letzten Vorbehalte in ihrem Geist und sie zerrannen in einem köstlichen Strom aus tiefer Zuneigung und aufkeimendem Begehren. Sie umfasste einen Unterarm an ihrem Bauch und ließ den Daumen über den Flaum seiner Behaarung kreisen. Der Moment war von tiefem Frieden erfüllt, als hätte sie alle Sorgen am Bettrand zurück gelassen. Sie wünschte, sie könnte die Zeit anhalten, die Welt einfach still stehen lassen und für immer hier in ihrem persönlichen Paradies schwelgen.

So dösten sie noch eine Weile in dieser Stellung, erlaubten ihren Fingern, einander milde über die Haut zu streichen und dem Atem des Anderen zu lauschen. Das Bett war ihr Rückzugsort, ihre kleine persönliche Festung und da wusste sie es.

Sie war endlich nach Hause gekommen.

21

Im Salon des Landsitzes am Meer saßen acht finster dreinblickende Elevender um einen langen ovalen Tisch aus Kirschholz mit dunklen Intarsien und eingebrannten Ornamenten. Er befand sich seit Jahrhunderten im Besitz der Familie des Hausherren und hatte schon viele Versammlungen wie diese gesehen. Versammlungen, in denen dunkle und bedrohliche Geheimnisse enthüllt und Angriffsstrategien entworfen wurden. Doch die heutige Sitzung, obwohl sie den früheren so ähnlich war, stand unter einem anderen Stern. Die Voraussetzungen hatten sich geändert. Dessen waren sich alle Teammitglieder, sowie Ezekiel, seine Frau Velvet und ihr ältester Sohn Evrill mehr als bewusst.

 

„Nun, Viktor, ich muss ehrlich sein, ich habe nicht damit gerechnet, welche Art von Gepäck du dabei hast, als ich dich in mein Haus gebeten habe.“ sagte Ezekiel mit seinem ruhigen, tiefen Bariton, nachdem sie ihm ein kurz umrissenes Update gegeben hatten. Er ließ keine Spur von Verärgerung erkennen, lediglich die Augenbrauen zog er ernst und besorgt zusammen, während er über dem Tisch nach der Hand seiner schmalen, zierlichen Frau griff. Dies war eine der kleinen Gesten, der winzigen Details, die diesen Ort zu einem so magischen Obdach für Aurelia machten. Es war erfüllt mit Liebe und Vertrauen und nun hatten sie die Spur der Zerstörung mit sich herein getragen. Sie kam sich vor wie der hässliche Ölfleck auf einer blütenweißen Bluse.

Viktors betrübter Blick sprach Bände. Er hatte einfach nicht gewusst, wo er im Moment sonst hinkonnte, aber er war untröstlich, seinen alten Freund und Kollegen in die Sache mit hineinzuziehen. „Es tut mir Leid, Ezekiel. Ich hätte es nicht getan, wenn mir eine andere Lösung eingefallen wäre. In letzter Zeit sind unsere Verbündeten rar geworden, zumindest die, denen ich vertraue.“ Er schloss mit diesem indirekten Kompliment, das mit Entgegenkommen seitens Velvets aufgenommen wurde.

„Du bist hier immer willkommen, Viktor, ihr alle! Du musst dich nicht entschuldigen!“ Ihre Stimme war leise und sanft und passte hervorragend zu dem elfenbeinfarbenen Teint sowie den weichen kastanienbraunen Wellen, die ihr bis knapp über die Schultern reichten. Sie, ihr Mann und der hochgewachsene Sohn, ein Ebenbild seines Vaters und schon fast so alt wie Aurelia, sahen natürlich keinen Tag älter als 25 aus.

Viktor nickte zum Dank. Er sprach es nicht aus, er würde es noch oft genug sagen müssen.

„Aurelia!“ rief Rowena nachdem keiner etwas sagte. „Danke! Es ist unglaublich, was du da getan hast und du hast noch nicht ein Mal einen Kratzer abbekommen!“

Aurelia errötete und senkte den Blick. Lobhudelei war nicht ihr Ding, schließlich hatte sie ihre ganz eigenen, egoistischeren Gründe gehabt, in den Hochsicherheitsbereich der Justizvollzugsanstalt einzudringen. Trotzdem waren jetzt aller Augen auf sie gerichtet und sie pflichteten Row mit einem überzeugten Nicken bei.

„Viel wichtiger ist jetzt, herauszufinden, was hier eigentlich läuft! Ich meine, es schien, als ob die jeden unserer Schritte erahnt hätten! Und die haben auf dieser Müllverwertungsanlage ihre eigenen Leute in die Luft gejagt!“ Es war jetzt nicht der Moment, sich gegenseitig Honig ums Maul zu schmieren, sie hatten einiges zu bedenken und mussten voran kommen!

„Aiden, wie sieht‘s aus? Was war drin in den Dateien?“ richtete Viktor die Frage an das Passwortgenie, welcher die letzten beiden Stunden vor einem der hochmodernen Rechnern von Evrill verbracht und mit diesem zusammen den Inhalt des Datensticks durchforstet hatte. Aiden seufzte tief und lehnte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch. Er sah noch müder aus, als in dem dunklen Computerraum, er hatte ja auch weniger Schlaf bekommen als die anderen. Wahrscheinlich hatte er sich auch um Row gekümmert, die jetzt zwar immer noch mitgenommen aussah, aber ansonsten ruhig und gefasst neben ihm saß. Von ihren physischen Wunden war bereits nichts mehr zu sehen, ganz anders als bei Pareios. Die Striemen waren verblasst, aber sie zeichneten sich hell auf seiner ansonsten eher dunklen Haut ab. Somit war er der erste Elevender, den Aurelia kannte, der Narben zur Schau tragen würde.

 

„Die ganzen Ordner sind ziemlich undurchsichtig und der chemische Kram ist für mich wie Hieroglyphen lesen. Eigentlich müsste sich Syrus das Mal ansehen.“ Seinen Worten folgte betretenes Schweigen, man hätte eine Stecknadel auf dem Boden aufkommen hören können. Jeder von ihnen wusste, wie riskant die Weitergabe der Informationen an den Rat war  und Syrus zu erreichen, ohne Markus aufzuschrecken, schien ihnen ein schwer durchführbares Unterfangen. Und wenn auffliegen würde, dass sie hier auf eigene Faust vorgingen, weil sie dem Rat misstrauten, dann drohte ihr lange erkämpftes Weltbild zusammenzustürzen, was möglicherweise sowieso geschehen würde.

Sie wussten ja noch nicht ein Mal, woran sie hier genau waren. Der Rat war vielleicht aus irgendeinem Grund evakuiert worden, bis auf Markus, der ihre Mission delegierte und den Kontakt zu ihnen hielt. Die Steine befanden sich im Bunker, aber Aurelias Vision hatte gezeigt, dass das nicht lange so bleiben würde und keiner hatte auch nur die entfernteste Vorstellung, wie es dazu kommen könnte. Wie waren außerdem die Schmerzen zu erklären, die sie gegen Ende des Szenarios gespürt hatte? Dann die Mission, auf die gerade Markus sie geschickt hatte, und die sie beinahe alle den Kopf gekostet hätte, weil sie blindlings in einen Hinterhalt gerannt waren. Was war es genau, das den Gegner auf sie aufmerksam gemacht hatte? War es eine Unachtsamkeit ihrerseits gewesen, oder waren sie verraten worden?

Der genaue Ablauf der Mission ging jedoch auf Viktors Konto. Aurelia hatte sich vorgenommen, ihn nun verstärkt im Auge zu behalten. Sie verstand einfach nicht, was hier lief und wusste nicht, wem sie noch vertrauen konnte. Immerhin waren er und Markus die besten Freunde gewesen…. Aber so etwas würde Viktor niemals tun, sagte sie sich selbst und schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen. Er stand hier schließlich genauso im Kreuzfeuer, wie sie alle.

Dazu kam die Gefangennahme von Row und Pareios, und dass man nach beider Aussagen nicht versucht hatte, Informationen aus ihnen heraus zu quetschen, jeden Falls nicht bis zum Zeitpunkt ihrer Rettung. Vielleicht hätte man sie noch befragt, warum sonst hätte man sie am Leben lassen sollen? Und wieder die bemerkenswerte Position, die Markus bei dem Ganzen eingenommen, indem er ihnen jede Hilfe verwehrte hatte. Zu viele Fragen, zu viele Vielleichts und zu oft der Name Markus.

„Die gute Nachricht ist:“ fuhr Aiden fort. „Ich habe auch einen Namen gefunden. Aber ich kann dir nicht sagen, zu wem er gehört. Danach kamen ein paar Verlaufsberichte einer Versuchsreihe namens ‚New Dawn‘. Lauter medizinische Fachbegriffe. Soweit ich verstanden habe, Befunde über den körperlichen Zustand von Versuchspersonen. Und dann noch mehr Chemiegeblubber.“

Alle lauschten versteinert seinen Ausführungen. Sie fühlten sich gefangen in einem Wald aus undurchdringlichen, düsteren Rätseln, die sich strikt weigerten, sich von ihnen entwirren zu lassen. Versuchsreihe mit menschlichen Testpersonen? Was in aller Welt hatte das mit den sechs winzigen obsidianfarbenen Steinen zu tun? Sie waren doch Energieverstärker und interagierten nicht mit menschlicher Haut, also wieso sollte man in diesem Zusammenhang eine medizinische Studie durchführen? Selbst wenn es Elevender geben sollte, deren Energie durch die Steine verstärkt werden konnten, wozu dann Testreihen in einem Labor? Sie alle brüteten über diesen Fragen, aber es waren immer noch zu viele ungeklärte Details und verwirrende Begebenheiten.

„Hat der Name was ergeben?“ fragte Ezekiel an seinen Sohn gewandt. Evrill hatte gute Kontakte und ein paar Informanten bei den Hegedunen. Er hatte sich auf den Wunsch seiner Mutter aus den Angelegenheiten der Legion herausgehalten, aber er ließ es sich nicht nehmen, über den Stand der Dinge Bescheid zu wissen. Von beiden Seiten. Was seinem Vater ebenfalls zu Gute kam, der die Gelegenheit jedes Mal zu nutzen schien, um auf dem Laufenden zu bleiben Der Junior war etwas muskulöser, aber ansonsten genauso gebaut, wie sein Erzeuger. Die weißen Haare reichten ihm bis zum Kinn, die apfelgrünen Augen hatte er von der Mutter geerbt. Er war klug und eloquent, hatte aber anscheinend keine reale Kampferfahrung.

„Ich habe vorhin mit Julien telefoniert, aber er hat den Namen noch nie gehört. Aber pass auf, als ich den Namen der Versuchsreihe nannte, meinte er, da klingle was bei ihm. Er wollte das überprüfen und mich wieder anrufen.“ Evrill lehnte sich in seinem breiten Ledersessel zurück und stützte die Arme auf die Stuhllehnen. „Julien ist zuverlässig, wenn er was findet, meldet er sich!“ Er schien absolut überzeugt. Wie zur Bestätigung klingelte in dem Moment das Telefon und Evrill hob entschuldigend die Hand, als er es aus den Taschen fischte. Schon hatte er abgenommen und begrüßte den Anrufer freundlich aber ernst. Er nickte ein paar Mal, während er zuhörte und bedankte sich dann knapp. Mit dem Satz „Hast was gut bei mir, Alter!“ legte er auf. „Wir haben einen Kontakt.“

Alle Augen der Runde richteten sich nun erstaunt auf ihn.

„Ein alter Kumpel von Julien arbeitet als Fahrer bei den Hegedunen. Er hat anscheinend eines Abends erwähnt, dass er im Moment alle Hände voll zu tun hätte mit dieser Versuchsreihe. Julien hat ein Treffen arrangiert, der Kerl will nur persönlich mit uns sprechen. Er arbeitet mit seiner Einsatztruppe in Paris. Übermorgen um 23.00 Uhr wird er dort in einer Bar auf uns warten.“ Evrill hatte ein zufriedenes, gelassens Lächeln auf den Lippen, das eine Reihe makelloser, perlweißer Zähne entblößte. 

Endlich eine Rettungsleine in diesem heillosen Chaos, dachte Aurelia bei seinen Worten. Genau genommen befanden sie sich in einer Lage, in der sie nahezu handlungsunfähig waren, außer sie würden aufs Ganze gehen. Ihr dämmerte, dass sie jetzt alles auf eine Karte setzen mussten. Und ob sie wollten oder nicht, sie würden nicht drum rum kommen, ein doppeltes Spiel zu spielen. Der einzige Weg, an die Informationen des Rates zu kommen, war, zurück in die Höhle des Löwen zu gehen!

Viktor erhob die Stimme. „Alles klar! Das ist die einzige weitere Spur, die wir haben, solange wir ohne die Hilfe der Legion dastehen! Ich schlage vor, wir fahren nach Paris und treffen uns dort mit dem Kerl, dann werden wir schon sehen, was…“

„Und was erzählen wir dem Rat in der Zwischenzeit?“ wollte Rowena wissen. „Wir müssen uns bei denen melden und Viktor, verdammt, denk‘ an deine Frau, was soll mit ihr werden, wenn du dich zum Geächteten erhebst, weil irgendwas schief läuft?“

Viktors tiefe Sorge spiegelte sich in seinem Gesicht wieder, als er antwortete. „Ich dachte eigentlich, da wir sowieso nicht viel wissen, könnten wir sie bis hier auf dem Laufenden halten und dann gemeinsam den Kontaktmann…“

Aurelia unterbrach ihn. Sie hatte langsam genug. „Ja du denkst! Aber sieh, wohin uns deine Organisation in den letzten Tagen geführt hat!“ Sie hatte nicht so aufdrehen wollen, aber schon war sie auf den Beinen und hatte die Hände auf den riesigen Holztisch gestemmt. Einer musste ihm ja Mal die Meinung geigen. Und wer wäre besser dazu geeignet als sie? Sie hatte es sich ja sowieso schon mit ihm verscherzt.

Sein Gesicht verzog sich zu einer scharfen Grimasse und Schuldbewusstsein zeichnete sich darin ab. Aurelia wartete nicht auf eine Reaktion seinerseits. Sie hatte bereits einige eigene Ideen im Kopf, wie die Situation bewältigt werden konnte.

„Wir müssen wesentlich drastischer handeln! Die Hegedunen wissen jetzt, dass wir alle noch am Leben sind. Was sie nicht wissen, ist, dass wir im Labor waren. Wir brauchen dringend mehr Informationen über die Steine und die stecken in diesen Dateien, mit denen nur Syrus was anfangen kann. Ich halte es für sinnvoll, wenn Row und Aiden in den Bunker zurückkehren, samt dem Stick und dem Namen. Row, du lässt deinen Charme bei Syrus spielen. Der alte Kauz dürfte wie Wachs in deinen Händen sein!“ Sie pausierte kurz und schmunzelte bei dem Gedanken, wie der eingestaubte Wissenschaftler sich unter Rows Flirtkünsten winden würde. „Aiden, du siehst dich in unseren Daten um, ob es nicht auf unserer Seite irgendwelche Leichen im Keller gibt!“ Sie hoffte zwar inständig, dass sie sich irrte, aber die Legion war im Moment keine Institution mehr, der sie blind vertraute.

Alle schwiegen betreten über Aurelias Aufbegehren gegenüber Viktor und noch mehr über die Waghalsigkeit ihres Planes. Sie hatte noch nie so mit Viktor gesprochen, noch dazu vor einem ehemaligen Ratsmitglied und Freund.

„Außerdem brauchen wir jemanden, der ein Auge auf die Steine hat! Wenn sie gestohlen werden sollten, und keiner von uns da sein sollte….!“ rief sie ihnen in die Köpfe.

Alle sahen die Gründe für ihre Idee ein, aber sie hatten viele Vorbehalte. „Wie soll denn das bitte funktionieren? Sollen wir alle Markus belügen? Wie denn?“ Row war ganz bei der Sache und stieg auf Aurelias Plan ein.

„Wir werden ihn nicht belügen! Wir erzählen ihm nur nicht alles!“ ließ Aurelia sie wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hat doch schon ein Mal geklappt, also warum nicht ein zweites Mal!? Außerdem, wird er euch sicher nicht fragen, ob ihr gegen ihn arbeitet, was ihr ja noch nicht ein Mal wirklich tut. Ihr sollt euch nur umhören und die Lage sondieren. Wir müssen ihm einfach eine überzeugende Geschichte bieten, bei der keine Fragen offen bleiben! Wir müssen uns eine absolut logische Version der Wahrheit ausdenken.“

Ihre Teammitglieder tauschten ratlose Blicke. „Und was genau schwebt dir da vor?“ fragte Viktor ungehalten, wobei er einen spöttischen Unterton beimischte. Sie überging die Spitze, er hatte nicht mehr die Macht, sie zu treffen.

„Wir erzählen Markus, dass Pareios und ich nach Paris fahren werden, um diesen Typen wegen ein paar Informationen zu treffen. Du, Row und Aiden, ihr fahrt nach Hause und versucht so viel rauszubekommen, wie möglich!“

Viktor hob entgeistert die Augenbrauen, dann war er auch schon im Nu aus seinem Sessel aufgesprungen. Er stemmte die Fäuste genauso auf das alte Holz, wie Aurelia und baute sich  ihr gegenüber auf. „Mich willst du auch nach Haus ab beordern? Warum, damit du freie Bahn bei meinem Bruder hast?“ schoss er wütend zurück, wobei alle im Raum von seinem emotionalen Ausbruch tief erschüttert waren.

„Ich rede nicht von persönlichen Geschichten, Viktor!“ Aurelia blieb ruhig, beinahe kalt. „Du musst deine Familie da raus schaffen, sie brauchen dich. Und meinst du nicht, es wäre etwas merkwürdig, wenn du nicht da bist, und deine Frau und dein Sohn in diesem ganzen Chaos auch noch verschwinden? Das erregt Aufmerksamkeit! Außerdem kennst du als einziger Markus nah genug, um ihn einschätzen zu können! Du musst mit ihm reden, versuchen, ihn zu durchschauen!“ Viktor war völlig perplex über den Charakter ihrer Gedanken. Er zeigte es in einem Aufblitzen des wabernden Graus seiner Augen.

„Also, nein Viktor. Hier geht es nicht um dich oder um mich!“ Auch die anderen spürten nun die unangenehme Stimmung, die sich durch die Spannung zwischen ihnen beiden verbreitete. „Du fährst hin, schickst die beiden auf einen Erholungsurlaub hier her und bleibst noch ein paar Tage, um Markus zu beobachten, dann stößt du wieder zu uns!“ diktierte sie ihm, der einmal, ihr Anführer ihr Bruder gewesen war.

„Und unter welchem Vorwand sollten wir uns trennen?“ mischte sich Pareios ein, der sich wohl als einziger noch traute, etwas zu sagen. „Viktor kann behaupten, dass ihm seine Familie fehlt, das ist sicher keine Lüge!“ Aurelia prüfte mit einem Blick Viktors Gebaren, doch er schien sich nicht gegen ihre Aussage zu wehren. „Aiden und Row verstärken die Leute einfach bei den Nachforschungen im Labor und der IT-Zentrale, der Effizienz halber, was ebenfalls ein Teil der Wahrheit ist, vor allem aus unserer Sicht. Es geht mir auch darum, mit Row und Viktor eine starke Angriffswaffe in der Nähe der Steine zu haben! Ich meine, was könnte schwieriger werden? Diesen Typen zu treffen, oder Markus und Syrus auszuhorchen und die Steine zu schützen?“  

Sie ließ die Augen über die anderen sieben Elevendergesichter gleiten, während ihr ins Bewusstsein sickerte, was hier gerade geschehen war. Sie hatte Viktor vor aller Mann das Heft aus der Hand genommen und sich ihm gegenüber durchgesetzt. Ohne dass es ausgesprochen werden musste, war nun allen klar, wer in dieser Sache die Führung übernommen hatte. Keiner signalisierte einen echten Protest, der Posten war ja quasi leer gewesen.

22

Im Endeffekt fiel kein Einwand, und niemand hatte einen besseren Plan parat. Alle fühlten sie sich im Chaos der Geschehnisse verloren und waren bereit nach jedem Strohhalm zu greifen, der auch nur einen Funken Hoffnung versprach. Ezekiel versprach, ihnen Ausrüstung zur Verfügung zu stellen und weitere Kontakte zu aktivieren, um sich fortwährend nach der Bedeutung der Steine, oder sonst irgendwas Nützlichem umzuhören. Nachdem er ihnen auch mehrere Fahrzeuge zugesichert hatte, erhob sich sein Sohn.

„Wenn ihr somit nur zu zweit seid, wenn ihr euch mit Juliens Bekanntem trefft, werde ich mich euch anschließen!“ sagte er fest entschlossen, den Blick dabei auf seine Eltern geheftet.

Seine Mutter schlug die Hände auf den Mund, während stummes Entsetzen ihre schönen Augen weitete. Dies wich jedoch sofort der Durchsetzungskraft des löwenähnlichen Mutterinstinkts. Sie hatte es sogar geschafft, ihren Mann, ein angesehenes Ratsmitglied aus diesen ganzen Kriegen innerhalb der Elevenderrasse herauszuholen, da würde sie ganz sicher nicht bei ihrem Sohn die Segel streichen.

„Das tust du nicht!“ sagte sie in bestimmenden Ton, den Aurelia dieser kleinen, weiblichen Frau gar nicht zugetraut hatte. Er verriet Dominanz, die aus der Sorge um die Familienmitglieder erwachsen war und ließ keinen Zweifel, wer hier in diesem Haus die Hosen anhatte. Sie war noch nicht einmal aufgestanden, sondern lehnte sich mit unnachgiebiger Miene betont gelassen in das Leder des breiten Stuhls zurück. Doch dann machte sie einen Fehler.

„Sei nicht so dumm! Diese ganzen Kämpfe werden dich den Kopf kosten, ohne dass du der Sache nützlich sein würdest, so wie du es hier, im Hintergrund mit deinen Kontakten und deiner Bildung sein könntest!“ Es war eigentlich eine kluge Aussage, die sie nach anfänglicher Heftigkeit mit einem Kompliment an seine Stärken ausklingen ließ. Der Sohn, der jedoch darauf brannte, sich zu beweisen, wollte hier garantiert nicht vor all diesen Kriegern in die Schublade des sittsamen Gelehrten gesteckt werden, der sich die Hände nicht dreckig machen wollte.

Damit hatte sie ihn in die entgegengesetzte Richtung getrieben, als sie beabsichtigt hatte. Er verschränkte die Arme und senkte den Blick störrisch vor der Frau, die ihn geboren und ihn liebevoll großgezogen hatte. Bei seinen nächsten Worten wirkte er ruhig und bestimmt. „Bei allem Respekt Mutter! Ich liebe dich, aber das ist nicht deine Entscheidung!“

Evrill drehte sich um und verließ den Raum. Er war zur Höflichkeit erzogen worden und die Etikette gebot, innerfamiliäre Differenzen nicht vor Gästen auszutragen. Er hatte mit seiner Entscheidung, in den Kampf zu ziehen und der gleichmütigen und milden Reaktion auf seine Mutter sofort ein gewisses Ansehen innerhalb des Teams erlangt.

Velvet jedoch war außerstande ruhig zu bleiben. Sie lehnte sich über den Tisch hinweg zu Aurelia hinüber und keuchte anklagend: „Ich hab euch hier in mein Haus gelassen, euch Hilfe angeboten und so dankt ihr es mir? Ihr nehmt mir meinen Sohn?“ Ihre Stimme wurde immer schriller, bis sie mit einem verzweifelten Laut abbrach. Ezekiel legte ihr von hinten die Hände auf die Schultern.

„Liebling, wenn du ihn liebst, musst du ihn freilassen! Er ist erwachsen, du hast ihn zu einem guten Mann erzogen, mehr kannst du nicht mehr für ihn tun.“ Das samtene Baritonrollen wirkte sich beruhigend auf den ganzen Raum aus, nicht nur auf seiner Frau. Seine Linke wanderte unter dem dicken Vorhang ihrer Haare seitlich an ihren Hals und strich diesen fürsorglich auf und ab. Die Berührung hatte etwas zutiefst Liebvolles an sich und wirkte genauso, wie sie beabsichtigt war wie bei jedem vorherbestimmten Elevenderpärchen. Velvet entspannte sich sogleich und legte den Kopf in den Nacken, um ein intimes Gespräch mit ihren Blicken, mehr war nicht nötig,  mit ihrem Gatten zu führen.

„Es tut mir Leid!“ sagte sie schließlich höflich wieder an Aurelia gewandt. „Ich hatte mich nicht ganz im Griff. Ich hoffe, ihr könnt mir mein ungebührendes Verhalten nachsehen.“

Velvet erhob sich langsam, um ebenfalls den Raum zu verlassen. Sie hatte nicht auf eine Reaktion der Anwesenden gewartet, von denen sowieso keiner einen Mucks von sich gegeben hätte. Sie hatten sich alle während des Wortwechsels bemüht, unsichtbar zu wirken und die Blicke unbeteiligt im Raum herum schwirren zu lassen.

 

„Ich nehme an, du gibst Acht auf meinen Jungen, Aurelia!“ sagte der Hausherr in die Stille, die auf die Flucht seiner Frau folgte. „Viktor hat mir viel von dir und deiner Gabe erzählt! Du bist zwar unkonventionell, aber treffsicher, also sorg dafür, dass mein Fleisch und Blut nicht unter die Räder kommt, in Ordnung?“ Es war mehr eine freundliche Bitte, aber hätte er die Macht dazu besessen, seinen Sohn mit schierer Willenskraft zu beschützen, so hätte er es getan, das vermittelte die Intensität seines Tonfalls. So musste er jedoch mir Aurelia Vorlieb nehmen.

Obwohl sie sich fühlte, als hätte man ihr eine neue Bürde auferlegt, brachte irgendetwas in ihr sie dazu, die Teilhabe Evrills an ihrer Mission nicht zurückzuweisen. Sie konnte es eigentlich überhaupt nicht gebrauchen, dass ein weiteres Leben in ihren Händen lag, aber etwas sagte ihr, dass dieses Leben vielleicht doch mehr von Bedeutung war, als es im Moment schien. Außerdem hätte sie sich selbst nicht abhalten lassen, wenn sie, so wie er, eine Entscheidung getroffen hätte.

Sie seufzte zustimmend und brummte: „Meinet wegen.“ Nun fühlte sie sich dem Hausherren verpflichtet, der ihnen so selbstlos sein Heim geöffnet und ihnen jede Unterstützung zugesichert hatte, am Schluss sogar seinen Erben.

„Keine Sorge!“ schaltete Pareios sich erneut ein. „Ich kenne Aurelia schon sehr lange und sie macht keine Fehler!“ Ihr Kopf schnellte zu ihm herum. Ihr kleines Spiel war für sie schon völlig in Vergessenheit geraten, bei all den Vorkommnissen der letzten Tage.

Dein Wort in Gottes Ohren, dachte Aurelia stumm.

„Ezekiel, ich muss dich Leider um einen weiteren Gefallen bitten!“ Es tat ihr wirklich Leid, so viel von ihm zu verlangen, aber für ihre Bitte war er die beste Anlaufstelle. Er legte den Kopf schief, neugierig, wonach sie fragen würde.

„Könntest du dich unauffällig nach den anderen Ratsmitgliedern erkundigen? Ich habe kaum Kontakte in die verschiedenen Stützpunkte der Legion, du dagegen…“

„Das wird sich machen lassen! Ein paar meiner früheren Kollegen sind noch im Amt, da wäre ein Anruf in alter Verbundenheit und ein netter Plausch doch mal wieder angebracht, meint ihr nicht?“    

 Sie beschlossen, alle weiteren Vorgehensweisen getrennt zu besprechen. Da Viktor, Aiden und Row zu Markus zurückkehren würden und sie somit in Reichweite seiner durchdringenden Gabe kamen, war es besser, wenn sie nicht mehr wussten und auch nicht mehr planten, als unbedingt nötig. So würden sie wenigsten nicht darüber lügen und damit ihre Intentionen preisgeben müssen. Sie vereinbarten, den Kontakt zwischen den beiden Gruppen ihres Teams auf ein Minimum zu reduzieren.

Der Nachmittag verging, während sie Pläne schmiedeten. Aurelia und Pareios hatten den großen Salon mit seinem rustikalen Charme verlassen und sich auf die Suche nach Evrill gemacht, der jetzt Teil der Mission sein würde und mit dem sie nun über ihre Pläne sprechen mussten.

 

Sie fanden ihn in der Küche zusammen mit Velvet, die gerade ein unheimlich gut duftendes Abendessen zubereitete. Sie stand vor riesigen Töpfen und Pfannen, während sie Berge an Gemüse und andere Ingredienzien mit erprobten Händen in die Behälter verfrachtete. Der Herd war in eine Kochinsel in Mitten der riesigen Küche eingelassen worden, an der auch Evrill saß und Zwiebeln kleinschnitt.

Auf der anderen Seite des Raumes saß ein weißhaariges Mädchen auf einem der zahlreichen Stühle um den Esstisch im Glaserker, sie konnte nicht älter als zehn Jahre sein. Die weichen Wellen fielen ihr bis tief in den Rücken, die Konsistenz ihres Haarschopfes hatte sie von der Mutter geerbt, genauso, wie die zierliche, winzige Figur. Sie war von elfengleicher Gestalt, mit cremefarbener, gläsern wirkender Haut.  Die silbrigen Augen des Vaters, die in ihrem Gesicht ruhten, waren interessiert auf die beiden Gäste gerichtet, die nun den wohlig warmen Raum betraten, dessen Luft geschwängert vom Dampf kochenden Wassers war. Im Arm hielt sie ein dickes Kaninchen, sein Gewicht schien viel zu schwer für die zarten Glieder zu sein. Das Mädchen lächelte, als sie Aurelias Blicken begegnete und strich dem Tier gemächlich übers seidig glänzende, rotbräunliche Fell.

Aurelia erfreute sich an dem unschuldigen und friedlichen Anblick des Elevenderkindes in dieser Idylle und fragte sich belustigt, welche Mischungen aus Ezekiel und Velvet wohl in ihren anderen fünf Nachkommen steckten. Sie konnte ihren Geist nicht davon abhalten, sich zu fragen, wie wohl ihre eigenen Kinder eines Tages aussehen würden.

„Oh, hallo ihr Lieben!“ Velvet bat sie mit einem freundlichen Wink näher zu kommen. „Habt ihr Hunger? Bestimmt seid ihr hungrig! Das ist übrigens meine jüngste Tochter Lisanne.“ sprudelte sie weiter in fröhlichem, unverbindlichem Ton, während sie einen monströsen Metalltopf von der Herdflamme nahm und den Inhalt, einen riesigen Haufen Nudeln, über dem Ausguss in ein Sieb schüttete. Aurelia nahm ihr diese mütterliche Art sofort ab und freute sich, dass sie und ihr Sohn das Kriegsbeil anscheinend begraben hatte.

Pareios und sie grüßten höflich, dann bat sie vorsichtig: „Eigentlich wollten wir mit dir sprechen, Evrill.“

Er verstand und erhob sich von seinem Stuhl. Seine Mutter blickte ihm nach, jetzt mehr traurig als wütend und Aurelia konnte ihre Angst nachfühlen. Diese Zusammengehörigkeit in der Familie bestach mit ihrer Integrität und in diesem Moment dachte sie, dass, auch wenn sie sich manchmal in den Haaren hatten, sie froh sein konnten, einen solchen Verbund zu besitzen. Mit Menschen, denen man wichtig war und denen man am Herzen lag, die einem auch umgekehrt alles bedeuteten. Ihr Wunsch nach so einem Gefühl wurde mit jeder Minute, die sie hier war stärker!

 

Evrill führte sie in sein Arbeitszimmer, das vor moderner Technik nur so strotzte und bot ihnen an, auf der breiten Ledercouch Platz zu nehmen.

„Kannst du uns eine portable IT-Ausrüstung besorgen?“ fragte Aurelia noch während sie den Raum mit dem geschäftsmäßigen Teppichboden durchschritt.

Evrill lehnte sich lässig an den massiven dunklen Schreibtisch und lächelte selbstsicher. „Das dürfte kein Problem werden!“ Er stützte einen Arm auf den Tisch, mit dem anderen wies er in die hintere Ecke, wo bereits eine Menge Equipment befand, fein säuberlich in passende Transporttaschen verstaut. „Ich habe übrigens bereits die Adresse recherchiert, die Julien von dem Café durchgegeben hat. War nicht schwer zu finden, ist ‘ne recht berühmte Tanzbar.“ Er grinste jetzt überaus zufrieden und sie durchschaute die mühsam ruhig gehaltene Oberfläche seines Gebarens, unter dem der erwachte Feuereifer und der Stolz über seine Fertigkeiten hervorschauten.

Pareios schien hocherfreut. „Wunderbar! Wer hätte gedacht, was in dir steckt, Ev!“

„Schon gut, meine Mutter hat Recht, meine Bildung ist mein größter Vorzug.“ insistierte er. „Aber wenigstens weiß ich das zu Nutzen!“ Seine ungetrübt belustigte Miene offenbarte seinen jungendlichen Leichtsinn, trotz seiner überzeugenden Intelligenz. Ob er wusste, in welcher Welt er sich bewegte, wenn er solche Kontakte knüpfte und sich jetzt auch noch ihrer Truppe anschloss? Wusste er von den Gefahren?

 „Hast du ein bisschen Erfahrung mit Kampfübungen?“ erkundigte sie sich vorsichtig, wobei sie seine Statur musterte.

„Mein Vater wäre nicht mein Vater, wenn er nicht der Auffassung gewesen wäre, dass es für uns alle, mich und meine Geschwister, unerlässlich war, uns zur Wehrhaftigkeit zu erziehen!“ Sein diplomatisch aristokratischer Ton verriet nicht, was genau er damit meinte, aber er vermittelte eine stoische Verlässlichkeit.

Ezekiel war also klar gewesen, dass seine Kinder, falls sie seinen Geist geerbt hatten, irgendwann aus ihrem sicheren Käfig ausbrechen und der Erziehung Taten folgen lassen würden. Sie bewunderte die Komplexität der Bande innerhalb dieser Familie und konnte nicht umhin, sich für einen kurzen Moment der Vorstellung hinzugegeben, wie es wäre, ein Teil einer solchen zu sein. Ihre eigene Familie war wesentlich kleiner und schwächer gewesen und vor langer Zeit im tosenden Orkan der Hegedunen versunken.

Auch ihre Eltern waren genau wie Velvet entschlossen gewesen, ihre Kinder aus den Schlachten ihrer Rasse herauszuhalten. Sie verheimlichten jedoch jegliche Informationen über die Elevenderwelt und ließen Aurelia glauben, sie wäre ein Mensch, genau wie ihre einzige Schwester. Der krasse Gegensatz leuchtete nun umso deutlicher, als Aurelia klar wurde, dass die Kinder Ezekiels durch seine kluge und vorbreitende Erziehung wussten, auf welcher Seite sie stehen wollten. Aurelia selbst hatte da weniger Erfolg gehabt.

„Ich will nicht unhöflich sein,…“ begann Pareios nun. „…, aber würdest du uns verraten, welche Gabe du hast? Nur, damit wir uns darauf einstellen können, wenn wir unterwegs sind!“

Evrill hob entschuldigend die Schultern. „Ich fürchte, es ist keine gute Angriffswaffe, aber es hat mir ein paar spitzenmäßige Kontakte beim CIA eingebracht, hab da ‘ne Weile gearbeitet. Ich kann die letzten Gedanken der Toten sehen.“

Aurelia hob erstaunt die Brauen. Von einer solchen Gabe hatte sie noch nie gehört, obwohl sie schon viele davon am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Manche Gaben kamen häufiger vor, andere waren rarer gestreut und einige wenige gab es nur ein einziges Mal.

„Und wie machst du das?“ fragte sie nun mit echtem Interesse.

„Durch Berührung. Dann sehe ich Bilder von dem, was die Person in den letzten Sekunden ihres Lebens gedacht hat. Manchmal sind eben auch die Gesichter der Mörder dabei.“ Evrill zuckte lapidar mit den Schultern, als wolle er sagen dass es nicht der Rede wert war.

Daraufhin klärten sie Evrill mit knappen Worten darüber auf, dass es wichtig war, den Informationsfluss möglichst gering zu halten, da jeder, der etwas wusste, eine Sicherheitslücke für Markus, den menschlichen Lügendetektor, darstellte. Er versprach, die Warnung ernst zu nehmen und räusperte sich dann vielsagend.

„Da wäre übrigens noch was, was euch vielleicht interessieren dürfte. Die anderen wahrscheinlich auch. Ich bin eben von einem Kontakt aus Berlin per Email benachrichtigt worden. Kommt, und seht es euch an, es müsste gleich los gehen.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und bedeutete ihnen, ihm zu folgen.

 

Sie kehrten in die Küche zurück, wo sich schon ein Teil der Familie und der Rest ihres Teams eingefunden hatten. Drei weitere Sprösslinge saßen um den großen runden Tisch und unterhielten sich angeregt mit Aiden und Viktor, während Row, entsprechend ihrer hilfsbereiten Art, wie selbstverständlich durch die Küche wandelte und Teller und Besteck hervorzauberte. Sie gehörte schon fast zum Inventar, wie sie zielstrebig nach den Schubladen langte. Auch ihr war deutlich anzusehen, wie sie in dieser heimeligen Atmosphäre, die dieser Ort ausstrahlte, aufging. Wer konnte es ihr verdenken? Selbst Aurelia ging es so.

Zwei von Ezekiels Kindern, ein Mann und eine Frau, sie saßen auf der ovalen Bank, wirkten bereits erwachsen und die Frau hielt den kleinen Elia zwischen den Armen in ihrem Schoß. Seine rosigen Wangen verrieten die Aufregung angesichts der vielen fremden Menschen. Alle waren sie Patchwork-Stücke aus ihren Eltern, es war erstaunlich.   

Evrill ging zielstrebig auf die Wand zu, die gegenüber vom Erker lag. Dort befand sich ein großes Sideboard, aus dem jetzt, nach einem Knopfdruck, ein großer Plasmabildschirm herausfuhr.

„Mom, hast du was dagegen, wenn wir uns kurz die Nachrichten ansehen?“ erkundigte er sich liebenswürdig und seine Mutter wandte sich überrascht zu ihm um.

„Wir haben Gäste, Evrill!“ Was wohl einem deutlichen Nein gleichkommen sollte.

Aber Evrill zuckte nur ungerührt mit den Schultern. „Eben deswegen!“

Jetzt mischte sich die junge Frau auf der Sitzbank ein. „Los Ev, mach‘ die Kiste an, mich interessiert es auch!“ Sie wartete ab, bis sie den missmutigen Blick ihrer Mutter kassiert hatte, dann zwinkerte sie ihrem großen Bruder mit einem ihrer silbernen Augen zu. Ihr Kopf neigte sich dabei anmutig zur Seite, wobei der seidige kastanienbraune Haarschopf ihr auf eine Schulter fiel und den grazilen Hals entblößte. Sie war sehr groß und besaß lange schlanke Glieder. Insgesamt wirkte sie wie eine schmale Ausgabe einer Amazone und ihr Kommentar ließ auch ähnliche Charakterzüge erahnen.

Evrill grinste ebenfalls hinter dem Rücken seiner Mutter und ließ dann den Bildschirm aufflackern. Die Teammitglieder verfolgten die Darbietung amüsiert, versuchten dabei aber möglichst unbeteiligt zu wirken. Höflichkeitshalber taten sie, als ob sie weghörten.

Sie hatten genau zum richtigen Zeitpunkt eingeschaltet. Der Nachrichtensprecher kündigte gerade die abendliche Zusammenfassung der internationalen Geschehnisse des vergangenen Tages an.

Hinter ihm wurden zuerst verschiedene Bilder aus Kriegsgebieten eingeblendet und der Moderator gab einige Bombardements bekannt, die am frühen morgen im nahen Osten stattgefunden hatten. Dann wurde ein kleiner Film eingespielt, rechts oben im Bild stand das Wort ‚Berlin‘. Es war eine Hubschrauberaufnahme von einem Gefängnisgebäude. Der rechte Teil brannte, aber von der Rückseite stiegen lediglich noch ein paar Rauchwolken aus den schwelenden Brandstellen auf.

Die Feuerwehr, heutzutage waren es vollautomatische Löschzüge, die nur einen Mann benötigten, um bedient zu werden, war angerückt. Die Wasserstrahlen waren auf den Eingangsbereich konzentriert. Um das Gebäude herum und auch jenseits der Außenmauern herrschte ein heilloses Durcheinander. Hunderte von Menschen rannten wild umher, während sie von allen Seiten von der Polizei eingekreist wurden.  Der Moderator kommentierte die Szene.

„Berlin. In den frühen Morgenstunden wurde ein Gefängnis im Stadtteil Schöneberg Opfer eines Anschlags. Offenbar war dies Teil eines Ausbruchsversuchs eines Insassen, dessen Identität allerdings noch nicht geklärt werden konnte, Experten bringen den Brandangriff jedoch mit der Maffia in Verbindung. Die Zahl der Verletzten ist noch unbekannt. Die Polizei ermahnt die Bevölkerung Ruhe zu bewahren und zu Hause zu bleiben, bis sich die Lage in der ehemaligen Hauptstadt wieder entspannt hat. Die Beamten durchkämmen immer noch die Straßen nach entflohenen Häftlingen. Bitte lassen sie den Fernseher oder das Radio für weitere Neuigkeiten eingeschaltet. Tel Aviv….“

Alle blieben während des Berichts stumm, dann sahen sie sich betreten an. Sie waren belustigt über die Erklärung, die den Menschen im Fernsehen über ihren Einbruch gegeben wurde, trotzdem empfanden sie Mitleid für alle Toten und Verletzten, die es in dieser Nacht gegeben hatte, egal wie sehr sie es auch verdient haben mochten.

„Ach kommt schon!“ rief Evrill. „Das war verdammt gute Arbeit, jetzt kriegt euch mal wieder ein!“

Die Stimmung entkrampfte sich ein wenig und Aiden grinste sogar ein bisschen selbstzufrieden. „Tja, wenn wir was machen, dann machen wir es richtig, stimmt‘s Aurelia?“

Aurelia konnte nichts erwidern, sie war zu gefangen von dem nächsten Bericht, der über den Bildschirm gesendet wurde. Darin hieß es, dass laut Zeugenberichten, eine amerikanische Drohne in der Nähe von Bukarest vom Himmel gestürzt war, bevor jedoch jemand die Wrackteile erreichen konnte, hatten sie sich in Luft aufgelöst. Aurelia fand eigentlich, dass es gar nicht so ungewöhnlich war, dass eine Drohne sich nach dem Abschuss selbst zerstörte, um nicht dem Feind in Hände zu fallen. Aber dass es noch nicht mal verkohlte Überreste gab, verwunderte sie doch. Auch die anderen wirkten aufmerksam.

„Meint ihr, die Legion hat was damit zu tun?“ warf Row in die Runde.

Eher ratlos zuckte Viktor mit den Schultern. „Wenn wir es gewesen wären… Warum und wozu?“  

Das Gefühl, dass in dieser Nachricht mehr steckte, als auf den ersten Blick zu erkennen war, ließ Aurelia einfach nicht los. „Wer auch immer es war, muss technologisch gut ausgerüstet gewesen sein, solche Dinger sind auf dem neusten Stand, die kann man nicht einfach so runter holen!“ Und er musste schnell gewesen sein! „Steck es einfach in unsere Sammlung mysteriöser Vorkommnisse, vielleicht finden wir ja in den nächsten Tagen mehr Antworten.“ brummte sie unzufrieden und setzte sich dann an den Tisch, an dem Velvet gerade das Abendessen anrichtete.

Diese unterbrach das nachdenkliche Gespräch ihrer Gäste, indem sie alle zu Tisch bat.

„So setzt euch, Schluss mit diesen ganzen schlechten Neuigkeiten, jetzt wird gegessen.“

„Jawohl, M‘am!“ Evrill salutierte wie vor einem Offizier, was ihm wieder ein paar Lacher einbrachte und vertrieb das Unwohlsein, das im Raum lag.

Bald waren alle Familienmitglieder dazu gestoßen und wurden dem Team vorgestellt, dadurch wechselten sie zu weniger bedrückenden Gesprächsthemen und kurz darauf erwärmte ihnen die köstliche Mahlzeit die Mägen und die Herzen. Sie sprachen über Gott und die Welt,

 während das Abendessen friedlich und heiter verlief. Aurelia musste sich zusammenreißen, um unter all dieser herzerwärmenden Normalität ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Aber das Fernsehprogramm hatte dafür gesorgt, dass es sich hartnäckig in ihrem Hinterkopf festkrallte.

Die Familienmitglieder scherzten mit den Gästen, unterhielten sich und die Stunden vergingen wie im Flug. Es war einer dieser Abende, bei dem man schon, während er passierte wusste, dass man ihn nie vergessen würde. Er war so abstrus schön, dass er nur die Ruhe vor dem Sturm markieren konnte!

 

 

 

Sie beschlossen am nächsten Tag früh aufzubrechen und Aurelia war schon hinter Pareios die Treppe hinauf gestiegen, als Viktor sie am Handgelenk zurück hielt.

„Hast du mal ne Minute?“ Der Satz entsprach einer Frage, aber der Ton klang eher nach einem Befehl. Sie gab Pareios ein Zeichen, schon mal vor zu gehen und folgte dann seinem Bruder in sein Zimmer.

„Ich muss mich, glaube ich, bei dir entschuldigen.“ sagte er mit dem Rücken zu ihr gewandt, nachdem er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Die Hand beließ er jedoch auf der Klinke. „Mein Verhalten war absolut unprofessionell, bitte verzeih!“ Er sah sie immer noch nicht an und wollte bereits die Tür wieder öffnen und sie hinaus komplementieren.

Doch Aurelia in ihrer neuen Selbstsicherheit ließ sich das nicht gefallen. Sie trat mit einem Fuß vor die Tür, um sie zu stoppen, dann drückte sie sie mit der Hüfte wieder zu und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen.

„Viktor, mir ist durchaus klar, dass es zwischen uns nie wieder werden kann wie früher,...“

„Das ist auch besser so!“ stieß er zwischen zusammengebissen Zähnen hervor, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Wut ballte sich in ihrem Bauch zusammen, jedoch wollte sie ihm nicht die Genugtuung geben, sie auf die Palme gebracht zu haben.

In steinerne Selbstbeherrschung fuhr sie fort, als hätte er sie nie unterbrochen. „…, aber können wir uns nicht wie normale Menschen verhalten?“ All das, was in den letzten Tagen und Wochen zwischen ihnen zu Bruch gegangen war ging ihr durch den Kopf. Sie sah die Zweifel, die sie jetzt an ihm hatte, aber es war doch nichts gegen die Jahrhunderte, die sie Seite an Seite gekämpft hatten. Er war ihr engster Freund gewesen, hatte es mit ihr ausgehalten, da konnte sie es doch wohl ertragen, dass er nicht perfekt war, sondern genauso Fehler machte, wie andere auch.

„Wir kennen uns schon so lange. Deine Freundschaft bedeutet mir viel, Viktor, auch wenn ich nicht verstehe, was in dir vorgeht!“

Jetzt fuhr sein Kopf erschrocken zu ihr herum, sein kurzes Haar hing ihm in die gerunzelte Stirn, unter der jetzt das wild wabernde Grau seiner Augen in sie eindrang. Erstaunen über ihre aufrichtige, persönliche Aussage flutete sein Gesicht. Noch nie hatte sie so offen ihre Gefühle für ihn ausgesprochen und er schien seinen Ohren nicht zu trauen.

„Jetzt kannst du so etwas sagen? Nach all der Zeit kannst du mal Klartext reden? Und du glaubst, damit wird alles von Zauberhand wieder wie früher? Willst du mich verarschen?“

Sie zuckte vor der Härte seiner Worte zurück. Wie weit musste sich Viktor in seinem Gefühlschaos ihr gegenüber verstrickt haben, bevor er Meredia getroffen hatte, wenn die sorgsam verborgene Wunde jetzt immer noch klaffte?

Sie hatten sich nahe gestanden, auf einander Acht gegeben und waren doch immer durch Mauern getrennt gewesen – Mauern, die Aurelia selbst um sich herum aufgebaut hatte. Mauern, die Pareios nun zum Einsturz gebracht hatte. In ihrem tiefsten Innern wusste sie, dass sie sich selbst in diese Situation manövriert hatte, aber dass Viktor für sie Gefühle entwickelt hatte, hatte sie nie bewusst forciert.

„Es tut mir Leid, Mann!“ sagte sie ehrlich betroffen. „Ich hab‘s einfach nicht begriffen, jetzt ist irgendwie alles anders. Und du bist auch nicht fehlerfrei, das haben wir ja gestern gesehen! Soll ich dir das jetzt auch ewig vorhalten?“

Das saß.

Er sagte nichts, während er zum Bett wanderte und sich an den Rand setzte, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in die Handflächen gebettet. Er machte sich selbst die größten Vorwürfe, erkannte Aurelia und biss sich auf die Lippen. Die Folterung seines Bruders, kam seiner eigenen gleich. Eine schöne Freundin war sie, auch noch Salz in seine Wunde zu streuen, dachte sie, wobei ein Teil von ihr, der ihm immer noch grollte, zufrieden über seine innerliche Pein war.

Sie ließ sich neben ihm auf das weiche Laken nieder und legte ihm den Arm um die Schultern. So viel Trost hatte sie ihm in fast 300 Jahren nicht zu kommen lassen! Ja, sie hatte sich verändert, definitiv!

Er lugte zwischen seinen Fingern hervor und betrachtete sie nachdenklich.

„Das wird schon. Mit der Zeit.“ murmelte er nach einigen Sekunden ganz in Gedanken versunken, dann blieb er still, als warte er darauf, dass sie endlich ging.

„Warum hast du’s mir nie gesagt?“ Sie traute sich fast nicht, danach zu fragen, aber jetzt war es auch schon egal.

Viktor zuckte mit den Schultern. Er wich ihrem Blick aus, als er antwortete: „Weil du bist, wie du bist. Du wolltest nie dasselbe wie ich.“

Wieder sprach eine ganze Weile keiner ein Wort und ihr war klar, dass dieser kleine Sieg alles war, was sie sich im Moment von ihm erhoffen konnte. Sie drückte noch einmal seinen Arm, dann wollte sie das Zimmer verlassen.

Im Türrahmen erreichte sie sein letzter Satz für diesen Abend. „Wenigsten kriegt Pareios jetzt diese neue Seite von dir!“

Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er diese Ehre keinem anderen gegönnt hätte.

23

Ihre Arme fuhren noch im Halbschlaf über ein weiches Laken. Sie ertastete die Falten der samtenen Überdecke, aber ihre Finger suchten vergeblich nach der Wärme eines Körpers, der die Nacht über noch neben ihr gelegen und ihr diesen unvergleichlich tiefen Schlaf beschert hatte. Sie schlug die Augen auf und sah sich um.

Das Zimmer war leer, doch hinter der Tür regte sich etwas. Schritte näherten sich und sie hörte Pareios Stimme, der zu irgendwem sagte: „Wir kommen gleich!“

Dann öffnete sich die große, weiß gestrichene Tür und das Objekt ihrer Sehnsucht schob sich ins Zimmer hinein. Seine Bewegungen waren zaghaft und die Augen hatte er auf die randvoll gefüllte Tasse in seiner rechten Hand gerichtet. Er balancierte sie vorsichtig, um keinen Tropfen zu verschütten. Am Bett angekommen stellte er den elegant geschwungenen Kaffeepot konzentriert auf dem Nachttisch ab und wandte sich ihr dann zum ersten Mal zu.

„Morgen Dornröschen! Zeit zum Aufstehen!“ Er setzte sich an die Bettkante und legte ihr eine Hand auf den Rücken, während sie sich auf die Seite rollte, um sich ihm zuzuwenden.

Er roch nach Seife und Rasierwasser, aber sein Dreitagebart sprießte aus Kinn und Wangen wie eh und je. Die Berührung weckte ihre Lebensgeister und sie schlang den Arm um seinen Nacken, damit sie ihn aufs Bett ziehen konnte, was er widerstandslos geschehen ließ.

Ihre Lippen wirkten fast wie ausgetrocknet, vor dem Verlangen, mit seinen Küssen benetzt zu werden. Sie legte den Kopf in seine Halsbeuge und strich dann mit der Nase weiter hinauf zu seinem geschwungenen, sinnlichen Mund. Sie versank beinahe in der Weichheit seiner Haut, unter der sich die Härte seiner Muskulatur versteckte. Bereits zitternd fanden sich ihre Lippen und vereinten sich in einer andächtigen, langsamen Bewegung. Ihre Körper reagierten auf den Kontakt und drängten sich näher an einander, als Aurelia, entzündet von all den Emotionen die in ihr aufstiegen, ihre Hand zu seinem Po wandern ließ. Sie kniff spielerisch zu und strich den Rand des Gürtels nach, weiter nach vorn, über den Hüftknochen, den Unterbauch…

 

„Bap, bap, bap!“ Pareios packte ihr Handgelenk, zog es nach oben und presste es gegen seine Brust. „Das hatten wir doch gestern schon!“ sagte er tadelnd, wobei er die Mundwinkel zu einem wissenden Lächeln verzog.

Der Anflug eines Schuldbewusstseins durchzuckte sie, aber die anderen Gedanken in ihrem Kopf überlagerten sie immer noch.

„Naja, ich dachte, es wäre einen neuen Versuch wert…“ Die Worte waren einfach aus ihrem Mund gepurzelt, es war ihr aber nicht möglich ihn dabei anzuschauen. Sie fühlte sich unsinnigerweise beschämt von ihrem eigenen Verlangen, wo doch zu erwarten war, dass sie wieder kalte Füße bekommen würde.

Er lachte jetzt stumm, sodass das Bett vibrierte. „Das ist es auf jeden Fall! Aber du glaubst doch nicht, dass ich so leicht zu haben bin!“ Die unverhohlene Herausforderung schwang in seinen Worten und kitzelte Aurelia in der Magengrube. Nachdem sie jedoch nicht reagierte, da seine Intervention sie verunsichert hatte, stupste er sie frech in die Seite.

„Irgendwann wirst du dir ganz sicher sein. Und dann wirst du mich darum anbetteln!“ Pareios beugte seinen Kopf vor ihr Gesicht, damit sie sein unverschämtes Grinsen sehen konnte, dann stahl er sich ein kurzes Küsschen.

„Komm schon, Schlafmütze. Wenn du noch duschen willst musst du dich beeilen.“ Er schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Auch Aurelia wühlte sich seufzend aus den Decken, wobei sie wehmütig an das Gefühl seiner Hände auf sich dachte. Sie schalt sich ihrer eigenen Unbeherrschtheit, die ihr wie immer die Tour vermasselt hatte. Insgeheim hoffte sie, dass er recht behalten würde. Sie sehnte sich nach ihm, auf vielerlei Ebenen.

Sie stand auf und ging ins Bad. Dabei fühlte sie, wie seine Blicke auf ihr lagen und ihr folgten, bis sie die Tür hinter sich anlehnte und in der Dusche verschwand. Da traute er sich allerdings nicht hinein.

 

 

Der Abschied war wortkarg verlaufen. Lediglich ihre Gastgeber hatten sie überschwänglich und freundlich geherzt und ihnen viel Glück gewünscht. Velvet hielt ihren Sohn weinend in den Armen und nahm ihm mehrmals das Versprechen ab, dass er auf sich aufpassen und in einem Stück zurückkehren würde. Dieser wirkte leicht genervt, ließ die Prozedur aber klaglos über sich ergehen.

Die Teammitglieder empfanden es als falsch, sich an dieser Stelle richtig Lebewohl zu sagen. Dies hätte zu sehr impliziert, dass sie sich wirklich nie wieder sehen würden, obwohl diese Möglichkeit realistischer Weise in Betracht gezogen werden musste. Über der ganzen Gruppe hing die gleiche merkwürdige Stimmung, wie gestern im Auto. Sie hatten sich schon öfter getrennt, um in Zweier- oder Dreierteams zu operieren, aber noch nie waren sie einer so ungewissen und gefährlichen Zukunft entgegen gefahren. Tatsächlich nicht ganz ungewiss, aber die Aussichten waren verdammt schlecht. Wie Russisch Roulette, nur dass bei ihrem Spielchen alle Kammern bis auf eine geladen waren.

Sie verteilten sich in zwei dunkle Fahrzeuge, beides Kombis, die auf Evrills Firma, eine Investmentberatung, zugelassen waren und fuhren stumm die Auffahrt des Anwesens, ihrem sicheren Hafen, hinunter. Aurelia drehte sich um und ließ das Gebäude, das ihr an nur einem einzigen Tag  wie ein zu Hause geworden war nicht aus den Augen, bis sie abbogen, und es sich ihrem Blickfeld entzog.

Wehmütig ließ sie sich in ihren Sitz fallen und harrte nun ihrem Schicksal entgegen. Denn es war ihr eigenes, das sie da erwartete, dessen war sie sich nun ganz sicher. Seitdem sich die Steine mit ihrer Bestimmung verbunden hatten, hatte sich so vieles verändert, sie hatte sich verändert. Nicht nur ein bisschen, sondern markerschütternd. Irgendetwas in ihr sagte ihr, dass diese beiden Begebenheiten mit einander zu tun hatten und ihr blieb schlichtweg nichts anderes übrig, als diesem dunklen verschlungenen Pfad weiter zu folgen, bis er sich ihr endlich offenbarte.

Ob sie mit genau diesen Entscheidungen ihr Schicksal, das sie in ihrer Vision ereilen würde, besiegelte?

Sie wusste es nicht. Vielleicht war es unausweichlich.

 

Viktor hatte am Abend zuvor noch im Bunker angerufen und mit Markus gesprochen. Er hatte ihm erklärt, dass sie nach der Rettungsaktion bei einem alten Bekannten untergekommen waren und er, Rowena und Aiden samt des Materials zurückkommen, während Aurelia und Pareios einer anderen Spur nachgehen würden, die sie in den Daten gefunden hatten. Von Evrill erwähnte er nichts. Markus war beeindruckt, dass sie trotz der Entführung an die Daten herangekommen waren. Er war so fixiert auf diese Informationen, dass er nicht genau nachfragte, sondern sie nur anhielt, schnellstmöglich loszufahren. Noch schien er nichts davon zu ahnen, dass sein Einsatzteam sich verselbstständigt hatte.

 

Aurelia saß auf der Rückbank, während Evrill ihren Wagen lenkte und Pareios in den Beifahrersitz versunken war. Er hielt die Karten über den Knien, ein Navi wollten sie nicht benutzen, und gab dem anderen Elevender Anweisungen, wann er abbiegen musste. Wenigstens wurde Aurelia nicht von sorgenvollen Vorahnungen geplagt, wie Vorgestern, als sie der mattschwarz lackierten Limousine der Hegedunen gefolgt waren. In Gegenteil, ihre Stimmung war neutral bis erwartungsvoll und sie überlegte hin und her, was sie in Paris erwarten würde.

Viktor hatte ihnen eine Karte mitgegeben, die sie kurz vor ihrem Abschied eilig in ihre Tasche gestopft hatte. Jetzt zog sie das Gepäckstück aus dem Kofferraum neben sich auf den Rücksitz. Mit einem Zip öffnete sie den Reißverschluss und kramte blind in dem Chaos an frischen und gebrauchten Kleidungsstücken, sowie Teilen ihrer Ausrüstung nach dem großen gefalteten Stück Papier, auf dem das Straßennetz von Paris abgebildet war. Nach einigen Sekunden fiel etwas Winziges, Federleichtes in ihre Hand. Verwirrt zog sie sie heraus, um das Rätsel zu lüften, was für ein ihr unbekannter Gegenstand sich da in ihre Handflächen bohrte.

Auf dem matt elfenbeinfarbenen Handteller lag das kleine, blaue Kreuz, das sie im Computerraum im Labor in Moabit entdeckt hatte. Sie hatte es wirklich völlig vergessen!

Es musste aus der Hosentasche der Jeans gefallen sein, während sie das Gepäckstück durchwühlt hatte. Es war ihr damals nur in die Augen gefallen, weil es überhaupt nicht zur Einrichtung des technischen Raumes gepasst hatte, was bei näherem Überlegen bedeutete, dass es wohl irgendjemand darin verloren hatte. Sie betrachtete das Kreuz jetzt genauer.

Das indigoblaue Glas war an einer Seite geschliffen, an der anderen Seite wies es eine glatte Fläche auf. Der Schliff lief in der Mitte der vier Arme des Kreuzes spitz zu und brach das Licht in verschiedenen Regenbogentönen. Die kleinen Farbflecke tanzten im Rhythmus des dahin rasenden Autos auf ihrer Haut. Obwohl es weder ein Loch noch eine Öse aufwies, wirkte es, als ob es zu einem Schmuckstück gehörte und Aurelia reimte sich zusammen, dass es sich vielleicht von der Halskette einer Mitarbeiterin gelöst haben könnte.

Es war ein hübscher Gegenstand, also folgte sie dem Impuls es wieder in ihre Hosentasche zu stecken. Sie war nie abergläubisch gewesen, aber in diesem Moment hatte sie das Gefühl, sie konnte einen Talisman gebrauchen. Und dieser hatte sich ja schon bewehrt, schließlich war bei ihrem Einbruch im Labor und der anschließenden Befreiungsaktion wie durch ein Wunder alles gut gegangen.

 

Ein Gespräch im vorderen Teil des Wagens lenkte sie ab. Pareios unterhielten sich mit Evrill über dessen Arbeit und wie er an seine Kontakte gekommen war.

„Meine Mutter wollte nicht, dass ich ins direkte Schussfeld komme, aber wirtschaftliche Unternehmungen hat sie mir nicht verboten. Ich habe vor ein paar Jahren eine Investmentfirma gegründet. Und wie das so in Finanzkreisen ist, die bösesten Gangster, sind die, die mit Anzug und Krawatte herum laufen. Ab einer gewissen Summe an Geld kommen die Hegedunen ins Spiel, so ist das nun Mal. Und Erfolg spricht sich herum! Könnte natürlich auch mit meinem grandiosen Aussehen zu tun haben!“ scherzte er und schmunzelte amüsiert.

„Auf jeden Fall ist es in diesen Kreisen üblich, Geschäfte mit strömenden Partys zu beschließen, Nutten, Koks, alles nur Spielzeug für diese Leute. Unter ihnen gibt es eine Menge kranker Schweine und Sadisten.

Wenn die hegedunischen Banker gefeiert haben, gab es manchmal… sagen wir ‚Kollateralschäden‘! Auf so einer Party, bei der ich auch eingeladen war, hat einer den Kopf verloren und eine widerspenstige Prostituierte mit ‘nem Buttermesser abgestochen. Das war mein erster Zusammenstoß mit den Bundesbehörden. Ich habe ihnen einen Mörder geliefert und hinter den Hegedunen aufgeräumt. Keine Sorge! Der, der dafür in den Knast gewandert ist, hatte es auch verdient! Nicht nur unter den Hegedunen gibt es widerliche Dreckskerle.“

Evrills Blick verklärte sich kurz, während er sich dieser, offensichtlich befriedigenden Erinnerung hingab.

„Seither habe ich einige… Freunde auf beiden Seiten. Außerdem hat sich meine Diskretion schnell herum gesprochen, was weitere Aufträge nach sich zog.“ Er grinste breit, nachdem er dieses Geheimnis enthüllt hatte, dann hob er den Zeigefinger an die Lippen. „Aber pssst, sagt‘s nicht Mom!“

Aurelia traute ihren Ohren nicht. Der Grünschnabel entpuppte sich gerade als kaltschnäuziger Spion. Und was für einer, nicht mal sie hatte etwas geahnt! Er hatte die Rolle des unerfahrenen Jungspunds allzu überzeugend gespielt, das ganze Theater mit seiner Mutter durchgezogen, oh Mann, davon konnten sie sich eine Scheibe abschneiden!

 „Arbeitest du allein?“ erkundigte sich Pareios, nun ebenfalls völlig gefesselt und geplättet von den Worten ihres Fahrers.

„Nein. Ich habe ein paar Leute gefunden, die ähnliche Interessen verfolgen wie ich. Ein paar sind Elevender, ein paar sind Menschen.“

„Du hast Menschen eingeweiht?“ Aurelia war, gelinde gesagt, überrascht.

Die Hegedunen und die Legion arbeiteten schon immer mit Menschen zusammen, aber wenn es sich vermeiden ließ, ließ man sie weitestgehend uninformiert, erzählte ihnen irgendwelchen Quatsch darüber, was genau sie eigentlich taten. Die meisten Menschen wollten es sowieso nicht glauben, selbst wenn sie mit der Nase drauf gestoßen wurden. Selbst wenn sie mit eigenen Augen gesehen hatten, dass es Elevender gab und diese ein gigantisches Mächteringen um die Herrschaft über die ganze Menschheit veranstalteten, wollten sie es nicht wahrhaben.

Es lag einfach in ihrer Natur, dass sie alles, was sie kannten, was ihnen vertraut war, bis aufs Blut verteidigten, auch wenn es für sie selbst eine schleichende Seuche war. Sie belogen sich selbst und verleugneten beinahe freiwillig auch öffentlich, was sie gesehen hatten. Der Gruppenzwang unter den Menschen war so stark, dass sie lieber behaupteten das Feuer nicht zu sehen, wenn alle anderen behaupteten es nicht sehen zu können, obwohl sie alle mittendrin standen und schon verbrannten.

Die Menschen, die mit den Hegedunen, zum Beispiel als deren Wachen, oder mit der Legion zusammenarbeiteten, hatten alle ihre ureigenen Gründe zu schweigen. Für die Einen war es eine großzügige Bezahlung, oder die Hoffnung auf mehr Macht und Einfluss, für die anderen, wie Amander, war es Überzeugung. Für Aurelias Vater war es Liebe gewesen.

 

Evrill wurde jetzt ernster. „Sie sind wirklich vertrauenswürdig. Sie lassen sich nicht von Angst regieren und stellen sich der Wahrheit. Bisher habe ich es geschafft, dass sie mir vertrauen, sie nehmen uns nicht als Bedrohung war, die Hegedunen dafür schon! Sie können unterscheiden! Urteile nicht voreilig, bis du alle relevanten Fakten kennst! Es sind wirklich bemerkenswerte Leute. Sie haben ihre eigene Organisation gegründet und nennen sich ‚Venusorden‘.“

Aurelia und Pareios tauschten maßlos erstaunte Blicke durch den Rückspiegel aus. „‘Venusorden‘? Was soll denn das sein?“ sprach Pareios die Frage aus, die ihnen beiden auf den Zungen brannte.

„Diese Gruppierung kennt die Geheimnisse der Elevender und die Machtstrukturen, die die Hegedunen installiert haben. Sie versuchen, die Menschen aufzuwecken und im Untergrund Widerstand zu organisieren.“

Plötzlich wirkte der brave Aristokrat überaus geheimnisvoll. Pareios und Aurelia waren skeptisch. Sie hatten beide schon erlebt, dass es immer wieder kleine Grüppchen von Freigeistern gegeben hatte, die über den Tellerrand hinausgeschaut hatten, aber Menschen waren sterblich und wenn sie den Planeten verließen, nahmen sie auch ihr Wissen und ihre Überzeugung mit sich. Bisher war noch nichts geschehen, das die Bevölkerung wie einen Flächenbrand in genügend hoher Zahl überzeugt hatte, aufzustehen.

„Aber es sind nur wenige und wie gesagt, es sind Menschen. Ich denke, ohne unsere Unterstützung haben sie kaum eine Chance, lange durchzuhalten.“ Evrill fuhr sich durch das Haar und konzentrierte sich kurz auf die Straße, da sie an einem Autobahndreieck angekommen waren. Er wechselte mehrmals elegant die Spur, ohne die Geschwindigkeit von etwa 200 Kilometern pro Stunde zu reduzieren, und schlängelte sich nur um Haaresbreite zwischen den anderen, wesentlich langsameren Autos hindurch.

„Ein paar meiner Freunde und ich versorgen sie mit Informationen und schützen ihre Stützpunkte so gut wir können. Bis jetzt sind es so wenige, dass das nicht sonderlich schwer ist, aber wenn ihre Zahl weiter anwächst, brauchen wir mächtigere Verbündete. Vor ein paar Wochen habe ich versucht, unauffällig Kontakte zum Rat zu organisieren. Mein Vater weiß nichts davon, weil er vor meiner Mutter nichts verheimlichen kann.“ Er lächelte leicht, als ob er diesen Umstand zwar bedauerte, aber doch um die tiefe Verbundenheit zwischen seinen Eltern dankbar war.

Aurelia schwirrte der Kopf von diesen überraschenden Informationen. Ein großer Trumpf der Hegedunen war, dass sie die Menschen in einer Art Matrix hielten, die ihnen eine heile Welt vorgaukelte. Wissende Individuen waren eine Gefahr für ihre Machenschaften. Aurelia konnte sich noch lebhaft erinnern, was es für einen Menschen bedeutete, aus einem solchen Traum, der ein ganzes Weltbild beinhaltete, aufzuwachen. Es war nicht nur verstörend, es zog einem den Boden unter den Füßen weg und man fühlte sich augenblicklich verloren, machtlos gegenüber der allesumfassenden Herrschaft der Hegedunen. Irgendwo in ihr sammelte sich Respekt für diese mutigen Menschen, die sich trotzdem zusammengefunden hatten und gegen diese alles kontrollierenden Kräfte vorgingen. Es war nicht nur mutig, es war ein Kamikaze-Vorhaben, was die Verzweiflung deutlich machte, in der sie stecken mussten.

 

Dass Evrill den Rat kontaktiert hatte versetzte sie zusätzlich in Aufregung.

„Mit wem hast du gesprochen? Vom Rat meine ich.“ erkundigte sie sich und konnte dabei nicht verhindern, dass die Worte hastig stolpernd über ihre Lippen schlüpften. Evrills Augen fixierten sie im Rückspiegel.

„Es war nicht Markus.“ entgegnete er schnell. „Sonst hätte ich es gestern schon erwähnt!“ Seine Miene war standhaft, aber doch entschuldigend. „Vor ein paar Jahren hatte ich ein kleines Têt-á-têt  mit Xandra, Chronos‘ Tochter. Ich habe mich an sie gewandt und sie hat mir versprochen, sich umzuhören und vorzufühlen, wie die Stimmung im Rat für solche Aktionen ist. Bisher hat sie sich noch nicht gemeldet, aber ich glaube nicht, dass sie mich übers Ohr hauen will!“ Seine Stimme ließ einen zweideutigen Unterton verlauten und legte die Vermutung nahe, dass das kleine Stelldichein nicht das Einzige war, das ihn mit Xandra verband.

Verdammt noch mal, Evrill war wie eine kleine Wundertüte voller Überraschungen!

Chronos war das älteste noch lebende Ratsmitglied. Er war schon seit Jahrhunderten im Amt, länger als Aurelia oder ihre anderen Kameraden überhaupt auf der Erde waren. Augenblicklich wunderte sie sich, dass diese ganzen Informationen noch nicht zu ihnen durchgedrungen waren. Vielleicht waren die Ratsmitglieder skeptisch, noch mehr Menschen einzuweihen? Vielleicht sorgten sie sich, dass, falls noch mehr von ihnen aufwachen würden, sich der grenzenlose Zorn der Masse auch gegen die Elevender der Legion richten würde, die beinahe seit Jahrtausenden gegen die Hegedunen kämpften. Denn die große Zahl der Menschen war das Einzige, das eine wirkungsvolle Waffe gegen ihre Herrscher darstellte. Aurelia wurde von einer merkwürdigen Unruhe gepackt. Die Möglichkeit dieses unerwarteten Bündnisses trieb ihr den Schweiß in die Handflächen. Endlich nach so vielen Jahrhunderten, zeigten sich Ansätze echten Widerstandes unter dem Heer von Arbeitern, über das sie gewacht hatten, wie ein Hirte über eine Horde Schafe und doch nur das Nötigste hatten ausrichten können. Ihre Gliedmaßen kribbelten vor freudiger Erwartung, als sie sich vorstellte, dass das Ganze nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein könnte. Schon Schiller hatte einst geschrieben: „Die Großen hören auf zu herrschen, wenn die Kleinen aufhören zu kriechen.“

Vielleicht war endlich die Zeit gekommen, sich zu erheben, sie alle zusammen? Aber auf diese Frage gab es keine Antwort. Noch nicht.

 

So langsam wurde ihr die Tragweite des Gehörten bewusst und umso ätzender wurde das Misstrauen darüber, dass keiner von ihnen auch nur im Entferntesten über dies Vorgänge im Bilde gewesen war. Es juckte sie in den Fingern, Viktor anzurufen und ihm Bescheid zu geben, war sich aber nicht sicher, ob dieses Wissen in seinen Händen eine gute Waffe, oder ein schwaches Glied in der Kette bedeuten würde, zumal er bald Markus gegenüber treten würde. Auch Pareios musste das aufgegangen sein, denn er lehnte sich jetzt hochinteressiert zu ihrem neuen Teamkollegen herüber.

„Dir ist doch klar, wie wichtig diese Informationen sind?“

„Durchaus, deshalb hielt ich es für richtig, damit nicht zu hausieren. Aus eigener Erfahrung kann ich euch gar nicht deutlich genug machen, dass es gar nicht so schwer ist, als Spitzel an geheime Informationen ranzukommen. Ich sah keinen Zusammenhang und außerdem habt ihr mir gestern eingeschärft, dass es besser wäre, wenn das andere Team nicht zu viel weiß!“ Er zuckte resignierend mit den Schultern. „Glaubt ihr, das Ganze hängt irgendwie mit den Steinen zusammen?“

Aurelia und Pareios tauschten wieder einen Blick, es fühlte sich so alt vertraut an, sich wie ein festverbundenes Zweiergespann zu verhalten. Sie las in den weit aufgerissenen Augen dieselbe Verwirrung die sie empfand.

„Keine Ahnung!“ gab sie schließlich zu. „Aber ich nehme an, dass zu diesem Zeitpunkt unserer Ermittlungen alles möglich sein könnte.“ Wie das alles zusammen passen sollte, war ihr im Moment allerdings völlig schleierhaft.

Hatte Xandra ihren Vater informiert, oder hatte sie sich nur unauffällig umgehört? Wussten die anderen Ratsmitglieder oder Markus davon? Wo waren sie überhaupt alle?

„Wenn du mit Xandra in Kontakt stehst, dann hast du vielleicht eine Idee, wo sich Chronos aufhält?“

„Soweit ich weiß, lebt er immer noch im Stützpunkt bei Kaliningrad. Aber ich werde Xandra fragen, wenn sie anruft. Sie ist leider sehr schwer zu erreichen, ist ständig auf der Jagd für die Legion.“ antwortete ihr Evrill. Er kaute sich auf den Lippen herum, offensichtlich war er besorgt, dass sie sich so lange nicht gemeldet hatte.

„Wie viele Menschen sind es eigentlich ungefähr?“ wollte Pareios jetzt wissen. Aurelia konnte sein Hirn förmlich rattern sehen, während er alles überdachte, das Evrill ihnen verraten hatte.

„Der Stützpunkt, in dem ich ein und aus gehe beherbergt etwa 300, aber es gibt noch ein paar weitere Unterschlupfe, genaue Zahlen hab‘ ich nicht. Ursprünglich dachte ich, das mit dem Rat wäre eine gute Idee, jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher, nach dem, was ihr gestern berichtet habt.“ Aurelia konnte Evrill ansehen, dass er im Kopf schon alle Horrorszenarien durchspielte, die ihm in den Sinn kamen.

„Wart’s ab, wir wissen nichts sicher. Lass uns erst mal sehen, was als nächstes passiert. Eins nach dem anderen.“ insistierte Pareios ruhig und legte seinem Sitznachbarn die Hand auf die Schulter. „Egal was es ist, wir kriegen das hin. Jetzt kümmern wir uns um die Steine, dann kommt der Rest.“

Wieder ein mal war Aurelia froh über Pareios‘ positives Wesen, er war einfach genau das, was sie brauchte! Bevor sie sich versah, hatte sie sich schon vorgelehnt und ihm einen Kuss in den Nacken gedrückt. Er wandte sich nicht um, aber sie konnte sein seliges Lächeln im Seitenspiegel beobachten. Er gab ihr das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und auch in ihr wuchs die Hoffnung auf ein glückliches Ende ihrer Mission. Sie klammerte sich daran fest, entschlossen nicht los zu lassen, denn jetzt hatte sie schlichtweg zu viel zu verlieren!

24

Kurz bevor die Nacht hereinbrach hatten sie die Stadtgrenzen von Paris erreicht und Aurelia nutzte die Gelegenheit, noch ein mal den Kopf aus dem Fenster zu strecken, um sich die frische Nachtbrise um die Nase wehen zu lassen. Ein Hauch von Schicksal lag in der Luft, der ihr deutlich machte, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden. Sie zog sie gierig ein, versuchte zu schmecken, was sie nicht sehen konnte.

Die Stadt war, im Gegensatz zu Berlin, immer noch reich an Jugendstilbauten und –elementen. Die alten Gebäude mit dem verschnörkelten und geschwungenen Dekor hatten trotz ihrer dicken Mauern etwas Graziles, fast Feminines. Sogar an Metroeingängen zeigte sich der Stil des Endes des 19. Jahrhunderts. Die Metallelemente an den überdachten Treppenaufgängen wanden sich anmutig zu einem fantasievollen Geflecht zusammen und hatten Teil an dem Zauber, den dieser Ort für Aurelia ausstrahlte. Dieser Umstand hatte für sie immer den Reiz an der Stadt ausgemacht, nicht dass man sie lästiger Weise als Stadt der Liebe bezeichnete. Damit hatte sie nie viel am Hut gehabt, bis jetzt. Denn wenn sie kurz nach rechts zu Pareios schaute, fielen ihre hunderte von Gründen ein, warum es die Stadt der Liebe sein musste, wenn ihr Weg sie gerade jetzt hier her führte.

Evrill steuerte den Wagen bis tief ins Zentrum hinein und hielt dann vor einem Privatgebäude im Quartier La Villette. Die Straßen, die in das Licht der bronzegoldenen, untergehenden Sonne getaucht waren, waren ruhig. Es schien eine Wohngegend zu sein, aber die Kinder hatte man um die Uhrzeit, wo es jetzt Ende September immer früher dunkel wurde, schon nach Hause gerufen. Aurelia konnte den Herbst riechen, als sie aus dem Auto auf die mit kleinen Buchen gesäumte Straße kletterte.

„Ein Freund hat uns seine Wohnung überlassen. Es ist für einige Wochen in eine Fabrik in Reims versetzt worden.“ erklärte Evrill, als er die große hölzerne Tür mit den zwei Flügeln aufschloss. Sie folgten ihm die gewundene Treppe hinauf bis ins Dachgeschoss, wo es nur noch eine einzige Wohnungstür gab. Hinter dieser eröffnete sich ihnen ein kleines, spärlich ausgestattetes Appartement. Es war von Armut gezeichnet, aber trotzdem gepflegt. Es besaß einen kleinen Flur, ein quadratisch geschnittenes Zimmer, Wohnzimmer samt Küchenzeile und ein winziges Bad.

Aurelia stellte ihre Sachen auf der grünsamtenen Couch im Wohnzimmer ab und klappte dann ihr Handy auf. Auf dem Display erwartete sie eine Nachricht von Viktor.

„Sind gut angekommen. Bis jetzt keine Probleme. Haben Daten übergeben, warten ab.“

Sie tippte eine kurze SMS mit ähnlichem Inhalt und verstaute dann das Handy wieder. Sie hatte sich dagegen entschieden, Viktor von Evrills Kontakten und dem Venusorden zu erzählen. Sie hatte das Für und Wider abgewogen, den Nutzen gegenüber den Gefahren abgeschätzt und war zu dem Schluss gekommen, dass sie im Moment lieber mehr Infos von Viktor beziehen, als ihm herausrücken wollte, vor allem wegen Markus. Und wenn sich da doch was im Rat abspielte, konnte sie sich bei ihrem nächsten Telefonat unauffällig danach erkundigen.  

Pareios war herein gekommen und hatte sich auf die Sofalehne gesetzt. „Du solltest dich fertig machen. Wir treffen uns in einer Stunde mit Evrills Informanten. Er sagt, wir sollen uns passend kleiden.“

Missmutig erinnerte sich daran, dass ihr Treffpunkt ausgerechnet eine Tanzbar war und schnappte sich seufzend ihr Gepäck. Velvet hatte ihr ein paar ihrer Kleider zur Verfügung gestellt und auch wenn sie nicht perfekt saßen, passten sie doch wenigstens ungefähr. Perücken hatten sie nur noch die, die sie aus ihrem zerstörten Zimmer hatten mitnehmen können. Da sie diese nun aber schon in heiklen Situationen benutzt hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sie wegzulassen.

Sie zog sich in das kleine, quadratisch geschnittene Zimmer zurück. Darin war gerade genug Platz für ein etwas breiteres Bett, einen schmalen Schrank und einen Spiegel. Sie ließ ihr Gepäckstück auf die zerschlissene Patchwork-Decke fallen und suchte nach dem Kleidungsstück, das ihr am Wenigsten auffällig erschien. Velvet hatte einen eher exquisiten Geschmack, wie sie nun erschrocken feststellen musste. Zwischen bordeauxrotem Chiffon und indigoblauer Spitze entdeckte sie endlich ein schlicht geschnittenes Stück aus blasser, eisblauer Seide. Der Ausschnitt war ebenfalls nicht zu tief, also entschied sie sich in Ermangelung einer besseren Auswahl für dieses Kleid. Passende Schuhe hatte Velvet in weiser Voraussicht ebenfalls eingepackt, aber als sie sie herauszog, hätte sie ihr gerne gesagt, dass sie wohl übergeschnappt war!

Winzige Pumps mit fiesen hohen Absätzen. Sie wollte wohl, dass Aurelia sich schon vor dem eigentlichen Auftrag den Hals brach! Aber ihre Allzweckstiefel waren einfach zu verräterisch zu diesem Kleid, also was blieb ihr anderes übrig?

Nachdem sie sich umgezogen hatte, ging sie ein paar Mal mit den Fingern durch die Haare. Das musste reichen, dachte sie zuerst, aber dann entdeckte sie ein kleines Täschchen mit diversen Döschen und ein wenig Schmuck, nichts Besonderes, aber irgendwie verspürte sie plötzlich den Wunsch sich zurecht zu machen. Es war ein unbekanntes Gefühl und dass es mit dem großen, gutaussehenden Elevender jenseits der Tür zu hatte, war ihr sonnenklar!

Sie schmunzelte über die vielen ersten Male, die er ihr in den letzten Tagen bereitet hatte und untersuchte still die veränderte Landschaft in ihrem Inneren. Währenddessen hantierte sie ungeübt mit Wimperntusche und Rouge und fluchte, nachdem sie sich zum wiederholten Mal mit der kleinen Bürste ins Auge gestochen hatte. Zum Glück hatte es diesen Kram in ihrer Jugend noch nicht gegeben! Eins war sicher, damit würde sie sich wahrscheinlich nie vollends anfreunden!

Sie widerstand dem Drang, sich die schmerzenden Augen zu reiben, um ihr mühevoll hervorgebrachtes Werk nicht zu verschmieren, dann betrachtete sie sich nachdenklich im Spiegel. Mit der Tusche wirkten die Augen groß und ausdrucksstark. Das Eisblau leuchtete umso mehr, da es von der Farbe des Kleides betont wurde, das sie in seidigen Wellen über die Rundungen ihres Körpers ergoss. Diese gletscherblauen Augen, die sie immer gequält hatten, schauten ihr jetzt wieder aus ihrem eigenen Gesicht im Spiegel entgegen und der schneidende Schmerz, den sie verursachten, ließ nicht lange auf sich warten.

Aber heute war es anders.

Kein eisiger Griff um ihrer Kehle, der ihr die Luft abschnürte, keine Panikattacken, die ihr Herz zum Rasen brachten. Keine unkontrollierbare Wut auf sich selbst.

Nur ein dumpfer tiefsitzender Schmerz, vermischt mit einer Prise Schuldgefühl.

Sie nahm den Schmerz an, ertrug ihn leise, fühlte die Schuld und trauerte einfach nur. Obwohl es anstrengend war, mit diesen Gefühlen umzugehen, sie zu zulassen und die Schuldgefühle ihr die Lippen und die Finger kurz erzittern ließen, war es doch weitaus erträglicher, als noch vor ein paar Tagen. Sie setzte sich aufs Bett, legte ihre Hände auf den Schoß und sah erstaunt zu, wie sie schon bald wieder zur Ruhe kamen. Es war merkwürdig, dass der Selbsthass sie nicht wie sonst überwältigte, aber sie nahm es dankbar an, wissend,  wer diese Veränderung verursacht hatte. Ein breites Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und schon hatte sie das Licht gelöscht, um ihrem Retter entgegen zu gehen.

Er und Evrill saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich angeregt über den Fahrer, den sie treffen wollten. Sie sahen beide auf, als Aurelia den Raum betrat. Ihre Augen wurden groß, während sie ihre Erscheinung musterten. Evrill hielt sich zurück und wandte sich bald wieder der Karte zu, die vor ihnen ausgebreitet auf dem kleinen Wohnzimmertischen lag. Pareios stand auf und kam zu ihr herüber. Er legte seine Hand an ihre Hüfte und trat noch einen Schritt näher heran. Sanft strich er mit dem Daumen über ihre Lippen und durchdrang sie mit einem hungrigen Blick. Wie von selbst fanden ihre Hände seine starken Schultern und glitten hinunter auf die Brust. Ihre Lippen brannten unter seiner Berührung, sie erfüllte sofort wieder jede Faser mit der unstillbaren Sehnsucht nach ihm.

„So kann ich dich nicht mitnehmen! Kannst du mir mal verraten, wie ich mich heute Abend auf irgendwas anderes konzentrieren soll, als auf dich in diesem Kleid?“ flüsterte er empört, obwohl ihm klar war, dass Evrill ihn so oder so hören würde. Die zwischen ihnen entflammende Hitze knisterte heiß um sie herum und ließ die Temperatur im Raum schlagartig ein paar Grad ansteigen. Evrill hob verwirrt den Kopf, als er es registrierte. Sie musste plötzlich Schmunzeln, da sie sich an den Club in Berlin erinnerte und sich fragte, ob Pareios ihn vielleicht auch wegen der stickigen Wärme im Inneren ausgesucht hatte. Dort war das plötzlich Aufkochen seiner Gabe nicht so deutlich zu spüren gewesen, wie hier in diesem kleinen, normal temperierten Raum.

Pareios kümmerte sich nicht um ihren unfreiwilligen Zuschauer, sondern legte seine Hand knapp unter ihr Ohr, die Fingerspitzen in ihrem Haaransatz vergraben. Er zog sie fester in seine Umarmung, dann küsste er sie mit einer Intensität, die ihr die Luft wegbleiben ließ. Kurz und voller Leidenschaft presste er die weichen Lippen auf ihre und wie eine aufzischende Zündschnur zog sich die Welle der Begierde ihren Hals bis tief in die Eingeweide hinab. Als er sie freigab, taumelte sie atemlos gegen ihn. Die Macht die er über ihren Verstand und über ihren Körper besaß, ließ sie kurz stutzen, aber der Strom ihrer aufwallenden Empfindungen war so süß, dass sie sich nur noch mehr wünschte, sich an ihn zu verlieren.  

„Ähm,…, ich denke, wir ähm…, sollten dann mal los…. uns schon mal die Gegend rund um die Bar ansehen!“ stammelte sie, nur mit der Hälfte ihres Gehirns anwesend und erntete dabei amüsierte Blicke von ihren Kollegen. Nur am Rande registrierte, dass das ganze ihr wohl hätte peinlich sein sollen. Das war aber wohl eins der wenigen Gefühle, die sich im Moment so gar nicht einstellen wollten. Völlig aus der Fassung fischte sie nach ihrer Lederjacke, in deren Innentasch sich mittlerweile das blaue Glaskreuz befand. Herrgott noch mal, es fühlte sich so gut an, dass Pareios ihr den Verstand raubte! Viel zu gut, schließlich würde sie den noch brauchen!

 

Sie verließen die Wohnung und stiegen in den Wagen, um sich auf den Weg weiter ins Zentrum hinein zu machen. Die Bar, in der sie sich verabredet hatten, lag in der Nähe des Seine-Ufers und war um die Uhrzeit gut besucht. Sie waren zuerst ein Mal am Eingang vorbei gefahren und hatten neugierige und aufmerksame Blicke durch die bunte Menge vor dem Lokal schweifen lassen. Einige rauchten und unterhielten sich, andere drückten sich in eine dunkle Ecke und fummelten, wobei ihr das noch lieber war, als den Dealer zu entdecken, der an der Ecke einem Jugendlichen die Hand reichte. Sicher fand gerade ein Geschäft statt. Verärgert kniff, sie die Lippen zusammen. Hätte sie nicht gerade ein anderes Ziel vor Augen, hätte sie sich ein wenig Zeit für dieses Arschloch genommen. Und es hätte ihm wahrscheinlich nicht so viel Vergnügen bereitet, wie ihr! Angst war vielleicht keine edle Motivation, aber eine wirkungsvolle!

Evrill parkte den Wagen. Er würde vorerst noch ein paar Minuten im Auto warten und ihnen dann folgen. Ein Sicherheitsseil so zu sagen, falls die Dinge aus dem Ruder laufen sollten.

Pareios und Aurelia traten zusammen durch die breite Eingangstür, über der in geschwungenen Lettern ‚Caveau de la Huchette‘ geschrieben stand.

Im Inneren herrschte gedämpftes Licht und auf einer Bühne gegenüber spielte eine kleine Jazzband. Die Tanzfläche davor war gefüllt mit tanzenden Paaren und rund herum standen unzählige kleine runde Tische. Die Einrichtung hatte etwas Zeitloses, wobei die Stühle und Tische alle bunt zusammengewürfelt waren und die einzelnen Polsterbezüge nicht zu einander passten. Der rustikale Scharm zog sich auch an den rohen Backsteinwänden weiter, die mit verschiedenen Kunstwerken in satten Farben verhangen waren. Die Musik erfüllte ihre Ohren mit einer tragenden Jazzmelodie, die von gedämpften Saxophon- und Trompetenklängen unterlegt war.

Sie schoben sich durch die Menge und suchten sich einen kleinen Tisch in der hinteren Ecke, von dem aus sie den ganzen Saal und den Eingang im Auge behalten konnten. 

Pareios legte ihr Erkennungszeichen, die Stadtkarte von Paris, für alle ersichtlich auf den Tisch vor ihnen und stand auf, um ihnen etwas zu trinken zu bestellen. Stadtkarten benutzte heute eigentlich keiner mehr, die meisten Leute bezogen das Internet über ihre Smartphones und hatten so Zugriff zu Straßennetzen und GPS, weswegen sie weit und breit die Einzigen waren, die mit einem solchen gefalteten Stück Papier durch die Gegend liefen.

Aurelia untersuchte die Menge der Barbesucher, fragte sich, ob ihr Kontakt auf dieselbe Idee gekommen war wie sie, und früher eingetroffen war, um sich umzusehen. Die Bedingungen ihres Treffens waren ihr immer noch unheimlich. Sie konnte es nicht leiden, hier wie das Kaninchen auf dem Präsentierteller auf die Schlange zu warten und durch ihr Erkennungszeichen auch noch quasi ein Leuchtschild hoch zu halten, das ihre Anwesenheit verriet und sie identifizierte. Sie hätte sich wohler gefühlt, den Mann mit dem sie sich treffen wollten, erst ein Mal aus sicherer Entfernung betrachten zu können, aber das hatte dieser geschickt verhindert, indem er diese Regeln diktiert hatte. Nervosität ergriff sie, angesichts der Möglichkeit, dass er hier direkt neben ihr sitzen und einen Hinterhalt planen konnte, ohne dass sie auch nur die geringste Ahnung davon hatten.

Aurelia konzentrierte sich. Sie entließ ihre Intuition, schickte sie durch den Raum, auf der Suche nach einem Gesicht, das ihr irgendeine Form von Aufruhr durch die Knochen jagte. Aber im Moment war alles ruhig. Keine Person, die irgendeine Emotion in ihr verursachte, bis ein gewisser, verführerisch lächelnder Mann wieder an ihren Tisch kam. Pareios hatte zwei Gläser Gingerale dabei und glitt anmutig neben ihr auf den Stuhl.

Währenddessen nahm Aurelia aus den Augenwinkeln war, wie Evrill die Bar betrat. Der Elevender schritt langsam durch die Tische und zog dabei mit seinen schicken Klamotten, blass mintgrünes Hemd kombiniert mit eleganten schwarzen Hosen, und mit seinem exotisch guten Aussehen mehr als nur einen Blick auf sich. Er machte einen Abstecher an den Bartresen und ließ sich kurz darauf mit einem klaren Getränk an einem runden Tisch in ihrer Nähe nieder.

 

„Das ist jetzt schon unser zweites Date, ist dir das eigentlich bewusst?“ fragte Pareios heiter und legte unter dem Tisch seine Hand auf ihr Knie. Augenblicklich wurde sie ruhiger, fühlte die Wärme seines Griffs durch den hauchdünnen Stoff, so nah an noch empfindlicheren Stellen ihres Körpers.

„Ich dachte ein Date beinhaltet nur zwei Personen!“ Sie meinte damit nicht nur Evrill sondern auch ihren Informanten und rutschte mit ihrem Stuhl näher zu ihm heran. Er seufzte voller Sehnsucht und fixierte sie mit diesem unwiderstehlich aufreizenden Grinsen.

„Ich fürchte, wenn es danach geht, werden wir lange auf ein zweites Date warten müssen!“ erwiderte er dann wehmütig. „Ich hoffe du lässt es trotzdem zählen! Schließlich hab ich mir doch solche Mühe mit meinem Outfit gegeben!“

Da musste Aurelia ihm ernsthaft beipflichten. Er sah zweifellos blendend aus in der dunkeln Denimjeans und dem schwarzen Hemd, dessen beiden oberste Knöpfe er offen gelassen hatte. Die Ärmel waren lässig bis zum Ellenbogen hochgekrempelt. Sie musste sich vom Anblick des Ansatzes seiner perfekten Brustmuskulatur losreißen, der schon begonnen hatte, ihre ganze Aufmerksamkeit zu fesseln. Doch sie wollte wachsam bleiben, schließlich waren sie nicht nur zum Vergnügen hier.

„Ich hab dich übrigens noch nie geschminkt gesehen! Gibt es einen besonderen Anlass?“ erkundigte er sich beiläufig, während er ihr eine Strähne ihres offenen Haares hinters Ohr strich, was bei ihr eine Gänsehaut auf Wange und Hals hervorrief. Sie versuchte vieldeutig zu lächeln und konnte nicht widerstehen, ihrerseits ihre Hand unter dem Tisch auf sein Knie zu legen. Er schien sofort zu begreifen, dass er der einzige Grund für ihre Aufmachung war und schmunzelte fröhlich. Er beugte sich vor, sein Mund schwebte an ihrem Ohrläppchen, berührte es nicht ganz, aber als er mit rauer Stimme sprach, übertrug sich die tiefe Vibration auf ihre Haut, jagte ihr Schauer um Schauer den Nacken hinunter.

„Du musst mich nicht beeindrucken, ich bin dir schon voll und ganz verfallen!“

Bei seinen Worten begann ihr Herz zu singen, jede Ader, jede Sehne, jeder Muskel prickelte im Takt, während sie seiner unvergleichlichen Anziehungskraft folgte und ihren Kopf drehte, sodass ihr Mund auf seinem landete. Sie presste die geschlossenen Lippen auf seine, aber als er die Hand um ihren Nacken legte und sie mit sanftem Druck festhielt, öffnete sie sie begierig. Vorsichtig und behutsam strich seine Zunge über ihre, beinahe andächtig passten sie ihre Bewegungen an einander an, küssten sich langsam und gefühlvoll, mitten in dieser lauten, belebten Bar, vollgestopft von Menschen. Erst nach ein paar Minuten trennten sie sich widerwillig von einander, vor allem weil sich irgendwo in Aurelias vernebeltem Hirn ein Rest von Pflichtgefühl meldete. Trotzdem war all das merkwürdiger Weise weder fremd noch unangenehm, es fühlte sich einfach normal an. Was für eine Seltenheit in ihrem Leben, wie sie fand.

Sie tranken still ihre Getränke und beobachteten weiter die Menschenmenge um sie herum, es war mittlerweile kurz vor elf Uhr. Der Kontaktmann musste bald eintreffen.

 

Schon als die Tür aufging, und ein Schwall der kühlen Septemberabendluft herein drang, ließ die Intuition sie aufblicken.

Bingo! Das musste er sein, alle ihre Sinne waren sich ganz sicher!

Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit strohblondem Haar trat ein. Er trug eine sandfarbene Jacke über schlichten schwarzen Stoffhosen mit Bügelfalte und einem schwarzen Hemd, offensichtlich eine schnieke Montur, die er bei seiner Arbeit trug. An der Garderobe entledigte er sich der Jacke und sah sich suchend im Raum um. Sie hielt ihn mit ihrem Blick fixiert, bis er sie an ihrem Tisch ganz hinten am anderen Ende des Raumes samt ihrer Karte entdeckte. Er untersuchte kurz ihre Gesichter, bevor er sich zielstrebig durch die vielen Tanzenden auf sie zu bewegte. Sie rechnete damit, dass er sich setzen würde, aber er blieb vor ihrem Tisch stehen.

„Wenn der Herr erlaubt, würde ich ihre reizende Begleiterin gerne für einen Tanz entführen. Was meinen sie?“ sagte er laut und charmant, während er ihr einen undeutbaren Blick samt einem freundlichen Lächeln zuwarf. Sein jugendliches Gesicht und die topasfarbenen Augen verrieten einen offenen, wachen Charakter und jemand der wusste worauf er achten musste, konnte sofort erkennen, dass er ein Elevender war. Pareios‘ Griff um ihr Knie verstärkte sich, aber sie hatte schon, einem Impuls ihres sechsten Sinnes folgend, genickt und war im Begriff aufzustehen, bevor dieser einen Mucks von sich geben konnte. An seiner Schulter vorbei konnte sie sehen, dass Evrill die Szene keinen Moment aus den Augen ließ.

Der unbekannte Blonde streckte ihr den Arm über den Tisch entgegen und sie legte ihre Hand entschlossen in seine, ließ sich von ihm um die Stühle herum, hinein in die Menge auf der Tanzfläche führen. Es war eine instinktive Trance, die ihre Schritte bis zu diesem Punkt leitete, ihr das Denken abnahm, aber dort angekommen wurde ihr bewusst, was sie da eigentlich tat – und dass sie schon zum zweiten Mal in ein paar Tagen vor dem Problem stand, dass sie nicht tanzen konnte! Wobei die Sache heute auch noch durch ihr halsbrecherisches Schuhwerk verkompliziert wurde!

Jedoch war sie im Moment fest entschlossen, es sich in keinster Weise anmerken zu lassen und hoffte auf ein langsames Lied, bei dem es genügte, wenn sie einfach nur hin und her wippte. Der Fremde stoppte in der Mitte der Parketts, wandte sich um und zog sie schwungvoll an sich heran, so dass sie fast gegen seinen Körper geprallt wäre. Doch er fing sie mit dem anderen Arm auf und begann sich mit ihr zu drehen. Sein Griff war der eines erfahrenen Tänzers, wie er sie so leichtfüßig mit sich wirbelte. Die Musik war einnehmend - nicht zu schnell, Gott sei Dank - und der geheimnisvolle Fremde musterte ihren Gesichtsausdruck bei jeder Bewegung. Seine Mundwinkel zuckten freudig zu einem charmanten Lächeln, während er sie weiter drehte und dabei immer wieder ihre Hüften berührte. So langsam fragte sie sich, wie lange er dieses Spielchen noch treiben wollte und worauf das Ganze wohl hinaus lief. Mit zweifelhaft unbekannten Männern zu tanzen, war nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung und ihr Geduldsfaden spannte sich allmählich gefährlich an.

Sie entdeckte Evrill am Rand der Tanzfläche. Er hatte eine hübsche, junge Blondine aufgefordert und tanzte mit ihr jetzt immer näher an Aurelia und ihren Kontaktmann heran. Evrill bewährte sich gerade als umsichtiges Teammitglied und sein lässiger Ausdruck zeugte von einer ungeahnten Professionalität. Er fiel nicht auf, beruhigte sie aber doch mit seiner Anwesenheit im Getümmel.

Nach einer Weile verlangsamte ihr Tanzpartner das Tempo und zog sie enger zu sich. Auf die Tuchfühlung war sie nicht vorbereitet gewesen und ihr Körper versteifte sich automatisch, als er ihre Arme nahm und sie sich um den Hals legte. Seine eigenen schlang er um ihre Taille und wiegte sich jetzt nur noch mit ihr hin und her. Sie ließ es geschehen, bemühte sich, ihre Rolle, glaubwürdig zu spielen, auch wenn sie sich ein Wenig unwohl fühlte.

Als der Fremde den Kopf seitlich an ihr Gesicht legte, konnte sie Pareios‘ sengenden, besitzergreifenden Blick im Nacken spüren.

„Oh Mann, ich habe mir vorher wirklich den Kopf zerbrochen, wie ich am Unauffälligsten mit euch Kontakt aufnehmen könnte, aber dass es so angenehm werden würde, hätte ich nicht gedacht!“ flachste der Fremde jetzt an ihrem Ohr und sie fühlte wie sich seine Wangen zu einem Lächeln verzogen. Dann wurde sein Ton entschuldigend. „Verzeih bitte die Vorsichtsmaßnahmen, aber heut zu Tage weiß man nie, wer zusieht!“

Sie musste zugeben, dass er damit wohl Recht hatte und entspannte sich ein Bisschen. Ihre Körper berührten sich, aber er übte keinen Druck aus, als wolle er einen letzten Funken geschäftlichen Abstandes wahren.

„Ich nehme an, ihr seid Juliens Freunde!“ Das letzte Wort betonte er vielsagend, wobei ein Hauch seines feuchten Atems über ihren Hals strich. Sie nickte.

„Er hat mir gesagt, ihr habt einige Fragen über die Versuchsreihe ‚New Dawn‘. Ich habe damals mehrfach einen Mann gefahren. Er sagte mir, er arbeite bei dieser Studie mit. Er hat mir nie seinen Namen gesagt, aber ich habe ihn immer von derselben Adresse in Kopenhagen abgeholt und wieder zurück gefahren.“

„Was noch? Alles was du weißt könnte wichtig sein!“ forderte sie eindringlich an seiner Schulter.

Er schüttelte unmerklich den Kopf und seufzte bedauernd. „Ich fürchte, viel mehr ist da nicht. Er hat mir nie erzählt, worum es in den Tests ging, aber manchmal sah er ziemlich fertig aus. Er war groß und gut gebaut, als ich ihn zum ersten Mal gefahren habe, aber ein paar Wochen später sah er nur noch aus wie ein Penner, klapperdürr und ausgezehrt, hatte auch schon einige kahle Stellen auf dem Kopf.“ Er bemühte sich um alle Details, die ihm im Gedächtnis geblieben waren.

„War er ein Elevender?“ wollte sie wissen, einem unbewussten Schrecken auf der Spur.

„Ich dachte es anfangs, aber als seine körperliche Konstitution rapide abnahm, habe ich angenommen, dass er nur ein ungewöhnlich gut gebauter Mensch war, der definitiv zu viel arbeitete. Ich habe ihn zu den unchristlichsten Zeiten durch die Gegend chauffiert, er schien mir wie ein Workaholic.“

„Wie sah er aus?“ Aurelia atmete flach, drehte sich mit ihm auf der Stelle und lauschte seinen Ausführungen. Ihr Herz schlug immer schneller. Wesentlich schneller als die Musik, die im Hintergrund rauschte. Sie spürte es tief in den Knochen, dass sie hier auf der richten Fährte waren.

„Hm, vielleicht 1,85 groß, dunkle Haare, schwarz oder braun, ich weiß nicht mehr genau, aber dunkle Augen hatte er. Die sieht man am häufigsten, wenn man sich über den Rückspiegel unterhält. Und als ich ihn zum letzten Mal gefahren habe, hatte er eine frische lange Wunde seitlich am Ohr vorbei, den Hals hinunter. Falls er noch lebt, hat er da jetzt vielleicht eine Narbe.“

„Falls er noch lebt?“ Panik stieg in ihr auf, bei dem Gedanken, dass ihre einzige Spur möglicherweise bereits den Löffel abgegeben haben könnte.

„Ich sagte doch, er sah zu der Zeit wirklich schlecht aus. Er war nur noch der Schatten des Mannes, den ich beim ersten Mal abgeholt habe.“ In seiner Stimme schwang Bedauern mit, was ihren Eindruck verstärkte, dass sie es hier mit einem grundsätzlich guten Mann zu tun hatte. Warum er wohl für die Hegedunen arbeitete?

Aber sie war nicht hier, um sich über Beweggründe zu sorgen. Also erkundigte sie sich nach der Adresse, die er erwähnt hatte und wohin er ihn jedesmal gebracht hatte.

„Ich habe euch beide Adressen aufgeschrieben. Du kannst sie haben, aber vorher muss ich noch etwas tun und ich entschuldige mich schon jetzt dafür!“

Er kicherte voller Vorfreude und machte sich keine Mühe, seine Absichten vor ihr zu verbergen. Sie waren in einem Raum voller Menschen und ihr Treffen gebot höchste Diskretion. Also waren Aurelia die Hände gebunden, obwohl sie ihm seine wahrscheinlich in Sekundenschnelle hätte brechen können, als er eine seitlich an ihre Wange legte. Dann zog er einen ihrer Arme von seinem Nacken und drückte ihre Hand mit seiner umschlossen gegen seine Brust. Aurelia fühlte die Ecken des gefalteten Stück Papiers in die Haut im Innern ihre Faust drücken, als er ihr dies während dieser Bewegung zu schob. Dabei blitzten seine Augen frech.

Das machte sie so perplex, dass sie, obwohl sie es geahnt hatte, dann doch keine Gegenwehr leistete, als sein Kopf sich hinab beugte und er ihr einen kurzen flüchtigen Kuss auf den Mund hauchte. Seine Lippen verweilten nur einen Augenblick, leicht geöffnet, und bevor sie angemessen reagieren konnte, ließ er von ihr ab, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand in der Menge.

Keine Sekunde später fühlte sie Pareios‘ Hitze im Rücken, der wahrscheinlich bei dem Anblick wie ein geölter Blitz auf die Tanzfläche geschossen war. Dass er niemanden mehr an ihrer Seite vorfand, schien ihn noch wütender zu machen, als er es ohnehin schon war. Nirgends war mehr eine Spur von ihrem Informanten zu entdecken, auch die Jacke an der Garderobe fehlte bereits.

„Dieser Bastard!“ grummelte Pareios und legte ihr besitzergreifend eine Hand auf die Schulter. Seine Berührung war heiß als seine Haut auf ihre traf. Es gefiel ihr, dass er sie offensichtlich als ihm zugehörig befand, denn genau das fühlte sie ebenso, wünschte sie sich von ganzem Herzen!

So ließ sie sich von ihm zurück zu ihrem Tisch delegieren, wo Evrill, er hatte sich von seiner Tanzpartnerin verabschiedet, mit ungeduldiger Miene auf sie wartete.

„Und war er es?“ erkundigte er sich schon, bevor sie sich gesetzt hatte.

„Jep!“ Sie lehnte sich über das dunkle Holz zu Pareios hinüber. „Der ‚Bastard‘ hat uns mit seiner Info gerade eine heiße Spur geliefert!“ Sie zückte das Stück Papier und schob es auf der Tischplatte unter ihrer Hand verdeckt zu ihm herüber. Beide steckten sie erstaunt die Köpfe zusammen und überflogen das Geschriebene einen Moment lang.

„Das ist ja in Kopenhagen!“ stellte Evrill fest. „Sieht so aus als kämen wir auf dieser Mission weit rum, was?“

 

Aurelia berichtete ihnen mit knappen Sätzen von ihrem Gespräch mit dem Kerl, der seinen Namen nicht preisgegeben hatte, genauso wenig wie er ihren wusste. Sie rätselten noch eine Weile, was ein Mensch mit der ganzen Sache zu tun hatte und kamen zu dem Schluss, dass es vielleicht ein Wissenschaftler gewesen war, der versucht hatte, die harten Zielvorgaben seiner hegedunischen Auftraggeber zu erfüllen. Er hatte seine Arbeit anscheinend mit aller Kraft vorangetrieben, was seinen sterblichen Körper in Mitleidenschaft gezogen hatte. Auf einer Ebene tat ihr der Mann Leid, der wahrscheinlich genauso in einem Fadennetz aus Zwang und Lügen festhing, wie so viele andere. Aber gleichzeitig verabscheute sie ihn, an solchen Entwicklungen beteiligt gewesen zu sein, in welcher Form auch immer. Sie vereinbarten morgen früh nach Kopenhagen aufzubrechen, dann bezahlten sie ihre Rechnung und verließen das ‚Caveau de la Huchette‘.

Sie gingen zu Fuß zu ihrem Wagen, den sie nur eine Querstraße weiter abgestellt hatten, aber schon an der nächsten Gasse, die zwischen zwei Häusern anscheinend in einen Hinterhof führte, verlangsamte Aurelias Intuition ihre Schritte.

Irgendwann stoppte sie, ganz von der düsteren Faszination gefesselt, die der schmale Weg zwischen den zwei Gebäuden dank ihrer Gabe auf sie ausübte. Es fühlte sich beinahe an, wie ein dunkler Schatten, der ihr die Beine hoch kroch, sich wie eine Haut um sie legte und sie tiefer ins Dunkel zog. Pareios und Evrill waren ebenfalls stehen geblieben und starrten sie verwirrt an, als sie sich Schritt für Schritt in die Gasse hinein bewegte. Beide folgten ihr jetzt wortlos, aber mit höchster Wachsamkeit. Sie hatten die Hände schon an die Waffen unter ihren Jacken gelegt, bereit sie zu ziehen und was immer da kommen mochte zu erledigen. Doch Aurelia fühlte keine unmittelbare Gefahr, sondern nur eine merkwürdige Leere, während sie weiter die dunklen Ecken nach der Ursache ihres Gefühls durchforstete.

Schließlich fanden ihre Augen schräg gegenüber, halb verdeckt von einem Müllkontainer,  einen Haufen, aus dem verrenkte Glieder herausragten. Er lag in einer Lache aus dunkler, klebriger Flüssigkeit, die die Luft mit einem kupfrigen Hämoglobingeruch füllte. Ihre Kehle schnürte sich zu und sie versuchte, alte Bilder und aufkeimende Übelkeit zu verdrängen. Zu oft hatte sie tote und misshandelte Körper gesehen, aber es würde wohl nie ein Ende nehmen.

Sie ging weiter auf die geschundenen, menschlichen Überreste zu und suchte irgendwo nach einem Gesicht. Es war nicht mehr zu erkennen, wo genau ursprünglich eins hätte sein müssen. Doch mit jedem Zentimeter den sie weiter absuchte, sickerte die Gewissheit in ihren Schädel. Trotz der  Finsternis erkannte sie winzige Fetzen sandfarbenen Stoffes an den wenigen Stellen, wo ihn das Blut nicht schwarz gefärbt hatte. Der Schreck ließ ihr das Blut in den Adern zu Eis kristallisieren.

Mein Gott, sie kannte diesen Mann!

25

Es war ihr Informant!

Der Mann, der noch vor einer Viertelstunde frech und fröhlich ihre Lippen berührt hatte, der, der ein hohes Risiko eingegangen war, sich mit ihnen zu treffen. Ein zu hohes, wie sich nun herausstellte.

 

Ein Geräusch über ihren Köpfen ließ sie zusammenschrecken. Sofort sahen alle drei nach oben, suchten die Häuser, die links und rechts von ihnen aufragten nach dem Verursacher ab. Ein zweites Geräusch bestätigte sie, es kam vom Dach des linken Backsteinbaus.

„Da ist noch jemand!“ raunte Pareios und zog seine Dessert Eagle.

Warum hatte Aurelia das nicht wahrgenommen? All ihre Sinne waren auf Alarm geschaltet gewesen, eine Gefahr hätte sie doch gespürt!? Verwirrt schluckte sie die Bestürzung herunter und versuchte sich zu sammeln.

Alle drei verständigten sie sich mit einem kurzen Blick, dann sprangen sie auseinander.

Evrill rannte aus der Gasse heraus, nach rechts die Straße hinunter, in der Hoffnung dem Flüchtenden den Weg abzuschneiden, während Aurelia und Pareios wie die Besengten die Feuertreppe erklommen. Im Rennen verlor Aurelia einen ihrer Pumps, nachdem er mit einem Absatz im Gitter der Treppe stecken geblieben war. Daraufhin kickte sie auch den anderen von sich, was sie ungleich schneller machte. So  konnte sie mit Pareios Schritt halten, der ihr im die Sprint die P8, die er für sie aufbewahrt hatte, nach hinten reichte. Sie ergriff sie und entsicherte sie sogleich, hielt sie auf Anschlag vor sich gerichtet.

Oben auf dem Dach angekommen, sahen sie nur noch den Rücken einer flüchtenden Person. Sie war ganz in schwarz gekleidet, soweit sie es auf die Entfernung ausmachen konnte und trug eine Skimaske, die Kopf und Haare verbarg. Der Größe nach war es ein Mann und er war unglaublich schnell, wodurch sie schon wenige wichtige Sekunden verloren hatten, bevor sie ihn überhaupt entdeckt hatten.

Sofort nahmen sie die Verfolgung auf, quer über das Dach, von dort auf ein anderes, immer weiter hinein in die Stadt, hoch über den Köpfen der Nachtschwärmer unten auf den Straßen. Pareios flog neben ihr durch die Dunkelheit, aber mit seinen langen, muskulösen Beinen beschleunigte er noch ein Mal und überholte sie. Als sich der Abstand zwischen ihm und dem Flüchtenden halbiert hatte, begann Pareios linke Hand zu glühen und entsandte eine Salve von Feuerbällen. Die rotzüngelnden Kugel sausten zielgerichtet auf ihr Opfer zu, doch dieses schaffte es gerade noch, einen Haken zu schlagen und ihnen zu entgehen.

In diesem Moment witterte Aurelia ihre Chance.

Sie sprang ab und feuerte einen einzelnen Schuss ab. Dank ihres Schalldämpfers verriet das Geräusch sie nicht. Die dunkle Gestalt vor ihnen erhob sich eben in die Höhe, war auf dem Weg zum nächsten Flachdach. Aber kaum war er abgesprungen, wurde sein Körper im Flug vom Einschlag der Kugel aus Aurelias Waffe ins Trudeln gebracht. Er schaffte es nicht auf das andere Haus, dann war er aus ihrem Sichtfeld verschwunden, fiel die vier Stockwerke hinunter auf die Straße.

Pareios und Aurelia kamen nur kurz nach ihm am Rand des Daches an und starrten auf eine weitere finstere Seitenstraße hinab. Der Mann landete gerade auf dem Asphalt, mit ihrem feinen Gehör fing sie ein vernehmliches Knacken von Knochen ein, aber der Kerl stand auf und wollte davon humpeln. Aurelia richtete ihre Waffe aus, in dem Moment wurde der Flüchtling von einer weiteren dunklen Gestalt umgerissen.

Evrill! Er hatte sich auf den Mann gestürzt und ihn wieder zu Boden befördert, jetzt saß er rittlings auf ihm und versuchte ihn in einen erbarmungslosen Würgegriff zu nehmen. Aber der Gegner schien über übermenschliche Kräfte zu verfügen. Er bäumte sich wild auf und warf Evrill ab. Schon war er auf den Beinen, genauso wie ihr Teamkollege. Mit einer Serie harter Schläge nagelte er den Unbekannten an die nächstgelegene Hauswand. In einem schnellen Handgemenge kämpften die beiden miteinander, Fäuste und Ellenbogen flogen und keiner würde weichen, bis einer besiegt am Boden liegen würde. Die kleine Gasse ließ die Geräusche ihres keuchendenden und stöhnenden Atems und von den auf Fleisch treffenden Schlägen vielfach verstärkt zu Aurelias und Pareios‘ Position auf dem Dach hinauf wehen. Sie versuchte den Angreifer mit der Mündung ihrer Waffe zu fixieren, aber Evrill kam ihr immer wieder in die Schusslinie, aus dieser Entfernung würde sie mit ihrer Handfeuerwaffe sowieso nur durch Zufall treffen!

Als sie fluchte war Pareios schon an ihr vorbei gerannt. Er  sprang auf die Feuertreppe, die auch hier an der Hauswand befestigt war, und Aurelia folgte ihm dicht auf dem Fuße, als er sich im dritten Stock über das eiserne Geländer hinunter in die Gasse schwang. Unten angekommen rollte Aurelia sich ab, um ihre Knöchel zu schonen. Sie kam wieder auf die Füße und richtete sogleich wieder ihre Waffe auf das Knäuel aus Armen und Beinen. Pareios dagegen landete leichtfüßig, ging dabei tief in die Knie und hatte den Schwung schon in eine Vorwärtsbewegung umgewandelt. Er stürzte auf den Kampf zu, die Rechte immer noch um die Waffe geschlossen die Linke zur Faust geballt und erhoben. Durch seine Gabe leuchtete sie in der düsteren Nacht wie weißglühender Stahl.

Aus den Augenwinkeln sah sie etwas silbern aufblitzen, während es von dem unbekannten Angreifer durch die Luft geschwungen wurde. Pareios hatte die beiden noch nicht ganz erreicht, doch auch Evrill hatte es gesehen. Er packt das Handgelenk seines Gegners und rammte von unten sein Knie dagegen. Der Arm brach mit einem entsetzlichen Knirschen und stand nun in einem merkwürdigen Winkel vom Körper ab, während die daran hängende, nutzlos gewordene Hand das Messer fallen ließ.

Es sah so aus als hätte Evrill die Oberhand gewonnen, da schlug der erste beinahe lautlose Schuss neben Aurelias Füßen ein. Mehrere folgten und schon ergoss sich ein wilder Hagel von tödlichen Bleikugeln in die Gasse, in der sie standen.

Scheiße, sie wurden beschossen!

Sie und Pareios stürzten zu Boden, suchten nach den Schützen, konnten aber noch nicht mal mit ihren Elevenderaugen ausmachen, woher die Schüsse kamen. Evrill hatte den Mann losgelassen und sich ebenso zu Boden geworfen. Dieser nutzte sofort die Gelegenheit, um endgültig die Flucht zu ergreifen. Humpelnd rannte er in die andere Richtung, ließ seine Gegner im Kugelregen gefangen zurück.

Als er aus der Gasse verschwunden war, hörten die Schüsse abrupt auf, jetzt war es nur noch still. Sie alle lagen auf dem Rücken auf den Boden, hatten die Waffen erhoben und ließen sie über die Schatten wandern, aber es regte sich nichts mehr.

Wer auch immer da auf sie geschossen hatte und wen immer Evrill da gestellt hatte, sie waren weg!

 

Pareios kam als erstes elegant wieder auf die Beine. Er fluchte obszön und half Aurelia hoch, die sich das bis zu den Hüften aufgeschlitzte Kleid mit einer Hand zu hielt. Der Stoff hatte bei ihrem Sprung aus dem dritten Stock nachgegeben und war eingerissen - solche Kleidchen waren mit ihrem Job wohl einfach nicht kompatibel.

Auch Evrill reichte er die Hand, um ihm auf zu helfen. „Verdammt, Sonnenschein! Wo hast du denn das gelernt?“ fragte er diesen amüsiert. Evrill betastete sein geschundenes Gesicht und grinste, wobei er sich schon auf den Weg zur Straße machte.  

„Ich wünschte, wir hätten ihn erwischt! Und Himmel, was war das denn? Entweder ist der Partner von dem Kerl ein ganz mieser Schütze, oder aber er war besoffen. Sonst kann ich mir nicht erklären, warum wir hier noch stehen!“

Pareios und Aurelia wandten sich ebenfalls zum Gehen, allerdings plagten Aurelia beißende Zweifel. So schlecht konnte gar keiner zielen, als dass er drei ausgewachsene Menschen, ausgestreckt und regungslos auf dem Boden, verfehlen würde. Sie waren ein leichtes Ziel gewesen!

„Los Leute! Mal sehen, ob der Blondschopf mir noch irgendwas zu sagen hat!“ drängte Evrill jetzt und beschleunigte sein Tempo.

 

Geschlossen marschierten sie zurück zu dem Hinterhof beim ‚Caveau de la Huchette‘. Sie legten die Strecke hastig, beinahe im Laufschritt, aber schweigend zurück, alle beschäftigt mit den tausenden von Ungereimtheiten, die sie an diesem Abend wieder ereilt hatten. Eins war sicher, dieser Mord war kein Zufall gewesen! Und die Person, die sie verfolgt hatten, war eindeutig ein Elevender gewesen!

Jemand war ihnen auf den Fersen, aber warum hatte man sie nicht getötet? Und warum hatte ihre Intuition ihr die Gefahr nicht gemeldet? Sie konnte es jetzt überhaupt nicht gebrauchen, dass ihre Gabe schwächelte. Aber wie sollte sie es sich sonst erklären?

Sie bogen um die letzte Ecke und drangen bis tief in den Hof vor. Doch in der Pfütze mit der schwarzglänzenden Oberfläche lag keine Leiche mehr. Bis auf das Blut war nichts übrig, das Evrill hätte berühren können, um einen Einblick in die letzten Gedanken ihres Kontaktmannes zu erhalten. Wie drei schwarze Schatten verharrten sie vor Schock reglos am Rande der geronnen Flüssigkeit und starrten auf den Fleck, an dem vorhin noch der gebrochene Körper des großen Blondschopfs gelegen hatte.

Sie erinnerte sich an ihr Gefühl, dass er ein guter Typ gewesen sein musste und ihr Herz füllte sich mit Trauer, da sie mit ihrem Hilfsgesuch wahrscheinlich seinen viel zu frühen Tod ausgelöst hatten. Sie zogen eine Spur der Verwüstung hinter sich her, wie sie da so dem Geheimnis der Steine nachjagten.

Bedauern schnürte ihr die Kehle zu und sie schloss einen Moment reumütig die Augen, schickte ein letztes Gebet für ihn und seine Angehörigen zum Himmel. Auch die anderen beiden wahrten die Stille dieses Augenblicks, teilten die letzte Andacht mit ihr. Dann wandten sie sich um und verließen den Schauplatz dieses grausamen Gemetzels, während sie sich fragen mussten, ob der Feind nicht schon hinter der nächsten Ecke auf sie wartete. Er war sehr nahe gekommen, wo sie sich doch für so schlau gehalten hatten.

 

Im Auto brachte Aurelia ihre Gedanken aufs Tableau. „Die räumen hinter uns auf! Die wissen, dass wir ganz nah dran sind!“ Wütend starrte sie in die dunkle Nacht hinaus, als könnte sie dort durch Zufall oder bloße Willenskraft das Phantom entdecken, dessen Weg sie heute gekreuzt hatten.
„Aber warum haben sie uns nicht getötet?“ fragte Pareios jetzt grimmig in die Runde, rief ihnen damit in die Köpfe, dass sie dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen waren und das wahrscheinlich einzig und allein, weil der Schütze es nicht drauf angelegt hatte.

Sie erschauerte, als ihr auffiel, wie kurz davor sie gewesen war, das Versprechen, das sie Ezekiel gegeben hatte, zu brechen! Wobei ihr Evrill mittlerweile nicht mehr wie einer vorkam, der ihren Schutz benötigte, aber damit hatte sein Vater wohl nicht gerechnet!

„Die Schüsse sollten uns lediglich zurückschlagen, damit der Kerl fliehen konnte!“ Evrills Ton war jetzt bitter, die Augenbrauen hatte er zu einem düsteren Ahnen zusammen gezogen.

„Ich habe außerdem keine Gefahr gespürt, die ganze Zeit nicht!“ trug Aurelia zu der Diskussion bei und heizte sie damit weiter an. „Das heißt, ich glaube nicht, dass die den Auftrag hatten, uns zu töten. Sie wollten ihn und nur ihn! Großer Gott, die kennen jeden unserer Schritte und dann wissen sie mit Sicherheit auch bald von Kopenhagen!“

Es war unverkennbar, dass die ganze Geschichte ihnen immer mehr aus den Händen glitt. Es war, als ob jemand die Geschehnisse so lenken würde, dass sie immer nur einen Weg sahen, der sie vorwärts trug, als ob jemand wollte, dass sie genau dieser einen Spur folgten. Unversehens waren sie vom Jäger zum Gejagten geworden!

Aurelia schüttelte sich bei diesem erschreckenden Gedanken, dem wohl auch die anderen anheim gefallen waren, denn sie blickten nun alle mehr als bestürzt drein. Jetzt gab es nur noch zwei Optionen: den Schwanz einkneifen, sich erst Mal verstecken und von vorn anfangen, oder einen Zahn zu zu legen und zu versuchen, vor ihren Beobachtern in Kopenhagen zu sein. Diese würden sicher schnell darauf kommen, was genau der Fahrer ihnen erzählt hatte.

 

Sie entschieden sich einstimmig für Letzteres. Ihre einzige Chance war jetzt die Flucht nach vorn und ihr Gefühl, dieses verheißungsvolle Prickeln, das Aurelia schon beim Betreten dieser Stadt gespürt hatte, sagte ihr, dass dies ihr Weg war, so schrecklich er auch sein mochte. Es gehörte alles dazu, leider auch der Tod dieses mutigen Mannes, der die Rechnung, die sie offen gehabt hatten, mit seinem Tod beglichen hatte. Sie versprach sich, dass sie ihn niemals vergessen würde.

Sie kehrten zur Wohnung zurück, packten überstürzt ihre Sachen und beseitigten alle Spuren, die sie hinterlassen hatten. Aurelia entsorgte das zerfetzte Kleid und ersetzte es durch ihre bequeme, sportliche und dunkel gehaltene Alltagskleidung. Sie rüstete sich innerlich und äußerlich, schnallte sich die Holster um Schulter und Knöchel, bestückte sie mit Waffen und Munition. Den Gürtel mit den Messern legte sie sich um die Hüften, dann zog sie ihre Lederjacke über. So ausgestattet fühlte sie sich von Stärke durchströmt, spannte kurz ihre Muskulatur an, ballte die Fäuste. Sie war bereit.

Als sie ihre Tasche nahm und als Letzte aus der Wohnung trat, blickte sie zurück. Es sah aus, als wären sie nie da gewesen.

 

Im Auto Richtung Kopenhagen wechselten sie sich mit dem Fahren ab, damit jeder ein wenig Schlaf bekam. Sie fuhren die ganze Nacht und den halben nächsten Tag hindurch.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden entschloss Aurelia sich dazu, Viktor anzurufen. Sie kramte nach ihrem Handy uns streifte dabei Pareios‘ Arm, der neben ihr auf der Rückbank saß und bis eben geschlafen hatte. Er blinzelte kaum, war sofort hellwach, als sie ihn ausversehen berührte. Seine Augen fanden sogleich das Handy in ihrer Hand.

„Du darfst ihnen auf keinen Fall sagen, wo wir hin fahren.“ war sein einziger Kommentar.

Aurelia nickte, dann wählte sie Viktors Nummer. Er meldete sich nach einer halben Ewigkeit, klang etwas außer Atem. Aurelia stellte das kleine Gerät auf Lautsprecher um, damit die beiden Anderen mithören konnten.

„Alles klar Viktor? Kannst du reden?“

„Moment!“ antwortete er jetzt flüsternd. Sie hörten eine Tür knarren, dann herrschte Stille. „Schieß los!“

„Wir folgen der Spur weiter. Es hat sich was ergeben, aber es sieht nicht gut aus, Mann!“

Viktor brummte düster, dann berichtete er: „Row ist schon den ganzen Tag im Labor und hilft Syrus bei der Sichtung der Daten auf Aidens Stick. Du hattest übrigens recht, sie hatte ihn innerhalb von zwei Minuten um den Finger gewickelt!“

Aurelia dachte an den klugen Mann mit dem schütteren grauen Haar, der sonst am liebsten alleine arbeitete und jetzt von einer allzu geschwätzigen Rowena unter die Fittiche genommen wurde. Ihre freundliche und liebenswürdige Art würde den Vorstoß gut verdecken, Aurelia war sich sicher. Schon gestern als sich der Plan in ihrem Gehirn geformt hatte, war sie es aus einem unerfindlichen Grund gewesen.

„Aiden sitzt in der IT-Zentrale und sucht in unseren Daten nach dem Namen, das denkt zumindest Markus, ist ja auch so, aber er hält gleichzeitig Ausschau nach irgendwelchen Sachen die mit den Steinen zu tun haben könnten. Ich war heute außerdem ein bisschen im Bunker unterwegs, die Ratsmitglieder sind wirklich nicht mehr hier. Ihre Wohnungen sind leer!“

Cassiopaia, Liif, Laelius, Demetrian und Nero waren also abgereist.

„Hat Markus irgendwas dazu gesagt?“ erkundigte sie sich weiter.

Viktor schnaubte jetzt verächtlich. „Noch nicht. Er geht mir aus dem Weg, wenn ich alleine mit ihm sprechen will, aber ich krieg ihn schon noch!“

„Sei vorsichtig!“ mahnte sie ihn und hoffte, dass ihre Leute im Bunker nicht in Gefahr geraten würden. Sie hatte geglaubt, dass sie unter all den Zivilisten dort erst mal sicherer waren, als hier draußen. „Und, Viktor? Ihr habt das alles wirklich gut eingefädelt! Tut gut, zu sehen, dass mal etwas funktioniert!“

„Hm! Wir bleiben dran! Ich melde mich, wenn ich mit Row, Aiden und Markus gesprochen habe.“ Damit beendete er das Gespräch und Aurelia steckte das Handy zurück in ihre Tasche.

 

„Lasst uns beten, dass wir rechtzeitig in Kopenhagen sein können!“ murmelte Evrill vorn im Auto und drückte das Gaspedal durch. „Wird Zeit, dass wir endlich Antworten bekommen!“

Auch Aurelia und Pareios waren von Ungeduld erfüllt. Sie bemerkte, wie ihr Sitznachbar unruhig auf dem Polster hin und her rutschte. Die Morgensonne schien jetzt schräg durch die Seitenfenster herein, die Landschaft wurde zunehmend flacher und schon bald konnten sie das Meer sehen. Die Luft war klar, roch leicht salzig und nach Seewasser, als sie die Fenster herunter ließen, um sich einen Moment der schönen Umgebung hinzugeben.

Da sie diese Gerüche und die Ostsee jetzt mit den schönen ruhigen Stunden auf Ezekiels Anwesen verband, fühlte sie sich augenblicklich wohl und fragte sich, ob das jetzt für immer so bleiben würde.  Das Auto holperte kurz, als sie auf die Fehmarnsundbrücke fuhren, die die Stadt Großenbrode an der äußersten Spitze der Lübecker Bucht mit der Insel Fehmarn verband. Die Ostsee lag direkt unter ihnen und weit über dem Horizont, der in endlosem Blau und Gold versank, brannte die Sonne wie ein Feuerball am Himmel, obwohl es erst gegen zehn Uhr war. Es würde ein heißer Herbsttag werden, hier in dieser Gegend, die zu den Sonnenreichsten Deutschlands gehörte. Die Schatten der Brückenstreben huschten immer wieder über das Auto, während sie mit hoher Geschwindigkeit die kleine Meerenge überquerten. Aurelia musste sich bald aus ihrer Uniformjacke schälen, da sich der Kombi in der Sonne aufzuheizen begann.

In Puttgarden reihten sie sich in eine lange Wagenschlange ein, die sich bis zum Hafen hinunter zog. Die vielen Autos warteten auf die Fähre, die alle 90 Minuten von Fehmarn nach Dänemark aufbrach.

Sie hatten Glück, denn es dauerte nicht lange, bis eines der monströsen Schiffe anlegte und die ersten Wagen von den Einweisern auf ihre Plätze dirigiert wurden. Sie erhielten einen Stellplatz weit hinten am Heck.

Evrill wollte die Dreiviertelstunde nutzen, um  einen gesicherten Internetzugang herzustellen und die beiden Adressen zu überprüfen, die ihnen ihr Informant hatte zukommen lassen. Aurelia und Pareios stiegen aus und begaben sich auf Erkundungstour. Sie erklommen einige Treppen und erreichten das Oberdeck, auf dem sich auch ein überdachter Speisesaal befand. Sie besorgten sich dort einen Haufen Sandwiches und wanderten dann über Deck. Aurelias Beine waren im Auto schon seit Stunden eingeschlafen und die stickige Wärme, die sich im dunklen Kombi gebildet hatte, während sie auf die Fähre gewartet hatten,  hatte ihren Kreislauf etwas mitgenommen. So war sie froh um jeden Schritt, mit dem sie sich die Füße vertreten konnte und genoss den strengen Wind, der ihr die Haare ins Gesicht peitschte. Bei diesen Temperaturen war er jedoch nicht eisig, sondern glich einer angenehmen, kühlen Brise. Die Menschen um sie herum waren alle sommerlich gekleidet und verströmten Urlaubsstimmung. Sie gehörten wohl zu denjenigen, die das Glück gehabt hatten, ihre Woche Ferien noch im Frühherbst bekommen zu haben. Alle waren sie ausgelassen, genossen diesen letzten Rest Freiheit, den man ihnen gelassen hatte und ahnten nichts, aber auch gar nichts von dem, was sich im Moment über ihnen allen, Menschen und Elevendern, zusammenbraute.

Evrill tat gut daran, eine Bewegung zu unterstützen, die die Menschen aufweckte. Es war höchste Zeit und einen Wimpernschlag lang stellte sie sich all die Urlauber in Uniform vor, wie sie für ihre Rechte und ihre Freiheit kämpften.

Sie waren wie Wespen im Kampf mit Raubtieren. Eine Einzige konnte nicht viel ausrichten, aber ein ganzer Schwarm war tödlich, besonders wenn die Wespen aggressiv waren. Leider standen die Überlebenschancen für die Menschen in diesem Kampf insgesamt eher schlecht und wagten sie Angriffe, bevor sie genügend Mitglieder zählten, würden die Hegedunen sie zerquetschen, wie ebendieses Insekt.

Sie riss sich vom Anblick der fröhlichen Menschen los, als ihre masochistische Fantasie schreckliche, bösartige Gesichter in die Menge projizierte. Sie fühlte sich beobachtet, gejagt. Bei dem Versuch, diese Emotionen abzuschütteln, überquerte sie das Deck aus hölzernen Planken und trat an die Reling. Stumm bewunderte sie die Macht der See, die sich in der Gischt der Wellen und der unendlichen Weite des tiefen dunklen Blaus widerspeigelte. Die Fähre pflügte durch das bewegte Nass und hinterließ schäumende Strudel links und rechts vom Heck. Der Anblick lenkte sie ab und sie fühlte sich klein und unbedeutend, wie sie so auf die Abermillionen Tonnen von Wasser hinunter sah, die sie jetzt noch trugen, sie aber schon im nächsten Moment mit eiserner Zunge verschlingen konnten. Mit dem Leben war es genauso, dachte sie. Im einen Augenblick ritt man noch die Welle und im nächsten lag man schon unter ihr begraben und wurde durch geschleudert wie in einer Waschmaschine.

Pareios trat hinter sie und unterbrach ihre Gedanken. Die Hitze an ihrem Rücken zog sogleich ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Er legte sie Hände links und rechts von ihr auf die Reling und umschloss sie so mit seinen Armen wie in einem Käfig. Aber sie fühlte sich nicht gefangen, wie sie es früher vielleicht getan hätte, nein, sie fühlte sich aufgehoben!

Es war herrlich, ihn hinter sich zu spüren, in diesem Augenblick, den sie sich in dieser Zeit des Umsturzes genommen hatte, um innezuhalten. Sie lehnte sich an ihn und er legte die Wange auf ihr Haar. Tröstlich drang seine Wärme durch ihr kurzärmliges dunkles Shirt, während ihre Front von den Sonnenstrahlen beschienen wurde. Sie gingen ihr unter die Haut, genauso wie der Mann hinter ihr, erreichten auch den tiefsten Kern und beschienen ihn mit ihrem goldenen Licht. Sie versuchte den Moment und die Gefühle fest zu halten, sich jedes Detail einzuprägen. Sie wusste nicht, wie viele Gelegenheiten sie noch für ein solches Glück hatte. Wie viele Male würde sie noch unter einer solchen Sonne stehen und mit dem Mann, den sie liebte, zusammen sein können?

Vielleicht hatte sie nur noch wenig Zeit, das alles, was sie sich bisher verweigert hatte, zu genießen. Das Leben in vollen Zügen auszuschöpfen. Mit ihrer Vision im Nacken, könnte ihr bisher eher tragisches Dasein schneller vorbei sein, als sie je gedacht hätte. Und obwohl sie sich all die Jahre bestraft hatte, bemerkte sie jetzt, dass tief in ihr vergraben doch der Wunsch überlebt hatte, ein Mal ein anderes Leben führen zu können. Dazu gehörten auch die ganzen verrückten Regungen, die sie in den letzten Tagen verspürt hatte, nicht zu letzt dieser merkwürdige Mutterinstinkt. Sie fühlte sich jetzt anders, neu.

 

Als hätte Pareios ihre Gedanken geteilt, legte er beide Arme von hinten um sie und drückte sie fester an sich. Sie leistete nicht den kleinsten Widerstand, sondern kuschelte sich an ihn, umhüllte sich mit seinem Duft. Dann fragte sie: „Alles klar bei dir?“

Er nickte an ihrem Ohr. „Ich musste nur eben an deine Vision denken, und… dass ich dich nicht verlieren will. Ich kann nicht! Du musst mir versprechen, dass du vorsichtig bist, egal worum es geht, verstanden?“ Er drückte sie noch fester, als könne er damit verhindern, dass jemals etwas passieren würde, das sie von einander trennen könnte. Sie fühlte sich auf einer tiefen Ebene mit ihm verbunden, da ihn dieselbe Ungewissheit plagte, wie sie.

Aber wenn sie an letzte Nacht dachte, graute ihr vor der Erkenntnis, dass sie vielleicht sowieso zusammen in den Tod gehen würden.

Verdammt noch mal, nein! Ein Ruck ging durch ihren Körper, als sie sich dies innerlich selbst zuschrie. So würde es nicht enden, und wenn sie die Welt aus den Angeln heben musste!

Pareios bemerkte natürlich sofort, wie sie sich in seinen Armen versteift hatte und drehte sie jetzt mit fragendem Blick zu sich herum.

„Das versprichst du mir doch, oder Aurelia?“ Seine Stimme war fest, aber es schwang auch aufsteigende Angst darin mit.

Sie nickte schließlich und schenkte ihm ein sinnliches Lächeln, mit dem sie hoffte, seine düsteren Gedanken vertreiben zu können. „Glaubst du, ich hab gerade jetzt vor, abzutreten?“

„Mir fallen tausend Gründe ein, warum das jetzt ein denkbar schlechter Zeitpunkt wäre!“ bestätigte er sie frech grinsend und beugte sich zu ihr hinunter. Sie reckte sich ihm auf Zehenspitzen entgegen, schlang ihm die Arme um den Nacken und empfing seine Lippen mit einem wohligen Seufzen. Ihr Körper erblühte unter seinen Händen, während er ihr die Arme hinunter strich und sie um ihren Rücken schloss. Überall fühlte sie seine Muskulatur und sie ließ los, ließ sich fallen in die unendliche Schönheit des Augenblicks. Sie schloss die Augen und träumte, ließ die Wünsche, die sie wegsperrt hatte, in ihre Seele ein, fühlte, wie sie sich ihrer bemächtigten und ihrem ganzen Dasein eine andere Richtung gaben. Sie ertastete verwundert den Reichtum an Emotionen, der sie beinahe zum Schweben brachte und nur ein Gedanke hielt sie noch am Boden.

Träumen war ein gefährlicher Luxus!

26

Es war ca. 16 Uhr als sie die Stadtgrenze von Kopenhagen erreichten. Aurelia saß am Steuer und sie war gefahren, was die Karre hergegeben hatte. Sie fühlte sich gehetzt und verfolgt, befürchtete, jede Minute von ihren Gegnern überrascht zu werden.

Die Adressenrecherche Evrills hatte ergeben, dass sich eine in einem Wohngebiet und die andere in einem Industriegebiet etwas außerhalb der Stadt befanden und hatten beschlossen, dass ihre Chancen in einer Privatwohnung wahrscheinlich größer waren. Jetzt verlangsamte sie allerdings das Tempo, sie wollten innerhalb der Stadtgrenzen keine unnötige Aufmerksamkeit erregen, in dem sie zufällig einer Polizeistreife in die Hände fielen. Evrill saß neben ihr und führte sie anhand einer Karte, die sie noch in Rødby kurz nach dem Anlanden der Fähre erstanden hatten. Sie hatten zwar ein Navigationssystem dabei, aber sie hatten schon während ihrer ganzen Reise vermieden, es zu benutzen. Sobald sie das GPS anzapften, das sich schon seit über 70 Jahren völlig unter hegedunischer Kontrolle befand, sendeten sie auch ein Signal, das ihre Position verriet. Besonders jetzt, da sie sich verfolgt fühlten und nur hoffen konnten, dass sie schnell genug gewesen waren, waren sie noch entschlossener, das technische Gerät ausgeschaltet zu lassen.

Je weiter sie nach Norden gekommen waren, desto kühler war die Luft geworden. Die Sonne schien zwar immer noch, aber die Temperaturen entsprachen den nördlicheren Breitengraden, auf die sie sich zubewegt hatten.

Evrill leitete sie in ein Wohngebiet im Nordosten, ein paar Kilometer vom Zentrum entfernt. Kopenhagen war eine sehr moderne Stadt geworden. Überall glänzte es silbern und metallisch und gläserne Kolosse sowie zahlreiche Hochhäuser zeichneten das Stadtbild. Außer dem inneren Kern war alles genauso angeordnet wie in jeder Stadt, die von den Hegedunen umgestaltet worden war. Wohngebiete in Hochhäusern, Industriegebiete, einzelne Amüsier- und Shoppingmeilen. Der viele Stahl und das Glas reflektierten die Mittagssonne und blendeten ihre Augen gnadenlos. So wirkte die Stadt wie ein schillernder Diamant, der alle Facette des Lichtes hervorbrachte. Es fühlte sich merkwürdig futuristisch an, vor allem im Gegensatz zu der wesentlich ursprünglicheren Pariser Innenstadt.

Sie steuerten eine Adresse mitten im Herzen des Stadtviertels an. Die Anonymität der Hochhaussiedlungen würde es ihnen erleichtern, hier am helllichten Tag hineinzuspazieren. In einem einzelnen Gebäude lebten mehrere hundert Menschen, keiner kannte alle seine Nachbarn, geschweige denn alle, die hier ein und aus gingen. Das war das Gute.

Das Schlechte war, dass sie nur eine Adresse hatten, aber keinen Namen und hunderte von Wohnungen zu durchsuchen, ohne zu wissen wonach sie eigentlich Ausschau halten sollten, wäre ein Farce.

Aurelia  parkte den Wagen zwischen anderen direkt vor dem Eingang, falls sie schnell abhauen mussten, dann musterte sie das Gebäude, das in grauem Beton und verwittertem Stahl vor ihnen aufragte. Aurelia und ihre Begleiter beobachteten die Gegend genau und sie befragte auch ihr Gefühl, ob ihre Gegner schon hier waren und eine ungeahnte Gefahr für sie darstellten. Aber sie fühlte keine Abneigung und auf den Straßen konnte sie auch nichts Ungewöhnliches entdecken. Jedoch hatte sie nicht den geringsten Anhaltspunkt, wie sie anfangen sollte, also entschied sie sich, ihre Intuition mit der Sache zu betrauen.

„Ich geh rein!“ gab sie mit ruhiger Stimme bekannt, den Blick unverwandt auf das Hochhaus gerichtet, aus dem jetzt einige Bewohner heraus strömten.

„Ich seh‘ mich ein bisschen um, vielleicht rieche ich ja irgendwo was.“ Sie öffnete die Fahrertür, beim Aussteigen zog sie den Reißverschluss ihrer Lederjacke zu und verbarg so ihr beachtliches Waffenarsenal. Kaum war sie um das Auto herum gegangen und hatte den Pflastersteinweg, der zum Eingang führte, betreten, war Pareios an ihrer Seite.

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich alleine gehen lasse!?“ grummelte er finster und zog ebenfalls seine Jacke ganz zu. „Evrill sitzt am Steuer und spielt den Fluchtfahrer, falls wir einen brauchen sollten.“

Aurelia nickte und hielt zielstrebig auf die große gläserne Eingangstür zu. Links davon waren mehrere in Reihen angeordnete Klingelschilder angebracht. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was sie erwartete, aber jetzt überkam sie eine freudige Aufregung. Einer Eingebung folgend überflog sie die Klingelschilder, las sorgfältig jeden einzelnen Namen, immer schneller, bis ihr Blick an den geschwungen Lettern eines Schildes hängen blieb.

Ihr Herz machte einen freudigen triumphierenden Hüpfer. Wieder und wieder wanderten ihre Augen über den Namen und schließlich wies sie auch Pareios darauf hin.

„Jesper Svenssen“ las er flüsternd vor, dann erstarrte auch er.

„Hol‘ mich doch der Teufel, das ist doch der Name aus den Daten der Versuchsreihe!“

 

Als das nächste Mal zwei junge Frauen aus dem Hochhaus kamen, schlüpften sie hinter ihnen durch die Eingangstür hinein. Innen herrschte eine kühle, leblose Atmosphäre, die Wände waren kahl und in einem Farbton angestrichen, der den Schmutz am besten verdeckte, der sich durch die vielen Hände und Berührungen an den Mauern sammelte. In den Wohnhäusern gab es keine Kameraüberwachung, also gingen sie langsam zu zweit weiter die Gänge entlang. Mit Pareios an ihrer Seite fühlte sie sich stark und unbezwingbar. Sie schickte ihre Intuition aus, ließ sie schweifen und ihnen den Weg zur Wohnung ihrer mysteriösen Zielperson zeigen. Ihre Stimmung wurde immer verheißungsvoller, je tiefer sie ins Gebäude vordrangen und sie ließ die Kraft durch Arme und Beine fließen, bereitete sich vor, notfalls schnell zu reagieren. Im dritten Stock war es schließlich eine rotgestrichene Tür, die Aurelias ganze Aufmerksamkeit fesselte und sie wie magisch anzog, mit jedem Schritt, den sie darauf zutat, wuchs die Gewissheit.

Ein Blick auf das Namensschild an der Tür gab ihrer Vermutung recht, sie standen genau vor der Wohnung der Person, deren Name in den Daten aus dem Labor erwähnt worden und der letztes Jahr von dem Fahrer zu mysteriösen Treffen gefahren worden war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich jetzt, jagte ihr Blut durch die Adern, transportierte das ausgeschüttete Adrenalin bis in die letzte Zelle.

Sie sah sich um. Der Flur war leer, aber hinter der Tür vernahm sie Geräusche, die eindeutig verhießen, dass jemand zu Hause war. Sie nickte Pareios zu und beide zogen ihre Waffen. Sie hatten keine Vorstellung davon, in was sie gleich hineinstolpern würden und so schien ihnen eine stählerne 9mm-Versicherung keine schlechte Idee. Sie tauschten einen letzten Blick, dann trat Pareios an die Tür heran. Er legte seine Hand direkt auf die Fläche unterhalb der Klinke, wo sich der Schließmechanismus im Innern des Holzes verbarg.

An den Rändern seiner Handflächen begann das Holz zu schwelen, wurde schwarz, umspielt von kleinen rötlich und bläulich züngelnden Flämmchen. Leichter Qualm stieg auf, während er mit beharrlicher Hitze das Holz einäscherte. Bis der Schließbolzen, nur noch umgeben von einem Haufen Holzkohle, im Türrahmen steckte, getrennt vom Rest der Tür, die Aurelia nun mit einem Tritt zur Seite beförderte. Seite an Seite traten sie mit nach vorn gestreckten Waffen in die Wohnung.

Sie fanden sich direkt in einem kleinen Wohnzimmer mit einer winzigen Küchenzeile. Auf der rechten Seite, auf einem großen zerschlissenen Teppich angeordnet, befand sich eine kleine Couch samt Beistelltisch, ansonsten war der Raum leer. Sie griff hinter sich und schubste die Tür zu, um ungebetene Zuschauer auszuschließen, falls sich denn welche in der Nähe aufhalten sollten.

Links ging von der Wohnküche ein kleiner Flur ab, der wahrscheinlich zu den anderen Zimmern der Behausung führte. Die Geräusche die weiter zu hören waren, rührten dort her. Aurelia schob sich vor, lugte um die Ecke. Sie bemerkte einen Anflug freudiger Erregung, die ihr ihr sechster Sinn schickte.

Sie starrte geradewegs in die dunklen Augen eines Mannes mittleren Alters. Er saß auf einem Bett, dessen Ausschnitt sie durch die weit geöffnete Schlafzimmertür sehen konnte, und blickte ihr unverwandt entgegen. Er hatte sie ohne Zweifel sofort entdeckt, machte aber keine Anstalten sich zu rühren. Sein Gesichtsausdruck war leer. Er wirkte sehr schlank und seine gebeugte Haltung verstärkte den gebrechlichen Eindruck, den sein Körper unter dem dünnen weißen Baumwollhemd und den grauen Jogginghosen machte. Sein dunkler kurzer Haarschopf war mit grauen Strähnen durchzogen und an manchen Stellen war die Kopfhaut zu sehen. Er schien einige davon eingebüßt zu haben. Jetzt entdeckte sie auch die rötlich schimmernde 20 cm lange Narbe, die sich an seinem linken Ohr vorbei den Hals hinab zog, genau wie ihr Informant vermutet hatte. Die Hände lagen reglos in seinem Schoß, mit den Handflächen nach oben gekehrt. Die Bettdecke rings um ihn herum war feinsäuberlich glatt gestrichen, nirgends lag ein Gegenstand den er als Waffe benutzen konnte.

Aurelia machte einen weiteren Schritt vor, zeigte sich ihrem Beobachter jetzt völlig offen am anderen Ende des Flurs. Er zeigte immer noch keine Reaktion, jedoch folgten ihr seine dunklen Augen langsam und ruhig. Jetzt lag ein Anflug von Resignation darin.

Pareios blieb dicht hinter hier, während sie nun zügiger auf den reglosen Mann zuging. Sie fühlte sich sicher, fühlte sich auf dem richtigen Weg. Das Gefühl veranlasste sie, die Waffe sinken zu lassen und sie wieder ins Holster zu stecken. Es kam ihr diplomatischer vor, angesichts der Wehrlosigkeit ihres Gegenübers. Pareios war nicht ganz so vertrauensseelig. Er behielt die Dessert Eagle im Anschlag, die Mündung auf sein anscheinend unbewaffnetes Ziel gerichtet. Er würde sie keiner unnötigen Gefahr aussetzen.

Aurelia lehnte sich an die Türpfosten des Schlafzimmers und erhob die Stimme: „Sind sie Jesper Svenssen?“

Er sagte nichts, stritt es aber auch nicht ab.

„Wir sind gekommen, weil wir von ihnen wissen wollen, was sie mit ‚New Dawn‘ zu tun haben. Was ist ‚New Dawn‘?“

Er legte den Kopf schief, verengte die Augen. Eine Qual, die sie nicht messen konnte, huschte über sein ausgezehrtes Gesicht. Aber er blieb stumm.

„Haben sie daran mitgearbeitet?“ fragte sie weiter. Jetzt kniff er die Lippen zu einem schmalen Streifen zusammen, als wolle er verdeutlichen, dass er um keinen Preis der Welt ein Sterbenswörtchen darüber verlauten lassen wollte. Aber er sah sie weiter unverwandt an, wartete ab.

Wartete vielleicht, dass sie die richtige Frage stellte? 

„Wenn sie Angst haben, können wir dafür sorgen, dass sie in Sicherheit sind. Wir können Schutz für sie organisieren, aber sie müssen uns alles sagen, was sie wissen!“ Sie löste sich von Türrahmen und bewegte sich langsam auf das Bett zu, bemüht, Pareios nicht in die Schusslinie zu geraten. Sicher war sicher! Jesper Svenssen ließ den Kopf auf seine Brust sinken und stöhnte verdrießlich.

 

„Ich wusste, dass eines Tages jemand kommen würde. Ich wusste es!“ seine Stimme war rau und brüchig und seine Worte, obwohl sie zu Hoffnung gepasst hätten, strotzten vor Verzweiflung. Jetzt wusste sie die richtige Frage. Sie spürte es, obwohl sie sich fragte, wie ihn das zum Reden bringen sollte: „Wie kann ich ihnen helfen?“

„Sie können mir nicht helfen. Es ist zu spät!“ gab er hart zurück, heftete seine tiefliegenden schwarzen Augen wieder auf sie. „Es ist schon lange zu spät. Aber es ist in Ordnung so. Ich habe mich damit abgefunden, aber ich habe gewartet, bis sie kommen.“

Sie verstand nur Bahnhof, versuchte alles einer logischen Bedeutung zuzuordnen. Aber er fuhr fort, ließ ihr keine Zeit, weiter darüber nachzugrübeln.

„Wenn ich jetzt anfange, ihnen etwas zu erzählen, habe ich nicht viel Zeit, also halten sie die Klappe und lassen sie mich sprechen, verstanden? Ich habe keine Ahnung, wie schnell es gehen wird!“

Er redete sehr schnell, aber sein Tonfall klang leer, wie die Silben eines Toten. Und so war es auch, begriff Aurelia! Wenn er zu sprechen begann, unterschrieb er sein eigenes Todesurteil. Aber er schien entschlossen, es trotzdem zu tun. Jesper Svenssen hatte anscheinend lange darauf gewartet, seinem Leben auf diese Weise ein Ende zu setzen. Diese unbeugsamen Augen sahen wild zu ihr auf, versessen auf eine Antwort von ihr. Sie nickte schließlich und fügte dann beklommen an: „Danke! Für alles!“

Pareios schien verwirrt von ihrem unzusammenhängenden Wortwechsel, doch sie brachte ihn mit einem vertrauensvollen Blick zur Ruhe. Er musste nur verstehen, dass alles so lief, wie es laufen musste. Ihre unerschütterte Miene überzeugte ihn schließlich.

Svenssen setzte sich aufrecht hin, straffte die Schultern und machte sich bereit.

„Seit etwa zehn Jahren bin ich ein Versuchskaninchen. Sie haben meinen Körper überwacht und ihn kontrolliert. Es gibt noch einige andere wie mich, aber ich war der Erste. Sie haben mich in einen Raum gesperrt und mich mit Elektroschocks gefoltert, bis ich schwach genug war, damit sie mit ihrer Prozedur anfangen konnten. Sie haben mich an Apparaturen angeschlossen und mich sediert, ich bekam nicht mit, was sie taten, aber jedes Mal danach fühlte ich mich schlechter und dann eines Tages…“

In dem Moment begann sein Atem zu stocken, wurde zu einem erstickten Röcheln. Die Augen rollten in den Höhlen nach oben, bis nur nach das Weiße zu sehen war, dann fiel sein Oberkörper von wilden Zuckungen geschüttelt nach hinten aufs Bett. Seine Gliedmaßen verkrampften sich in abnormen Winkeln, die Sehnen und Adern an seinem Hals traten durch seinen stummen Kampf hervor.

„Scheiße!“ fluchte Pareios, steckte die Waffe in den Hosenbund und war sofort neben ihr am Bett. Auch Aurelia war aufgesprungen, um den wild fuchtelnden, zu Fäusten geballten Händen zu entgehen. Gemeinsam packten sie den schmerzverrenkten Körper und legten ihn auf den Boden, wo er weiter unkontrolliert zitterte. Pareios versuchte die Arme zu fixieren, die immer noch mit aller Kraft ausschlugen. Aurelia fasste an Jespers Hals und suchte den Puls. Unter ihren Fingern raste er in atemberaubendem Tempo dahin, wurde schneller und schneller, bis er nur noch als dumpfes Flimmern durch seine Adern drang.

„Sein Herz macht schlapp!“ informierte sie Pareios und rückte weiter nach oben in die richtige Position für Wiederbelebungsmaßnahmen. Doch da riss der gequälte Körper zu ihren Knien noch ein Mal die verdrehten Augen und den schmerzverzerrten Mund auf. Mit letzter Kraft wand er sein Handgelenk aus Pareios griff und packte ihn vorn an seinem Shirt, hob den Kopf.

„Er hat mir alles genommen….!“ raunzte er zittrig, mehr ein Stöhnen, als verständliche Worte, dann entspannte sich sein Körper schlagartig und der vorher mühsam gehaltene Kopf sowie die Hand an Pareios‘ Brust fielen erschlafft herab.

„Wer?“ rief Aurelia ihm zu, als könnte er sie noch hören. Sie musste ihn noch irgendwie erreichen! Verdammt, er konnte ihr hier doch nicht so einfach wegsterben!

Sie kniete sich neben ihn und begann mit gleichmäßigen Stößen sein Herz zu massieren. Mit jedem Pumpen versorgte sie die lebenswichtigen Organe und sein Gehirn mit Blut, hoffte, ihn nur noch eine kurze Weile halten zu können.

„Wer hat ihnen das angetan? Und warum? Was ist mit ihnen passiert? Wer sind die anderen?“ fragte sie den dahinschwinden Geist unter ihren Händen. Sie keuchte vor Anstrengung aber sie machte weiter, beatmete ihn mit zwei kräftigen Atemzügen, um kurz darauf wieder den pumpenden gleichmäßigen Rhythmus auf seiner Brust einzunehmen. Pareios sah ihr bei ihrer merkwürdigen, verzweifelten Aktion zu, war still. Schließlich begriff er aufkeuchend und übernahm die Beatmung, während sie weiterfragte.

„Stecken die Hegedunen dahinter? Wie ist ihr Plan? Was wissen sie über die sechs schwarzen kleinen Steine? Wie hängen sie mit der Versuchsreihe zusammen? Was wurde in ihr untersucht?“

Ein entsetzliches Knacken unter ihren verschlungenen Fäusten durchbrach den Raum, fuhr ihr bis tief unter die Haut und ließ sie erschauern. Sein Körper war schon so geschwächt gewesen, dass die Kochen bereits unterversorgt und brüchig geworden waren. Jetzt gaben sie unter ihrer entschlossenen Herzmassage nach und zerbrachen die letzten Chancen, ihn noch ein paar Sekunden länger im Diesseits zu behalten. Mit einem verzweifelten Seufzen sank sie auf ihre Fersen und ließ den Kopf fallen. Sie hatten schon wieder einen verloren. Einen Menschen, der genauso das Recht auf Leben hatte, wie alle anderen Wesen auf diesem Planeten.

Sie betrachtete seinen leblosen Körper und entdeckte am Unterarm einen großen blauen Fleck der vorher sicher noch nicht dagewesen war. Der Fleck war im Zentrum tiefschwarz und die Ränder verjüngten sich zu dunklen rissigen Linien, die sich über die Haut rings herum zogen wie ein Spinnennetz. Man konnte erkennen, wo das Gift in die Blutbahn eingedrungen war. Von der Stelle aus erfüllte es die dicken Venen auf der Innenseite des Arms dunkel und ließ sie so durch die dünne, blasse Haut schimmern. Die Striemen wanderten sichtbar den Arm hinauf, verblassten an der Schulter. Man hatte ihm anscheinend etwas eingepflanzt, das ihn bei gegebener Zeit vergiften und beseitigen sollte. Und er hatte es gewusst! Er hatte gewusst, dass er seinem Schöpfer unmittelbar in die Augen schauen würde und hatte versucht, ihnen alles mitzuteilen, was er wusste. Hoffentlich sogar noch im Tod, dachte sie jetzt bitter und stand auf.

Sie betete, dass sein Geist noch anwesend gewesen war, als sie ihm all die Fragen in sein dunkles Grab nach gerufen hatte. Flehte, dass sein Verstand sich im Augenblick seines Todes damit beschäftigt hatte.

 „Los, wir sollten langsam abhauen! Lass uns dafür sorgen, dass er nicht umsonst gestorben ist!“ sagte sie jetzt gefasster zu Pareios. Er stand wortlos auf, wusste, dass sie den toten Körper mitnehmen mussten. Er packte Jesper Svenssen an den Händen und zog ihn ins Wohnzimmer. Gemeinsam zerrten sie den Teppich unter den Möbeln hervor und wickelten den Leichnam hinein. Pareios hievte ihn sich auf die Schulter und Aurelia ging voraus, um sicher zu stellen, dass sie niemandem begegneten. Sie beeilten sich, hielten nur wenn sie unbedingt mussten und als sie schnellen Schrittes aus dem Haus kamen, entdeckte Evrill sie sogleich. Er öffnete ihnen die Hecktüre ihres geräumigen Kombis und half Pareios, ihre Fracht in den Kofferraum zu wuchten. Er stellte keine Fragen, bis sie alle sicher im Auto saßen und sich schon einige Querstraßen von dem Hochhaus entfernt hatten.

 

„Was zum Teufel ist da oben passiert? Warum kommt ihr da mit einer verdammten Leiche rausspaziert?“ An der nächsten roten Ampel hielt er notgedrungen und sah sich nervös um. Es war noch helllichter Tag, also waren wenige Ordnungshüter auf den Straßen unterwegs. Trotzdem schien er sich unwohl zu fühlen, mit einem Toten im Kofferraum durch die Gegend zu fahren!

„Der Typ wollte reden. Er hat uns vorher schon gesagt, dass er wenig Zeit haben würde, wenn er anfängt, aber mir war wirklich nicht klar, wie wenig er meinte!“ antwortete ihm Pareios. „Die haben ihm irgendwas in den Unterarm eingesetzt, das ihn umgebracht hat, als er angefangen hat zu singen!“

Evrill blieb einen Moment stumm vor Entsetzen. „Aber er hat gesungen?“

Pareios nickte. „Hat er, aber viel hat er nicht rausbekommen, bevor er jämmerlich krepiert ist. Aurelia hat ihn eine Weile wiederbelebt und ihm noch ein paar Fragen gestellt. Vielleicht kannst du mit deiner Gabe sehen, was er dazu gedacht hat?“

Evrill schmunzelte bitter. „Dann bin ich ja doch noch zu was gut auf dieser Mission!“ Er warf einen Blick zu dem Paket im Kofferraum. „Aber ihr müsst wissen, dass das, was ich sehe, nicht immer eindeutig ist. Manchmal sind es nur Fetzen oder einzelne Bilder, ich kann nichts versprechen!“

„Scheiß drauf!“ Pareios Gesichtsausdruck war grimmig. „Da Aurelia dich offensichtlich dabei haben wollte, habe ich eigentlich keine Zweifel, dass es funktionieren wird.“

„Geht es einfach so, oder brauchst du einen ruhigen Ort, wo wir ungestört sind?“ mischte sich Aurelia jetzt vom Rücksitz aus ein. Evrill lächelte wieder, aber diesmal lag noch etwas dahinter, das sie nicht deuten konnte.

„Ja, ein wenig… Ungestörtheit wäre gar nicht schlecht!“ Er setzte sich aufrechter hin und legte eine scharfe Rechtskurve ein.

27

Mit einer Leiche auf den Schultern durch ein nobles Hotelfoyer zu laufen, war wohl keine gute Idee, befanden sie zu Dritt. Da eventuell schon jemand darauf gekommen war, was ihnen der Fahrer verraten hatte, waren sie auch nicht sonderlich erpicht darauf, die Nacht in der Stadt zu verbringen. Auf schnellstem Weg ließen sie das stählerne Glitzern und all die gläserne Perfektion zurück, fuhren immer weiter aufs Land hinaus, wobei es lange dauerte, bis die Häuseransammlungen rund herum ausdünnten und sie über ruhiges Gelände fuhren. Erst als die Schatten schon länger wurden, erreichten sie ein Waldstück, das ihnen abgelegen genug erschien. Der einsame Feldweg brachte den Wagen ordentlich zum Schwanken, als sie direkt auf die ersten Bäume zusteuerten. Sie folgten dem Weg weiter hinein ins dichte Grün. Die tiefstehende Sonne blitzte immer wieder zwischen den Stämmen hindurch, kreierte ein wildes Spiel aus goldenem hell und dunkel. An einer kleinen Lichtung, wo auch der Weg nicht mehr hinreichte, hielt Evrill den Wagen an. Nachdem sie ihm auch unterbreitet hatten, dass der Mann im Teppich der war, der auch in den Daten erwähnt wurde, war er sehr still geworden.

 Aurelia war als erstes zur Tür raus und atmete die befreiende, kühle Abendluft ein. Es roch beruhigend nach Erde und Moos und der weiche Waldboden gab federnd unter ihren Füßen nach. Jetzt war es beinahe dunkel,  zwischen den Baumkronen blinkten einige erste Sterne am nachtblauen Himmel.

Pareios und Evrill waren ebenfalls ausgestiegen, umrundeten den Wagen und luden die wertvolle Fracht aus dem Kofferraum. Gemeinsam legten sie die Teppichrolle auf der Lichtung ab und entfalteten sie vorsichtig, bemüht einen Rest Pietät zu wahren. Sie waren dem Toten, der jetzt ausgestreckt im Licht der Sterne lag, einiges schuldig. Mehr als sie vergelten konnten.

Aurelia war ihnen gefolgt, stellte sich nun an die Spitze des Dreiecks, das sie um Jesper Svenssen herum bildeten. Sie senkten die Köpfe und Aurelia hoffte inständig, dass sein Tod nicht umsonst gewesen war. Seine dunklen, schmerzerfüllten Augen würde sie niemals vergessen, etwas darin war ihr unter die Haut gegangen.

 

Aurelia beendete schließlich das Schweigen. „Evrill, bist du bereit? Kannst du loslegen?“

Er überlegte kurz, kaute sich auf den Lippen herum und betrachtete die Leiche auf dem alten Perser.

„Wenn ich mein Bestes geben soll, wäre es wohl besser, wenn ihr mich mit ihm alleine lasst.“

Aurelia und Pareios tauschten einen misstrauischen Blick.

„Aber du hast nicht vor, hier Leichenschändung zu betreiben?“ erkundigte sich Pareios. Es klang wie ein beiläufiger Witz, aber auch Evrill war der ernste Hintergedanke nicht entgangen. „Keine Sorge! Und falls die Dinge hier eskalieren sollten, werde ich alle Spuren beseitigen!“ entgegnete er sarkastisch, den Mund zu einem schiefen Grinsen verzogen, das seine Augen aber nicht erreichte. Er wirkte entschlossen, aber man konnte ihm anmerken, dass das Bevorstehende ihm keinen Spaß machen würde.

Aurelia legte Pareios eine Hand an die Schulter. „Komm schon, wir gehen ein Stück spazieren und schauen uns die Gegend an.“ Die Magie zwischen ihnen wallte augenblicklich auf und seine Schulter entflammte unter ihren Fingern. Sein Kopf schnellte zu ihr herum, ein kurzer prüfender Blick in ihre Augen reichte jetzt aus,  um ihn in Bewegung zu bringen.

„Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst! Aber sei gründlich!“ sagte sie zu Evrill, bevor sie mit Pareios zusammen zwischen die Bäume trat und die Lichtung hinter sich ließ.

 

Sie gingen ein paar Minuten wortlos nebeneinander her, dann beschleunigte sie ihre Schritte. Wie immer spürte sie den Ruf ihres Körpers nach Bewegung und wusste, dass sie Pareios ebenso willkommen sein würde. Sie hörte ihn hinter sich schmunzeln und vernahm, wie die Geräusche seiner Füße auf dem Waldboden jetzt kürzer auf einander folgten. Immer schneller rannten sie über das weiche Laub, durch dichtes Gestrüpp und Brombeerranken, flogen wie Schatten durch die Nacht. Der frische Wind pfiff ihr in den Ohren, die Muskeln spannten sich verlässlich im Rhythmus, Ruhe breitete sich in ihr aus. Die Abwechslung des Untergrunds unter ihren Füßen fesselte ihre Aufmerksamkeit, bis sie den Waldrand erreicht hatten und Pareios abrupt zum Stehen kam.

Aurelia bremste schlitternd neben ihm ab und folgte seinem Blick auf eine Wiese die direkt vor ihnen an einem sanften Abhang lag. Sie war umringt von Feldern, die jetzt Ende September schon kahl waren. Weit und breit war kein Zeichen von Menschen zu sehen, nur der aufgehende Mond, der die Wiese in dünnes, silbriges Licht tauchte. Einzelne Kräuter blühten noch, das Gras verströmte unter der Nässe der hereinbrechenden Nacht einen würzigen Duft.

Pareios ließ sich am Rande der Wiese auf den Boden nieder und lehnte sich gegen einen Baum. Schweratmend setzte sich Aurelia neben ihn und beide betrachteten sie eine Weile die ruhige, nächtliche Landschaft. Pareios legte den Arm um sie und zog sie näher zu sich heran, sodass ihr Kopf an seiner Halsbeuge zum Liegen kam. Sie genoss die Berührung, zog seine Wärme ein, gab sich der Erinnerung seiner Lippen auf ihren hin.

„Das Ganze ist irgendwie komisch, oder? Die verfolgen uns, aber lassen uns laufen und jetzt haben wir Jesper…, passt doch irgendwie nicht zusammen…“

Sie verstand was er meinte und nickte düster. „Trotzdem, ich habe das Gefühl, wir sind auf dem richtigen Weg! Und dass sie anfangen aufzuräumen, heißt vielleicht, dass wir näher dran sind, als sie es wollen…“

„Möglich!“ gab Pareios zu. „Wer hätte gedacht, dass so unsere Zukunft aussieht!“

Jetzt setzte sie sich auf und sah ihm in die Augen. „Vor ‘ner Woche habe ich auch noch nicht gedacht, dass du so dazu gehören würdest.“ Sanft strich sie an seinem Kinn entlang, das der Bewegung folgte und sich zu ihr drehte. Sie beugte sich langsam vor, wobei sich alle Gedanken zu weltwichtige Themen in ihrem Kopf auflösten, wie Brause in Wasser. Sie fühlte sogar das Prickeln, aber das kam wohl nicht von dem süßen Getränk. Vielleicht war er ein gefährliches Aphrodisiakum, aber das war ihr in diesem Augenblick egal, es fühlte sich so richtig an.

Sie strich mit ihren Lippen über seine, spürte seinen heißen Atem über ihr Kinn wehen. Schon hatte sie sich halb aufgesetzt, um ihn besser erreichen zu können und sie vertieften den Kuss. Auch er schien andere Gedanken fahren zu lassen, hob die Arme und schlang sie um ihren Körper, um sie fest an sich zu drücken. Seine Wärme und Stärke fühlten sich so gut an, ihre Eingeweide zogen sich von dem Wunsch zusammen, ihm noch näher zu sein. Bevor sie sich versah, hatte sie sich schon aufgerappelt und war auf seinen Schoß geklettert, ohne ihre Lippen von ihm zu lösen.

Sie hatte keine große Kontrolle mehr über ihre Bewegungen, war völlig gebannt von den vielen Empfindungen, als sich ihre Knöchel hinter seinem Rücken verhakten und sie ihre Hände zu seinem Rücken und unter sein Shirt wandern ließ. Das Bedürfnis, die weiche Haut über den festen Muskelsträngen zu berühren, ließ ihr die Fingerspitzen kribbeln.

Schnell erlöste sie sie und vergrub ihre Finger in samtener Haut und festem Fleisch. Ihre Körper verschlangen sich in einander, während sie sich weiterhin stürmisch küssten und das wilde Begehren, von dem die Luft um sie herum knisterte, anfachten. Sie hatte noch nie ein so inniges Verlangen nach einem Mann gespürt wie jetzt, als sie auch noch seine Hand auf der Haut an ihren Lendenwirbeln spürte. Es war wie ein Strudel, der sie unaufhörlich in sein Zentrum zog, sie mitriss, und alles was sie tun konnte, war aufzupassen, den Kopf über Wasser halten zu können. Alles in ihr schrie nach mehr und sie bewegte ihre Hüften einladend gegen seine. Dass es ihm genauso ging wie ihr, konnte sie bei dieser Bewegung deutlich spüren. All die Kleidung war ihr im Weg und ihre Fäuste hatten sich schon im Stoff seines Shirts verkrallt, um es ihm ungeduldig über den Kopf zu zerren, sie wusste nicht, ob sie noch im Stande war, es langsam angehen zu lassen.

Doch plötzlich fehlte die Hitze seiner Hände an ihrem Rücken und seine Arme schlossen sich liebevoll, aber doch unnachgiebig um ihren Oberkörper und beide Arme, sodass sie an ihre Seite gedrückt wurden und sie nahezu bewegungsunfähig war.

Die Lippen immer noch an ihren murmelte er mit geschlossenen Augen: „Moment,… was machst du nur mit mir?“ Seine Stimme klang rau und er stieß zischend den Atem aus. „Ich hatte mir wirklich vorgenommen, mir dafür Zeit zu lassen…. Das sollte was Besonderes sein!“ Es schien ihn Überwindung zu kosten, aber er schob sie langsam von sich weg. Protestierend hielt sie sich fest, klammerte die Beine um seine schmalen Hüften.

„Ist das nichts Besonderes?“ flüsterte sie und jetzt stockte er, seine Lider flogen auf. Vorerst hörte er auf, sie von sich runter zu winden.

„So war das nicht gemeint! Mit dir ist es immer was Besonderes! Gerade deswegen, will ich das auch würdigen! Du hast mehr verdient!“ Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, zwang sie, ihn anzusehen. Dann lachte er heiter. „Evrill wartet bestimmt schon… und sollte das hier eigentlich nicht umgekehrt sein?“

Die heiße Röte flutete ihre Wangen abrupt und sie fühlte sich wie der böse Lüstling, der eine unschuldige junge Frau verführte. Eigentlich wirklich lächerlich, wenn man bedachte, welchen Lebensstil Pareios noch bis vor einer Woche gepflegt hatte. Obwohl, so genau konnte sie das gar nicht beurteilen, sie war nur mit dieser blonden Schönheit in Kontakt gekommen, aber das hatte ihr auch gereicht. Bevor sie sich da in etwas hineinsteigern konnte, schob sie den Gedanken weg. 

„Sehr witzig!“ entgegnete sie leicht bissig, hatte aber nicht vor, sich vertreiben zu lassen. Das hatte er ja auch nicht getan und seine gewagte Herausforderung klang auch immer noch in ihrem Hinterkopf nach. Er wollte überzeugt werden?

Das konnte er haben!

Vor ein paar Wochen, hätte sie ihn entweder vollgekotzt, oder wäre geflüchtet, aber jetzt war er das, was sie mit aller Kraft wollte, aus tiefstem Herzen begehrte.

„Ja, ja, ich weiß, du bist nicht so leicht zu haben!“ neckte sie. „Ev kann auf sich selbst aufpassen und wer weiß, wie viel Zeit wir noch haben,… oder wie oft wir die Gelegenheit haben werden, allein zu sein…“ Sie ließ die Stimme schnurren, in der Absicht, ihn zu locken. Schnell küsste sie ihn wieder, diesmal forscher, fordernder, schmiegte sich katzenartig an ihn, bevor er noch mehr Abstand zwischen sie bringen konnte.

„Das soll es also sein, ja?“ stieß er keuchend aus, als sie ihn kurz Luft holen ließ. „Hier so zwischen Tür und Angel?“ Er klang nicht enttäuscht.

Sie schmunzelte über den Vergleich. „Ich sehe keine Tür! Ich sehe nur eine romantische Mondlandschaft und dich! Vor allem dich… und das ist alles was ich brauche!“ Nach einem weiteren leidenschaftlichen Kuss fügte sie an: „Ich finde, dieser Moment ist genauso gut, wie jeder andere. Vielleicht sogar besser!“

Sie bedeckte seinen Hals mit feuchten, dünnen Spuren ihrer Zunge und spürte erfreut, wie er unter ihr erzitterte. Immer noch bewegte er sich keinen Zentimeter, blieb absolut reglos, während sie versuchte, ihn mit subtilen Streicheleinheiten zu überreden. Es war ihr völlig schleierhaft, wie er es schaffte, sich so zurück zu halten, denn sie war schon dabei, ihren Kopf zu verlieren. Das heiße Glühen in Herz- und Magengegend drängte sie zu immer waghalsigeren Vorstößen und wieder versuchte sie, flink sein dunkles Shirt aus dem Weg zu räumen, bevor er sich wehren konnte. Aber dieses Mal ließ er es geschehen.

Kurz lehnte sie sich zurück, genoss den Anblick seines nackten Oberkörpers, wie er so silbrig im Mondlicht schimmerte und sich zart von der dunkleren, rissigen Rinde des Baumstammes in seinem Rücken abhob. So leuchtete das Gewirr der vielen Narben hell auf und sie strich mit den Händen ehrfürchtig über das unregelmäßige Relief, folgte einigen Linien tiefer seinen flachen, muskulösen Bauch hinunter. Als ihre Finger die Gürtelschnalle erreichten, knurrte er leise und packte sie plötzlich fest.

„Ich…, ich muss dir erst noch etwas sagen!“ seine Stimme war jetzt kaum mehr als ein ächzendes Stöhnen. „Du musst es einfach wissen, bevor wir…., ich will es mit dir anders machen!“ Sein Griff lockerte sich und er nahm ihr Gesicht in seine Hände. Die Hitze zwischen ihnen knisterte, füllte den Moment, in dem seine Augen in ihre tauchten, mit einer stillen, süßen Verheißung. Seine Lippen glänzten noch von ihrem Kuss und verzogen sich zu einem zärtlichen Lächeln, das ihr Herz höher schlagen ließ. Gebannt von dieser Magie wartete sie, dass er weiter sprach, hoffte, auf keine weitere Ablehnung zu treffen.

„Aurelia, ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist, aber ich…,“ Er holte tief Luft, seine Pulsschlag war jetzt ein flottes Stakkato und trommelte unablässig gegen ihre Brust, die sie an seine gepresst hatte. „Ich glaube, ich verliebe mich gerade in dich…“

 

Zögerlich beobachtete er ihre Reaktion, doch sie war wie gelähmt. Es war eine merkwürdige Schockstarre, die sie überfallen und gefesselt hatte. Das ganze Begehren trat plötzlich in den Hintergrund. Es verschwand nicht, aber es machte anderen kraftvolleren Empfindungen Platz. Seine Worte waren wie fluffige, rosafarbene Watte, die ihr Herz ausfüllte, sodass jeder Schlag, jedes kraftvolle Zusammenziehen wie gepolstert wirkte. Irgendwie weich und … und seltsam voll fühlte es sich an. Und jede Welle dieses samtig angereicherten Blutes trug es weiter, dieses Gefühl der Erfüllung, bis es ihr vorkam, als würde sie fast platzen. Es gab so viel das sie ihm sagen wollte, das ihr nun auf der Zunge und den Lippen brannte, aber angesichts dieses Liebesgeständnisses meldete sich auch etwas anderes in ihr. Ein Teil, der zu ihrer Vergangenheit gehörte, der ihr jetzt wieder wie eine heißglühende Nadel durch die Lippen fuhr und sie verschloss.

Aber es kam keine Panikattacke und auch die körperliche Übelkeit blieb aus. Sie spürte jeden ihrer keuchenden Atemzüge überdeutlich, hörte ihn in ihren Ohren dröhnen. Durch ihren vernebelten Verstand nahm sie wahr, wie Pareios unter ihr unruhig wurde, wahrscheinlich, weil sie keinen Laut von sich gab, sondern ihn nur wie eine Irre anstarrte. Sein Blick war jetzt besorgt. Innerlich traf es sie wie ein Faustschlag, als sie die Bedeutung des Moments erfasste.

Sie hatte jetzt die Wahl!

Sie konnte sich endgültig von dem Würgegriff ihrer Vergangenheit befreien und einen Neuanfang mit Pareios wagen, oder ihr wieder unterliegen und damit eingestehen, dass es für sie keine Hoffnung gab. Ezekiels Worte tanzten durch ihre Gedanken, nahmen immer mehr Form an und da wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie musste es wagen, sonst würde Ezekiel Recht behalten, und sie wäre niemals frei davon.

Sie griff Pareios‘ Hände an ihren Wangen und zog sie weg. Sie umschloss sie mit ihren und bettete sie sachte in ihrem Schoß. Verdammt, wenn sie nur daran dachte, wie er sie gleich ansehen würde, brach ihr das Herz. Es tat jetzt schon fürchterlich weh, wie würde es erst in ein paar Minuten schmerzen?

Nun war sie es, die wie eine Erstickende Atem schöpfte. Denn genauso fühlte sie sich, als die Erinnerungen in ihr aufstiegen, die sie so lange verbannt, gehasst, gefürchtet hatte. Sie spürte es, der Moment der Entscheidung war gekommen und sie traf sie. Es war schwer, aber Pareios gab ihr die Kraft.

Sie wählte ihn, sie wählte die Liebe, sie wählte das Leben, reich und pur!

 

„Sag das nicht!“ Ihre Stimme war nur ein zittriger Hauch. Sie spürte wie die Enttäuschung seinen Leib durchzuckte, doch sie nahm all ihren Mut zusammen und sah ihm wieder fest in die Augen. Schnell redete sie weiter: „Sag das nicht!... Nicht bevor du nicht alles weißt!“

Jetzt starrte er sie verständnislos an, immer noch reglos und erkaltet durch ihre Worte.

„Ich meine, bevor du nicht alles über mich weißt!“ Innerlich zitterte sie wie Espenlaub, konnte nur noch hoffen. Das war alles, war sie sich erlaubte.

Pareios versuchte ihre Miene zu durchschauen, suchte nach einem Anzeichen, dass alles in Ordnung war und dass er sich entspannen konnte. Aber das konnte sie ihm leider nicht bieten. Alles was sie hatte, was sie ihm geben konnte, war das verkommene, niederträchtige Wesen, das sie nun einmal war, und das war nichts, das ihn beruhigen würde. Er bemühte sich darum, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und wartete ab. Allerdings flackerte die Hitze seiner Gabe nun unentschlossen über seine Haut, durchfuhr sie mit zuckenden Stößen.

 

„Es gibt ein paar Dinge über mich, die du wissen solltest!“ setzte sie stockend an. Jede Silbe kostete sie übermenschliche Überwindung und forderte all ihre Willenskraft, aber sie sprach weiter. „Ich wünschte, ich könnte es dir ersparen, aber du hast mich um Ehrlichkeit gebeten, also sollst du die ganze Wahrheit hören. Die Frage ist nur, ob du dann immer noch das Selbe für mich empfindest.“ Beim letzten Teil des Satzes brach ihre Stimme weg, so sehr fürchtete sie sich vor dem Moment, in dem er erkennen würde, mit wem er es hier eigentlich zu tun hatte.

Pareios fixierte sie immer noch fest mit einem Blick, der Betonwände geschmolzen hätte. „Ok, schieß los!“ forderte er atemlos.

Aurelia versuchte von ihm herunter zu klettern. Für diese Geschichte brauchte sie Abstand. Doch Pareios hielt sie erbarmungslos fest, zwang sie, jede seiner Regungen und Gesichtsausdrücke mit anzusehen, während sie ihre schreckliche Vergangenheit vor ihm ausbreitete.

 

28

„Also, ähm keine Ahnung, ob dir Viktor erzählt hat, wie wir uns kennen gelernt haben….“ Pareios schüttelte den Kopf, die Miene glatt und ausdruckslos. „Aber du weißt ja, dass ich eine Zeit lang mit den Hegedunen zusammen gearbeitet habe…“ Sie biss sich auf die Unterlippe, allein das war schon schlimm genug, leider war es nicht alles. Sie musste kurz überlegen, wo sie am besten beginnen sollte, um ihre damaligen Beweggründe darzulegen, dann beschloss sie von vorne anzufangen.

„Also, das war nicht immer so… Ich wurde 1789 bei Oberhaid in Böhmen geboren. Meine Schwester Eliodora kam eineinhalb Jahre nach mir zur Welt. Ich war wie meine Mutter eine Elevenderin, mein Vater und meine Schwester waren nicht begabt, aber das alles hab‘ ich erst viel später erfahren.“ Sie zögerte, aber nur kurz. Sie war gesprungen und nun konnte sie nicht mehr zurück.

„ Ich glaube nicht, dass meine Eltern damit gerechnet haben, überhaupt Kinder zu bekommen, schon gar nicht zwei!“ Rückblickend hatte sie sich oft darüber gewundert, dass ihre Eltern quasi gleich zwei Mal im Lotto gewonnen hatten, der Wahrscheinlichkeit nach ließ sich das auch in ‚vier Mal vom Blitz getroffen‘ umrechnen. Von Pareios und Viktor wusste sie, dass ihre Eltern Gegenstücke gewesen waren, aber schon die äußerst geringe Zahl von einem einzigen Kind im Bunker bewies, dass Nachwuchs unter den Elevendern etwas ganz Besonderes war, ob begabt oder nicht.

Sie machte eine Pause, holte Luft und versenkte sich tiefer in ihre Erinnerungen. „Auf jeden Fall hatte ich keine Ahnung von Elevendern und Hegedunen, dafür sind meine Schwester und ich streng katholisch erzogen worden. Wir haben in einem kleinen Haus auf einem Hügel gewohnt, etwa drei Kilometer von Oberhaid entfernt. Wir hatten eine Kuh und ein paar Hühner und haben versucht, alles anzubauen, was da oben gewachsen ist. Der Sommer war dort immer ziemlich kurz…

Oberhaid war nur eine Häuseransammlung mit Kirche und unsere nächsten Nachbarn wohnten auf der anderen Seite des Hügels, einen viertelstündigen Fußmarsch entfernt.

Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich vor allem an grüne Wiesen und Wälder, der ganze scheiß Berg war voll davon, wo man hinsah nur grün, am Anfang noch ganz nett, aber nach ein paar Jahren…“ Diese Eintönigkeit hatte sie in ihrer Jugend mit der Zeit immer mehr frustriert.

„Vielleicht 50 Meter von unserem Haus entfernt stand eine Kapelle. Ich glaube man hat sich nur die Mühe gemacht, sie so weit oben auf den Berg zu bauen, weil dort eine Quelle war. Die Kapelle hat man direkt drauf gesetzt, neben einen Weiher, den das Wasser gebildet hatte. Sie war der heiligen Magdalena geweiht und die Menschen behaupteten, das Wasser hätte heilende Kräfte, Magdalenawasser eben. Sobald wir alt genug waren, waren meine Schwester und ich dafür zuständig, das Gemäuer sauber zu halten und es bei Anlässen mit Blumen und Kränzen zu schmücken.“ Tausende von diesen verfluchten Flechtwerken hatte sie hergestellt, obwohl sie diese Pfriemelarbeit gehasst hatte. Pareios verzog kurz die Lippen, anscheinend fand er die Vorstellung amüsant, wo sie so gar nicht zu der Aurelia passte, die er kannte.

„Wir spielten dort oft stundenlang, kletterten im Glockenturm herum oder versteckten uns in der Kanzel. Wir verhielten uns für damalige Zeiten sehr unchristlich!“ Sie schmunzelte kurz bitter, als sie an ihren kindlichen Leichtsinn und ihre offene Naivität dachte. Beides hatte sie letztendlich ins Unglück gestürzt!

Pareios‘ Miene rangierte irgendwo zwischen ironischer Heiterkeit und fatalistischer Erwartung, er wusste, dass der schlimme Teil erst noch kommen würde, aber Aurelia glaubte nicht, dass er auch nur im Ansatz ahnte, um welches Kaliber von Vergehen es sich handelte. Da er sie nicht aus seinem Griff entließ und sie fest in seinem Schoß hielt, beobachtete sie jetzt genau, was seine Mimik verriet, während sie weitersprach.

„Es war… einsam da oben. Mein Vater ging hin und wieder zum Konsum in die nächstgelegene, größere Stadt, das war Prachatitz, um auf dem Markt Samen und Setzlinge zu besorgen und unsere Milch und Pilze zu verkaufen, aber ich kam nie weiter, als bis nach Oberhaid und das auch nur Sonntags beim Kirchengang.“ Die Hand voll Menschen dort hatte kaum Abwechslung geboten. Sie schluckte bitter. Das Gefühl der Beklemmung hatte sie schon damals ereilt und tat es jetzt wie ein geisterhafter Nachhall wieder.

„Als ich noch kleiner war, war es ein Paradies für mich und meine Schwester. Die Natur dort bot unendlich viele Abenteuer und wenn uns trotzdem langweilig war, dachten wir uns eben welche aus. Schon mit zehn Jahren kristallisierte sich immer mehr heraus, dass ich körperlich wesentlich weiter entwickelt war als andere in meinem Alter. Ich war schnell und kräftig und fühlte mich stark. Damals verstand ich nicht, warum meine Mutter mich jedes Mal bestrafte, wenn ich meinen Kräften freien Lauf ließ. Ich dachte, ich könnte ihnen doch so viel besser bei der Arbeit helfen, aber sie verbot es mir. Und mit jedem Jahr, das ich älter wurde, fühlte ich mich mehr und mehr eingesperrt.“ Das Land war weit gewesen, aber es hatte niemand gegeben, dem sie sich verbunden gefühlte hatte.

„Ich.., ich fühlte mich allein und irgendwie… falsch und sah dort keine Zukunft für mich. Ich habe mich immer gefragt, was hinter den Bergen des Böhmerwalds lag, wie die Welt aussah. Ich brannte darauf, zu sehen, was die Erde sonst noch zu bieten hatte.“

Ein Bild schob sich vor ihre Augen. Sie sah sich selbst, wie sie weit oben an einem Hang mitten auf einer saftig grünen Wiese stand und verträumt auf die gegenüberliegende Bergkette starrte, versuchte, einen Blick auf das, was dahinter lag, zu erhaschen. Aurelia erinnerte sich, wie sie sich Flügel gewünscht hatte, um sich in die Luft erheben und einfach davon fliegen zu können.

Damals hatte auch der Drang eingesetzt, zu Laufen und nicht stehen zu bleiben, bis ihre Beine vor Erschöpfung unter ihr nachgegeben hatten. Sie hatten sie nie weit genug forttragen können. Und da war auch noch ihre Schwester gewesen…

„Mit 15 war ich fast schon so weit, einfach abzuhauen. Aber ich wollte meine Schwester nicht allein lassen. Elli war meine einzige Freundin, wir waren so eng verbunden, wir hatten nur einander. Ich hatte Angst, was aus ihr werden würde, wenn sie noch nicht ein Mal mehr meine Gesellschaft haben würde.“ Bei dem gezielten Gedanken an ihre Schwester flutete Trauer ihr Herz und sie begann zu zittern. Die Vibration entging Pareios natürlich nicht. Er legte ihr mitfühlend die warmen Hände auf die Oberarme, eine tröstliche Geste in dem Meer aus schlechten Erinnerungen.

 

„Das einzige Spektakel, das es damals gab, war eine Wallfahrtsprozession am Namenstag von St. Magdalena. Alle Gemeinden aus der Gegend sammelten sich und wanderten gemeinsam mit geschmückten Fahnen und Blumenkränzen zu der kleinen Kapelle auf unserem Hügel. Dort fand ein Gottesdienst statt und danach aßen die Menschen auf der Wiese rund um den Weiher mitgebrachte kalte Gerichte und ein paar machten Musik, zu der getanzt wurde. Damals war das meine einzige Gelegenheit, andere Jugendliche kennen zu lernen und ich fieberte das ganze Jahr auf diesen einen Tag hin. Elli und ich stahlen ein paar Vorhänge von der Wäscheleine und nähten uns Kleider daraus. Wir waren ziemlich stolz auf uns.“ Sie dachte an den moosgrünen, dicken Stoff, den sie an dem Tag getragen hatte, an dem sich ihr Leben unwiderruflich verändert hatte. Sie fühlte noch das grob gewebte Linnen auf der Haut.

„Wie gesagt, ich war 15 und es war der 22. Juli, Magdalenanamen. Wie jedes Jahr nahmen wir zusammen mit den vielen Leuten am Gottesdienst teil und setzen uns dann auf die Wiese um den kleinen See herum. Meine Schwester und mich hielt es nicht lange auf der Decke, auf der meine Eltern saßen, wir konnten es nicht erwarten ein paar Jungs zu treffen.“ Aurelia errötete vor Scham, spürte seine Augen auf sich ruhen, aber immer noch ruhig und konzentriert.

„Was ist an diesem Tag passiert?“ fragte Pareios sanft. Seine Fingerspitzen berührten federleicht ihre Wange, dann strich er mit dem Daumen über ihr Jochbein. Sie konnte nicht widerstehen, sich fester in seine Handfläche zu schmiegen. Die Berührung war so vertrauensvoll und sie fühlte sich ihm gegenüber nackt, wie sie sich so vor ihm von all ihren Geheimnissen entblätterte.

„Da habe ich ihn zum ersten Mal gesehen!“ antwortete sie tonlos, die Stimme wollte ihr nicht gehorchen. Sie räusperte den Frosch im Hals weg. „Einer der Jungs aus Prachatitz hatte mich am Rande des Sees in ein Gespräch verwickelt, aber ich habe mich irgendwie beobachtet gefühlt. Ein attraktiver Typ stand auf der anderen Seite am Ufer des Sees und starrte mich die ganze Zeit über an.“

Attraktiv war gar kein Ausdruck. Der Kerl war ihr damals atemberaubend erschienen, groß und breitschultrig überragte er alle Männer aus der Gegend bei weitem. Sein goldenes Haar hatte im Licht der Dämmerung und der Fackeln, die die Leute rund um den See aufgestellt hatten, geheimnisvoll geleuchtet und seine großen Augen waren von einem marmorierten Lapislazuliblau. In dem Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, hatte er sie in seinen Bann gezogen. Der geheimnisvolle, starrende Fremde hatte sie sofort fasziniert und sie hatte ihren Gesprächspartner ohne Erklärung stehen lassen.

„Heute würde ich natürlich sofort erkennen, dass er ein Elevender war, aber damals wusste ich von all dem nichts. Er kam mir einfach wie ein junger Gott vor und er hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet. Ausgerechnet mich, ich konnte mein Glück kaum fassen.“

Sie konnte sich nur allzu gut an das Triumphgefühl erinnern, das sie erfüllt hatte. Wie arrogant sie doch gewesen war, ganz versessen darauf, endlich etwas Besonderes sein zu dürfen!

„Ich ging zurück zur Kapelle und habe immer wieder einen Blick zurück geworfen. Und er ging auf das Spiel ein. Als ich in das dunkle Gebäude trat, war er schon da…“

Er hatte auf einer der Bänke gesessen und ihr entgegen gesehen. Als sie näher kam, stand er auf und ging auf sie zu. Er hatte eine düstere, aufregende, männliche Ausstrahlung, ganz anders als alles, was sie bis Dato erlebt hatte. Mit ihren 15 Jahren kochten die Hormone unter ihrer Haut, alles Weibliche in ihr war völlig versessen darauf gewesen, entfesselt zu werden. Und nicht nur das, sie hatte es schon eine Weile gespürt. In ihr lauerte etwas, ein dunkle Macht, die sich Tag für Tag aufgebaut hatte und darauf brannte, aus ihr heraus zu brechen. Und in diesem Punkt hatte sie sich von Anfang an mit ihm verbunden gefühlt, intuitiv, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Wie oft hatte sie sich gefragt, welche Rolle ihre damals erst langsam erwachende Gabe letztendlich in dem ganzen Schlamassel gespielt hatte.

„Ich habe ihn schon vom ersten Moment an angehimmelt und als er mich dann charmant verführt hat, war es ganz um mich geschehen.“ Sie behielt weitere Details dieser Nacht für sich, da sie nicht glaubte, dass Pareios hören wollte, wie sie als Jugendliche diesem wesentlich älteren Mann verfallen war, wie viel älter er tatsächlich gewesen war, hatte sie damals jedoch nicht geahnt.

„Sein Name war Orcus. Er hat mich mit Komplimenten überschüttet und mir immer wieder gesagt, ich wäre genau das, was er gesucht habe. Damals war ich zu verträumt, habe das fehl gedeutet und angenommen, er wäre in mich verliebt. Und ich schwärmte wie eine Besessene für ihn, ich wollte es unbedingt so sehen. Ich war so verknallt, dass ich zu blind für die Wahrheit war.“

So langsam kamen sie zum entscheidenden Punkt ihrer Geschichte und sie merkte, dass ihr Tonfall intensiver geworden war und auch Pareios zunehmend angespannter wurde. Sie wusste nicht, ob es von dem kam, was sie eben erzählt hatte, aber seine Miene zeigte keine Eifersucht, er konnte sich ja auch denken, dass die Geschichte nicht gut ausgehen würde.

„Von da an hat er mich immer häufiger besucht und irgendwann hat er mir seine Gabe gezeigt und mir offenbart, dass ich auch eine hätte, dass ich anders als die anderen wäre, etwas Besonderes eben!“ Sie stockte für einen Moment. Bitterkeit erfüllte ihre Kehle und breitete sich wie Säure auf ihren Geschmacksknospen aus. „Dieser Gedanke fiel bei mir natürlich auf fruchtbaren Boden, die ganze Zeit schon kam ich mir vor wie in einem Gefängnis und fühlte mich unterfordert. Und ich wusste tief in mir drin, dass er Recht hatte. Dass da etwas Mächtiges in mir schlummerte, ich hatte nur nie gewusst, was es war, aber in dem Moment konnte ich die Verbindung herstellen.

Und dann hat er mich gebeten mit ihm zu gehen!“

Es war eine dunkle Nacht gewesen. Wieder ein Mal hatte sie sich mit Orcus auf der Empore der Kapelle getroffen und hatte sich ihm hingegeben. Er war nie besonders sanft mit ihr gewesen, hatte sich immer alles genommen, was er von ihr wollte, aber damals kam es ihr wie eine verbotene Frucht in ihrem gezüchtigten Dasein vor, von der sie nur zu gern gekostet hatte.

 

„Ich erzählte es meiner Schwester, aber sie riet mir davon ab. Sie hatte Angst vor Orcus.“ ‚Gefährlich‘ war das Wort gewesen, das Elli benutzt hatte. „Ich dachte sie wäre eifersüchtig auf mich und habe ihr an den Kopf geworfen, dass sie sich ihren eigenen Mann suchen soll, anstatt mir meinen madig zu machen! Ich war trotzig und hochmütig, absolut uneinsichtig,… da hat sie es unserer Mutter erzählt…, alles!“ Ihr Hals war wie zugeschnürt. „Sie hat sich doch nur Sorgen um mich gemacht….“ Ein Schluchzen drängte sich zwischen ihren Stimmbändern hindurch und entschlüpfte ihrer zittrigen Kehle. Als sie weitersprach musste sie mit den Emotionen ringen, die sie schüttelten und ihren Atem flach werden ließen. So war ihre Stimme irgendwie gepresst, verunstaltet durch die Reue, die sie übermannte.

„Ich war so wütend auf sie, ich fühlte mich verraten, als meine Mutter mir verbot, mich jemals wieder mit ihm zu treffen. Ich habe noch in der selben Nacht meine Sachen gepackt und bin mit Orcus weggelaufen. Ich hatte einen solchen Hass auf Elli, dass mich dort nichts mehr hielt. Ich dachte, dass sie nur neidisch auf mich war und mir mein Glück und meine Stärke nicht gönnen wollte!... Ich habe meine Mutter und meinen Vater nie wieder gesehen.“ Sie starrte dumpf in Pareios‘ warme Augen und bemerkte erst, dass sie weinte, als er ihr eine Träne von der Wange strich.

„Es war nicht deine Schuld, er hat dich verführt. Du warst nur ein junges, unschuldiges Mädchen!“ flüsterte er eindringlich und hielt sie fest. Aber sie fühlte nicht, dass sie seine Fürsorge und sein Mitgefühl verdient hatte, er wusste immer noch nicht alles!

 

„Nein, unschuldig war ich keineswegs!“ stieß sie wütend und lauter als beabsichtigt hervor.

Das Beben, das vorhin schon ihren Körper ergriffen hatte, verstärkte sich zusehends.

„Ich bin mit ihm gegangen und eine Weile war es genau das, was ich wollte. Er zeigte mir die Welt und lobte meine körperlichen Fähigkeiten. Bei ihm musste ich sie nicht verstecken, wie zu Hause, er forderte sie sogar von mir und sagte, er wolle mir helfen, meine wahre Begabung zu finden und zu entwickeln. Damals erkannte ich noch nicht, was genau meine Fähigkeit war, ich hatte hin und wieder diese plötzlichen Gefühlsregungen, aber es war wirr und ich konnte damit nichts anfangen. Ich machte mich voll und ganz abhängig von Orcus, ich wäre ihm überall hin gefolgt. Endlich war das Leben abwechslungsreich und spannend, ich bemerkte den Wahnsinn nicht, der von ihm bereits auf mich übergegangen war. Er sagte immer wieder, dass die Menschen uns unterlegen wären und uns deswegen fürchteten. Sie wären unsere Feinde. Und ich glaubte ihm, wo ich zu Hause am eigenen Leib diese Abneigung gespürt hatte. Und wenn das mich nicht überzeugt hätte, dann sicher die Tatsache, dass ich von ihm erfuhr, dass meine Mutter eine Elevenderin war. Ich hatte mich immer so alleine und verkehrt gefühlt und sie hatte es die ganze Zeit gewusst!... Ich war so voller Zorn, dass sie mich hat Leiden lassen und dass sie mich und sich selbst offensichtlich verstecken wollte, bestätigte für mich Orcus‘ These, dass Menschen Elevender hassten.“ In diesen Zeiten hatten Hass und Wut sie regiert und sie hatte sich immer tiefer in Orcus‘ Ideologie mit hineinziehen lassen.

„Eines Nachts, drei Jahre später, wir waren gerade irgendwo in Tirol. Wir hatten uns in einer Gastschenke einquartiert und teilten uns wie immer ein Bett, wir lebten wie ein Paar zusammen und ich schwebte auf Wolke Sieben… Auf jeden Fall…“ sie schluckte verkrampft, suchte verzweifelt Pareios Blick. „… ich…, ich bin mitten in der Nacht aufgewacht. Ein Geräusch ganz nah an meinem Ohr hat mich geweckt und… da war sie plötzlich!“ Ihre Stimme versagte, noch mehr Tränen erstickten sie und rannen ihr in einem unaufhörlichen Strom über die Wangen.

„Eliodora?“ fragte Pareios überrascht und streichelte ihr wieder liebevoll Nacken und Schultern. Sie schaffte es zu nicken.

„Sie…, sie saß rittlings auf Orcus und hielt ihm eine Kanone an den Kopf.“ Sie versuchte mit ihrer staubtrockenen Kehle zu schlucken, was ein kratziges Geräusch erzeugte.

„Sie warf mir vor, wie selbstsüchtig ich gewesen war, als ich diesen Teufel, damit meinte sie Orcus, in das Leben unserer Familie gebracht hatte. Sie hat ihn beschuldigt unsere Eltern ermorden lassen zu haben.“ Die Worte stolperten jetzt aus ihrem Mund, genauso wie die Tränen waren sie nicht mehr aufzuhalten. Sie sprach schnell, sie fühlte sich wie ein Waschbecken, aus dem man den Stöpsel gezogen hatte, Tränen und Worte würden immer weiter aus ihr herausgeflossen kommen, bis alles gesagt sein würde.

„Ich habe ihr nicht geglaubt! Ich war der Überzeugung, sie habe sich in ihrer Eifersucht auf mich verrannt, mein Gott ich war so verblendet! Ich habe sie angefleht, ihn zu verschonen, aber sie war unnachgiebig, sie sagte er müsse sterben, für das was er unseren Eltern angetan hatte. Ich war verzweifelt, wusste nicht, was ich tun sollte, aber als sie die Steinschusswaffe schussbereit machte, ist mir… eine Sicherung durchgebrannt…“ Orcus hatte um sein Leben gebettelt, er hatte seine Roller äußerst überzeugend gespielt!

„Ich konnte die ganze Zeit nur denken: Nicht er! Orcus hatte immer eine Waffe unter dem Kissen… Ich… hab‘ sie hoch gehoben und…dann hab‘ ich,… ich… habe abgedrückt…“

 

Nun konnte sie sich endgültig nicht mehr beherrschen. Wie Pareios auf ihr Schuldgeständnis reagierte, konnte sie durch den Tränenschleier nicht mehr erkennen, sie hätte es auch nicht ertragen können. Sie brach in seinen Armen zusammen und weinte. All die Tränen, die sie die ganzen Jahre über zurückgehalten hatte, bahnten sich einen Weg ins Freie und dachten nicht einmal daran, so schnell wieder zu versiegen. Sie klammerte sich an seine Brust und spürte wie er die Arme um sie schloss und sie fest an sich drückte, während all die salzigen Tropfen auf seine nackte Haut perlten. Das Grauen, das sie in dieser Nacht vor 294 Jahren erlebt hatte, hatte sich tief in ihre Seele eingebrannt. Damals waren Waffen wesentlich martialischer gewesen, als heute. Sie hatte kein kleines Kaliber auf ihre geliebte Schwester abgefeuert, nein, es war eine Eisenkugel gewesen. Und durch die Nähe der Mündung an ihrer Schläfe, wurde Ellis Kopf quasi zerfetzt, als Aurelia den Abzug durchgedrückt hatte. Und jetzt packte sie die Erinnerung wie ein Flashback.

 

 

Sie kniete auf einer mit Stroh gefüllten Matratze, die einzelnen festeren Halme piekten ihr durch den Stoff des Lakens in Schienbeine und Füße, aber sie bemerkte es gar nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die junge, schlanke Frau gerichtet, die auf Orcus Brust saß und ihm eine Waffe an den Kopf hielt. Sie hatte seine Arme unter ihren Knien fixiert und ihr Gesichtsausdruck war unerbittlich, die eisblauen Augen funkelten wild und bedrohlich.

Als dieser irre Blick Aurelia streifte, erkannte sie mit eisigem Entsetzen, dass es Eliodora war, die auf dem Mann saß, den Aurelia vergötterte, und ihm nach dem Leben trachtete. In einer Sekunde nahm sie die Erscheinung ihrer Schwester in sich auf. Sie war größer geworden, wirkte drahtig und ausgezehrt und ihr Gesicht zeigte so viel Trauer, Gram und Hass, dass es Aurelia wie ein Hieb in die Magengrube traf.

Elli warf ihre hellbraunen Locken, die Farbe hatte sie von ihrem Vater geerbt, nach hinten und stieß ein schrillen Schrei aus. Ein schmerzvolles, geisterhaftes Heulen, das Aurelia bis tief in die Knochen fuhr.

„Er hat das Blut unserer Eltern an den Händen!“ kreischte ihre Schwester und fixierte sie mit diesen rastlosen Augen, die Mündung der schweren eisernen Pistole an Orcus‘ Stirn gedrückt. „Findest du nicht auch, er muss dafür zahlen, was er uns genommen hat?“ Ellis Laute wurden zum Lachen einer Wahnsinnigen, ihr wunderschönes Antlitz zur Fratze verzerrt. Aurelia hörte sich selbst leise reden, war aber so abgestumpft, dass sie ihren Mund gar nicht fühlte.

„Nein, Elli,.. das kann nicht sein! Bitte,.. bitte, tu‘ das nicht,… ich liebe ihn! Er war die ganze Zeit bei mir, egal was mit ihnen passiert ist, er kann es nicht gewesen sein… Was ist mit unseren Eltern geschehen, Elli?“ Aurelias Gedanken überschlugen sich förmlich. Obwohl sie ihre Eltern und ihre Schwester im Zorn zurück gelassen hatte, berührte sie die Nachricht, dass ihnen etwas zugestoßen war tief. Es tat weh! Fürchterlich weh, genauso, wie ihre Schwester auf diese Weise wieder zu sehen.

„TOT!!!“ schrie Eliodora ganz außer sich. „Und du bist genauso schuld wie er!“ Sie spuckte vor Aurelia auf die Bettdecke. „So lange habe ich euch gesucht und meine Rache geplant und jetzt ist die Nacht gekommen! Er wird bezahlen Aurelia, ich will ihn bluten sehen!“ flüsterte Elli mit wilder, entschlossener Intensität und zog den Hahn am hinteren Ende der Waffe nach hinten. Mit einem leisen Klick spannte sie den Schlagbolzen, die Waffe war bereit für den Schuss.

Urplötzlich entflammte Wut in Aurelia. Wie ein Flächenbrand schoss es durch ihre Adern und entzündete ihre Muskulatur, versetzte sie in Alarmbereitschaft. In diesem Moment erwachte das Monster in ihr zum Leben. Es schlug seine Krallen in ihr Herz und ihre Seele, bemächtigte sich ihrer und lenkte ihre Gedanken und ihre Glieder. Es tobte in ihr, als sie Orcus‘ Leben bedroht sah. Die verträumte Verliebtheit, ja fast schon Besessenheit, die sie für ihn empfand, schrie danach, ihn zu beschützen, alles zu riskieren, alles zu tun, nur damit er überlebte. Zusammen mit dem Monster waren diese beiden Bedürfnisse eine übermächtige Kombination, die Aurelia brennen ließ. Nichts war mehr wichtig, weder ihre Eltern, noch Elli, geschweige denn sie selbst oder was aus ihr werden würde, nur er zählte.

Sie konnte kaum atmen vor Angst, sie war gelähmt und ihr Herz hämmerte wie wild gegen ihre Brust. Aber in ihr tobte der Zorn, geschürt von der ganzen Furcht und dem Grauen. Alles lief letzt langsamer, als ob jemand den Zeitlupeknopf gedrückt hätte. In ihrer schwelenden Trance fühlte Aurelia, wie ihre Hand an Orcus Kissen etwas Hartes, Kaltes, Eisernes berührten.

„Ich werde dich befreien, Lia!“ flüsterte ihre Schwester jetzt, Aurelias Kosenamen aus Kinderzeit benutzend, und beugte sich tiefer über Orcus, der leise zu murmeln begonnen hatte. Er sagte immer und immer wieder, dass sie sich irrte, dass er nichts mit der Sache zu tun habe und dass er Aurelia so etwas niemals antun würde, aber Eliodora schien es gar nicht wahr zu nehmen. Sie legte die zweite Hand an den Holm der Waffe und packte zu, dass die Sehnen an ihrem Unterarm hervortraten. Sie presste den Lauf noch fester gegen Orcus Stirn. Ein Lächeln umspielte plötzlich ihre Lippen. Es war verwirrend klar und echt und es durchzuckte Aurelia mit Bildern ihrer damals schon fern wirkenden Kindheit.

Ihre Schwester, wie sie lachend hinter ihr her lief, als sie fangen spielten. Ihre Schwester, wie sie vor ihr auf einen Baum kletterte und fröhlich zu ihr hinunter winkte. Ihre Schwester, wie sie am Abend, bevor Aurelia den Böhmerwald für immer verlassen hatte, versucht hatte, sie zu umarmen und ihr sagte, dass sie nur ihr Bestes wolle…

Aurelias Herz brach in tausend kleine Stücke, als sich ihre Finger um den hölzernen Griff der Waffe unter Orcus Kissen schlossen.

Eliodoras Lächeln wurde langsam breiter, verzog sich zu einem triumphalen Grinsen, als sie hervor stieß: „Fahr zur Hölle, du Bastard!“

Dieser letzte Funke brachte Aurelias Verstand zum Explodieren, er löste sich im aufziehenden, blinden Zorn auf, verpuffte, wie eine Gaswolke und das Monster übernahm die volle Kontrolle. Die Erinnerung an diesen Moment glich eher einem Traum, als hätte sie es gar nicht wirklich erlebt.

Aurelia hob ihren ausgestreckten Arm, in der Hand die Waffe, ihr Mordwerkzeug. Sie hatte noch nie geschossen, noch nie einen Menschen getötet, noch nie… eine solch wilde, besitzergreifende Wut gespürt. Sie verzehrte sie innerlich, als sie die Mündung auf ihre Schwester richtete. Brachiale Entschlossenheit erfüllte sie, all ihre Gedanken kreisten darum, Orcus nicht zu verlieren.

Den Sekundenbruchteil, den sie brauchte um den Sicherungsbolzen nach hinten zu klappen und den Hahn zu ziehen, huschten die Augen ihrer Schwester zu ihr herüber. Sie beobachtete sie in stummem Entsetzen aus den Augenwinkeln, ihre schwarzen Pupillen weiteten sich ungläubig, das Gletscherblau drum herum wurde schmal, als sie erkannte, dass Aurelia sie töten würde.

Der Knall durchbrach die Stille der Nacht und das Mündungsfeuer erhellte das Zimmer wie ein weißglühender Blitz. Aurelia wurde vom enormen Rückstoß der Waffe gegen das obere Bettende geschleudert und bei dem harten Stoß des Holms gegen ihre Handfläche, hatte sie die Waffe fallen lassen. Benommen registrierte sie, wie ihr Gesicht und Oberkörper mit warmer Flüssigkeit bespritzt wurden und der verunstaltete, zugerichtete Oberkörper ihrer Schwester nach vorn kippte und leblos auf Orcus zusammenbrach.

Aurelia starrte fassungslos auf die verstümmelte Leiche ihrer Schwester, konnte nicht begreifen, was sie da gerade getan hatte. Alles in ihr weigerte sich zu akzeptieren, dass sie gerade ihre Schwester getötet hatte! Nein, das konnte nicht echt sein! Stumm und mechanisch schüttelte sie immer wieder den Kopf. War sie zu so etwas fähig? Sie konnte nicht atmen, nur starren, mit vor Entsetzen versteinertem Leib, auf ihre kalte, ermordete Schwester, von ihrer Hand ausgelöscht. Es musste ein schrecklicher Albtraum sein! Aber warum wachte sie nicht auf?

Die gelähmten Glieder waren taub, ihr Inneres erkaltete, verrohte. Das Grauen holte sie ein, die Bilder brannten sich ihr ins Gedächtnis und verankerten die Qualen und die Schuld die sie von nun an jede Minute ihres Lebens empfinden würde. Sie fühlte sich innerlich tot. Und ein Teil von ihr war auch in dieser Nacht mit ihrer Schwester zusammen gestorben, der Großteil.

Sie war nur noch halb am Leben, das war der Preis, den sie diese Tat gekostet hatte und dieses halbe Leben zerfraß und plagte sie, bescherte ihr eine Tortur, die mit Worten nicht zu ermessen war.

Die Taubheit hielt an, noch lange nachdem Orcus sie gewaschen und angezogen und sie dann mitgenommen hatte. Sie hatte gelähmt in seinen Armen gelegen, als sie das Zimmer verließen, in dem ihre Schwester ihren letzten Atemzug getan hatte.

Aurelia war zu einem halbtoten Zombie, zu einer Marionette geworden, derer sich Orcus nur zu gern bediente. Ihre Schuld fesselte sie an ihn, wer hätte sie sonst noch aufnehmen, sonst noch wollen können?

Sie hatte nie ernsthaft daran gezweifelt, dass Orcus unschuldig war, was ihre Eltern betraf, aber sie konnte sich nicht mehr von ihm berühren lassen, es ging einfach nicht mehr. Sie hasste sich selbst so sehr, sie dachte, sie sei das abscheulichste Wesen, das jemals auf diesen Planten geworfen worden war. Und der Einzige, der in dieser persönlichen Hölle noch irgendwo da war, war Orcus. Dass sie es für ihn getan hatte, machte ihn in ihren Augen sozusagen zu ihrem Komplizen.

Aurelia hatte erlebt, wie Orcus Freunde und Gleichgesinnte um sich geschart hatte, aber nicht durchschaut worauf es hinauslief. Er hatte ihr nie erzählt, dass unter den Elevendern so etwas wie „gut“ und „böse“ existierte und sie hatte geglaubt, so wie sie beide lebten, war die einzige Möglichkeit für sie. Damals war ihr noch nicht klar gewesen, dass die Leute mit denen er sich umgab, mit denen er sich traf und „Geschäfte“ machte, Hegedunen waren und sie selbst damit auch zu einer geworden war.

Sie hatte seine Machenschaften nur peripher registriert, alles hatte sie kalt gelassen. Sie war verbittert, voll von Selbsthass. Manchmal hatte sie sich einen kurzen Moment gestattet, sich zu fragen, ob der Preis für sein Leben vielleicht zu hoch gewesen war, aber die Angst vor dieser Erkenntnis, trieb sie nur immer tiefer in die Sache hinein. Sie musste irgendwie daran festhalten, dass er es wenigstens Wert gewesen war. Mit aller Macht verdrängte sie, in dem Glauben, dass es für sie sowieso keinen anderen Weg gab. Sie lebte damals in einer Dunkelheit, in der sie sich irgendwann haltlos und verloren fühlte.

Die Zweifel, die ihr immer wieder kamen, während Orcus Handeln immer grausamer wurde und sie dann auch noch von anderen Elevendern angegriffen wurden, das Gefühl, das ihr sagte, dass etwas nicht stimmte, das alles irgendwie nicht zusammenpasste, hielt sie schön weit im Hintergrund. 

 

Bis das Schicksal ihr eine bittere Erkenntnis schenkte und Viktor zu ihr führte.

29

Pareios‘ fester Griff holte sie zurück in die Wirklichkeit. Er hielt sie auf seinem Schoß fest, ein paar Zentimeter von sich entfernt und schüttelte sie leicht. Seinen hell auf besorgten Blick auf Aurelias Gesicht geheftet.

 „Aurelia, komm schon, was ist los? Geht’s dir gut?“ Seine Stimme überschlug sich und seine Hände griffen jetzt ihr Gesicht, fuhren ihr über die mit kaltem Schweiß bedeckte Stirn und die tränennassen Wangen.

„Tief durchatmen, Aurelia! Ist schon gut!“ sagte er besänftigend. Aurelia folgte seinem Befehl benommen, schnappte nach Sauerstoff, um die stechenden Lungen zu erlösen!

Wieder zog sie Pareios in eine liebevolle, sanfte Umarmung und wiegte sie tröstlich hin und her. Seine Wärme umschloss sie wie eine strahlende Decke in der Finsternis, in der sie sich so verloren gefühlt hatte. Es war schrecklich gewesen, ihm all das zu beichten, ihm zu offenbaren, wer sie wirklich war und was sie getan hatte, dass sie mit einer Schuld lebte, die sie nie wieder gut machen konnte. Aber jetzt, da es raus war, fühlte sie sich fast erleichtert. Eine Last, die so lange auf ihrer Seele gelegen hatte, eine langen dunklen Schatten auf ihre Existenz geworfen hatte, schien sich langsam aufzulösen.

„Es tut mir leid, dass du das alles durchmachen musstest! Das muss furchtbar für dich gewesen sein!“ flüsterte er jetzt mit rauer Stimme in ihr Haar. Mechanisch schüttelte sie den Kopf.

„Danach habe ich noch nicht mal die Kraft gefunden, mich von Orcus zu trennen, ich habe alles mitgemacht, was er plante und bin mit ihm zur Hegedunin geworden, ohne es überhaupt zu merken. Erst als ich Viktor traf, kam etwas ins Rollen, ich selbst war nicht stark genug, die Wahrheit zu erkennen. Und, … und ich habe mich so entsetzlich in Orcus getäuscht! Ich fand nur durch Zufall heraus, dass meine Eltern wirklich tot waren, durch seinen Willen! Er hat es noch nicht mal selbst getan.“ Sie hatte sich so unglaublich falsch verhalten, heute bereute sie ihr Handeln bis in die tiefste Faser und schämte sich dafür.

Wieder erfasste sie ein markerschütterndes Beben und sie schluchzte herzzerreißend.

„Mein Gott,… es tut mir alles so schrecklich Leid!“ Ihre Stimme brach, genauso wie ihr Herz in jener Nacht. „Ich habe sie getötet, ich bin schuld, ich ganz allein, weil meine Besessenheit von ihm mich blind gemacht hat. Gott, bitte… ich will es einfach nur rückgängig machen! Ich würde einfach alles dafür geben!“ flehte sie unter weiteren Tränen, die Silben quetschten sich durch ihre zusammengepressten Zähne. Schon so oft hatte sie dieses Gedankenkarussell gefahren, hatte sich darin gedreht und gedreht, bis sie sich in ihrem Selbsthass verloren hatte. Sie heulte eine halbe Ewigkeit, bis ihr Hals wehtat und die Augen brannten, nicht fähig, sich auch nur ansatzweise im Zaum zu halten, oder es zu stoppen.

Pareios schloss die Arme fester um sie, hielt sie so eng an sich gepresst, dass sich der Druck beruhigend auf sie auswirkte. Ihre Schluchzer wurden leiser, kamen mit mehr Abstand und gestatteten ihr, zwischendurch Luft zu holen.

„Ich weiß! Ich weiß doch!“ murmelte er und zeigte ihr damit, dass er alles verstanden hatte, was sie ihm erklären wollte. Er strich ihr immer wieder übers Haar und ein Teil von ihr registrierte plötzlich die Bedeutung seiner Gesten.

Er hatte ihre Geschichte gehört, vielleicht nicht jedes Detail, aber die schlimmsten Episoden kannte er jetzt… und alles was er tat, war sie zu halten, zu trösten, für sie da zu sein!

Er hasste oder verabscheute sie nicht, das konnte sie spüren. Sattdessen vernahm sie sein stilles Bedauern und ein Mitgefühl, das ihr bis tief in die Seele drang, sie heilte und ihr das Gefühl gab, dass er sie annahm, mit all der Schuld und all den Fehlern. Er war ihr so wichtig, wie keiner zuvor und deshalb wollte sie, dass er auch begriff, warum sie war wie sie war, und was am Strand passiert war. Sie zwang einige Nachbeben nieder, um sprechen zu können.

„Seitdem habe ich versucht, Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Ich war davon überzeugt, dass sie mich dazu brachten, schreckliche Dinge zu tun und die Menschen, die ich liebte ins Unglück stürzten. Ich hatte Angst, wenn ich mit dir zusammen bin, verliere ich die Kontrolle über diese Seite und löse eine Katastrophe aus. Und ich dachte, wenn du es weißt, würdest du mich verabscheuen.“

„Verdammt! Das erklärt einiges!“ Er schien aus irgendeinem Grund eher erleichtert zu sein, was sie verwirrte.

„Und Viktor denkt das auch!“ fügte sie leise an, gespannt, wie er auf diesen Kommentar reagieren würde. Pareios legte den Kopf leicht schief.

„Anscheinend verbindet dich etwas mit ihm, das ich immer noch nicht so ganz verstehe. Es mag ja sein, dass du Wert drauf legst, was Viktor sagt, aber im Bezug auf dich ist mir das scheißegal! Und das sollte es dir auch sein, wenn du mich fragst!“ Er machte eine kleine Pause und betrachtete sie dabei eindringlich, dann fuhr er fort:

„Wir alle begehen schreckliche Fehler in unserem Leben, die wir hinterher bereuen. Und wir sind auch noch Elevender, blöder Weise haben wir ewig Zeit, Mist zu bauen und dann darüber nach zu grübeln.“ Jetzt fasste er sie bei den Schultern. „Aurelia, du hast das Beste gemacht, was man nach so einem Desaster machen kann. Ok, du hast dich in einem Menschen geirrt und einen Fehler gemacht. Aber du warst jung und hattest keine Ahnung, dass es noch so viel mehr in der Welt gab, dass du eine Wahl gehabt hättest, wärst du nur auf den richtigen Mann getroffen. Aber du hast dich geändert und du hast seitdem sehr viele Leben gerettet, darunter Row’s, Viktors, Aidens und auch meins, falls du dich erinnerst!“

Was er sagte war merkwürdig trostspendend. Es war, als ob seine Überlegungen ein Hintertürchen in ihrem Verstand schufen, durch das sie aus all dem Selbsthass und der Verdammnis fliehen könnte. Sie konnte es selbst kaum fassen, aber sie begann seinen Worten Glauben zu schenken. Er wirkte so aufrichtig und sie sog diese Akzeptanz nur zu gerne in sich auf wie ein ausgedörrter Schwamm.

„Ach und noch was, das wird dich vielleicht erschrecken: Abscheu zählt nicht zu den Gefühlen, die du in mir weckst, im Gegenteil!“ Der ernste Ton, den er dabei anschlug verdeutlichten die feierlichen Worte. Sie lösten eine wundersame Reaktion bei Aurelia aus.

 

Die Ketten ihrer Selbstgeißelung sprangen auf und rutschten von ihr ab, zum ersten Mal seit so vielen Hundert Jahren hatte sie das Gefühl, dass sie frei atmen konnte. Sie fühlte sich überhaupt frei, erlöst!

Sie schmiegte sich eng an ihn und als er vorsichtig ihr Kinn hob und sie küsste, konnte sie förmlich spüren, wie ihr Flügel aus dem Rücken schossen. Die kraftvollen Schwingen und Pareios Liebe trugen sie in den Himmel, durchbrachen die flauschige Wolkendecke und endlich, ja endlich konnte sie fliegen, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Flog dem Mond entgegen und nichts auf der Welt würde sie je wieder auf den Boden zurück holen.

 

Lange saß sie in der Dunkelheit der Nacht und ließ sich von Pareios küssen. Seine Hände und seine Lippen verhießen ihr die Erlösung und die Vergebung die sie sich selbst niemals zugestanden hatte. Es war als ob seine Berührungen eine Schicht von ihr abtrugen und als auch das letzte bisschen verschwunden war, fühlte sie sich wie ein restauriertes Kunstwerk, das immer noch dasselbe war, aber in neuem Glanz erstrahlte. Und Pareios war es, der sie zum Strahlen gebracht hatte. Er war ihr sicherer Hafen, der Ort, wo sie sie selbst sein konnte, und trotzdem akzeptiert und … geliebt wurde.

Heiliger Himmel, er bedeutete ihr so viel, dass ihr Herz beinah überlief vor lauter Liebe. Und sie konnte es nicht zurückhalten, nicht einmal wenn sie gewollt hätte! Die Worte formten sich in ihrem Mund, stammten aus einer Ecke ihrer Seele, wo ihre Willenskraft nicht hinreichte.

Und dann entschlüpften sie, erhoben sich wie kleine zarte Nachtfalter in die Luft und veränderten alles.

„Ich liebe dich!“ flüsterte sie an seinen Lippen und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, nicht vor Unsicherheit, denn noch nie in ihrem Leben war sie sich etwas so sicher gewesen, wie in diesem Moment. Aber diese Worte hatten für sie eine tiefe Bedeutung, sie hatte sie nur zu Orcus gesagt und seitdem befunden, dass es besser war, wenn sie diesen Fluch für sich behielt.

Aber jetzt, als er gebrochen schien, war es ein existentieller Zwang, Pareios zu sagen was sie für ihn empfand.

Er reagierte mit stürmischer Freude, riss mit sich ins Gras und rollte sie in einer fließenden Bewegung unter sich. Sie spürte sein Lächeln als er ihre Lippen weiter mit wilden Küssen bedeckte und sie konnte nicht anders, als sich trotz all dem Schrecklichen, das in den letzten Minuten in ihre Erinnerungen geflossen war, einfach nur glücklich zu fühlen. Und sein Gewicht auf ihr versetzte ihr nicht den erwarteten Panikstoß, sondern einen sinnlichen Kick, der ihren Geist völlig in Besitz nahm, alles wegwusch, all das Grauen und all die Qual.

Sie spürte weiches, feuchtes Gras unter sich, aber es kümmerte sie nicht im Geringsten. Pareios vor dem blinkenden Sternenhimmel fesselte ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie zersprang fast von dem Drang sich in jeglicher erdenklichen Weise mit ihm zu verbinden, ganz die Seine zu werden und ihn nur für sich zu beanspruchen.

Aber er hatte Recht gehabt, ging ihr just in diesem Augenblick auf. Ihr erstes Mal sollte etwas wirklich Besonderes sein. Nicht als Reaktion auf eine solche Geschichte, oder mit halbem Kopf bei Evrill und Jesper, mit leichtem Zeitdruck im Nacken. Und sie hatte sicher eine Weile erzählt, wahrscheinlich war Evrill schon fertig und wartete auf sie. Daher unterbrach sie sich, aber nur äußerst widerstrebend.

„Wir sollten zurück gehen, vielleicht mal nach Evrill sehen!“ brachte sie heraus. Auch Pareios hielt nun inne und musterte sie kurz. Wahrscheinlich suchte er in ihrem Gesicht nach Anzeichen für ein Ablenkungsmanöver ihrerseits. Aber das hatte sie heute Nacht endgültig hinter sich gelassen, sie war frei und sie war bereit für ihn.

„Ich laufe nicht davon!“ kicherte sie amüsiert über seine Gedanken, die sich so offensichtlich in seinem Gesicht widerspiegelten. „Ich denke nur, du hattest Recht. Ich will diesen Moment mit dir richtig genießen, mir Zeit lassen und unser erstes Mal richtig auskosten.“ Die goldenen Sprenkel in seinen grauen Augen leuchteten voller Vorfreude und ihr verheißungsvolles Versprechen hing noch zwischen ihnen in der Luft, als er langsam von ihr abrückte.

 

Noch nachdem er sich sein Shirt wieder übergezogen hatte und sie Hand in Hand zurück zur Lichtung spazierten, an der sie Evrill, Jesper und das Auto zurück gelassen hatten, konnte sie Pareios‘ Arme um sich spüren. Sie redeten wenig, während sie durch den Dunklen Wald gingen, aber das war auch nicht nötig, gerade jetzt musste nichts weiter zwischen ihnen gesagt werden. Sie waren sich der Gefühle des anderen bewusst, teilten sie durch die leichte Berührung ihrer Hände oder wenn sie sich hin und wieder in die Augen sahen. Aurelia empfand nicht die geringste Reue und auch er ließ keine Anzeichen von Bedauern erkennen. Die drei magischen Worte, die zwischen ihnen gefallen waren, hatten ein Band geschaffen, das sich unsichtbar zwischen ihnen spannte und sie zusammenhielt. Sie genoss einfach nur die Perfektion dieser letzten Minuten, bevor die stürmische und ungewisse Flut, die den Weg entlang rauschte, der vor ihnen lag, sie wieder hatte. Bis zum letzten Augenblick bevor sie die Lichtung betraten, konzentrierte sie sich voll und ganz auf den Mann neben ihr, nahm seinen verlässlichen Herzschlag wahr und beobachtet seine ureigene Art zu gehen, sich zu bewegen.

So wurde sie erst auf Evrill aufmerksam, als sie schon ein paar Schritte aus den Bäumen heraus getan hatten. Vor allem, dass Pareios wie versteinert stehen geblieben war und seine Augen sich vor Erstaunen weiteten, brachte sie dazu, sich schnell auf das Bild vor ihren Füßen zu fokussieren.

Doch der Anblick war gespenstisch, ließ ihr den Atem stocken und jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.

 

 

 

Mitten auf der vom Mond erleuchteten Lichtung, umringt vom dichten, undurchdringlichen Schwarz der Bäume, lag Jepser Svenssen immer noch auf dem zerschlissenen Teppich, den sie aus seiner Wohnung entwendet und zweckentfremdet hatten. Evrill hatte ihm das weiße Baumwollhemd ausgezogen und es feinsäuberlich gefaltet an den Rand des Persers gelegt, daneben befand sich seine eigenes, ebenfalls penibel zusammengelegt. Aurelia wurde von einer merkwürdig eisigen Stimmung erfasst, während ihre Augen das aufnahmen, was sie da im spärlichen, silbrigen Licht wahrnehmen konnte.

Evirlls nackter Oberkörper lag auf Jesper Svenssens ebenfalls entkleideter Brust. Er hatte sich leicht seitlich auf ihn gelegt, sodass sich ein Großteil ihrer Haut berührte und Evrills Kopf befand sich direkt über Jespers Herzen, als würde er dem ausbleibenden Klopfen lauschen. Die Arme hatte er entlang der Arme des Verstorbenen ausgebreitet und so bildeten sie mit ihrer hellen Haut ein silbrig leuchtendes Kreuz auf dem dunklen Teppich unter ihnen. Der Eindruck verstärkte sich durch den farblichen Kontrast. Es sah einfach nur unheimlich aus, sogar für sie, die schon so viel erlebt hatte.

Während die Augen des Toten blind in den Himmel hinauf stierten, waren Evrills geschlossen. Er war so reglos, dass man ihn ebenso für tot hätte halten können, hätten seinen Augäpfel unter den lavendelfarbenen Lidern nicht hektisch hin und her gezuckt, wie im REM-Schlaf.

„So viel zu Leichenschändung!“ raunte Pareios baff neben ihr und löste sich aus seiner Starre. 

Er räusperte sich vernehmlich, um Evrill auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen, aber dieser reagierte nicht. Sie selbst versuchte es noch ein Mal: „Evrill? Alles klar bei dir?“

Keine Reaktion.

Jetzt erschraken sie heftig und liefen beide schnell auf das Szenario zu. Aurelia hatte Evrill als erstes erreicht und sich neben ihm auf die Knie fallen lassen. Als sie mit den Händen an seinen Schultern rüttelte, spürte sie mit wachsender Besorgnis, wie kalt er sich anfühlte, fast so eisig wie der Körper unter ihm. „Scheiße, er ist ganz ausgekühlt!“ stieß sie ärgerlich hervor und half Pareios, der schon dabei war, Evrills erschlafften Arm an seine Seite zu drücken, damit sie ihn verletzungsfrei von seiner Wirkungsstätte herunter rollen und auf den Rücken legen konnten.

„Das hat er aber nicht erwähnt, als er uns von seiner Gabe erzählt hat!“ grummelte Pareios missmutig, während er mit geübten Fingern Evrills Puls und Atmung kontrollierte. Aurelia lief zum Wagen, kramte nach einer wärmenden Decke, konnte aber nichts finden. Aus dem Erstehilfekasten des Kombis beförderte sie schließlich die silbern und gold beschichtete Rettungsfolie zu Tage. Gemeinsam mit Pareios breiteten sie die laut knisternde Aluschicht über Evrill aus und stopften sie ihm ringsherum unter Rücken und Beine. Jetzt konnten sie nur noch abwarten, bis er wieder zu sich kam.

Er hatte nichts davon gesagt, dass seine Gabe ihn außer Gefecht setzen würde und so war die erste Frage die sich ihr aufdrängte: War das normal? War das eine kontinuierliche Begleiterscheinung oder hatte ihn etwas Spezielles in die Bewusstlosigkeit gebannt, wie sie damals in ihrer Vision? Aber ihre Gaben funktionierten wahrscheinlich auf verschiedene Weisen, also konnte sie diese Ursache eigentlich ausschließen.

 

Nach einer gefühlten Stunde, die sie beide an seiner Seite Wache gehalten hatten, flatterten Evrills Augenlieder endlich und er begann sich zu regen. Sein Atem vertiefte sich und wurde schneller und schneller. Aurelia und Pareios waren sofort über ihm und sahen besorgt auf sein blasses Gesicht hinunter, als er schließlich wieder vollends zu sich kam. Verwirrt glitt sein Blick über ihre verunsicherten Mienen, dann lächelte er müde, aber doch irgendwie amüsiert.

„Genialer Halloween-Gack, oder?“ flüsterte er erschöpft. Seine Stimme war brüchig und er atmete schwer, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Seine blassen, blutleeren Lippen bewegten sich nur langsam, wirkten widerwillig.

„Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Ev!“ sagte Pareios leicht verstimmt, aber vor allem konnte sie seine Erleichterung spüren. „Verdammt, ist das immer so, wenn du deine Gabe einsetzt? Hättest du uns nicht vorwarnen können?“

„Und die schöne Überraschung verderben?“ stöhnte Evrill und setzte sich ächzend auf. Seine Arme zitterten noch unter dem Gewicht seines Körpers, das er gerade in die Höhe stemmte. Pareios griff sofort zu und stützte ihn.

„Ich hoffe, ihr habt nicht die ganze Freak-Show verpasst!?“ Evrill lächelte müde und zog die Beine für ein besseres Gleichgewicht an. Als Aurelia und Pareios einen fragenden Blick tauschten, hob er den Arm und massierte sich den Nacken. „Normalerweise beinhaltet meine Darbietung Geschrei und wildes Gefuchtel!“ Seine Miene markierte Gelassenheit, aber an der Art, wie er den Blick senkte, erkannte sie auch eine Spur von Scham.

„Jede Gabe hat ihre Schattenseite!“ murmelte Aurelia und sie konnte da aus Erfahrung sprechen. Auch Pareios nickte zustimmend, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, was er an seiner Gabe nicht schätzte. Aus ihrer Sicht bedeutete sie keine Gefahr für ihn oder seine Umgebung und er beherrschte sie perfekt.

Pareios unterbrach ihre Gedanken, indem er an Evrill gewandt fragte: „Warum hast du dich eigentlich ausgezogen? Wirkt irgendwie makaber, muss ich ehrlich sagen….“

„Ich sag doch, Freak-Show!“ scherzte dieser daraufhin zuerst, dann wurde er jedoch ernster. „Je mehr ich von der Leiche berühre, desto deutlicher sind die Bilder, die Konturen sind dann irgendwie schärfer und ich kann mehr Details erkennen. Wenn ich anfange, falle ich in eine Art Trance und mein Herzschlag verlangsamt sich bei dem Hautkontakt automatisch. Ich nehme mal an, es passt sich soweit es geht dem toten Herzen des anderen Körpers an, damit der Austausch leichter stattfinden kann. Je länger ich den Kontakt halte, desto mehr sehe ich. Gedanken sind nicht zweidimensional strukturiert. Sie haben meist keinen Anfang und kein Ende, einer zieht den nächsten nach sich, ganz zu schweigen von den vielen Assoziationen und Informationen die in den Denkprozess mit einfließen. Meist ist es wirr, was ich sehe, und schwer zu deuten. So viele Bilder blitzen mit dem Gedanken auf, aber mir fehlt dann die Bedeutung, um es zu verstehen.“

Aurelia und Pareios folgten seinem Erklärungsversuch gespannt und Aurelia selbst konnte sich kaum vorstellen, was es für einen Menschen bedeuten musste, sich auf einen toten, kalten Körper zu legen und seine letzten Sekunden mitzuerleben. Sie stellte es sich aber grauenvoll vor. Jedes mal einen Tod mit zu sterben, war sicher ein schweres Kreuz, das der weißhaarige Elevender da zu tragen hatte. Ihr Herz war erfüllt von Mitgefühl und Respekt und  ihr ging auf, dass Evrill ihnen jetzt schon auf mehrere Arten nützlich gewesen war. Sie bereute die Entscheidung, ihn mit genommen zu haben, keine Sekunde und fühlte sich in dem Verdacht bestätigt, dass seine Anwesenheit auf ihrer Mission von großem Wert war, vielleicht noch sein würde.

„Geht’s wieder soweit?“ erkundigte sie sich nach seinem Wohlbefinden, denn sie konnte jetzt kaum mehr erwarten, zu hören, was er gesehen hatte. Nachdem er vorsichtig die langen, muskulösen Glieder gereckt hatte, nickte er schließlich. Grünes Licht für Diskussionen.

 

„Was hast du gesehen? Hat es irgendeinen Sinn gemacht?“ Sie hoffte innständig, dass Jesper Svenssens Leid und ihre Wiederbelebungsaktion nicht um sonst gewesen waren.

Evrill überlegte lange. Die Sekunden verstrichen im Zeitlupentempo, gefüllt von einer erwartungsvollen Stille. Der Wald um sie herum ließ die typischen Geräusche der Natur verlauten, hin und wieder knackste es irgendwo hinter ihnen leise zwischen den Bäumen. Aber sie und die anderen beiden blieben ruhig, gut ausgebildet, wie sie waren, wussten sie, dass es keine menschlichen Schritte waren, die die Laute verursachten. Hin und wieder raschelte die Rettungsfolie vernehmlich, wenn Evrill sich reflektorisch bewegte.

„Also, es waren unheimlich viele Bilder von einem sterilen Raum dabei. Die haben ihn dort gequält, seine Erinnerung an die Schmerzen, die er dort erlitten hat, waren so lebendig, ich konnte sie fühlen!“ Er schüttelte sich angesichts dieses Erlebnisses. „Da waren viele Pfleger und Ärzte und immer wieder hat sich ein Typ über ihn gebeugt. Sein Gesicht kam oft vor. Ich glaube, er hat ihn öfter untersucht. Da waren Bilder von Trainingsräumen und Ergometern, sah nach einem Belastungs-EKG aus. Vielleicht hat man Leistungstests mit ihm gemacht….“ Das letzte war wohl eine mutmaßliche Schlussfolgerung die Evrill zog, aber der Gedanke schien auch den anderen Beiden plausibel. Aurelia war froh, dass Jespers letzte Gedanken sich im Moment seines Todes überhaupt mit etwas in dieser Richtung beschäftigt hatten. Sie vermutete, dass die meisten Menschen in den letzten Augenblicken wohl eher an andere Dinge dachten, wie vielleicht, ihre Hochzeit, oder die Gesichter ihrer Kinder. Ob Jesper aber auf diese Weise genau auf ihre Fragen geantwortet hatte, war noch unklar.

Evrill stöhnte und griff sich an den Kopf. Als hätte er rasende Migräne, drückte er Zeige- und Mittelfinger zwischen die Augenbrauen und rieb die Stelle eine Weile.

„Warum zum Teufel machen die Leistungstest mit einem Menschen? Und was hat das mit den Steinen zu tun?“ fragte sie sich laut, ganz in ihre Gedanken versunken.

„Da ist noch so viel mehr, aber das kam meist nur ein Mal vor und von den Steinen hab ich bisher auch noch nichts bewusst wahrgenommen.“ jetzt klang er leicht ärgerlich, aber dann fauchte er störrisch und warf den Kopf herum. „Ich brauche ein bisschen Zeit, um das alles noch mal durchzugehen! Und ich brauche Stift und Papier!“

Jetzt warf er die dünne Folie beiseite und stand mit entschlossener Miene auf. Jedoch hatten sich seine Beine dieser Entschlossenheit noch nicht ganz angeschlossen und so kämpfte er schwankend um Haltung. Verbissen drückte er die Knie durch und bevor ihm jemand helfen konnte stapfte er schon steif zum Wagen. Er ließ sich der Länge nach auf den Rücksitz fallen und kramte dann lahm in seiner Tasche im Fußraum.

Aurelia und Pareios folgten ihm und setzten sich auf Fahrer- und Beifahrersitz. Das stumme Einverständnis zwischen ihnen brauchte keine Worte mehr. Die Liebe füllte die Stille zur Gänze.

Evrill zog Bleistift und Papier hervor und setzte sich so hin, dass er bequem hantieren konnte. Mit schnellen, fahrigen Schwüngen flog seine Hand mit dem Stift über das Papier. Aurelia hatte angenommen, dass es sich Notizen machen würde. Stattdessen begann er jetzt mit ein paar gezielten Strichen Bilder zu zeichnen. Immer mehr Gegenstände und Gesichter nahmen Form an, füllten die weiße Fläche zügig. Beide wagten sie nicht, Evrill beim wundersamen Tanz seiner Hand zu unterbrechen, er schien ganz vertieft in Jesper Svenssens Erinnerungen.

 

„Ich muss die ganze Zeit darüber nachdenken, was sie diesem armen Hund angetan haben.“ sagte Pareios leise in die Stille hinein und strich ihr leicht über die Schulter.

„Hm?“ Ihre Gedanken konzentrierten sich sofort auf die Geschehnisse des letzten Tages.

 „Nach allem was Svenssen gesagt und gedacht hat und was in den Dateien aus dem Labor stand, ist die zweite Adresse bestimmt auch ein Labor oder eine Forschungseinrichtung.“

Evrill hatte kaum etwas über den Inhaber des Gebäudes gefunden. Es war eine Briefkastenfirma mit Sitz auf den Cameninseln, keine Kontaktdaten, dafür aber ein Nummernkonto.

 „Vielleicht sollten wir heute Nacht Mal vorbei fahren und uns umsehen.“ beendete Pareios seinen Vorschlag und sah sie erwartungsvoll an. Sie spielte kurz ihre Möglichkeiten durch, musste dann aber zugeben, dass es vielleicht keine schlechte Idee war. Aiden zu bitten, sich in das Hegedunensystem zu hacken und dort nach Informationen über die geheimnisvolle Adresse zu suchen, war sehr verlockend, aber diese ganzen Fakten somit quasi vor Markus‘ Haustüre abzuliefern, schreckte sie ab. In letzter Zeit hatten sie sich immer öfter ohne ihre gewohnten Hilfsmittel durchschlagen müssen und wenn sie sich nur kurz umsahen, war es vielleicht gar nicht nötig die anderen mit hineinzuziehen. Sie stimmte zu. Es war ja nicht so, dass sie viele andere Optionen hatten und je zeitnaher sie arbeiteten, desto größer war die Chance, eine noch heiße Spur aufzustöbern.

„Gut!“ stimmte sie schließlich zu. „Aber vorher müssen wir uns noch um Jesper kümmern!“

 

 

30

Pareios hatte, genau wie sie, genug Erfahrung mit Krieg und Tod, um zu wissen, wie sie mit Svenssens Leichnam verfahren mussten. Ganz abgesehen davon, dass sie jetzt nicht die Zeit hatten, ihn zu vergraben, würde er sowieso bald hier im Wald von wilden Tieren und Aasfressern wieder ausgebuddelt werden.

Nicht begeistert von ihrer Aufgabe, holte sie den Ersatzbenzinkanister und ging wieder zu Mitte der Lichtung, wo Pareios den Toten bereits wieder angekleidet hatte. Er hatte ihm die Hände auf der Brust gefaltet und seine Augen geschlossen, mit den glatten, ausdruckslosen Gesichtszügen sah er einfach nur aus, als würde er friedlich schlafen.

Während sie Pareios half, den Teppich über ihn zu falten und einige Spritzer Benzin über das für die letzte Reise geschnürte Bündel zu gießen, war auch Evrill wieder zu ihnen gestoßen, um sich gemeinsam mit ihnen gebührenvoll zu verabschieden, wenn Jesper Svenssen schon keine angemessen Beerdigung erhalten würde.

Sie stellten sich um den Leichnam herum auf und hielten wieder eine Schweigeminute, in der sie alle still beteten und sich bei ihm bedankten, dann zog Pareios eine Schachtel Streichhölzer heraus und ließ eines aufflammen. Er streckte die Hand aus und hielt das kleine brennende Hölzchen über die Teppichrolle und sagte dann leise und mit tiefer andachtsvoller Stimme: „Mach’s gut Jesper! Vielleicht sehen wir uns in einem besseren Leben wieder!“

Dann ließ er die gelbliche Flamme fallen und Aurelia sah zu, wie sie auf dem Stoff landete und sich der Brandbeschleuniger sofort entzündete.

Die Flammen schossen hoch und erfassten schnell den ganzen Teppich, das von der Herbstdämmerung feuchte Gras rund herum würde den Brand eindämmen. Lichterloh züngelte das Feuer, das Jesper Svenssens Körper verzehrte und ihn der Ewigkeit übergab. Es erhellte die Lichtung und die randständige, erste Baumreihe in einem unwirklichen, gelbroten Schein, ließ ihre Gestalten lange Schatten werfen, die im Rhythmus der Flammen zuckten.

Aurelia hoffte sehr, dass mit Jespers Tod sein Leiden ein Ende hatte und dass er jetzt an einem besseren, friedlicheren Ort war. Leider würde er das Wunder für das er gestorben war nicht mehr miterleben.

 

Eine Weile sahen sie zu, dann brachen sie in aller Stille auf, immer noch bewegt von der kleinen Andacht, die sie eben gehalten hatten. Auch ihn würde sie in die Reihe ihrer gefallen Kameraden aufnehmen, er würde einen Platz in ihrer Geschichte bekommen, der ihm würdig war!

Während sie so über ihn nachdachte fügten sich plötzlich ein paar Bausteine in dem wirren Gedankenchaos zusammen.

„Mein Gott! Was wenn die in dieser Versuchsreihe versucht haben, Menschen mit den Steinen ihre Energie abzuzapfen?“ stieß sie verblüfft hervor, als sie sich gerade auf dem Beifahrersitz niederlassen wollte. Sie sah zurück zu dem Brand in der Mitte der kreisrunden Lichtung. „Er sagte doch, es gab noch andere und dass er sich nach jeder Behandlung schwächer gefühlt hat…. außerdem hat Evrill ein Labor und Ärzte gesehen und…“

„Aber Syrus hat die Dinger doch auch in der Hand gehabt und ihm konnten sie nichts ab!“ erinnerte Pareios nachdenklich, seinen Blick ebenfalls immer noch gebannt auf das kleine Inferno gerichtet. Aurelia überlegte, rief sich noch Mals Jespers Aussage in den Kopf.

„Jesper hat erzählt, dass sie ihn mit Elektroschocks gefoltert und erst dann die Prozedur begonnen haben… vielleicht muss erst irgendein Widerstand beim Versuchsobjekt gebrochen werden, damit es funktioniert!“ murmelte sie ihre Gedanken leise vor sich hin. Ihre Worte verhallten unbeantwortet in der Nacht. Es war auch nicht nötig, den anderen beiden war klar, wie wahrscheinlich ihre Vermutung war. Sie war so deutlich, dass sie sich einem quasi aufzwang und sie sich ehrlicherweise eher fragen musste, warum sie sich das nicht schon längst bewusst gemacht hatten. Blieb nur eine Frage: Wozu brauchten sie menschliche Energie? Und wieder: Was zur Hölle wollte der Rat damit? So viele Vermutungen hatten sie im laufe ihre Ermittlungen schon getroffen, und immer wenn sie eine aufgestellt hatten, hatte sich alsbald etwas ereignet, das ihnen irgendwie einen Strich durch ihre Erklärungsversuche gemacht hatte.

„Du fährst, Ev malt dahinten weiter und ich gebe Viktor Bescheid, dass er Aiden sagen kann, dass sich das mit dem Namen erledigt hat!“ bestimmte Aurelia jetzt, da keiner etwas sagte oder sich regte. Sie riss ihre Augen von den Flammen los und richtete sie auf Pareios, der auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. Er nickte grimmig und startete den Motor. Er wendete den Wagen geschickt und dann holperten sie über den Waldweg zurück zur Landstraße, von der sie gekommen waren.

Pareios trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, weil ihn der unebene Grund zu einem langsamen Tempo zwang. Plötzlich versteifte sich sein Körper neben ihr und er gab Gas. Der Motor heulte auf und die Stoßdämpfer ächzten, während die Insassen abwechselnd heftig in die Sitze und die Gurte geschleudert wurden. Was war denn jetzt passiert?
„Äh, so wird das aber nichts mit dem Zeichnen, Kumpel!“ erinnerte Evrill von hinten, seine Worte unterbrochen von einigen Hüpfern seines Körpers.

„Ich weiß!“ gab Pareios knapp zurück, verringerte aber die Geschwindigkeit kein Bisschen. „Ist euch nicht aufgefallen, dass die schon wieder unsere heißeste Spur aus dem Weg geräumt haben und zwar 1. bevor sie uns zu viele Details verraten hat und 2. sodass wir uns auch nicht noch Mal bei ihr erkundigen können. Zu dem Muster passt, dass die gerade dabei sind dieses verdammte Rattennest von Labor auszuräumen…., wenn es nicht schon längst leer ist! Aber vielleicht haben wir ja Glück!“ Entschlossen packte er das Lenkrad mit beiden Händen und beschleunigte noch ein Mal. Sie fuhren zwischen den letzten Bäumen hindurch und jetzt war der Kiesweg wesentlich ebener, wodurch er problemlos Gas geben konnte.

Heilige Scheiße! Pareios hatte natürlich Recht! In hibbeliger Erwartung krallte sie sich am Sitz fest und vertraute auf Pareios‘ Fahrkünste. Er war der bei Weitem beste Fahrer, dem sie jemals begegnet war, egal um welches Vehikel es sich handelte und wenn einer sie jetzt schnell genug zurück bringen konnte, dann er! Aber die Chancen standen schlecht, das wussten sie alle.

Auf den asphaltierten Straßen begann Evrill wieder zu zeichnen, wobei ihm die jähen Schwünge, Ausweichmanöver und scharfen kurven die Pareios fuhr, die Arbeit nicht gerade erleichterten, aber er biss die Zähne zusammen und machte weiter. Hin und wieder knüllte er wütend ein Papier zusammen, wenn er mal wieder einen riesigen Fahrer mit dem Stift produziert hatte.

Aurelia klappte ihr Handy auf und wählte Viktors Nummer. Sie ließ es lange läuten, aber nach zwei Minuten gab sie es auf und betätigten den roten Knopf, um die Verbindung zu trennen. Sie konnte nur hoffen, dass Viktor gerade in einer Besprechung war, oder schon schlief. Zweiteres hätte sie bei ihm aber überrascht, es war schließlich erst halb elf am Abend. Er würde sich schon noch melden, wenn er gesehen hatte, dass sie angerufen hatten. Sie hatten schließlich noch eine dreistündige Fahrt zurück in die Stadt vor sich, Zeit genug, mit ihm zu sprechen.

 

Pareios schaffte es in anderthalb Stunden sie wieder innerhalb der Stadtgrenzen zu befördern und Viktor hatte sich bisher immer noch nicht gemeldet. Während Evrill das ca. 20. Blatt vorkritzelte und Pareios sich konzentriert durch den nächtlichen Verkehr der Großstadt schlängelte, betrieb Aurelia Multitasking. Sie hatte die Karte auf den Oberschenkeln ausgebreitet und wies Pareios den Weg, zwischendurch wählte sie immer wieder Viktors Nummer, ohne erfolgreich zu sein. Irgendwann beschloss sie, es auch bei Aiden und Row zu versuchen, aber auch sie nahmen nicht ab.

So langsam begann sie sich Sorgen zu machen. Ihr Magen zog sich zu einem festen Klumpen zusammen und sie überlegte fieberhaft, was zur Hölle mitten in der Nacht im Bunker vorgefallen sein konnte, dass sie nicht an ihre Telefone gingen. Wie sie es auch drehte und wendete, sie fand keinen plausiblen Grund, den sie als beruhigend klassifizieren konnte. Pareios bemerkte natürlich ihre vergeblichen Versuche und auch sein Blick wurde zusehends besorgter, wobei er sowieso schon eine Maske aus wilder Entschlossenheit und grimmiger Konzentration aufgesetzt hatte.

Als sie in die Straße einbogen, in der sich die zweite Adresse befand, die sie von ihrem Informanten in Paris erhalten hatten, gab Aurelia es auf. Der Anruf und die Sorgen um ihre Teammitglieder musste erst ein Mal warten.

Pareios stellte den Wagen ein gutes Stück entfernt in einer Querstraße ab. Da Evrill immer noch wie im Wahn zeichnete, beschloss Aurelia, ihn hier zu lassen. Diese Tätigkeit war mindestens genauso wertvoll, wie jetzt in diesem Gebäude herum zu spionieren. Trotzdem, nach den jüngsten Ereignissen, hasste sie es, ihn hier allein zu lassen und damit wieder ihre Gruppe auf zu splitten. Sie hatten ja gesehen, was das letzte Mal dabei heraus gekommen war.

Bevor sie ausstieg wandte sie sich über den Sitz zu Evrill um.

„Du bleibst hier. Aber du machst dich möglichst unsichtbar! Kein Beobachtungsposten, keine Heldentaten, klar? Zieh einfach den Kopf ein und behalt ihn unten!“ Sie hoffte inständig, das würde reichen, ihn von irgendwelchen aberwitzigen Vorhaben abzuhalten. Er neigte nur kurz den Kopf ohne aufzusehen. Sie nahm das als Zeichen der Zustimmung und machte sich dann mit Pareios auf, um sich in den mysteriösen Räumlichkeiten umzusehen.

 

Leise schlichen sie die Straße hinunter und betrachteten dabei die Häuserreihen. Sie befanden sich in einem Industriegebiet. Mehrere große Fertigungshallen erstreckten sich links und rechts von ihnen, doch das Haus, auf das sie zuhielten schien eines der wenigen Verwaltungsgebäude zu sein. Zumindest sah es nicht aus, wie ein Lager. Aber es hatte weder im Erdgeschoss noch im ersten Stock irgendwelche Fenster. Erst weiter oben waren kleine, schlitzhafte Öffnungen in die dick wirkende Mauer eingelassen.

Das Gelände drum herum war eingezäunt und sie konnte auf den einzelnen Eisenstreben Kameras entdecken, aber diese bewegten sich nicht, sie schienen abgeschaltet. An der Straße brannten Laternen aber das Gebäude selbst und der Außenbereich waren nicht beleuchtet. Ansonsten war das Gelände wie ausgestorben, hätten sie sich nicht mitten in der Stadt befunden, hätte sie eine Heuballen erwartet, der durchs Bild rollte.

Langsam umrundeten sie das Areal, huschten von Hausschatten zu Hausschatten, um sich vor etwaigen Beobachtern zu verbergen und waren auf der Suche nach einem Weg in das Gebäude hinein. Schon der Zaun war ein Problem, er stand völlig frei und war von überall einsehbar. Nach einer schnellen Runde mussten sie feststellen, dass es keinen Weg hinein zu geben schien, doch als sie wieder die Vorderseite erreichten, sahen sie, dass das große Eingangstor mittlerweile offen und verwaist hin und her schwang. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie den Eingangsbereich.

War etwa jemand hineingegangen, während sie sich auf der anderen Seite des Gebäudes aufgehalten hatten?

Es hatte doch alles so verlassen gewirkt.

Kurz entschlossen zog sie Pareios mit sich und sie schlüpften schnell durch das Tor, bevor sie jemand entdecken konnte. Vielleicht hatten sie Glück und hatten tatsächlich noch jemanden erwischt.

Als ihre Intuition ihr signalisierte, dass es ungefährlich war, überquerten sie auch das kurze Stück bis zur vorderen Tür des Gebäudekomplexes, die… ebenfalls offenstand!!!

Als sie vor dem Spalt zwischen Tür und Rahmen standen, begriffen sie sofort die Situation und zückten in einer Bewegung die Waffen. Beide in höchster Alarmbereitschaft. Kurz dachte sie an ihren Player, aber sie wollte jetzt schnell sein und mit Pareios an ihrer Seite fühlte sie sich voll auf der Höhe, mit einer Kondition, die ihr schon selbst Angst machte. Also verzichtete sie auf die beiden Stöpsel.

Mit bis zum Hals klopfenden Herzen, aber kühlem, konzentriertem Kopf setzte Aurelia ihren Weg fort. Sie ließ ihren sechsten Sinn schweifen, prüfte die nächsten Sekunden nach Gefahren, wobei ihre Augen in der Dunkelheit des immer noch ruhig wirkendenden Hauses umherwanderten. Sie erfasste einen großen Eingangsbereich, aber er hatte eine klinische, sterile Atmosphäre und machte mit dem ausgedehnt bestuhlten Wartebereich und einem Empfangstresen mit einer Unmenge an Aktenschränken den Eindruck, als handle es sich um ein Wartezimmer beim Arzt. Wobei das Fehlen von Fenstern bewirkte, dass es trotzdem den Charme einer Gefängniszelle besaß.

Alles war still und nirgends regte sich etwas, also wagten sie sich weiter vor. Pareios schlich um den großen Tresen herum und zog eine Schublade eines Aktenschranks auf. Sie hörte ihn zischend einatmen und bewegte sich so gleich auf ihn zu. Mit einem Blick über seine Schulter verstand sie seine Reaktion. Die Schublade war leer und als er auch die nächste und dann zwei weitere aufzog, kristallisierte sich schnell heraus, dass auch diese absolut inhaltslos waren und sie wahrscheinlich bei keinem der Aktenschränke etwas finden würden.

Aurelia drehte sich um und suchte den Schreibtisch vor dem Tresen ab. Es befand sich ein kleiner Bildschirm darauf, daneben ein winziger PC. Er stand aufrecht und als sie einen Schritt darauf zu machte, konnte sie sehen, dass man die Festplatte an der einen Seite herausgerissen hatte.

Sie seufzte frustriert und wandte sich wieder zu Pareios um. Dieser war schon ein paar Meter weiter gelaufen und hielt auf einen langen krankenhausähnlichen Gang zu. Aurelia beeilte sich ihm zu folgen und tastete alles mit ihrem Gefühl ab. Keine Abneigung stellte sich ein, was sie stark verwunderte. Wenn jemand hier war, müsste sie es doch merken!

Gemeinsam gingen sie von Tür zu Tür und stießen sie auf. Die Räume dahinter waren allesamt leer, aber es breitete sich mit jeder Tür ein größerer Schrecken über ihnen aus. Das Martyrium sprach aus jedem Zimmer. Der Dekor bestand in manchen aus Hand- und Fußschellen in festen Verankerungen in die Wände eingelassen, in anderen aus einer breiten Auswahl von Ketten.

Solche Fesseln fanden sich auch in anderen Räumen, die wohl eher zu Untersuchungen gedient hatten. Dort zierten die 10 cm dicken Stahlringe die Untersuchungstische auf Handgelenk- und Knöchelhöhe.

Der eisige Hauch des Todes wehte hier durch die sterilen, mit Linoleum ausgekleideten Flure und ließ sie beide frösteln. Sie befanden sich mitten in einem riesigen Laboratorium für menschliche Versuchskaninchen!

Die Schränke und Kommoden in den Untersuchungsräumen waren allesamt in aller Eile geleert worden, bei einigen standen die Türen immer noch offen. Jedoch war nirgends ein Fitzelchen Papier oder auch nur eine Spritze zu finden. Sie hatten sich beeilt hier alles wegzuschaffen, aber sie waren trotzdem gründlich gewesen!

Im ersten Stock fanden sie das selbe Bild wie unten, allerdings gab es hier auch etwas größere Aufenthaltsräume, und Büros und eine Tür ganz hinten links führte in eine schwarztapezierte Kammer. Sie trat ein und entdeckte zu ihrer Linken eine Scheibe, durch die man einen anderen Raum beobachten konnte. Auch eine Sprechanlage war installiert. Was war das hier? Shutter Island?

Die Gänsehaut prickelte ihr über Beine und Arme, als sie sich umdrehte und mit Pareios weiter das Gebäude durchstreifte. Ganz oben fanden sie schließlich die Trainingsräume vor, die Evrill beschrieben hatte. Es gab unzählige Fitnessgeräte, die mit großen Computerterminals verbunden waren. Atemmasken hingen über jedem Gerät von der Decke und waren mit Spirometern am Boden verbunden. Lauter Apparate für Leistungstests, genau wie Evrill vermutet hatte. Als sie sich den Computern näherten mussten sie auch hier feststellen, dass alle Festplatten unsanft entfernt worden waren.

Eine solche Akribie sprach Aurelias Meinung nach Bände! Sie waren hier auf der richtigen Spur, aber wieder war man ihnen zuvor gekommen und hatte alle verräterischen Indizien beseitigt. Trotzdem hatte man sie das Gebäude betreten lassen. Also wollte der, wer auch immer es war, der hier dieses Spielchen mit ihnen spielte, dass sie den Rest zu sehen bekamen. Dass sie ihre Schlüsse zogen.

Heilige Scheiße, was sollte das alles?

Ihre Gedanken rasten, suchten verzweifelt nach einem Sinn in diesem unübersichtlichen Haufen an Anhaltspunkten. Sie zwang sich, nicht in Panik zu verfallen und sich aberwitzigen Angstvorstellungen hinzugeben. Ein kühler Kopf war jetzt das Einzige was ihr irgendwie weiterhelfen konnte, also riss sie sich zusammen, konzentrierte sich nur auf Pareios stetigen Atem neben sich, schreckte auf, wenn er hin und wieder vor Abscheu ein angewidertes Zischen ausstieß.

Doch als sie im Keller angelangten, wurde ihr Vorhaben abermals schwer torpediert, als sie hinter einer riesigen, schweren Eisentür mit Drehrad mehrere mannslange Hochöfen entdeckten.

Sie standen auf der Schwelle eines kleinen Krematoriums.

Nicht nur Aurelia erschauerte, als ihr das bewusst wurde. Sie fühlte wie Pareios neben ihr erkaltete, seine beständige Hitze war schon die ganze Zeit zurück gegangen, aber nun erlosch sie vollständig. Jetzt war auch klar, warum sie den Tod in den Gängen und Räumen gespürt hatte. Erstaunlich, dass Jesper Svenssen all die Jahre durchgehalten hatte, wo anscheinend viele seiner Mitversuchsteilnehmer den Torturen zum Opfer gefallen waren. So viele, dass man gleich mehrere Einäscherungsvorrichtungen benötigte, um die Leichen zu beseitigen!

Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sehr sie hier gelitten haben mussten. So etwas wünschte sie nicht ein Mal ihrem schlimmsten Feind!

Aurelia konnte sich nur zu gut vorstellen, dass die Hegedunen bei ihren Energieraubexperimenten viele Versuchspersonen getötet hatten.

Das kalte Entsetzen heftete sich an sie beide wie Teer und begleitete sie den ganzen Weg zurück durch das Gebäude. Sie hatten jeden grauenvollen Raum gecheckt und keine Menschenseele entdeckt, dafür aber jede Menge Abscheulichkeiten, die sich wahrscheinlich nicht mal in ihren schlimmsten Träumen hätte ausmalen können.

Wer war nur zu so was im Stande?

Als sie schon fast wieder im Eingangsbereich angekommen waren, war Aurelia vor allem mit der Frage beschäftigt, warum sie niemandem begegnet waren, wenn doch alle Zugangswege offen gestanden hatten. Im Endeffekt konnte es nur bedeuten, dass sie die letzten Aufräumarbeiten nur knapp verpasst haben mussten, als sie das Gebäude umrundet hatten. Aber der Großteil musste schon erledigt gewesen sein, so viel Zeit hatten sie nicht auf der anderen Seite verbracht, als dass sie eine ganze Wagenkolonne verpasst hätten. Da stand ja auch kein Fahrzeug vor dem Haus, als sie vorhin darauf zu geschlichen waren.

Doch als sie auf den sandigen Vorplatz traten, musste sie feststellen, dass sie sich geirrt hatte.

 

Links neben ihnen war eine Rampe aus der Erde gefahren und nahm jetzt die Hälfte des Raums bis zum Zaun ein. Reifenspuren führten davon weg durchs weit geöffnete Eingangstor. Jetzt schlug‘s aber Dreizehn! Sie hatten sie verpasst, unmittelbar, während sie sich im Haus aufgehalten hatten!

Scheiße! Scheiße! Scheiße!

 

Schnell suchten sie die vor ihnen liegende Straße ab, konnten jedoch nichts mehr ausmachen. Keine Motorengeräusche, keine roten Heckscheinwerfer, nicht Mal der Wind regte, konnte man meinen. Wenn das Auto losgefahren war, kurz nachdem sie ins Gebäude hinein gegangen waren, war es ohnehin schon über alle Berge.

Neben ihr kickte Pareios frustriert ein paar Kieselsteinchen über den Asphalt und ließ ein leises, bedrohliches knurren verlauten.

„Na toll!!! Und was machen wir jetzt? Da drin gibt’s nicht mal mehr ein Staubkorn, das uns sagen könnte, was wir jetzt machen sollen!“

„Auf die Zeichnungen hoffen!“ gab Aurelia zurück und klammerte sich an den Gedanken.

Sie wandten sich zum gehen und erreichten bald die Seitenstraße, wo sie ihr Auto samt Teamkollegen zurück gelassen hatten.

Ein erster Blick täuschte vor, dass alles ruhig war, zumindest waren keine Bewegungen in der Straße wahrzunehmen. Aber als sie weiter vor liefen und eigentlich bald ihr Auto in Sichtweite kommen musste, wurde ihr immer mulmiger, weil eben dies einfach nicht eintrat. Der Stellplatz, an dem sie vorhin ziemlich sicher geparkt hatten, war einfach leer!

Eine eisige Faust schloss sich um ihr Herz, drückte zu und erfüllte sie mit Kälte. „Himmel, bitte nein!“ stöhnte sie leise und blieb wie versteinert stehen. Schnell schwenkte ihr Blick die Straße auf und ab, doch Evrill hatte auch nicht den Standort gewechselt, er war einfach weg, samt ihrem Auto!

Pareios war schon an ihrer Seite und legte ihr einen Arm um. Sie bemerkte am Rande, dass er sofort tröstlich auf sie einwirkte, obwohl er genauso wenig Hoffnung haben musste, wie sie.

„Mach Mal halblang!“ murmelte er und zog sein Telefon aus der Tasche. „Vielleicht ist alles nur halb so schlimm!“ seine Stimme war sanft und ruhig, aber sie bemerkte, wie seine Hände zitterten, als er das Telefon bediente und es sich dann ans Ohr hielt. In der Dunkelheit stand sie ganz reglos und versuchte jedes Geräusch zu vermeiden, damit sie hören konnte, was da am anderen Ende der Leitung passierte. Sie vernahm das Tuten des Freizeichens, dann läutete es  einige Sekunden. Schließlich nahm jemand ab.

 

Erleichtert atmete sie aus, als sie eindeutig Evrills Stimme identifizierte, die aus dem Lautsprecher des Handys drang.

„Wo bist du?“ fragte Pareios und seine Stimme klang beherrscht. Evrill antwortete etwas und Pareios erschrak und verengte die Augen zu misstrauischen Schlitzen!

„Das lässt du schön bleiben, Ev! Du drehst sofort um und kommst wieder her!“ jetzt  sagte er es mehr als bestimmend, es war ein Befehl. Aurelia horchte alarmiert auf.

„Was zum…? Gib‘ mir das Handy Pareios!“ befahl sie ungeduldig und griff nach seinem Handgelenk. Sie musste sofort wissen, was hier los war! Doch Pareios drehte sich flink weg und lauschte weiter Evrills Erklärungen. Aber nicht mit ihr! Pareios war schnell, aber er besaß nicht Viktors Schnelligkeit, somit hatte er ihrer Intuition nichts entgegenzusetzen. Sie duckte sich von hinten unter seinem Ellenbogen durch und stibitzte ihm das kleine silberne Gerät von unten aus der Hand.  Mit zwei Ausweichschritten trat sie sogleich den Rückzug an, um Pareios‘ nach ihr schnappenden Armen zu entgehen und beförderte das Handy im Schwung zwischen Schulter und Ohr, während sie mit den Armen Pareios Vorstöße abwehrte.

„Evrill!“ zischte sie in die Muschel. „Verflucht noch Mal, bist du denn vollkommen übergeschnappt? Wo bist du?“

„Entschuldige Mal!“ empörte er sich zuerst, aber als sie nur wütend schnaubte besann er sich eines Besseren und berichtete ihr, was sich zugetragen hatte. Pareios hatte es mittlerweile aufgegeben, ihr das Handy wieder abnehmen zu wollen.

„Ich verfolge ein Auto!“ gab Evrill schließlich betont ungerührt zurück.

„Du…, was?“ Aurelias Neuronen kombinierten schnell. Sie hatten gerade ein Auto verpasst, das das Labor verlassen hatte. Himmel, nein!

„Was habt ihr eigentlich da drin gefunden?“ fragte Evrill seinerseits, ohne auf ihren letzten Satz einzugehen.

„Lenk jetzt nicht ab!“ schnitt sie ihm das Wort ab. „Bitte sag mir, dass du nicht das Auto verfolgst, das das Gelände von unserer Adresse verlassen hat!“

„Hm?“ stutzte Evrill. „Keine Ahnung, davon habe ich nichts mitgekriegt. Aber du wirst es nicht glauben, ich habe euch doch von dem Gesicht erzählt, das immer und immer wieder in Svenssens Gedanken vorkam? Der Typ saß hinten in einem Geländewagen und ist hier vorbeichauffiert worden. Ich habe nur durch Zufall aufgesehen, weil es mich gewundert hat, dass hier um die Uhrzeit noch ein Auto unterwegs war.“

Aurelia fuhr zusammen, Evrill war dem Kerl aus Jespers Erinnerungen auf den Fersen? Und das ganz allein? So langsam bekam sie wirklich schlechte Laune!

Zumal der gleiche Grund, der Evrill aufsehen hatte lassen, ihr den Magen noch mehr zusammen ziehen ließ. Es waren sonst keine Autos unterwegs, also standen die Chancen hoch, dass der Typ aus dem Labor gekommen war. Die Reifenspuren waren breit genug gewesen, um zu einem Geländewagen zu passen.

„Wieso hast du nicht sofort Bescheid gegeben?“ fauchte sie immer noch mehr als besorgt in den Hörer. Die Informationen hatten sie nicht gerade beruhigt, im Gegenteil!

„Ich musste mich sofort entscheiden!...“ rechtfertigte er sich, doch dann fügte er recht kleinlaut an: „Außerdem, hättest du sowieso versucht, es mir auszureden!“

„Hätte ich!“ bestätigte sie wütend. „Herrgott noch Mal, Ev! Hast du nichts aus unserem Debakel gelernt? Als wir uns beim letzten Mal in eine solche Situation gebracht haben, ist alles schief gegangen! Du erinnerst dich vielleicht an den Bericht im Fernsehen?“

Evrill bemerkte ihren sarkastischen Ton, unterschätzte jedoch nicht, wie verärgert sie tatsächlich war. Vor allem aus Sorge!

„Ich weiß! Aber auch da ist am Ende alles gut gegangen und das hier ist eine heiße Spur, das weißt du genauso gut wie ich!“ argumentierte er vorsichtig, aber doch mutiger als gut für ihn war.

„Evrill, ich schwöre bei Gott, wenn du nicht sofort umkehrst und deine vier Buchstaben wieder hier her schwingst, passiert was!“ Sie versuchte bedrohlich zu klingen, was jedoch kläglich scheiterte, da der letzte Teil des Satzes als angstvolles Krächzen aus ihrer Kehle entwich. Pareios, der sie schon die ganze Zeit mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtet hatte, machte jetzt wieder einen Schritt auf sie zu und streckte die Arme nach ihr aus. Sie hob abwehrend die Hand und schüttelte den Kopf.

„Mein Gott Aurelia, jetzt mach dir mal nicht ins Hemd!“ antwortete Evrill und klang jetzt eher amüsiert, was sie noch rasender machte. „Ich verspreche dir, ich werde das Auto nicht verlassen! Ich werd‘ sie lediglich verfolgen, dann hole ich euch wieder ab.“

Obwohl sie diesen Vorschlag eigentlich nicht im Mindesten akzeptabel fand, stimmte sie dann doch zu. Von hier aus hatte sie keine Handhabe über Evrill und wie sie sehen konnte, hatte alles Drohen auch nichts bewirkt. Was blieb ihr also anderes übrig, als sich wenigstens dieses kleine Entgegenkommen seinerseits zu sichern. Zähneknirschend ging sie auf den Deal ein.

„Aber du meldest dich, sobald irgendwas Ungewöhnliches passiert und sobald sie angekommen sind, machst du dich auf den Rückweg!“

„Ai, Ai. Du bist der Boss!“ Er kicherte unverschämt.

„Ja, das sehe ich!“ erwiderte sie zynisch und verdrehte die Augen. „Ach, und sieh zu, dass du heil wieder hier ankommst,… damit ich dich umbringen kann!“

Mit finsterer Miene beendete sie das Gespräch.

31

„Immerhin waren wir auf der richtigen Fährte!“ gab Pareios zu bedenken, als sie gemeinsam eine metallene Leiter hinaufkletterten, die an der rückwärtigen Wand eines Lagerhauses angebracht war. Sie wussten nicht wohin, bis Evrill wieder auftauchen würde und hatten beschlossen, auf dem Dach eines der Industriegebäude zu warten, von wo aus sie eine gute Übersicht über die Gegend haben würden, falls sich doch noch irgendwas regen sollte.

 „Das tröstet mich jetzt aber wirklich!“ entgegnete Aurelia ironisch und schwang ihr Bein über den Dachrand, um sich hochzuziehen. Schon wieder lief alles nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte und sie konnte nicht abstreiten, dass sie diesmal selbst dran schuld war. Schließlich war sie es gewesen, die entschieden hatte, dass Evrill im Auto bleiben und zeichnen solle. Aber sie hatte ‚zeichnen‘ gesagt, nicht ‚Verfolgungsjagd sielen‘!

Sie betraten das langgezogene Flachdach und ließen sich an einem Schacht am Rande des Daches nieder, wo sie sich mit dem Rücken anlehnen und gleichzeitig die Straße unten im Auge behalten konnten.

„Bisher hat Evrill sich als kluger Kopf entpuppt. Ich bemühe mich gerade, einfach zu hoffen, dass es auch dieses Mal so sein wird! Also reiß dich zusammen und denk‘ positiv!“ versuchte Pareios zu flachsen, jedoch war der Versuch eher kläglich und da sie nicht darauf einstieg, blieb es dann auch dabei. Eine Weile sagte keiner was, bis ihr Handy leise in ihrer Tasche summte. Sie hatte eine SMS von Evrill erhalten, der ihnen mitteilte, dass er dem Geländewagen gerade auf die Schnellstraße gefolgt war und er nicht glaubte, dass sie so bald ihr Ziel erreichen würden. Na wunderbar, das konnte also noch dauern.

„Toll!“ stöhnte Pareios, der sich herüber gebeugt hatte, um die Nachricht ebenso zu lesen. „Sieht so aus, als müssten wir die Nacht hier verbringen.“

Aurelia pflichtete ihm bei, wobei sie sich maßlos ärgerte, dass Evrill sie auf diese Weise zur Untätigkeit zwang. Nur ihr Telefon war ihr geblieben, also beschloss sie kurzerhand, noch ein Mal bei Viktor, Row und Aiden anzurufen. Bei allen dreien ließ sie es minutenlang klingeln, aber es hob niemand ab. Jetzt war sie wirklich beunruhigt und konnte dem Drang nicht widerstehen, immer wieder aufgeregt auf dem Dach auf und ab zu laufen.

Pareios schien ebenso besorgt, aber er hielt sich zurück, versuchte wie immer, Ruhe zu bewahren und nicht gleich das Schlimmste anzunehmen. Es war jetzt mitten in der Nacht, es war immer noch möglich, dass alle drei einfach nur schliefen. Nach einer Weile seufzte ihr dunkelhaariger Begleiter vernehmlich.

„Könntest du bitte aufhören, Furchen in die Steine zu laufen? Du machst mich noch ganz irre!“

„Entschuldigung!“ antwortete sie knapp und ließ sich wieder neben ihn fallen. „Diese Warterei macht mich nur ganz verrückt. Ich kann mich irgendwie nicht still halten!“ Sie sehnte sich nach Bewegung, aber solange sie hier auf Evrill warten mussten, wagte sie nicht, weit fort zu laufen.

Pareios rutschte ein wenig näher heran und strich ihr über den Rücken. „Soll ich dich ablenken?“ fragte er jetzt frech und ließ einen zweideutigen Unterton verlauten. Aurelias Kopf schoss nach oben, sie sah ihm überrascht in die grauen Augen, in denen wieder rötlich flammende Kohlenstücke glühten und von niedlichen Lachfältchen flankiert waren.

„Wie kannst du jetzt an so was denken?“ fragte sie entnervt, musste aber irgendwie angesichts der Verlockung lächeln. Bei Gott, gegen Pareios Charme kam sie einfach nicht an!

„Das ist deine Schuld!“ gab er gespielt beleidigt zurück. „Schon Mal gesehen, wie du aussiehst? Das lenkt ab, weißt du!“ Schmunzelnd strich er ihr die Haare über die Schulter nach hinten und ließ seinen Mund zu ihrem Hals wandern. Obwohl sie es nicht wollte, erschauerte sie prompt und in ihrem Geist herrschte mit einem Mal eine gähnende Leere, bereit durch seine Berührungen wieder gefüllt zu werden. Als er leicht an ihrem Ohrläppchen knabberte, gab sie es auf, sich an den verwirrenden Geschehnissen des vergangen Tages festzuhalten und als er dann auch noch ihren Kopf zu sich drehte und ihre Lippen sanft mit einem langen, zärtlichen Kuss verschloss, dachte sie, was für ein glücklicher Zufall es doch war, dass sie hier gelandet waren und jetzt eine erzwungen Auszeit mit irgendeiner interessanten Tätigkeit füllen mussten.

Und ihr schwebte da auch schon was vor!

 

Ihr ganzer Körper sprach sofort auf seine taktilen Lockversuche an und sie überlegte krampfhaft, ob sie jetzt genug Zeit hatten und ob es überhaupt angemessen war, in einer solchen Situation an so etwas zu denken! Aber auch das verpuffte schon im nächsten Moment, weil sie seine Zunge spürte, die zwischen ihre Lippen glitt und sein verführerisches Aroma auf ihren Geschmacksknospen wahre Feuerwerke auslöste.

Sie bemerkte am Rande, dass sie auf seine Berührungen noch stärker reagierte als zuvor, bevor sie einander ihrer Liebe gestanden hatten und Pareios sich einen Großteil ihrer Vergangenheit angehört hatte. Und hier saßen sie, immer noch zusammen unter einem klaren Sternenhimmel und fühlten sich verbundener denn je. Und diese Tatsache schien bei ihr zu bewirken, dass alle Vorbehalte, alle Zweifel, aber auch jedes Bewusstsein dafür, was jetzt vielleicht schicklich gewesen wäre, in diesem sagenhaften Begehren verschwanden, das Pareios in ihr veranstaltete.

Doch er küsste sie nur, seine Hände lagen sanft an ihrem Hals und auf ihrer Schulter, machten keine Anstalten sich zu rühren und tiefer zu wandern. Ihre Haut brannte und kribbelte sehnsüchtig und sie wünschte sich nichts mehr, als dass er doch bitte endlich seine Zurückhaltung aufgeben möge. Es war doch alles zwischen ihnen geklärt, es gab keinen Grund, warum sie sich jetzt nicht endlich die Kleider vom Leib reißen sollten und…

 

Pareios unterbrach den Kuss und zog sich verschmitzt lächelnd zurück. „Siehst du, ich hab‘ dir doch gesagt, ich kann dich ablenken!“ Er schien nicht vor zu haben, weiter zu gehen.

Aurelia schürzte verdrießlich die Lippen. Der Kerl machte sie wirklich noch verrückt, und das in vielerlei Hinsicht!

„Wieso hältst du dich zurück?“ wollte sie unumwunden wissen und schmunzelte innerlich, weil er sofort eine betretene Miene aufsetzte. Aber er stritt es ab.

„Mach ich doch gar nicht!“ Es klang unschuldig und heiter, wie ein Spielchen. Aurelia legte ungläubig den Kopf schief und zog eine Augenbraue hoch, woraufhin er nur breit grinste.

„Also, falls ich mich zurückhalte, dann nur aus Respekt vor dir!“ beeilte er sich aber dann doch zu sagen und hob entschuldigend die Schultern.

„Brauchst du nicht!“ Ihre Antwort kam schnell, was ihn zum Lachen brachte. Unglaublich, dass das noch der Pareios war, den sie noch vor ein paar Tagen gekannt hatte. Damals hatte er die Weiber doch gar nicht schnell genug unter sich bekommen können. So langsam fühlte sie sich merkwürdig empfindlich, als hätte er sie abgewiesen, wo er doch sonst alle an sich heran gelassen hatte.

Bitter floss ihr die Erkenntnis in den Verstand, wie er sich am Strand gefühlt haben musste und war sich bewusst, dass sie hier aber nur die milde Version davon zu spüren bekam, was sie ihm damals zugefügt hatte. Erschrocken fragte sie sich ob er das mit Absicht machte, aber sogleich entschied sie, dass das nicht zu seinem Charakter passte, sie zu necken dagegen schon. Er wollte sie aus der Reserve locken! Angesichts dieser Herausforderung, die er schon damals in ihrem Bett auf Ezekiels Anwesen ausgesprochen hatte, wurde ihr ganz mulmig zumute. Sie war nie prüde oder schüchtern im Bett gewesen, aber mit Pareios war irgendwie einfach alles anders und merkwürdig neu. Es war ihr unglaublich wichtig, was er über sie dachte und im Umkehrschluss bot ein solch forsches Vorgehen, das er offensichtlich von ihr forderte, viele Möglichkeiten, sich in falschem Licht zu präsentieren, von dem Mienenfeld an Fettnäpfchen mal ganz abgesehen. Es war ihr wichtig, dass es ihm gefiel und das machte die Sache noch komplizierter. So fühlte es sich also an, wenn man jemanden mit Leib und Seele liebte! Während sie noch rätselte, wie sie vorgehen, wo sie beginnen sollte, musterte Pareios sie mit belustigtem Gesichtsausdruck.

„Aurelia, du bist doch nicht nervös, oder etwa doch?“ fragte er sie verwundert lächelnd, was ihr sofort eine erhitzte Röte in die Wangen steigen ließ. Ihr Leben lang war sie immer eher Eine von der schlagfertigen Sorte gewesen, aber in diesem Moment fehlten ihr schlichtweg die Worte und sie war mit Stummheit geschlagen. Na toll, sie liebte ihn, er liebte sie, es war doch so einfach!

Kurzentschlossen gab sie sich einen Ruck, dann stürzte sie sich auf ihn. Sie küsste ihn wild, während sie ihn mit den Händen und ihrem Körper auf das Dach schubste und sich auf ihn legte. Die Befangenheit löste sich in der Sekunde auf, in der sich ihre Lippen trafen und er in seiner wundersamen Manier einfach alles auslöschte, was sie sonst noch beschäftigte. Sie hätte es wissen sollen! Einfach anfangen, der Rest lief dann von selbst!

 Das Gefühl seiner weichen Zunge auf ihrer vernebelte ihr die Sinne, forderte ihre ganze Aufmerksamkeit und ihre Hände öffneten Reißverschlüsse, schoben Stoff beiseite, wanderten, tasteten und streichelten alles was sie erreichen konnten. Sie glaubte nicht, dass sie je wieder genug von diesem Gefühl bekommen würde und konnte es nicht mehr erwarten seine samtene Haut nicht nur unter ihren Händen sondern überall an ihrem Körper zu spüren.

Sie richtete sich auf, warf dabei die Haare in den Nacken und fixierte Pareios mit hungrigem Blick. Seine Augen leuchteten erwartungsvoll und die goldenen Sprenkel glühten in der Dunkelheit wie die Sterne über ihren Köpfen. Sie zog langsam den Reißverschluss ihrer Jacke auf und ließ sie sich von den Schultern gleiten, dann war ihr Shirt an der Reihe. Nachdem sie es sich über den Kopf gezogen hatte und die kalte Nachtluft ihr über die empfindliche Haut strich, wollte sie sich ihrem BH widmen, aber Pareios hielt sie zurück. Mühelos richtete er sich unter ihr auf. Er umschloss sie mit seinen langen Armen und sie erschauerte als er mit den Lippen an ihrem Schlüsselbein murmelte: „Das ist meine Aufgabe!“ 

Er bedeckte ihre Schultern mit Küssen, ließ sie dann in seinen Armen weiter nach hinten sinken, damit er tiefer wandern konnte. Seine Lippen zogen eine heiße, lustvolle Spur hinunter zu ihren Brüsten und sie bemerkte wie er in ihrem Rücken geschickt den Verschluss öffnete, sodass er den kleinen Stofffetzen entfernen konnte. Als sie so entblößt vor ihm saß, lehnte er sich einen Moment zurück und ließ sich Zeit sie zu betrachten. Seine Hand strich ihr Brustbein hinunter und zeichnete dann die weiche Unterseite ihres Busens nach.

„So wunderschön!“ knurrte er, während sie keinen Laut mehr von sich geben konnte, alles, wozu sie noch fähig war, war regelmäßig zu atmen. Das Prickeln, das seine Berührung verursachte, ließ sie erzittern und sie stieß seufzend die Luft aus. Ihre Haut schmerzte schon fast vor dem Verlangen, mehr von ihm zu fühlen. Benommen hob sie die Hände, bestrebt, seine Jacke und sein Shirt loszuwerden. Er hob die Arme, ließ sie gewähren, nur um sie dann wieder auf sich in die Horizontale zu ziehen. Haut auf Haut erfasste sie seine Hitze, vermischte sich mit dem glühenden Verlangen in ihrem Inneren und von da an war es um jegliche Selbstbeherrschung geschehen. Ihre Küsse wurden immer intensiver und sie schälten sich gegenseitig langsam und bedächtig aus den restlichen Kleidungsstücken, bis sie nackt nebeneinander in der Dunkelheit unterm Sternenzelt lagen. 

Lange streichelten sie sich und Pareios machte sie verrückt, indem er mit seinen Fingern ihre Brustwarzen nachzeichnete, ein Pfand über Bauch und Hüften zog, zu den Innenseiten ihrer Oberschenkel wanderte. Als er sanft die Hand zwischen ihre Beine schob und die Handfläche rhythmisch gegen sie wiegte, entfuhr ihr ein lustvolles Stöhnen und damit verabschiedete sich auch der letzte Rest ihres willentlich beeinflussbaren Bewusstseins. Sie rutschte auf eine Ebene, die völlig von ihren Wünschen und Begierden beherrscht wurde, die nur so nach Erfüllung schrien und sie hatte nicht vor, dies noch länger hinauszuzögern, obwohl sie diesen Moment bis auf den letzten Tropfen auskosten wollte. Seine Finger glitten in sie und steigerten das drängende Verlangen ins Unermessliche und sie konnte nur noch keuchen, als sie schon fast von seinen überwältigenden Künsten davon getragen wurde. Nur noch mit Mühe konnte sie formulieren, was sie jetzt wollte.

„Mehr! Bitte!… Liebe mich, Pareios!“ flüsterte sie, ihre Stimme war nur noch ein heißeres Krächzen und sie bebte verdächtig.

Er lächelte an ihrem Mund und stieß ein zustimmendes Stöhnen aus. Er breite beide Jacken neben sich aus, bereitete ein kleines Nest aus ihren Kleidern und bettete sie dann darauf, um sie vor dem rissigen kalten Boden unter ihnen zu schützen. Sie selbst hatte bisher sowieso nichts davon gespürt, sie war anderweitig beschäftigt gewesen. Endlich legte er sich auf sie und fuhr fort sie überall zu liebkosen, bis jeder Millimeter ihrer Haut ihm gehörte. Sanft drängte er sich zwischen ihre Beine und brachte sich vor ihren Hüften in Stellung und sie bäumte sich auf, reckte sich ihm in fieberhafter Ungeduld entgegen.

Als er sich schließlich alles von ihr nahm und mit einem Keuchen aus leicht geöffneten Lippen langsam in sie eindrang, konnte sie nicht umhin, zuzugeben, dass die ganzen Gerüchte, die um ihn kreisten wohl berechtigt gewesen waren. Er war ein anmutiger, leidenschaftlicher Liebhaber und sie zerfloss förmlich unter seinen Berührungen. Seine Bewegungen waren kraftvoll und intensiv und sie konnte nichts weiter tun, als sich an ihm festzukrallen und Welle für Welle dieser berauschenden Emotionen über sich hinweg spülen zu lassen. Da wo sie ihn fühlen wollte, berührte er sie auch, er ließ sie nicht lange warten, als würde er erahnen, was sie brauchte.

Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie vermutet, dass sie träumte, denn so gut konnte sich die Realität gar nicht anfühlen. Aber es war real, jetzt.

Es gab eine Verbundenheit zwischen ihnen, die über die körperliche Ebene hinaus ging.  Hier fanden sich nicht nur ihr Körper, sondern auch ihre Herzen, ihre Seelen. Sie fühlte sich völlig verschmolzen mit ihm, fühlte jede Regung seinerseits, als wäre es ihre eigene und durchlebte überwältigt jede Empfindung, die durch seine Haut in sie strömte, während sie sich im selben Rhythmus bewegten. So langsam wunderte sie sich, dass sie nicht in der Dunkelheit anfing, vor lauter Glück zu leuchten. In ihrem Innern wuchs die Liebe zu ihm zu einer kleinen Sonne heran und durchsetzte jede Pore, löste wahre Funkensprünge aus. Pareios ließ sie sich fühlen, als wäre sie etwas sehr Exquisites, als wäre sie es wert, geliebt zu werden. Und sie glaubte ihm, so vorsichtig und andächtig, wie er sie berührte und sich in ihr bewegte. Erst als sie beide schon kurz davor waren zu explodieren, gab er ihren drängenden Hüften nach und steigerte das Tempo, bis er sie beide erlöst hatte.

 

Er schien entschlossen, dieses Erlebnis für sie beide unvergesslich zu machen und das war ihm auch gelungen, dachte sie, als sie später mit schwer klopfendem Herzen unter ihm lag, ihre Leiber immer noch verschlungen, und in den Himmel sah. Sie war auf eine befriedigende Weise erschöpft und fühlte sich so erfüllt und zufrieden und irgendwie leicht zugleich, besser schien ihr gar nicht mehr möglich. Geborgen und gewärmt von seinem starken Körper, verzaubert vom atemberaubenden Anblick des Sternenteppichs über ihnen und entrückt von der ganzen Zuneigung für ihn, die stetig in ihr glomm, wie eine wache, lebendige Glut. Wieder ergab sie sich diesem merkwürdigen Zu-Hause-Gefühl, erleichtert darüber, dass es nicht nur von dem majestätischen Anwesen, sondern vor allem von Pareios hergerührt hatte. Ob sie es wohl jedes Mal heraufbeschwören konnte, wenn sie sich so mit ihm beschäftigte? Die Versuchung reizte sie ungemein.

„Das war…“ murmelte er jetzt mit belegter Stimme an ihrem Ohr, er suchte offensichtlich nach Worten, um zu beschreiben, was sie selbst nicht hätte in Worte fassen können. Sie versuchte es trotzdem: „Unbeschreiblich?“ In ihrer lockeren, gelösten Stimmung, war sie sich sicher, dass dieser Begriff es ziemlich genau traf.

„Nicht übermütig werden!“ kicherte er als Antwort und sein Körper zuckte durch die Kontraktionen seiner Bauchmuskulatur, als er leise lachte. „Heb‘ dir das für später auf, ich habe noch viel mit dir vor!“ Sein Atem strich über ihre nackte Haut und seine Worte brachten sie schon wieder auf Gedanken, die alles andere als keusch waren.

Für einen kurzen Augenblick gab sie sich der reizvollen Vorstellung hin, dass es immer so weiter gehen würde und was vielleicht aus ihrer Liebe erwachsen könnte. Sie hatte nicht verhindern können, dass dieser törichte Wunsch mit all den Gefühlen Einzug in ihre Seele gehalten hatte. Und jetzt, da Pareios an ihrer Seite war, somit diese Hürde bezwungen war, begann dieses innige Ziehen ein Teil von ihr zu werden, als feste aber doch unerfüllbare Erwartung an ihre Zukunft. Sie wusste, dass sie höchstwahrscheinlich nicht beides haben konnte, Pareios in und seine Kinder unter ihrem Herzen, und dennoch, sie hoffte!

Pareios breitete ihre Kleider über ihnen aus, damit sie vor der kühlen Nachtluft geschützt waren und kuschelte sich dann wieder zu ihr, wärmte sie mit seiner Gabe und sie vermutete, dass das wahrscheinlich auch ausgereicht hätte, er war wie ihr kleiner persönlicher Ofen. Die Erkenntnis der absoluten Perfektion des Augenblicks überflutete ihre Sinne und machten ihr zugleich bewusst, wie viel es gab, für das es sich lohnte, zu kämpfen.

 

32

Nach einer Weile brach Pareios die Ruhe schließlich mit einer Frage, die ihn sehr beschäftigt haben musste, denn er sprach vorsichtig und bedacht, als wäre sie ein rohes Ei.

„Wie hast du eigentlich erfahren, dass Orcus deine Eltern hat ermorden lassen?“

Kurz erschrak sie über den unsanften Themawechsel, der so gar nicht zu Pareios passte und auch das Thema selbst gehörte immer noch nicht zu ihren bevorzugten. Aber sie konnte sein Interesse an ihr nachvollziehen. Sie hatte das Selbe verspürt, als er am Strand über Nuria gesprochen hatte, und auch wenn es weh getan hatte, hatte sie es doch einfach nur wissen wollen. Sie entschloss sich, Pareios das gleiche zuzugestehen. Mühevoll kramte sie in ihrem Geist nach den Erinnerungen, versuchte aber gleichzeitig, sich Pareios Nähe vor Augen zu führen. So war es leichter, nicht ganz so ergreifend und verstörend.

Dann berichtete sich ihm mit einer Ruhe, die sie selbst überraschte, wie sie hinter Orcus‘ schreckliche Machenschaften gekommen war.

 

Sie hatte bei Orcus auf seinem Anwesen gelebt. Damals hatte er sich niedergelassen und begann mit verschiedenen Tätigkeiten Macht und Reichtum aufzubauen. Er begann zu handeln und war viel auf Reisen, auf denen sie ihn begleitete, genauso wie eine treue Schar von Männern. Sie war nachts und tagsüber seine Leibwächterin, mit ihren 20 Jahren hatte ihre Intuition ihn schon vor vielen Bedrohungen geschützt, genauso wie das Monster in ihr, das seine Unversehrtheit immer noch als oberste Priorität ansetzte. Aber Orcus‘ geschäftliche Unternehmungen, oder wenn er sich mit bedeutenden Verbündeten traf, hatten sie nichts anzugehen. Sie hatte immer draußen vor der Tür zu warten und die Umgebung zu beobachten, es war ihr nur gestattet, ihn zu stören, wenn ein Notfall vorlag. Sie wusste, dass er viel hinter ihrem Rücken tat, aber zu dem Zeitpunkt konnte sie es noch erfolgreich verdrängen und wenn sie ganz ehrlich gewesen wäre, hätte sie zugeben müssen, dass sie irgendwie spürte, dass es besser war, wenn sie es nicht genau wusste. Was wenn die Informationen ihr ihre wertvollen Illusionen zerstört hätten?

Sie zwang sich, ihm zu glauben, wenn er sagte, dass die Elevender endlich aufhören sollten, sich zu verstecken und ihren rechtmäßigen Platz als gerechte Herrscher über die Menschen einnehmen sollten. Damals hatte sie nicht begriffen, wie weitreichend dieses Vorhaben war, sie sah nur den einen Aspekt, dass dann vielleicht die ganze Ablehnung, die sie aus ihrem zu Hause vertrieben hatte, aufhören würde und andere vielleicht mehr Glück haben würden. Zumindest war das eine bequeme Entschuldigung. Im Grunde war ihr sowieso alles egal, sie hatte sich selbst zerstört und alles was ihr als Sinn und Zweck geblieben war, war ihn zu beschützen.

Auch war ihr nicht klar, mit welchen Mitteln Orcus seine Ziele verfolgte. Er hielt sie ja immer schön aus allem Wichtigen heraus, hielt sie eher wie seinen persönlichen Wachhund, als seine Partnerin, musste sie aus heutiger Perspektive gestehen. Aber auch das war ihr egal gewesen.

Das riesige ‚Scheiß drauf‘, das sie sich quasi auf die Stirn tätowiert hatte, war ihr einziger Schutz vor dem Erwachen. Die Wahrheit, so ahnte sie, sah anders aus, aber sie würde sich dran verbrennen, dessen war sie sich ganz sicher.

 

So auch an diesem verschneiten, winterlichen Tag im Dezember 1809. Sie waren den ganzen Tag auf den Beinen gewesen, hatten ein Treffen nach dem anderen hinter sich gebracht, mit Bankiers und Politikern, alles Metiers, die schon zu dieser Zeit völlig von den Hegedunen infiltriert waren. Damals fand sie es nicht ungewöhnlich, dass viele dieser einflussreichen Positionen entweder selbst mit Elevendern besetzt waren, oder von ihnen kontrolliert wurden, noch hatte sie ja auch noch nicht verstanden, wo die Reise hingehen sollte.

Ein letztes dieser Treffen lag jetzt, da es schon Abend geworden war, noch vor ihnen und sie steuerte gemeinsam mit Orcus und einer Handvoll seiner Männer eine Gastschenke an, in der er sich häufiger für Geschäftliches verabredete. Wie immer ließ er sich ein ruhiges Separee im oberen Stockwerk geben, wo sich sonst keine Gäste hinverirrten. Er zog sich mit seinen Geschäftspartnern zurück und Aurelia trat unruhig vor den Türen des verschlossenen Raums von einem Fuß auf den anderen und beobachtete mit zwei weiteren Männern die Umgebung. Weil ihr alles ruhig erschien und ihr Gefühl neutral blieb, hatte sie sich zum Rest von Orcus Männern unten in den Schankraum gesetzt und dort einen Becher heiße Schokolade getrunken. Die anderen um sie herum taten sich alle an Wein und Bier gütlich und die Stimmung war gelockert. Einige prosteten sich immer wieder zu, nur einer saß am Rande, eher in sich versunken und still.

Die Augen des Mannes waren rot geädert und tiefe Schatten lagen darunter, Nase und Wangen leuchteten ebenso tiefrot, verrieten, dass er eindeutig zu tief ins Glas geschaut hatte. Aber gleichzeitig sah er auch irgendwie traurig aus.

Einem Impuls folgend setzte sie sich zu ihm. Er war ihr einer der liebsten unter Orcus Männern, er war eher ruhig und nachdenklich, grimmig. Sie wusste von Karol, dass er seine Frau, sein Gegenstück, durch einen Menschenmopp verloren hatte, die sie als Hexe verbrannt hatten, als ihre Kräfte entdeckt worden waren. Es war schon vor einigen Jahrhunderten passiert, aber immer noch trug er die Verbitterung und die Trauer mit sich herum. Er hatte ihr schon öfter gezeigt, dass eigentlich ein sanftes Gemüt darunter schlummerte, aber auch er hatte sich so in seiner Vergangenheit verstrickt, dass er am Ende genauso wie sie bei Orcus gelandet war. Er war der einzige, der sich hin und wieder mit ihr unterhielt und manchmal, wenn er sie leicht fürsorglich ansah, konnte sie den hingebungsvollen Ehemann und Vater durchblitzen sehen, der er gewesen war oder hätte werden können.

An diesem Abend schien Karol ein besonders schwerer Anfall von Selbstmitleid und Melancholie gepackt zu haben, denn er saß da wie ein Häufchen Elend und ließ sich auch nicht davon aufmuntern, dass sie ihm sagte, dass seine Frau jetzt in einer besseren Welt lebte und davon war sie felsenfest überzeugt.

Seine trüben Augen hatten sich auf sie gerichtet und sie konnte noch den scharfen, gegorenen Atem riechen. Er tätschelte ihr die Hand. „Ach Aurelia, bist ‘n gutes Mädchen! Willst mich alten Narren trös…hick…trösten. Ausgerechnet du…“

Er lallte und bei seinen letzten verschwommenen Worten trat ein Anflug einer entschuldigenden Miene in sein Gesicht.

Ihr war vage bewusst, dass er sich schon in einem Dämmerzustand befand, in dem er nicht mehr Herr seines Mundwerks war. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass diese Andeutung nicht einem vernebelten Hirn entsprungen war.

„Hm, wie meinst du das? Ausgerechnet ich?“ Die Frage war schon über ihre Lippen geschlüpft, bevor sie sich eines Bessern besinnen und ihn sanfter bearbeiten konnte. Karol riss die Augen auf und wirkte hell auf erschrocken,… wirkte ertappt.

„Mein Gott, Aurelia, ich hätte nicht…!“ Es war ihm anzusehen, dass er sich verplappert hatte.

„Sag schon Karol!“ forderte sie weiter und schob seinen halbleeren Bierkrug näher zu ihm heran, in der Hoffnung, er würde noch mehr trinken und ihr verraten, was er da angedeutet hatte.

Doch sie hatte keine Zeit ihn weiter auszuquetschen. Plötzlich brach im oberen Stockwerk die Hölle aus. Lautes Geschrei ertönte und alles ging drunter und drüber. Die Menschen im Endgeschoss schrien durcheinander und traten die Flucht an. Gegen den Storm drängte sie sich mit Orcus Männern zur Treppe und dann hinauf, wo einige ganz in schwarz gekleidete Männer gegen Orcus selbst und seine zwei Leibwächter kämpften. Das war ihre erste Begegnung mit der Legion gewesen.

Orcus‘ Geschäftspartner lagen bereits tot am Boden und als Aurelia durch die Tür trat, blickte sie direkt in die grau wabernden Augen eines schwarzhaarigen, großen und breitschultrigen Elevenders, der mit unglaublicher Schnelligkeit auf Orcus zu sprang. Ihre Intuition leitete ihre Schritte und sie schaffte es gerade noch ihn abzufangen, prallte mit ihm zusammen und sie gingen gemeinsam und wild mit den Händen ringend zu Boden. Sie stürzten sich in einen tödlichen Zweikampf, den Viktor, der damals schon mehr Kampferfahrung hatte als sie, bald zu seinen Gunsten drehte und sie unter sich festnagelte.

Sein Messer sauste auf sie herab und sie bekam es gerade noch zu fassen, umschloss mit beiden Händen fest die Klinge. Ihr Körper war so vollgepumpt mit Adrenalin, sie war so auf ihren Kampf ums überleben konzentriert, dass sie gar nicht wahrnahm, wie sich die hauchdünne Schneide in ihre Haut fraß. Ihr eigenes Blut tropfte ihr ins Gesicht, während sie keuchend betete, dass ihre Kräfte sie jetzt nicht verlassen mögen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Orcus sich gerade aufrappelte. Er sah, dass sie in Gefahr war, aber anstatt ihr zu helfen, zog er sich in die Gruppe seiner Männer zurück, suchte Schutz vor den unbekannten Angreifern.

Der gutaussehende und vor kalter, kontrollierter Wut strotzende Elevender über ihr schnaufte ebenso wie sie, aber als er ihren kurzen Seitenblick bemerkte, stieß er ein verächtliches Keuchen aus.

„Für den tust du das?“ Seine Augen funkelten bedrohlich und erst jetzt schien er sie wirklich zu sehen. Wie er sie kurz eindringlich musterte, nicht als Gegnerin, sondern als Frau, spürte sie, dass er zögerte.

„Weißt du überhaupt, was er tut?“ Die tiefe melodische Stimme fragte sie ohne die Spur von Zorn, es war eine sachliche Erkundigung, obwohl in seinen Augen echtes Interesse aufblitzte. Angesichts dessen, dass sein Gewicht immer noch auf der Klinge lastete, die sich immer tiefer in ihre Handflächen bohrte, dachte sie nicht daran, diesem Typen auch nur einen Laut als Antwort zu gönnen. Entschlossen presste sie  die Lippen zusammen und starrte ihn mit unverhohlenem, wildem Zorn an.

Plötzlich ließ der Druck nach, während sich um sie herum die dunkelgekleideten Eindringlinge zum Rückzug formierten. Er schien es ebenso zu registrieren und sprang in atemberaubender Geschwindigkeit auf. Mit einem letzten abschätzenden Blick sah er auf sie herab.

„Du stehst auf der falschen Seite! Es gibt auch andere Orte für dich!“

Dann war er verschwunden, genauso wie der Rest seiner Gruppe.

 

Sie lag dort und starrte auf ihre blutenden Hände, langsam erhob sich der höllisch brennende Schmerz, während der körperliche Ausnahmezustand abflaute. Die Haut begann schon wieder, sich zu verschließen.

Orcus und seine Männer setzten zur Verfolgung an und ohne einen weiteren Blick an sie zu verschwenden, ließ er sie hier zurück. Mehrere weitere leblose Körper lagen im Zimmer auf dem Boden, alle anderen waren ausgeflogen. Aurelia rollte sich herum und robbte auf den Ellenbogen auf ein Opfer des Angriffs zu. Ihre Hände pochten im Takt ihres Pulsschlags, aber der Gedanke war sofort vergessen, als sie nah genug war, um unter den zerschunden Fleischklumpen unter braunem, kinnlangem Haar, Karols Gesichtszüge zu erkennen.

Sie kniete sich neben ihn und stellte fest, dass ein Messer sich links zwischen seine Rippen gebohrt hatte. Bis zum Heft steckte es in seinem Brustkorb und sein Atem ging stockend und röchelnd, von einem leisen, unsteten Pfeifen begleitet. Heute hätte sie gewusst, dass sein Rippenfell perforiert gewesen war und die Lunge durch die eindringende Luft zusammengepresst wurde, sodass er nicht mehr richtig atmen konnte. Vielleicht hätte sie ihn durch das Entfernen des Messers retten können.

Damals konnte sie ihm nur die Hand halten und ihm beim sterben zusehen. Seine blinden Augen fanden sie und sie wusste nicht, ob er sie erkennen konnte, aber dann flüsterte er etwas. Es war sogar für ihr exzellentes Gehör unverständlich und sie musste sich über seinen Kopf beugen, um es hören zu können. Erst als ihr Ohr beinahe seine blutige Wange berührte verstand sie endlich die gequälten Laute.

„Vergib mir!“ murmelte er immer wieder, seine Stimme gurgelte. Ein blutiges Rinnsal trat aus seinem Mundwinkel und lief seine Wange hinunter.

„Was?“ fragte sie, wusste nicht, wie sie ihm die letzten Minuten erleichtern konnte.

„Deine… Eltern…“ Er stöhnte das Wort. „Vergib…!“

Karols keuchender Atem erstarb und Stille breitete sich im Raum aus. Von unten konnte sie laute und aufgescheuchte Stimmen vernehmen, aber ihre Gedanken waren gefangen von den letzten Worten die er von sich gegeben hatte. Der eisige Hauch einer schrecklichen Befürchtung erfüllte ihre Brust.

Karol hatte sie wegen ihrer Eltern um Vergebung gebeten!

Sie war sich ganz sicher, dass sie es nicht falsch verstanden hatte. Aber warum sollte er das tun?

 Sofort fiel sie in das schwarze Loch ihrer Erinnerung an jene Nacht, in der Elli durch ihre Hand ein schreckliches Ende gefunden hatte. Wie sie Orcus bezichtigt hatte, ihre Eltern ermordet haben zu lassen und er immer wieder behauptet hatte, er war unschuldig. Karol war schon lange einer von Orcus Begleitern gewesen, schon kurz nachdem sie Böhmen verlassen hatte, war er zu ihnen gestoßen…. Was wenn…?

Obwohl sie nur die Worte eines verwirrten Dahinschwindenden und eine fürchterliche Ahnung hatte, war der Zweifel, der sich von da an in ihr Leben gestohlen hatte, nicht mehr auszuradieren gewesen.

Zusammen mit der merkwürdigen Bemerkung des Fremden mit den grauen Augen, Viktor; war diese Nacht ein Weckruf für sie gewesen. Von da an sah sie Orcus Taten mit anderen Augen und entdeckte immer mehr Eigenheiten, die ihr Übel aufstießen. Mit der Zeit machte es sie krank für ihn töten zu müssen und sie fragte sich immer häufiger, was genau er eigentlich betrieb, wenn er sich mit irgendwelchen Leuten traf. Und Anhand dessen, wie er sein Gefolge seine Gegner gnadenlos aus dem Weg räumen ließ, wurde ihr immer bewusster, dass er zu einigem mehr im Stande sein musste.

Sie bekam Angst vor ihm. Ihr Zweifel und diese instinktive Furcht heizten ihren Selbsthass an. Er wurde immer schlimmer, da sie sich fragen musste, was sie ihrer Schwester und so vielen anderen angetan hatte, wie sie ihnen Unrecht getan hatte.

Ihre Taten waren auch so schon schwer zu ertragen gewesen, aber das Bewusstsein, dass sie es auch noch für jemanden getan hatte, der wahrscheinlich der Mörder ihrer Eltern und vielen mehr war, brachte sie fast um.

Sie musste von ihm weg, sie musste es wieder gut machen. Die Worte des Fremden Angreifers spukten ihr immer wieder im Kopf herum und sie fragte sich, ob es tatsächlich einen Ort gab, an den sie gehen konnte. Ein Ort, der Orcus‘ Feinde beherbergte. Ihre Schuld war so überwältigend, sie suchte verzweifelt nach irgendeinem Ausweg. Aber sie wusste nicht wie und wohin. Sie wusste Orcus würde sie nicht gehen lassen, er war ein Mann der sich ohne Pardon alles nahm, was er wollte. Damals als junges Mädchen hatte sie diese Stärke bewundert, jetzt fürchtete sie sie.

Und das Schicksal schickte ihr wieder Viktor, um ihr den Ausweg zu zeigen.

 

 

„Mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung!“ murmelte Pareios, nachdem ihre Stimme nach dem lebendigen Bericht verklungen war. Er umfasste sie fest und küsste ihre Stirn. Sie fühlte sich in seiner Wärme nicht halb so mitgenommen, wie beim letzten Mal, als sie in die Vergangenheit eingetaucht war.

„Ich wusste ja gar nicht dass dein erstes Treffen mit Viktor so… turbulent verlaufen ist!“ Er lächelte unsicher, ob sie schon bereit für Scherze war. Aber diesmal blieben die Tränen und der schreckliche Sog, den ihrer Vergangenheit sonst auf sie ausübte, aus.

„Hm, ja da hätte ich auch nicht gedacht, dass er mal mein bester Freund werden würde…“ Sie stockte und biss sich auf die Zunge, während sie sich fragte, ob das ein kluger Kommentar gewesen war, hier ganz tief in Pareios‘ Armen. Er schien sich jedoch nicht daran zu stören, stattdessen wollte er lieber etwas anderes von ihr wissen. „Und was ist dann passiert? Wie hast du Viktor wieder getroffen?“

Sie überlegte kurz, um die Zeitspanne richtig einzuordnen.

„Ich glaube etwa einen Monat danach. Viktor ist mit seinem Team auf unser Anwesen gekommen. Sie führten damals Säuberungsaktionen durch und versuchten hegedunische Strommänner aus dem Verkehr zu ziehen, genau wie vorher in der Gaststätte.“

Sie erzählte, wie sie neben Orcus und einigen Männern aus dem Haus gestürmt war, gegen die zahlenmäßig überlegene Elevenderschaft der Legion hatten sie kein Licht gesehen. Aber als sie im Begriff waren zu entkommen, witterte Aurelia ihre Chance, sich ein für alle Mal aus Orcus‘ Einflussgebiet zu entziehen. Sie ließ sich immer mehr zurückfallen, dann täuschte sie ein Stolpern vor und ließ sich in den Schnee fallen.

Sie sah, wie Orcus‘ Blick sie traf, sie durchbohrte, lodernd und voller Verdruss, aber sie hatte ihn richtig eingeschätzt! Er kehrte nicht um, um sie zu retten.

So hatte er zu guter Letzt den Beweis erbracht, den sie noch brauchte, um wirklich zu begreifen, dass er sie nicht liebte, nie geliebt hatte. All das erfasste sie in diesem Moment und wenn sie jetzt von den Angreifern getötet worden wäre, wäre es ihr Recht gewesen. Sie hatte es nicht besser verdient, weil sie so besessen von ihm gewesen und alles verraten hatte, was ihre Eltern ihr einmal über Menschlichkeit und Rechtschaffenheit beigebracht hatten. Ihre Eltern…

Weiter war sie mit ihren Gedanken nicht gekommen, denn schon im nächsten Augenblick packten sie grobe Arme an den Schultern und rissen sie herum und sie konnte durch ihre Intuition gerade noch einem Schwerthieb entgehen. Da vernahm sie eine melodische, tiefe Stimme hinter den Schultern des Mannes, der über sie gebeugt dastand, die langen, schokoladenbraunen Haare hingen ihm wie ein Vorhang ins Gesicht.

„Warte Markus! Die nicht!“ Der große schwarzhaarige Mann mit den grau wabernden Augen trat neben sie und sie konnte durch die Nacht seine nachdenkliche Miene erkennen.

„Wir nehmen sie erst Mal mit!“ befahl er und besiegelte ihr Schicksal.

 

 

„Viktor hat mich damals gerettet, in mehr als nur einer Hinsicht. Er hat mir erklärt, was hinter dem Rücken der Menschen abläuft und dass die Hegedunen versuchten, die Menschen auszubeuten. Er half mir, zu verstehen, dass es bei der ganzen Sache um mehr ging, als darum, als Elevender offen leben zu können. Sie wollten menschliche Sklaven. Ich war so bestürzt, dass ich mich ihm angeschlossen habe….

Tja und da sind wir nun…“

„Ja, da sind wir nun!“ stimmte Pareios milde lächelnd zu. „Danke, dass du mir das alles erzählt hast! Ich glaube, ich verstehe jetzt, was das zwischen dir und Viktor ist!“ Seine Stimme war ernst, aber dann räkelte er sich neben ihr und gähnte. „Als ich dich  danach gefragt habe, habe ich gar nicht angenommen, eine Antwort zu bekommen…“

Sie knuffte ihn in die Seite, aber dann überlegte sie es sich anders und legte stattdessen den Arm über seine Brust und richtete sich halb auf.

„Ich vertraue dir!“ Diese schlichten Worte waren nichts als die Wahrheit und bewirkten dass er sich abermals stürmisch auf sie rollte und ihre Lippen mit einem weichen Kuss verschloss.

Neckend räkelte sie sich unter ihm, versuchte ihm zu signalisieren, dass sie hoffte, dass er sein Versprechen von vorhin, dass er noch einiges mit ihr vorhabe, gleich in die Tat umsetzte. Als Antwort bewegte er sich leicht an ihr und sie konnte spüren, dass auch er genau diese Absicht verfolgte.

Sie liebten sich noch ein Mal, dieses Mal wilder und unbeherrschter.

Das fortschreitende Wandern des Mondes über den Nachthimmel und die Zeit die damit verstrich, bemerkten sie beide nicht, völlig in einander vertieft und von ihren Gefühlen gebannt. Restlos gesättigt schliefen sie schließlich Arm in Arm ein, wärmten sich gegenseitig in der kühlen Morgenluft und kurz bevor ihr die Augen zu fielen, dachte sie, dass es jetzt wohl keinen Ort gab, an dem sie lieber hätte sein wollen und wenn ihr Leben so hatte verlaufen müssen, damit sie irgendwann hier in diesem Moment in Pareios‘ Armen auf dem Flachdach, dem hellblauen und goldenen Himmel mit Körper, Herz und Geist so nah, landen konnte, dann war sie zum ersten Mal bereit, all das als Teil von sich zu akzeptieren. Dieser Gedanke versöhnte sie mit sich selbst und es war irgendwie… in Ordnung!

33

Ein Summen unter ihrem Rücken weckte sie. Das Nachtblau des Himmels verblasste langsam, als sie verwirrt die Augen aufschlug und sich umsah. Sie lag neben den schlummernden Pareios, er hatte einen Arm um sie gelegt und sie beide mehr schlecht als recht mit ihrer Kleidung zugedeckt. Das Summen forderte ihre ganze Aufmerksamkeit und sie rappelte sich schnell auf und wühlte in der Jackentasche, auf der sie gelegen hatte, nach ihrem Handy.

Sie erwartete mehr als nur einen Anruf und fragte sich, wer sie aus ihrer Sorge um ihn erlösen würde.

Das Display verriet ihr, dass es halb sieben am Morgen war und dass Evrill sie gerade aus dem Schlaf gerissen hatte.

„Ja?“ Als sie sich mit leiser Stimme meldete, begann Pareios, sich zu regen. Er streckte sich noch im Halbschlaf, aber als er bemerkte, dass sie das Telefon am Ohr hatte, war er sofort hellwach und setzte sich auf.

„Morgen!“ grüßte Evrill fröhlich und ihr fiel ein Stein vom Herzen, da anscheinend alles in Ordnung war. „Ich hab die drei Typen, ein Fahrer und einer saß mit dem Kerl aus Jespers Gedanken auf dem Rücksitz, zu einem uralten Bauernhof hier mitten in der Pampa verfolgt. Wenn du mich fragst, ist das ein Versuch, den Typen vor uns zu verstecken. Der scheint ihnen so wichtig zu sein, dass sie ihn nicht als Kanonenfutter enden lassen wollen…

Auf jeden Fall, die sind jetzt schon ne Stunde da drin und die hatten einiges an Gepäck dabei, also denke ich, die bleiben erst mal noch ‘ne Weile hier.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass du gleich zurück kommen sollst!“ fauchte Aurelia und überlegte, ob Evrill einer war, der keine Befehle ausführen konnte.

„Ich weiß,…“ setzte er in beschwichtigendem Ton an. „Aber woher sollte ich wissen, dass das hier die Endstation ist? Hätte ja auch sein können, dass sie hier nur was abholen!“

Das leuchtete Aurelia irgendwie ein, aber immer noch behielt ihre Sorge die Oberhand.

„Ok, schon gut. Aber jetzt kommst du schleunigst zurück und um den Rest kümmern wir uns gemeinsam, klar?“

Evrill antwortete erst nicht. „Evrill? Hast du mich verstanden? Keine Alleingänge!“

Schließlich seufzte er verdrießlich. „Ja, ja, ist klar! Ich mach mich jetzt auf den Rückweg, auch auf die Gefahr hin, dass sie dann weg sind, wenn wir wieder kommen! Ich meine, ich bin denen jetzt fast fünf Stunden gefolgt, hin und zurück macht das ‘ne Menge Zeit, in der die verduften können!“

Besser, als dass Evrill dann verschwunden war, war ihr erster Gedanke, aber auch damit hatte er im Endeffekt Recht.

Sie fluchte innerlich, stand auf und versuchte einhändig in ihre Hosen zu schlüpfen. Mit ihrem Gleichgewicht ringend hüpfte sie auf einem Bein, versuchte mit dem anderen in das Hosenbein einzufädeln.

„Hmpf! Pass auf, du bleibst da und behältst sie im Auge. Pareios und ich besorgen uns ein Fahrzeug, dann machen wir uns auf den Weg zu dir. Aber Evrill, es bleibt dabei, du setzt keinen Fuß aus dem Auto, bis wir da sind!“ Bei ihren Worten war auch Pareios auf die Füße gekommen und zog sich in Windeseile an, dann nahm er ihr das Telefon ab, damit sie es ihm gleich tun konnte. Schnell schlüpfte sie in den Rest ihrer Sachen und lauschte Pareios wie er sich von Evrill erklären ließ, wo sie hin mussten. Pareios wollte schon auflegen, da verlangte sie noch ein Mal den Hörer von ihm. Er reichte ihn ihr widerstandslos, aber mit fragender Miene. Sie hatte das dringende Bedürfnis Evrill noch Mal einzuschärfen, dass er sich auf keinen Fall in Gefahr bringen solle. Sie waren hunderte von Kilometern von ihm entfernt, wenn die Hegedunen ihn jetzt schnappten, war er zweifelsohne verloren.

„Evrill, bitte versprich mir, dass du im Auto bleibst, egal, was du siehst, hörst oder riechst, du bleibst im Auto! Und wenn die Welt untergeht, du bleibst…“

„…im Auto!“ unterbrach er sie genervt aber auch belustigt. „Ich hab‘ s kapiert! Das Auto und ich, wir sind unzertrennlich!“ Jetzt war seine Stimme heiter und vergnügt. „Aurelia, ich sag‘ das nicht gern, aber du bist nicht besser, als meine Mutter!“

Tja, vielleicht hatte sein Vater ihr auch gesagt, dass er darauf vertraute, dass sie auf ihren Sohn Acht gab, was sich schwerer gestaltete, als einen Sack Flöhe zu hüten! Ezekiels Kinder schienen alle von diesem Schlag zu sein!

„Also, wir machen uns los. Bis später!“ gab sie zurück, ohne auf seinen Kommentar einzugehen und folgte dann Pareios runter vom Dach.

Es dauerte nicht lange, da hatten sie ein paar Straßen weiter einen unauffälligen, etwas heruntergekommenen Wagen entdeckt. Pareios knackte ihn flink und sie stiegen ein. Während er schon Gas gab, riss Aurelia das Ortungssystem heraus und warf es in der nächsten Kurve zum Fenster heraus.

„Ich kann’s gar nicht erwarten, den Kerl in die Finger zu kriegen, der an Jesper und den anderen diese Versuche durchgeführt hat!“ sagte Pareios in die gespannte Stille, als sie schon auf der Schnellstraße waren. Leider stellte sich bald heraus, dass sie ihre Vehikelwahl schlecht getroffen hatten, da die Tachonadel sich einfach nicht über die 180 hinausbewegen wollte, egal wie sehr Pareios auch aufs Gas latschte.

Aurelia blickte ihn überrascht an. Die Schlussfolgerung, die Pareios soeben getroffen hatte, war logisch, aber bisher hatten sie sich das noch nicht bewusst gemacht. Wenn dieses Gesicht in Jespers Erinnerungen immer dann auftauchte, wenn er im Labor gewesen und mit Elektroschocks gefoltert worden war und genau dieses Gesicht zu einem Kerl gehörte, der gestern aus dem Labor weggeschafft und an einen vermeintlich sicheren Ort gebracht worden war, dann war die Vermutung naheliegend, dass er eine wichtige Rolle in der Versuchsreihe spielte, vielleicht sogar ein leitender Wissenschaftler war! Aufregung übermannte sie in hitzigen Wellen und trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Pareios Recht hatte und das bestätigte wieder, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Diese Gewissheit war ein solch merkwürdiges Gefühl, in noch keiner Mission hatte sich ihre Intuition auf so viele Stunden im Voraus gemeldet. Auch schon als sie in Paris aufgebrochen waren hatte sie es verspürt, sich dabei aber nichts gedacht. Da war sie noch damit beschäftigt gewesen, dass sie plötzlich verfolgt wurden und die Kontrolle über die Sache verloren. Jetzt bemerkte sie bewusst, dass ihre Intuition sich auszuweiten begann. Sie meldete sich früher und was noch verwunderlicher war, sie schien nicht mehr nur die nächsten Sekunden für sie von Gefahren sauber zu halten, sondern plante langfristiger. Als wäre ein zweites Wesen in ihr erwacht, das immer einen Schritt voraus tat und sie mit Informationen und Gefühlen über ihre Zukunft versorgte. War das möglich? Sie verstand es selbst nicht, aber es schien tatsächlich so, als würde ihre Gabe sich weiterentwickeln, stärker werden, ohne dass sie hilflos in den Strudel aus Bildern versank. Ganz in Gegenteil, es geschah völlig unbemerkt und hatte sich klammheimlich in ihre Denk- und Handlungsprozess eingeflochten! Auch hatte sie nicht mehr so extreme Unruhezustände, nachdem sie ihre Gabe benutzt hatte.

Ein weiteres Summen in ihrer Jackentasche riss sie aus ihren Gedanken. Sie warf einen Blick auf das Display und konnte nicht anders, als erleichtert aufzuatmen.

 

„Viktor! Endlich rufst du an! Kannst du dir vorstellen, welche Sorgen ich mir gem…“ setzte sie an wurde doch sogleich von ihrem Gesprächspartner unterbrochen. Seine Stimme klang gehetzt und aufgescheucht und sofort befiel sie das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war.

„Ja ich weiß, tut mir Leid, aber du errätst nie, was letzte Nacht hier los war!“

Ihr erster Gedanke galt den Steinen und sie befürchtete sofort, dass sie gestohlen worden waren. Sie stellte das Handy schnell laut, damit auch Pareios mithören konnte.

„Die Steine… sind sie noch da?“

„Ja, schon, aber es gibt andere Neuigkeiten. Gestern Abend habe ich mich mit Aiden und Row zusammengesetzt. Sie und Syrus haben die Datenordner aus dem Labor rauf und runter studiert. Er hat ihr erklärt, dass es sich dabei um Verlaufsberichte handelt. Insgesamt sind es 53 Versuchspersonen gewesen, zu jedem gibt es einen Ordner, in dem penibel alles aufgezeichnet wurde. Wann die Behandlungen stattfanden und wie die Untersuchungsergebnisse ausgefallen sind und das über Jahre hinweg! Syrus sagt, das Besondere daran ist, dass alle Blut- und Leistungstests zu Beginn überdurchschnittlich gute Werte aufwiesen und sich im Laufe der Versuche dann schnell verschlechterten. Bei allen gab es aber einen gewissen Zeitpunkt, an dem die Werte plötzlich einen mächtigen Sprung nach unten machten. Deshalb nimmt er an, dass die Versuchspersonen Menschen gewesen sein mussten!“

Aurelia seufzte. „Ja, das haben wir uns auch schon gedacht! Wir haben Jesper Svenssen gefunden, du weißt schon, der Kerl, dessen Name in den Daten vorkam! Er hat uns mehr oder weniger erzählt, dass er als Versuchskaninchen an diesen Tests teilgenommen hat und er war ein Mensch!“

Viktor zog am anderen Ende der Leitung scharf die Luft ein. „Ihr habt ihn also gefunden! Das ist ja fantasti…. Moment, was soll das heißen, ‚er war‘?“ Natürlich entging Viktor nicht Mal das kleinste Wörtchen und wenn sie es noch so beiläufig fallen ließ.

„Er ist tot!“ gab sie in resigniertem Ton zu. „Aber er hat uns weitergeholfen, bevor er… sich verabschiedet hat.“ Sie beeilte sich, das anzufügen, weil sie schon Viktors Schnauben vernahm und sich geradezu bildlich vorstellen konnte, wie er gerade das Handy mit den Fingern umkrallte und vor Wut schäumte.

„Wo seid ihr jetzt?“ erkundigte er sich daraufhin und die Worte waren abgehackt, er bebte immer noch. Pareios‘ Blick traf sie augenblicklich und sie nickte sofort, einverstanden, diese Information besser für sich zu behalten. Stattdessen antwortete sie nur: „Wir folgen einer neuen Spur, hat sich zufällig ergeben, als wir in dem Labor waren, in denen die Versuche durchgeführt worden sind. Im Großen und Ganzen spricht da drin aber auch alles für Leistungstests… und … Himmel Viktor, diese Leute wurden da gehalten wie die Tiere!“

Viktor schwieg und sie hörte, wie Row im Hintergrund etwas sagte. Anscheinend hatte auch er sein Gerät auf Lautsprecher gestellt. „Row meinte, dass fast die Hälfte der Versuchsteilnehmer als tot vermerkt wurden außerdem sind Präzise Anleitungen für Elektroschocktherapien aufgeführt…“ erklärte er, mehr beklommen als wütend, bei dem Gedanken an all die Qual und das Grauen, das sich in dieser Anstalt abgespielt haben musste.

„Vielleicht überzeugen diese Neuigkeiten Syrus, sich mehr damit zu beschäftigen, denn im Moment macht er hauptsächlich Materialtests und Aiden…“

„Materialtests?“ unterbrach sie ihn diesmal verwirrt.

„Ja. In den Daten waren doch auch chemische Formeln enthalten. Leider ohne Gebrauchsanweisung. Er versucht diese Verbindungen zu synthetisieren und testet dann, welche Materialien am ehesten mit den Steinen kompatibel sind, wodurch sich eine kontrollierte Reaktion auslösen lässt und welches Material die entstandene Energie am ehesten aufnehmen könnte.“

„Was?“ fragten Pareios und sie wie aus einem Mund. Was sollte das Ganze? Offensichtlich waren die Steine irgendwie gefährlich, wenn schon nicht für Elevender, dann aber ganz sicher für Menschen! Also welches Interesse hatte der Rat daran, die Steine nutzbar zu machen? War es dieses Ziel, das Markus verfolgte?

„Das ist noch nicht alles, haltet euch fest!“ Viktor machte eine bedeutungsschwere Pause, dann meinte er aber: „Warte, das kann Aiden besser erklären!“

Er schien den Hörer weiter zu geben, ein Rauschen und vernehmliches Knacken drang aus dem Lautsprecher.

„Hey Aurelia!“ meldete sich Aiden am anderen Ende der Leitung. „Ich hab mich in unseren Systemen umgesehen wie du wolltest. Zu dem Namen gab es nichts, aber das hat sich ja jetzt sowieso erledigt. Dafür habe ich was anderes entdeckt. Ich habe mich in Markus Messengeraccount gehackt und da gibt es jede Menge Nachrichten ohne Text drin, dafür aber mit Anhängen versehen. Es sind hauptsächlich Baupläne. Ich dachte zuerst für irgendeine riesige Maschine, aber welche Maschine braucht schon eine winzige Halterung für etwas Rundes, etwa in Erbsengröße, und ein Mündungsrohr?“ Es war eine rhetorische Frage und weder Pareios noch Aurelia machten einen Mucks. Sie waren beide wie vom Donner gerührt, vollzogen die selbe Schlussfolgerung, die auch Aiden getroffen hatte.

„Es sind Baupläne für eine Waffe!“ vollendete er seine Ausführungen und jetzt war es auf beiden Seiten der Leitung nur noch still.

Pareios fand als erster seine Sprache wieder. „Und Syrus testet jetzt aus, aus welchem Material diese Waffe sein muss, damit sie die Energie umwandeln kann, oder wie?“

„Das vermuten wir, richtig!“ Aiden räusperte sich und seufzte lange.

„ Wir haben Markus darauf angesprochen, warum er Syrus nur Material testen lässt und er sagte und ich zitiere wörtlich:…“ Er imitierte Markus‘ schmeichlerische und vornehme Art zu sprechen. „Der Rat erhofft sich davon einen entscheidenden Vorteil im Kampf gegen die Hegedunen!“

„Sie wollen also mit den Steinen eine Waffe bauen, gegen die Hegedunen…“ fasste Aurelia zusammen und verstand plötzlich, warum die Ratsmitglieder verschwunden waren und auch sonst keiner, einschließlich ihres Teams, informiert worden war, wozu sie die Dinger hatten stehlen müssen. Keiner von ihnen, und auch sonst keine Elevender, die in den vielen Standorten der Legion lebten, hätte diese Vorgehensweise unterstützt. Wenn die Steine so mächtig waren, wie Syrus und Markus und offensichtlich auch der Rat vermuteten, dann wäre keiner das Risiko eingegangen, daraus auch noch ein Massenmordinstrument zu machen. Sie hatten in den letzten Jahrhunderten doch gelernt, dass Krieg und Tod den Hegedunen egal in welcher Form, nur in die Hände spielte. Wenn die Legion die Hegedunen offen angreifen würde, würde es nicht lange dauern und sie wären weltweit als die gefährlichste terroristische Organisation bekannt. So lange die Menschen noch schliefen, bildeten sie einen schlummernden Giganten, den man besser nicht dazu brachte, mit dem falschen Fuß aufzustehen. Alle Elevender der Legion hatten einen gesunden Respekt vor diesem Giganten. Sie brauchten die Menschen auf ihrer Seite und ein solch bestialisches Vorgehen würde sie den Hegedunen quasi in die Arme treiben. Sie konnte sich schon die Volkshetze in den propagandistischen Medien vorstellen, mit denen die Hegedunen die Bevölkerung dann beschallen würden, bis sie vollkommen gehirngewaschen waren und glaubten, dass die Legion als Staatsfeind Nummer Eins ausgerottet werden müsse.

„Das ist doch der helle Wahnsinn!“ entfuhr es ihr. Wie kam der Rat, der all die Jahrhunderte immer überlegt, vorsichtig und rational gehandelt hatte, dazu, einen solch wahnwitzigen Plan in die Tat umzusetzen?

„Genau!“ bestätigte Aiden. „Da Markus nichts weiter rausgerückt hat, haben wir die ganze Nacht hier vor den Computern im Konferenzraum gesessen und heimlich nach Informationen gesucht, warum der Rat so agiert, aber bisher tote Hose!“

Langsam fügten sich in Aurelias Kopf einige weitere Puzzleteile zusammen.

„Der Venusorden!“ flüsterte sie erschrocken, als sie sich an Evrills Worte erinnerte.

„Was? Wovon redest du da?“ hakte Aiden wissbegierig nach. Sie berichtete ihm von ihrem Gespräch mit Evrill. Jetzt ließ es sich nicht mehr vermeiden, sie mussten davon wissen.

„Was, wenn schon Kontakt zwischen dem Rat und dem Venusorden besteht? Was wenn sie sich auf einen Krieg vorbereiten?“ Sie konnte nur noch flüstern, so gewagt war ihre These.

„Aber warum heimlich?“ tönte es nach einer langen, mit stummem Entsetzen gefüllten Pause aus dem Lautsprecher.

„Hast du schon jemals gehört, dass Vorbereitungen für Überraschungsangriffe öffentlich gemacht wurden? Zu viele mögliche Lücken für Informationen!“ fragte sie rhetorisch und begann langsam, selbst zu glauben, was sie da eben gesagt hatte.

Aber warum ignorierte der Rat völlig, dass die Steine von den Hegedunen zu einem bestimmten Zweck geschaffen worden waren? Sie war sich dessen ganz sicher, nach all dem, was sie in den letzten Tagen gesehen hatte. Aurelia rieb sich nachdenklich über das Gesicht.

 

Wie es aussah, hatten sich ihre Befürchtungen gegenüber dem Rat und Markus nur Teils bewahrheitet. Er hatte ihnen etwas verschwiegen und es sah so aus, als wollte er das auch weiterhin tun, aber wie lange wollte der Rat dieses Treiben noch vor den anderen Elevendern der Legion verheimlich? Wie lange war das überhaupt möglich? Heute war sie fest davon überzeugt, dass keiner ihnen Unterstützung bei diesem Tun gewährleisten würde. Das wäre doch blanker Wahnsinn. Aber was wenn sie es doch schafften, die Elevender zu überzeugen, dass es Zeit für einen offenen Krieg war. Die Dimension dessen, was sich da gerade entwickelte bestürzte sie.

„Herr Gott noch mal! Das bedeutet, wir haben jetzt zwei Baustellen! Wenn nicht noch mehr….!“ Pareios zog die Augenbrauen hoch und sah sie fragend an.

„Wenn sie wirklich einen Krieg vorbereiten, in wie weit steckt der Venusorden mit drin? Und was wenn sie versuchen, die Leute auf ihre Seite zu ziehen, damit sie diesen Krieg beginnen können? Und Markus…, das kann noch nicht alles sein! Erinnert ihr euch, als wir Syrus Bericht bekommen haben? Er war mindestens genauso daran interessiert, zu erfahren, was die Hegedunen mit den Steinen bezwecken!“ Sie schwieg kurz. Die Gedanken flogen durch ihren Kopf, resümierten verschiedene Informationen. Sie fasste einen Entschluss.

„Ich schlage vor, wir kümmern uns hier um die Hegedunen und die Sache mit dem Venusorden und ihr macht weiter, haltet die Ohren offen und… Row, kannst du irgendwie vorfühlen, wie Syrus dazu steht? Unterstützt er Markus? Vielleicht können wir ihn auf unsere Seite ziehen…“

„Ich werd’s versuchen!“ Kam die knappe Antwort schnell.

„Gut! Und ich glaube, es lässt sich nicht vermeiden, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten!“

„Du meinst, wir sollen eine Opposition gegen den Rat zusammensuchen?“ Viktor verstand ihren Vorschlag richtig und zog zischend die Luft ein. „Verflucht noch mal Aurelia, du weißt, was das heißt, wir begeben uns auf verdammt dünnes Eis!“

Jetzt redeten alle wild durch einander. In heller Aufregung tauschten sie sich über ihre Befürchtungen aus, wobei Aurelia ihnen immer wieder vor Augen führte, dass sie doch alle wussten, dass es das richtige war! Manchmal musste man aufstehen und sich gegen die wehren, die man die ganze Zeit für Verbündete gehalten hatte. Und als Verbündete musste man sie auch davon abhalten, schwere Fehler wie diesen zu begehen.

 

„Selbst wenn wir das wirklich durchziehen, wie sollten wir denn bitte davon anfangen? Die Leute haben doch keine Ahnung von den Steinen und den anderen Kram werden sie uns nie und nimmer abkaufen!“ hielt Aiden dagegen und hatte damit natürlich völlig Recht! Wie sollten sie die Elevender von so etwas überzeugen, wo doch noch keiner ahnte, was eigentlich ablief! Aurelia biss verärgert die Zähne zusammen. Wie sollte es nur weiter gehen? Sie konnten doch nicht die Hände in den Schoß legen und abwarten!

„Aber wir müssen doch irgendetwas tun!“

„Was ist wenn wir versuchen, die ganze Sache im Keim zu ersticken?“ Viktors Vorschlag kam zaghaft, als ob er sich nicht sicher, war, ob ihn jemand hören wollte. „Wir könnten versuchen, selbst Kontakt mit dem Venusorden und mit dem Rat aufzunehmen und sie davon zu überzeugen, dass sie das Falsche tun! Falls das nichts bringt, können wir uns immer noch Gedanken darüber machen, wie wir das den anderen Leuten klar machen!“

Pareios kicherte plötzlich leise neben ihr. Aber sein Gesicht sah nicht fröhlich aus, eher betrübt. „Oh Mann, Leute, merkt ihr, was gerade hier läuft? Wir intrigieren gegen den Rat!“

Keiner kicherte mit, ihnen war beileibe nicht danach zumute. Diese Einsicht hatte es in sich. Sie waren ganz auf sich gestellt und wenn sie sich irrten oder noch schlimmer, scheiterten, was sollte dann bloß werden?

Pareios‘ Ausspruch blieb unbeantwortet, sattdessen entschieden sie sich, wie besprochen zu verfahren und Aurelia beendete das Gespräch mit einem Knoten im Magen. Wenn sie an ihren Weg hier dachte, fühlte sie immer noch diese Gewissheit, aber alles was im Bunker ablief, und somit außerhalb ihrer Reichweite lag, bereitete ihr Kopfschmerzen. Sie musste so bald wie möglich hin, und sich selbst ein Bild machen. Ihre Intuition ein bisschen schweifen lassen, vielleicht ergab sich daraus eine Lösung für das ganze Schlamassel!

Ein weiterer Anruf wartete auf sie. Nach kurzem Klingeln nahm Evrill ab. Er saß immer noch im Auto und beobachtete. Brav, dachte Aurelia und unterbreitete ihm dann ihr Anliegen. Er willigte ein und versprach, sofort Xandra zu kontaktieren und sich nach den Fortschritten ihrer Bemühungen zu erkundigen.

Danach fehlte nur noch Ezekiel. Auch er nahm ziemlich schnell ab, was ihr verriet, dass er schon auf einen Anruf gewartet haben musste. Nach kurzem höflichem Geplänkel ließ sie sich von ihm berichten, was er bei seinen Nachforschungen in Erfahrung gebracht hatte. 10 der Ratsmitglieder befanden sich aktuell in Kaliningrad, einschließlich der fünf, die den Bunker verlassen hatten.

„Warum könnten sie sich dort treffen?“ fragte sie Ezekiel, der die Denkweise der Ratsmitglieder wahrscheinlich besser nachvollziehen konnte.

„Eine Besprechung unter 20 Augen, ohne Möglichkeit belauscht zu werden, würde ich sagen. Das ist die einzige Erklärung, die mir einfallen will!“

„Warum Kaliningrad?“

„Frag mich was Besseres!“ Ezekiel schnaubte frustriert in den Hörer.

„Chronos, lebt er noch dort?“ Aurelia traf die Assoziation wie ein kleiner Stromschlag, den man sich an einem elektrisch geladenen Stoff, oder an der Autotür holen konnte.

„Oh ja, er und Annabeth wohnen dort in dem Anwesen der Legion. Velvet ist eng mit ihr befreundet und sie telefonieren hin und wieder!“

Chronos traf sich also für eine Versammlung mit 9 weiteren Ratsmitgliedern und Markus steckte auch mit drin, da würde sie ihren Arsch darauf verwetten!

Das waren dann 11 von 15. Aber was war mit den anderen?

„Ezekiel, ich brauche alle Namen und wo sich der Rest des Rats aufhält, kriegst du das hin?“

„Wird sich machen lassen!“ willigte dieser ruhig ein. Dann stockte er kurz. „Eins noch. Wie geht’s Ev?“

Aurelia biss sich unwillkürlich auf die Lippe und auch Pareios neben ihr zuckte zusammen.

„Dem geht’s gut! Alles noch dran!“ Das entsprach zwar der Wahrheit, trotzdem klang ihre Stimme unnatürlich hoch und sie hoffte, Ezekiel würde es überhören. Aber sie hätte sich schon denken können, dass er sich von keinem täuschen lassen würde.

„Was ist los?“ Ruhig, beinahe zu ruhig kamen die Silben durch den Lautsprecher.

„Naja, es… geht ihm gut, wirklich, aber ist nicht direkt… hier bei uns…, aber wir sind auf dem Weg zu ihm!“

Sie hatte erwartet, dass er wütend werden und ihr eine Standpauke halten würde, die sich gewaschen hatte. Sie mochte Ezekiel, daher tat es ihr wirklich Leid. Aber dieser stieß nur resigniert den Atem aus. Ein wortloser, zynischer Laut entwich gleichzeitig.

„Ich hätte es wissen müssen. Er ist schließlich mein Sohn! Hat sich nichts sagen lassen, was?“

„Mhm,“ machte sie nur. Er brauchte nicht zu wissen, dass sie die Voraussetzungen geschaffen hatte, in denen Evrill so handeln hatte können.

Sie verabschiedeten sich in einer merkwürdigen Stimmung von einander. Auch wenn keine Schuldzuweisungen stattgefunden hatten, war sie doch verantwortlich. Pah, als ob sie nicht schon genug Probleme gehabt hätten. Wieder verfluchte sie Evrill. Aber es half ja alles nichts, er hatte eine Spur verfolgt, die sie verpasst hatte, das musste man ihm lassen, der Mann war immer einsatzbereit!

34

Aurelia und Pareios beratschlagten noch eine Weile über die neusten Entwicklungen in ihrer Mission.

Krieg!

Dieses eine Wort echote in ihrem Kopf, ihren Gedanken, ihren Knochen, einfach überall. Das konnte doch nicht wahr sein! Wie zum Teufel war so was möglich? Ausgerechnet der Rat, dem ihr Volk innerhalb der Legion die Führung anvertraut hatte. Gerade die, auf die sie alle vertrauten, ihre Geschicke in glücklichere Tage zu lenken. Und nun waren diese Leute dabei, einen geheimen Angriffskrieg vorzubereiten? Welche Voraussetzungen hatten sie dazu getrieben? Was wenn Markus die Informationen über die hegedunischen Versuchsreihen gar nicht an die anderen 10 weitergegeben hatte? Was, wenn sie nicht wussten, welche Gefahr tatsächlich von ihnen ausging, nach ihrer Vision zu urteilen, von der sie dann wahrscheinlich auch nichts wussten… Ihr Kopf drehte sich!

Als diese ganze Sache begonnen hatte, hatte sie ja nicht geahnt, in was sie da hineingeschlittert waren. Zuerst wirkte es wie ein Auftrag, der zu erledigen gewesen war und dann war die Hölle über sie herein gebrochen. Sie waren von Hinterhalt zu Hinterhalt gestolpert, die ihnen ganz klar aufwiesen, dass die Steine ein kleiner Teil in einem größeren Plan der Hegedunen darstellten und währenddessen hatten ihre eigenen Leute nichts besseres zu tun, als den totalen Untergang ihrer Welt vorzubereiten? Es kam ihr vor, als seien in letzter Zeit irgendwie alle nicht mehr ganz bei Trost! Markus allen anderen voran. Der perfekte Lügner! Ohne Zweifel, sie musste irgendwann in den Bunker zurück, sie musste selbst mit ihm sprechen!

Die Sachlage forderte ihr ganz neues Denken und Handeln ab und sie beschäftigte sich mit noch nie da gewesenen Notwendigkeiten. Bisher hatte sie sich in keinster Weise für Politik verantwortlich gefühlt, ihr Metier war das Jagen, denn das konnte sie schließlich am Besten. Und was war nun?

Nun saß sie hier und verstrickte sich immer tiefer in eine Geschichte, die in der Legion ganz klar auf politischem Parkett enden würde. Gerade sie, die Kontakt zu anderen Menschen bis vor einer Woche weitestgehend vermieden hatte, das war doch wohl ein schlechter Witz des Schicksals!

Wenn sie es überhaupt so weit schaffen würde, flüsterte ihr eine kleine fiese Stimme zu. Die Vision limitierte ihre Pläne jäh.

Richtig, wer wusste schon, wann und wie es passieren würde? Wahrscheinlich würde sie ihren letzten Auftritt schon gehabt haben, wenn es so weit war, sich politisch zu engagieren. Dieser Gedanke ließ sie zu Pareios rüber schauen. Sie bedauerte, dass ihnen vielleicht nur noch wenig Zeit blieb. Es hätte so wunderbar werden können.

Er hatte aus ihr auch einen Phoenix gemacht. Sie hatte gebrannt und war aus ihrer Asche neu und gereinigt wiederauferstanden. In ihrer Vorstellung malte sie sich eine wunderschöne Zukunft aus, die sie wahrscheinlich nie erreichen würde und ein Teil von ihr sagte gehässig: „Und obwohl du das wusstest, hast du die Geschichte mit ihm angefangen! Wozu? Nur damit er Leiden muss, wenn du gehst?“ Sie biss sich auf die Lippen und sagte diesem Teil, dass Pareios es gewusst hatte, als er sich auf sie eingelassen hatte. Und schließlich war etwas zwischen ihnen gewachsen, von dem weder er, noch sie geglaubt hatten, dass sie es je empfinden würden. Also wenn etwas im Leben es Wert machte, es zu leben und es zu schützen, dann doch diese Gefühle!

Sie griff hinüber und strich über seinen Arm. Die elektrisierende Wirkung der Berührung gewann immer mehr an Vertrautheit und ihre Lippen formten die Worte von selbst, genau wie vorhin:

„Ich liebe dich!“

Er wandte ihr sein Gesicht zu, in dem ein zärtliches Lächeln hing. Seine Hand strich über ihre Wange und verschlang sich dann mit ihren Fingern. Er führte ihren Handrücken an seine Lippen und hauchte einen andächtigen Kuss darauf.

„Und ich dich, Liebste!“

Sie verweilten kurz mit verschränkten Blicken und es fühlte sich so wunderbar an, dieses Fehlen von jeglichen Mauern, die sie von der Außenwelt trennte. Sie war Pareios so nah, dass sie ihn spüren konnte, geistig und körperlich und sie stellte fest, dass diese Mauern andere nicht nur ferngehalten, sonder auch sie selbst eingesperrt hatten.

Als Pareios die Augen wieder auf die Fahrbahn richtete und ihre verschlungen Hände auf der Mittelkonsole ablegte, ließ Aurelia die Fenster herunter. Die frische Luft und die Morgensonne kitzelten ihr Gesicht und so dahin rasend, mit Pareios verbunden, erfasste sie plötzlich ein episches Gefühl.

Sie beide waren ein Paar!

Auch wenn es nicht ausgesprochen worden war, stand es für sie doch irgendwie fest. Und dieser monumentale Augenblick reihte sich ein in die Gruppe neuer, wichtigster Momente in ihrem Leben, und wenn sie genau hinsah, konnte sie feststellen, dass jeder einzige mit Pareios zu tun hatte.

 

Mitten in diesem Chaos brachte ihr dieser Gedankengang Entspannung  und sie schlief eine Weile, um Pareios danach abzulösen, damit er sich ausruhen konnte.

Am Nachmittag kamen sie schließlich durch das Örtchen, das Evrill ihnen genannt hatte, hindurch. Schnell ließen sie die Häuser jedoch hinter sich und begaben sich immer weiter in die Einöde des dänischen Hinterlandes, bis sie Evrills Auto endeckten.

Gut von Büschen verdeckt stand es am Rande des Weges, etwa einen halben Kilometer von einem großen alten Bauernhaus im Fachwerkstil entfernt.

Schon von weitem konnte sie sein weißes Haar schimmern sehen und ihr fiel ein Stein vom Herzen. Wenigstens hatte er sich in diesem Punkt an ihre Abmachung gehalten!

Sie und Pareios wechselten das Fahrzeug und stiegen zu Evrill ins Auto. Kaum saß sie neben ihm auf dem Beifahrersitz, boxte sie ihm ein Mal kräftig auf die Schulter. Evrill verzog das Gesicht und hielt sich das getroffene Körperteil.

„Aua, Mann!“

„Das war die Strafe!“ gab sie ungerührt zurück und befand, dass sie milde mit ihm umgesprungen war. Er konnte froh sein, dass sie ihre Impulse neuerdings recht gut unter Kontrolle hatte.

„Also wie sieht‘s aus?“ unterbrach Pareios von hinten. Evrill rieb sich noch immer die Schulter.

„Zwei Wachen auf dem Dach, zwei vor jeder Tür. Keine Kameras, soweit ich das beurteilen kann. Und dieser Kerl…“ Er hob eine Zeichnung hoch, die zuoberst auf einem ganzen Stapel auf seinem Schoß gelegen hatte. „… ist mit drei weiteren Bodyguards reingegangen. Aber im Hof stehen noch mehr Autos, also kann ich nicht sagen, wie viele Leute tatsächlich da drin sind.“

Aurelia griff nach der Zeichnung und hielt sie so, dass auch Pareios etwas davon erkennen konnte. Sie zeigte einen Mann mit jungen Gesichtszügen, also definitiv ein Elevender. Die Haare waren in einem vornehmen Seitenscheitel gekämmt und kurz gehalten. Eine Brille verspiegelte seine Augen. Elevender hatten so etwas nicht nötig, es musste Teil eines Outfits oder einer Maskerade sein. Denn mit der Brille wirkte er durch und durch wie ein hochmoderner Wissenschaftler, die Augenbrauen jedoch hatten einen speziellen Schwung. Irgendwie verliehen sie ihm etwas Teuflisches. Eine Gänsehaut rieselte ihr den Rücken hinab.

Der Kerl auf auf der Zeichnung hielt etwas in Händen, es sah aus wie Elektroschockpebbles. Oh ja, ihre Vermutung hatte sich bestätigt, das musste Svenssons Peiniger sein!

Und sie mussten jetzt irgendwie an ihn herankommen. Er wusste bestimmt, was es mit dieser ganzen Reihe auf sich hatte. Sie war sich absolut sicher!

„Evrill, traust du dir die Zwei auf dem Dach zu?“

Er machte einen empörten Laut, der wohl einem ‚Ich bitte dich!‘ gleichkommen sollte, was sie als ein ‚Ja, absolut!‘ aufnahm.

„Alles klar, dann geht Pareios zum Hintereingang und ich gehe vorne rein. Fertig?“

Pareios Antwort war eine vernehmliche Kombination aus Schleifen und Klicken, während er seine Waffe nachlud und dann entsicherte.

„Worauf warten wir noch?“ fügte er dann trocken an.

 

Sie trennten sich kurz nachdem sie den Wagen verlassen hatten und Aurelia kramte ihren Player hervor und verschloss ihr Gehör. Gerade jetzt wollte sie keine Geräusche vom Dach oder vom Hintereingang wahrnehmen, sie hätten sie nur aus der Fassung gebracht, schließlich bedeuteten ihre Mitstreiter ihr etwas.

Die vertrauten Rhythmen füllten ihre Ohren und ihren Kopf und sie ließ ihren Kampfgeist vermischt mit der Energie des gezügelten Monsters auferstehen. Sie entsandte ihre Intuition und diese war nun so präzise, dass sie ihr schon zeigte, wie sie die beiden Wachmänner am Eingang von hinten zum Schweigen brachte.

Ihre Kraft wuchs also unaufhörlich in ihr. Sie hieß diese Entwicklung willkommen, fragte sich jedoch zugleich, wodurch sie ausgelöst worden war. Dieses Gefühl, dass sie auf dem richtigen Weg waren, hatte sich ihre ganze Fahrt über gehalten und seit sie hier waren, hatte es sich so verstärkt, dass es wie eine blinkende Leuchtreklame in Aurelia pulsierte. Sie mussten hier sein, aber wie sie ihre Gabe kannte, hieß das nicht, dass der Weg nicht steinig werden konnte!

Sie schlich sich um eine Hecke herum und schob sich im Schatten der Hausmauer ganz langsam Schritt für Schritt auf den Vordereingang zu. Sie bewegte sich so langsam, dass es Augen, die nach Bewegung suchten, nicht auffallen würde. Ihr Blick huschte über das Gelände und sie prägte sich jedes Detail genau ein.

Sie presste sich mit dem Rücken gegen den rechten Flügel eines wunderschönen alten Fachwerkhauses mit Rebdach. Gemeinsam mit dem zweiten Flügel gegenüber umrahmte das Haupthaus, das das U vervollständigte, einen großen Hof. Die grüne Fläche rund um das Haus und den Hof war reichhaltig bepflanzt mit verschiedene Bäumen und Blumen, die dichte Hecke umrandete das weitläufige Grundstück.

Um Lärm würden sie sich hier keine Sorgen machen müssen, die nächsten Nachbarn hatten sie vor zehn Minuten mit dem Auto passiert.

Sie entsandte wieder ihre Gabe und tastete das Haus ab. Einige Räume übten auf sie eine besondere Anziehungskraft aus, wobei einer im Keller quasi vor ihrem inneren Auge leuchtete wie ein Juwel in der Sonne. Es gab insgesamt vier Zimmer, in denen sich also Personen aufhielten und sie nahm mal an, das was da so hell strahlte, war ihr Ziel.

 

Das aufziehende Gewitter passte ihr ganz gut, denn die Wolken verdunkelten die Sicht, die Schatten boten mehr Schutz.

In dem Moment, in dem einer der beiden großen, dunkelhaarigen Männer in schwarzen Anzügen ihr den Rücken zu wandte, war sie schon hinter ihn getreten und zog ihm ihr Messer über den Hals. Nur der erstickte Laut blieb übrig, als er zu Boden sackte. Sein Kumpan riss die Augen auf und während er nach seiner Waffe griff, wollte er schon den Mund aufreißen, um Alarm zu schlagen, aber Aurelia sprang ihn an. Sie klemmte ihm die Knie um die Hüften und parkte ihre Hand auf seinem Mund, während ihre Klinge mühelos eine Lücke zwischen seinen Rippen fand. Er schnaufte erschrocken gegen ihre Handfläche als das Messer eindrang. Als sein Körper erschlaffte, fing sie ihn auf und ließ ihn leise zu Boden gleiten.

Beide toten Körper zerrte sie in einem Gewaltakt in die Schatten an der Ecke des Hofes, dann rückte sie durch die Tür ins Haus vor.

 

Es war dunkel und roch nach altem Holz und Stoff. Die kleinen Fenster ließen wenig Licht ein, aber sie konnte so viel erkennen, dass sie sich in einem kleinen Flur befand, von dem aus mehrere Türen und eine Treppe abgingen. Neben dem Geländer tauchte gerade Pareios auf, der sich sein eigenes Messer an der Hose abwischte. Auch er entdeckte sie und sie wollte schon in den Keller zeigen, als sie Geräusche aus dem oberen Stockwerk vernahm, wo Evrill in das Haus eingedrungen sein musste.

Obwohl ihr oberstes Ziel wohl im Keller zu finden sein würde, lenkte sie ihre Schritte ohne Zögern die Treppe hinauf, Pareios‘ entflammende Hitze im Rücken.

Oben angekommen, ein weiterer Flur, mehrere Türen, ihre Köpfe flogen suchend herum, die Ohren gespitzt auf jedes Geräusch lauschend.

Aus einem Raum rechts von ihnen drangen ein erstickter Laut und dann ein gedämpftes Poltern. Die Tür ging auf und Evrill schob seinen Kopf hindurch. Als er sie entdeckte, lächelte er erleichtert und strich sich das Haar aus der Stirn. Seine blutbesudelte Hand hinterließ einen dunklen Striemen darauf.

Er schloss sich ihnen an und Aurelia übernahm die Führung in den Keller. Sie hatten es geschafft, sich unbemerkt Zutritt zum Haus zu verschaffen und so achteten sie auf absolute Lautlosigkeit, zumal sie nicht wussten, wie viele ihrer Gegner sich noch im Haus und auf dem Gelände aufhielten. Aurelia spürte nur diese Abneigung gegen bestimmte Räume, was ihr sagte, Finger weg, besser nicht reingehen!

Die Treppenstufen ächzten ein paar Mal leise unter ihrem gesammelten Gewicht, während sie immer tiefer hinab stiegen, aber es schien niemand zu hören. Im Keller angekommen folgte sie diesem Gefühl, das sie immer stärker in seinen Bann zog. Es war fast, als hätte sie einen Köder samt Haken geschluckt und wurde jetzt daran aus dem Wasser gezogen. Der Sog hin zu dem leuchtenden Juwel, das ihre Intuition in ihren Geist projizierte, ließ keinen Wiederstand zu, es wäre ihr unmöglich gewesen, sich jetzt noch abzuwenden und davon zu gehen.

So erhöhte sich ihre Herzfrequenz zu einem trommelnden Wummern in ihren Ohren, das mit den Rhythmen der Bässe aus dem Player konkurrierte.

Diese Tür vor ihr, hinter der sie die Lösung all dieser Fragen erwartete, schien ihr unscheinbar und viel zu unbewacht, um etwas Wertvolles zu enthalten, dennoch, es war da und sie bewegten sich weiter darauf zu, bis sie das Ohr an das raue Holz legen konnte.

Ein schlaffer, keuchender Atem erfüllte den Raum, hin und wieder schabte etwas leicht über den Boden, ansonsten war es still.

 Ihre Intuition war nun wie eine Welle, deren tosende Strömung sie immer weiter auf die Tür zu drückte. Die Kraft der Wassermassen in ihrem Rücken war stärker als alles was sie je erlebt hatte, sie gierte danach diese Tür zu öffnen, wie eine Verdurstende nach einem Glas kühlem Wasser. Ihre Gefühle ließen ihr keine Wahl, sie war wie ferngesteuert. Hypnotisiert von dieser Woge des Drangs, hob sie die Hand um sie auf die Türklinge zu legen. Als sie das Metall berührte schien es zu schwingen und die Vibration rauschte durch ihre Nervenendigungen. In ihren Ohren schwoll ein Dröhnen an, das die Musik einfach verblassen ließ, keine Note drang mehr durch den dichten Schleier aus Summen, der sie vollkommen einhüllte und sie quasi von der Außenwelt abschnitt.

Verwirrt und beunruhigt stellte sie fest, dass sie nichts mehr wahr nahm außer dieses Aufbrüllen in ihr, das ihr Vorhaben, diese verfluchte Türklinke nach unten zu drücken, bekräftigte.

 

„Scheiße!“

Nur Pareios‘ abgehakter Fluch, der erschrockene und verzweifelte Klang seiner Stimme konnte sie aus dieser Trance reißen.

Sie blinzelte zwei Mal, drei Mal, dann schaffte sie es, die Konturen des Raumes zu erkennen. Sie drehte den Kopf und ihr Blick fiel auf Pareios, der sich umgewandt und die Waffe erhoben hatte. Wie in Zeitlupe erkannte sie, dass er immer und immer wieder den Abzug drückte, während durch die Öffnung der Treppe mehrere bewaffnete, in dunkle Anzüge gekleidete Männer herab stürzten.

Mit einem Ruck kehrte ihr Gehör zurück. Unter Rauschen bohrten sich das Knallen der Schüsse und die Schreie der Angreifer und ihrer beiden Mitstreiter in ihr Gehirn, mit einer Wucht, dass ihre Trommelfelle schmerzen und die geknickten Härchen ein Fiepen meldeten.

Plötzlich mit beiden Füßen wieder in der Realität fühlte sie einen kurzen Aufprall durch ihren Körper zucken, als wäre sie eben abgesprungen und wieder aus dem Boden aufgekommen. Der Sturm der sie gerade noch erfüllt hatte, zog sich auf einen winzigen Fleck zurück, als ob sie es mit dem Staubsauger aufgesaugt hätte, und wich ihrem Kampfinstinkt.

Während sie ihre Waffen zückte, erfasste sie schnell die Lage.

Pareios stand rechts neben ihr und schoss mit der einen Hand Feuerbälle, mit der anderen pumpte er Kaskaden von Blei aus dem Lauf der Desert Eagel. Links stand Evrill und tat das gleiche mit seiner H&K. Das Gesicht starr vor Entschlossenheit und frei von Furcht.

Immer mehr Gegner drangen in den Keller vor, was bedeutete, dass sie in der Falle saßen. Der einzige Weg hinaus führte über die Treppe, die vollkommen in feindlicher Hand lag. Wenn sie überhaupt überleben würden, um zu fliehen.

Noch während sie die Waffen hob und ihr erstes Ziel ausmachte, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel und entzündete dann all ihren Zorn und ließ die Kraft ihres inneren Ungeheuers durch ihre Adern fließen. Die Muskeln stählten sich und führten die Arme sicher und ruhig dabei, mit vier gezielten Schüssen vier Schwarzanzüge nieder zu mähen. Da Pareios mit seinen Feuerbällen den oberen Teil der Treppe beschoss, dünnte der Nachschub an Hegedunen bald aus, aber sie hatten auch genug mit den bereits Anwesenden zu tun.

Ihre Intuition flog aus und sie stellte erschüttert fest, dass sie es hier nur mit Elevendern zu tun hatten, vielleicht neun oder zehn Stück.

Die Überraschung war gewürzt mit einer Prise Entsetzen und Furcht.

Hätte sie geahnt, dass ihre Intuition das mit ihnen vorgehabt hatte, hätte sie sich selbst ins Knie geschossen und gehofft, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag nicht mehr aufzuwachen. Finster verfluchte sie ihre Gabe. Wie hatte sie es verantworten können, sich selbst und ihre Freunde in diese Lage zu führen?

Die Übermacht des Gegners war so deutlich, dass sich der Fehltritt kaum leugnen ließ. Also warum zum Teufel hatte ihre Intuition sie dann auf das hier hin fiebern lassen, wie eine Fünfjährige auf Weihnachten?

Die Erschütterung zog sich tiefer und erreichte ihr Vertrauen in sich selbst und ihre Fähigkeiten, was sich unmittelbar bemerkbar machte. Plötzlich war ihr Kopf leer, da war einfach kein Gefühl mehr in den Armen. Wie eine Implosion verpuffte etwas in ihr. Mit der Musik in den Ohren und dem furchteinflößende Szenario vor Augen, war es, als ob ihr plötzlich ein Bein fehlte. Sie taumelte und stürzte zu Boden. Sie fühlte sich, als würde in ihrem Innern die Verbindung zu etwas Uraltem und Vertrautem gekappt und sie befand sich im freien Fall, selbst als ihr Schmerzrezeptoren schon meldeten, dass ihr Körper auf dem Boden aufgeschlagen war. Als sie dort aufkam sah sie aus den Augenwinkeln, dass Evrill und Pareios gegen die Tür, die sie eben öffnen hatte wollen, gedrängt wurden und Evrill diese weit aufgeschoben hatte.

Obwohl sie alles schmecken, riechen und hören konnte und ein Kribbeln in den Armen ankündigte, dass sie nicht taub bleiben würden, kam es ihr trotzdem so vor, als hätte sie einen ihrer Sinne verloren, aber im ersten Moment war sie zu verstört, um sich damit zu befassen. Die Angreifer kamen auf sie zu und die Luft des Raumes schien sich zusammen zu ziehen, wie das Vakuum im Auge eines Sturms.

Da hörte sie, wie Pareios Evrill einen kuren Befehl gab, konnte aber nicht verstehen, was er sagte. Ervrill schien erstaunt, er schüttelte heftig den Kopf, aber als er von seinem Teamkollegen ein markerschütterndes Brüllen auffing, drehte er sich schleunigst um und verschwand in dem Zimmer.

Gut, dachte sie noch, während all ihre Gedanken sich jetzt auf Pareios fixierten. Mühsam zwang sie ihre Beine und Arme sich zu rühren und ihren Dienst zu tun. Keuchend stemmte sie sich auf alle Viere die Waffe immer noch in der Hand, während der Kreis ihrer Gegner sich immer enger zog. Sie sah keine Gesichter, es waren einfach nur böse Schatten für sie und immer noch musste sie um Gleichgewicht ringen, ihr fehlte irgendwie ein Sinn.

Dann eröffnete einer zu ihrer linken das Feuer auf sie. Sie sah nichts kommen, fühlte keine Regung außer ein Erschrecken und der plötzliche Gedanke: Gleich kommt der Schmerz!

Der Elevender hatte sie mit kleinen Holzpflöcken aus seinem Handgelenk beschossen und kurz nachdem sie das begriffen hatte, setzte der Schmerz ein, der ihr die Sinne vernebelte.

Benommen sah sie an sich herunter und stellte fest, dass sich ein Pflock nahezu vollständig in ihre Schulter gebohrt hatte. Der Schmerz verpasste ihr einen heftigen Flash und die Arme gaben unter ihr nach und plötzlich sah sie rot. In wahrsten Sinne des Wortes.

Einfach nur rot. Es breitete sich in rasender Geschwindigkeit unter ihr aus, die Pfütze wurde größer und größer, ihr Gesicht lag schon mitten drin. Der Pflock musste eine Arterie getroffen haben und wenn er die erwischt hatte, dann sicher auch die Nerven des Armes. ‚Mist!‘ war das einzige, das sie denken konnte, während sie auf die rote, glitzernde Oberfläche ihres eigenen Blutes sah. Aber da war noch mehr rot. Woher kam es nur?

 

Um sie herum war alles in ein blutrotes Licht getaucht. Wie der Wiederschein von Flammen leckte die Farbe flackernd über die Gesichter ihrer Gegner. Eine sengende Hitze loderte neben ihr auf und versengte ihr beinahe die Härchen auf der Haut. Sie dreht den Kopf und sah Pareios.

Doch von seiner Haut, seinem Haar, seiner Kleidung konnte sie nichts mehr erkennen. Er glich einer lebendigen Fackel, die Flammen züngelten über seinen ganzen Körper, nur noch die Konturen konnte man in der flimmernden Hitze und dem Spiel des Feuers erfassen. Die Augen leuchteten orange, fast weißlich, wie stählerne Glut und unter seinen Füßen entzündete sich alsbald der Holzfußboden, gepaart mit einer beträchtlichen Rauchentwicklung.

Noch bevor ihre Gegner oder Aurelia ihre Überraschung überwinden konnten stürzte sich die lebendige Feuersbrunst auf die drei Elevender die ihr am nächsten standen. Kaum hatte er sie nur berührt, schrien sie vor Qual. Kurz darauf ging ein gewaltiger Hitzestoß durch den Raum, die Flammen von Pareios‘ Körper übertrugen sich auf seine Opfer und ließen sie brennen. Er verwendete keinen Augenblick länger für sie und falls Aurelia noch Zweifel gehabt haben sollte, dass er irgendwo da drin in diesem Flammeninferno steckte, dann waren sie spätestens jetzt getilgt, als sie mit verhangenem Blick und kraftlosem Kopf verfolgte, wie er sich leichtfüßig drehte und zwei Schritte machte, ganz so wie Pareios es immer getan hatte. Im nu hatte er so drei weitere hegedunische Elevender erreicht, riss sie zu Boden und ließ ihnen die gleiche Behandlung zu kommen, wie den anderen. Aurelia war so gefesselt von dem prachtvollen Schauspiel, dass sie erst nicht bemerkte, dass sich die beiden letzten Männer aus ihrer Starre gelöst hatten.

Eben wandte sich Pareios einem von beiden zu. Wie eine Raubkatze schlich er auf den düsteren Kerl zu und drängte ihn immer weiter zurück, seine Schultern zuckten, der ganze Körper wie eine Bogensehne gespannt, bereit zum Angriff.

Aurelias Aufmerksamkeit richtete sich auf ein kurzes Aufblinken zu ihrer Linken. Ihre Pupillen schossen herum und hefteten sich auf die plötzlich auftretende Lichtreflexion. Sie stammte von einer SIG, die der letzte der Männer im schwarzen Anzug gerade hob und sie auf den entflammten Pareios, ihren Geliebten richtete.

Alles in ihr bäumte sich auf, durch meterdicke Wolle fühlte sie ihre Gliedmaßen und wollte sich vom Boden hochdrücken, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen. Angst erfüllte sie und lockerte irgendeine verborgene, verzweifelte Kraftreserve und endlich kam sie schlingernd auf die tauben Füße, die natürlich ohne Gefühl, ohne Kraft und ohne ihr inneres Gleichgewicht gleich wieder nachgeben wollten. Mit schierer Willenskraft zwang sie sich zu ein paar Schritten, während ihre Augen gebannt auf die wuchtigen Finger gerichtet waren, die den Abzug der Waffe nach hinten zogen. Sie betete, sie würde es rechtzeitig schaffen. Ihr war klar, dass sie weder Pareios, noch den Schützen erreichen würde können.

Aber die Kugel, die lag im Bereich des Möglichen.

Mit den Gedanken bei Pareios stieß sie sich mit letzter Kraft ab, wodurch sie nach vorne fiel, so schaute sie endlich in das schwarze Loch der Mündung. Die Waffe erzitterte vom Rückstoß des abgegebenen Schusses, aber der Schütze war geübt und hielt sie pfeilgerade.

Die Kugel war großkalibrig, das konnte sie am Fabrikat erkennen. Doch nichts bereitete sie auf den teuflischen, unbarmherzigen Schmerz vor, der ihr nun wie ein gleißender Blitz mitten in die Brust fuhr. Eine merkwürdige Erleichterung wurde durch die körperliche Qual ausgelöst.

Der Schuss hatte sie getroffen, nicht ihren Geliebten.

 

Das Brennen hinter ihrem Brustbein breitete sich schnell aus und schon bald fühlte sie nichts mehr als das. Zum Glück gewährte ihr ihr malträtierter Leib den Ausweg in die Bewusstlosigkeit. Es war klar, dass sie ihren Körper jetzt nicht mit dem Brennen teilen konnte, er gehörte ihm allein und es war mehr als fraglich, ob er sie noch ein Mal zurück kommen lassen würde.

Mein Gott, sah so das Ende aus?

Aber sie hatte ihre Vision doch noch gar nicht erfüllt, und sollte alles, was sie bisher durchgestanden hatten umsonst gewesen sein? Was würde aus Pareios werden? Viktor, Row und Aiden, Evrill und seiner Familie, den Elevendern und der Welt? Hatte sie versagt oder hatte es so kommen müssen?

Vor allem Leid tat es ihr für Pareios. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, ihn an sich zu binden und ihn dann zu verlassen. Diesen Schicksalsschlag hätte sie ihm gerne erspart, wenn sie es vermocht hätte. Sie betete, dass er es ein weiteres Mal durchstehen würde.

Dann umhüllte eine endgültige Dunkelheit ihren Geist.

 

 

Aurelia wandelte in einer Traumwelt. Aber es gab dort keine Gegenstände, keine Menschenseele und keine Farben, noch nicht ein Mal Dunkelheit. Die Dunkelheit, die ihr so vertraut war, wäre ihr lieber gewesen, als das, wo sie sich gerade befand.

Hier war einfach nichts, ein endloses, Universum-verschlingendes Nichts.

Sie fragte sich, ob das der Himmel oder die Hölle war und entschied sich sogleich für Zweiteres.

War ja klar gewesen, dass sie es nicht bis nach da oben schaffen würde!

Wenn sie sich hier in der Hölle befand, dann musste sie wohl damit rechnen, dass es noch schlimmer kommen würde.

Oder war es das, die Hölle, das Nichts?

Hier in alle Ewigkeit zu bleiben, ein Bewusstsein gefangen in der Leere, absolut reizlos dahin vegetierend, mit den eigenen Gedanken allein gelassen, hm, irgendwie wusste ihr Geist, dass das früher oder später auf Wahnsinn hinauslaufen würde.

Das hier war definitiv die Hölle!

 

Sie versuchte ihre Arme und Beine zu fühlen, aber da war wie gesagt nichts!

Furcht breitete sich in ihr aus und obwohl ihr nichts weh tat, war doch da plötzlich ein komisches Ziehen. Die erste Empfindung, die irgendwie vertraut und… körperlich wirkte.

Der Zug an ihr, wo genau konnte sie gar nicht sagen, wurde immer stärker und da, das war doch … Wärme.

Nein Hitze! Durch das Nichts drang entsetzliche Hitze. Oh Mann, Hölle! Eindeutig!

Sie wollte schluchzen, weil da auf ein Mal Schmerz war, war sich aber weder sicher, ob sie noch einen Mund besaß oder eine Stimme.

Im nächsten Augenblick war die Hitze verschwunden und ihr entfuhr ein erleichtertes Seufzen.

Moment, sie hatte geseufzt?

Das Nichts begann zu flackern und wurde zu dunstigem Nebel, welcher sich auf sie legte, sie schwer  niederdrückte, immer tiefer und tiefer, bis sie etwas unter sich… fühlte?

Ja, da war ein Widerstand unter ihr und der Nebel presste sie dagegen, bis ihr die Luft wegblieb und da waren auch wieder entfernt wirkende Gliedmaßen, die irgendwie zu ihr gehörten. Sie fühlten sich bleiern an, schwer wie Zentnergewichte.

Und dann kam noch mehr Schmerz.

Mit voller Wucht trat er in ihren Geist und sie wollte nur noch schreien. Es tat so weh, so allumfassend, dass ihr vernebeltes Hirn nur immer wieder feststellte, dass sie mit absoluter, bombensicherer Gewissheit in der Hölle gelandet war.

Wunderbar, auf eine Ewigkeit voller Qual also.

Ihr früheres Ich wollte schon aufgeben, aber da war irgendwie ein Gedanke, etwas, das sie festhielt und obwohl sie sich so oft den Tod gewünscht hatte und sich immer sicher gewesen war, dass sie aufgrund ihrer Taten ganz sicher nicht im Paradies landen würde, regte sich nun Widerstand in ihr.

Hatte sie das wirklich verdient?

Das Nein, das ihr Bewusstsein formte, wurde zu einer Überzeugung und gab ihr einen unbändigen Willen all das zu ertragen.

Und als würde sie das Universum dafür belohnen, erfüllte sich das Nichts plötzlich mit Licht.

Sie litt immer noch, aber es tröstete sie und sie fühlte sich dadurch nicht mehr so allein. Sie fragte sich, wo es wohl hergekommen war und versuchte, mit ihrem Geist nach der Quelle zu forschen.

Die hellen Strahlen badeten sie in einem samtigen Gefühl, das das Brennen überdeckte und mit einem Mal wusste sie, im Nichts war eine Seele zu ihr gekommen, ein leuchtender Lichtfleck, der Geborgenheit verbreitete. Vielleicht hatte ein Engel Mitleid gehabt und war gekommen, um sie in den Himmel zu holen? Sie wollte ihn berühren, wünschte sich so sehr ihn erreichen zu können, als wäre das ihre Erlösung.

 

 

Und dann, mit einem Rums, kehrte alles zurück. Die Empfindungen ihres Körpers, ihrer Sinne und das Pochen ihrer Verletzungen überfuhren sie geradezu. Vielleicht wäre das Nichts doch besser, überlegte sie kurz, doch… da war er wieder, der Engel.

Er berührte sie, wo war unklar, der Schmerz überlagerte ihr Ortungsvermögen, aber er linderte ihre Pein. Das Licht und seine Kraft umhüllten sie und da wurde sie hochgehoben. Die Schwerkraft bog ihre Arme und ihren Kopf nach unten, sie hatte nicht die Kraft sie zu halten.

Das Schaukeln vermittelte ihr, dass der Engel sie in Sicherheit trug, das wusste sie irgendwie.

Und sie wollte die Arme um ihn legen, sich an ihm festkrallen, so sehr fühlte sie die Anziehung. So eine Intensität, die sie plötzlich an etwas erinnerte. Nein! An jemanden!

Pareios!

Etwas Vibrierte durch sie hindurch und sie war irritiert, aber gleich darauf stellte sie fest, dass es ihre Kehle war, die versuchte, Laute von sich zu geben.

„Sch-Sch!“ machte der Engel. Seine Wärme und die Geborgenheit, die er ihr gab, halfen ihr durch das körperliche Martyrium. Das musste ihr Geliebter sein, der sie da trug.

 

„Ich bringe dich hier raus, nicht reden!“ flüsterte der Engel mit seiner wunderschönen, tiefen Stimme. Der Klang der Töne war magisch und trotz aller ermattenden, bleiernen Schwere in ihrem ganzen Körper zwang sie ihre Lippen. Keine Ahnung wo die waren, aber sie musste es sagen, zu schrecklich, dieses Gefühl im Nichts ohne Pareios.

„L-l-lieb‘… dichhhh…“ entwichen die Worte aus ihrer Kehle wie ein Stöhnen und ihr Kopf rollte auf etwas festem herum, kam an einer harten Fläche zu liegen.

Warm… Wärme war da, das musste er sein! Sie schmiegte schwach den Kopf an ihn.

„Ich glaube, sie ist im Delirium!“ sagte der Engel.

„Das glaube ich auch!“ antwortete Pareios‘ Stimme.

35

Aurelia fand sich immer wieder halb in der Bewusstlosigkeit, halb im Dämmerzustand, nicht fähig, viel um sich herum wahrzunehmen. Alles was sie begleitete, war der Schmerz und der Engel, den sie von Zeit zu Zeit spüren konnte, genauso wie seine Wärme, die sie oft einhüllte.

Sie hatte kein Gefühl für Zeit oder Ort, aber sie war auch schwer mitgenommen.

 

Das nun dumpf wiederkehrendes Bewusstsein sagte ihr, dass sie weich gebettet auf dem Rücken lag und… dass sie sich fühlte, wie ein Mal durch die Schiffsschraube gedreht. Einfach alles tat weh und ihre Muskeln hingen an ihren Knochen wie nutzlose Seile. Schwäche, wie sie das hasste.

Sie blinzelte. Sie konnte nur verschwommen sehen, aber es war hell. Das Licht brannte ihr in den Augen und sie kniff sie schnell wieder zu.

„Sie ist wach!“ flüsterte jemand neben ihr. Es war eine bekannte Stimme, weiblich und sanft.

Sie hörte wie Stühle gerückt wurden und spürte, dass mehrere Personen neben sie getreten waren und sich über sie beugten. Aber etwas fehlte, das helle Licht des Engels.

Ein Teil ihres Hirns beerdigte die Erinnerung als Halluzination in ihrer Bewusstlosigkeit, während des Großteil versuchte, sich im hier und jetzt zurechtzufinden.

Wieder blinzelte sie und der Schleier, der ihre Sicht behinderte, lichtete sich langsam. Die Köpfe ihrer Teammitglieder und Evrill schwebten über ihr in der Luft und alle sahen erwartungsvoll auf sie herab.

Moment Mal, da waren alle ihre Teammitglieder!

 

Sie wollte sich ruckartig aufsetzen, aber nichts funktionierte und der Schmerz verdoppelte sich stattdessen, also schminkte sie sich diesen Plan schnell wieder ab. In ihrem Kopf tobte ein Migränesturm auf, der sich gewaschen hatte und sie unterdrückte ein Aufstöhnen. Die Mienen ihrer Freunde verdunkelten sich.

„Brauchst du mehr Schmerzmittel?“ erkundigte sich Rowena leise und strich ihr anscheinend über den Arm. Das zugehörige Gefühl auf ihrer Haut drang wie durch Leder zu ihr durch.

Sie hatte wohl genügend Betäubungsmittel intus, auch wenn es nicht annähernd ausreichte, um den Schmerz fernzuhalten.

Sie versuchte, den Kopf zu schütteln und bereute es gleich wieder, aber die Botschaft war angekommen. Besser nicht bewegen!

„Was…?“ brachte sie nur zustande zu fragen.

Die anderen Fünf sahen sich vielsagend an, dann wandte sich Row an sie, während sie sich alle wieder setzten.

„Aurelia Liebes, du wurdest schwer verletzt und da du nicht in irgendein Krankenhaus konntest, blieb uns nichts anderes übrig, als dich per Heli zurück in den Bunker bringen zu lassen.“

Aurelia riss die Augen auf. „Was…?“ kam es nur noch ein Mal von ihr.

Jetzt schaltete sich Pareios ein. Er kam einen Schritt näher und griff ihre Hand.

„Es musste sein. Es stand schlecht um dich, ein Glück waren Meggan und Dante da, sonst wären wir nicht lebend raus gekommen. Kannst du dich an irgendwas erinnern…?“

Aurelia versuchte, durch den Nebel ihrer Traumwelt irgendwelchen Eindrücke auszumachen, die vielleicht realer als andere gewirkt hatten. Aber außer dem Engel und der Hitze fiel ihr nichts ein und da beides wahrscheinlich eher dafür sprach, dass sie nicht ganz da gewesen war, behielt sie das besser für sich. Sie schüttelte ganz leicht den Kopf. Sehr gut, das ging ohne ein Aufheulen der monströsen Migräne. Aber wer zum Teufel waren Dante und Meggan?

Pareios warf wieder einen Blick in die Runde bevor er weitersprach. Hier und da waren die Augenbrauen bedeutungsschwer zusammen gezogen.

„Nachdem du angeschossen wurdest, war alles ziemlich chaotisch. Evrill hat dich in den Raum gezogen, zu dem du uns geführt hattest. Darin war Dante angekettet und der Kerl von Jespers Zeichnung hatte sich hinten in eine Ecke gedrängt. Ich habe dann die Vordertür verteidigt und Ev hat….“

„Ev hat sich dann diesen Möchtegern-Arzt-Schrägstrich-Wissenschaftler-Schrägstrich-Drecksack vorgeknöpft!“ vollendete dieser schon wieder breit grinsend. „Und du glaubst gar nicht, wie schnell der mit einer SIG am Kopf arbeiten kann!“

„Auf jeden Fall,“ nahm Pareios die Erzählerfunktion wieder an sich, „ hat der sich dann um deine  Verletzungen gekümmert. Nachdem Ev ihm klargemacht hat, dass es ihm gar nicht gut bekommen würde, wenn du nicht überleben solltest, hat er dich die ganze Zeit um deine Verletzungen gekümmert, bis wir abhauen konnten. Da wir aber nicht aus dem Keller raus konnten, mussten wir durch die Wand ins nächste Zimmer. Praktisch wenn alles aus Holz ist.“ Jetzt grinste auch er.

„Dort war eine weitere Gefangene angekettet. Meggan ist eine sehr starke Teleporterin und nachdem wir Dante und sie befreit hatten, hat sie uns raus geschafft.“

Aurelia folgte seinem Bericht gebannt. Merkwürdig, wenn man in einer Erzählung vorkam, ohne sich im Geringsten daran erinnern zu können.

„Ich wollte dich hoch heben, aber ich habe deine Haut verbrannt und Evrill musste den Wissenschaftler unter Kontrolle halten. Zum Glück war Dante fit genug, dich zu tragen.“ Pareios Stimme klang bei diesem Satz ganz normal, aber er machte danach eine Pause, gerade lang genug, dass sie Aurelia aufgefallen war, aber eben kurz genug, um nur ihr von Bedeutung zu erscheinen. Ihr schossen unzusammenhängende Erinnerungsfetzen aus der Zeit ihrer Bewusstlosigkeit durch den Kopf und ließen sie noch verwirrter zurück.

 

„Da wir so viele waren, konnte Meggan uns nicht weit weg bringen, also haben wir dann die Autos genommen. Wie gesagt habe ich uns eine Rettungseinheit besorgt, die uns ein paar Kilometer weiter aufgegabelt hat. Der Doc hat noch im Heli mit der OP angefangen. Dein Blutdruck war zu niedrig und du brauchtest eine Bluttransfusion. Ein Mensch hätte diese Verletzungen sicher nicht überlebt.“

Seufzend lehnte er sich zurück und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Diese für Pareios typische Bewegung erwärmte Aurelias Herz, aber sie konnte den unerklärlichen Schrecken aus seiner Erzählung nicht verdrängen. Vordergründig hatte die Geschichte zwar ein Happy End, Aurelia hatte schließlich überlebt, wenn auch nur knapp. Sie waren alle rausgekommen und hatten auch ihre Mission, den Wissenschaftler zu schnappen, erfüllt. Dennoch hatte Pareios sie unvollständig erzählt und seine ganze Körperhaltung, wie er jetzt so reserviert da saß und die Arme vor der Brust verschränkte, bestätigten ihr den Verdacht.

Die anderen waren währenddessen still geblieben, führten nur hin und wieder diese nervtötenden, stummen Augenkonversationen. Ihre Kollegen schienen allesamt froh über ihre Genesungsfortschritte zu sein, aber darunter brodelten weitere Emotionen. Jetzt sah Aurelia von Einem zum Anderen und obwohl sie laut „Was noch?“ fragte, wusste sie, dass sie keine komplett ehrliche Antwort bekommen würde.

 

Viktor räusperte sich vernehmlich und beugte sich dann vor. „Also gut, hör zu. Eigentlich wollte ich dir das vorenthalten, bis du dich so weit erholt hast, dass du aufstehen kannst. Doch die Wahrheit ist, es kann nicht warten.“ Nun schien er im Geiste genau zu sortieren, was er ihr preisgeben wollte und was nicht. „Seitdem ihr gestern so überstürzt wieder im Bunker gelandet seid und aller Aufmerksamkeit auf dich, die du halb tot hier ankamst, gerichtet waren, war Markus in der Zelle des Wissenschaftlers. Sein Name ist übrigens Gregorowicz. Ich habe über die Überwachungsmonitore beobachtet, wie Markus ihn eigenhändig übel zugerichtet hat, aber er sagt kein Wort. Er hat nicht Mal versucht zu lügen, daher denke ich, dass er weiß, wen er da vor sich hat.“

Weder Aurelia noch die anderen waren überrascht, dass Gregorowicz nicht so einfach zum Reden gebracht werden konnte. Aber vielleicht konnte ja ihre Intuition etwas finden, das ihm die Zunge lockerte.

„Du willst, dass ich zu ihm gehe, nicht wahr?“ flüsterte sie jetzt. Ihr war ganz beklommen zu Mute, so kurz stand sie nun davor, hinter all die Geheimnisse zu kommen, die die Hegedunen um die Steine herum errichtet hatten.

Viktor nickte düster. „In ein paar Stunden wird er bestimmt wieder zu sich kommen, dann könnten wir einen Versuch starten, wenn du auch so weit bist.“

Bisher hatte Aurelia nicht mehr versucht, sich zu bewegen. Jetzt probierte sie die Arme und Beine zu beugen, aber ganz so einfach war das nicht.

„Ich glaube, das wird noch warten müssen.“ antwortete sie dann, obwohl sie mindestens so sehr auf die Informationen brannte, wie Viktor. Aurelias Kopf schwirrte von den ganzen Ereignissen und wahrscheinlich auch von den ganzen verschreibungspflichtigen Mittelchen, die sie in ihren Körper gepumpt hatten. Sie war erledigt und müde, nichts desto trotz hatte sie noch so viele Fragen.

„Habt ihr noch was von Xandra oder Ezekiel gehört? Was ist mit dem Orden und der Wa….“

Weiter kam sie nicht, denn Pareios schüttelte leicht den Kopf und sah sich fast unmerklich um. Aurelia verstand. Sie nickte und schluckte die letzten Worte herunter.

 

„Schön dass du wieder da bist!“ sagte Aiden und erhob sich als Erster, gefolgt von Row und schließlich standen auch Evrill und Viktor. Geschlossen verließen sie das Zimmer, aber nicht ohne Aurelia noch einmal vorsichtig zu umarmen oder ihr die linke Hand zu drücken. Die Rechte war in einer Schiene eingespannt, die von der Schulter bis zum Daumen reichte. Aurelia folgte ihnen mit den Augen und schließlich erkannte sie an den vier verspannten Schultern vorn im Zimmer, dass ihr Team mehr als besorgt war.

Als die Tür ins Schloss gefallen war, klettere Pareios neben sie ins Bett. Es dauerte lange, bis er sich umständlich in eine Stellung gebracht hatte, in der er nicht auf ihr lag. Gemütlich konnte die Haltung zwar nicht sein, aber als sie seinen Mund neben ihrem Ohr spürte und er zu flüstern begann, begriff sie. Wenn sie hier nicht offen reden konnten, musste man sich eben etwas anderes einfallen lassen und so, wie Pareios jetzt da lag, musste es von außen aussehen, als ob er sich über sie beugte, um ihren Hals zu küssen.

Sein Atem kitzelte sie, während er sprach.

„Ezekiel berichtet, dass der Rat eine große Versammlung einberufen hat. Alle alten Ratsmitglieder und alle Oberhäupter der Gemeinschaften weltweit sind eingeladen worden. Es gibt strenge Auflagen, was die Organisation betrifft. Keiner weiß, wo das Treffen stattfinden wird. Nur der Zeitpunkt wurde mitgeteilt und mehrere Sammelpunkte wurden bestimmt, wo die Teilnehmer abgeholt werden sollen.“ Aurelia bemerkte, dass sie nicht gewagt hatte zu atmen. Erschrocken schnappte sie nach Luft.

Pareios drückte tröstend ihre unverletzte Schulter, dann fuhr er fort.

„Und Xandra hat uns bestätigt, dass Kontakt zwischen Chronos und dem Venus-Orden besteht. Sie sagt, die Führungsriege ist ebenfalls zu dieser Versammlung eingeladen. Chronos selbst hat es veranlasst.“

Geschockter hätte Aurelia wohl nicht sein können. Sie begann wie in Trance den Kopf zu schütteln, aber er war noch nicht fertig. „Außerdem dürfen wir nicht mehr ins Labor, keiner mehr. Angeblich wegen Explosionsgefahr!“ Seine Stimme nahm einen sarkastischen Ton an. „Und das Beste zum Schluss: Aiden hat herausgefunden, woher die Emails mit den Waffenplänen in Markus‘ Messengeraccont kamen. Das komische daran ist, er scheint sie sich selbst geschickt zu haben, denn sie stammen von einem Besucheraccount aus der Kommandozentrale und der einzige der zu dem Zeitpunkt dort Dienst hatte, war Markus.“

 

„Was soll das bloß?“ flüsterte Aurelia mehr Mals hinter einander. Es schien wirklich, als wollte der Rat Krieg! Oder zumindest planten sie so etwas wie einen Angriff und zu diesem Zweck fand wohl auch der strategische Zusammenschluss mit dem Orden statt. Die Zerstörung der Hegedunen hatte oberste Priorität in der Legion, also war dies die logischste Schlussfolgerung. Der Rat glaubte anscheinend, mit den neuen Verbündeten und dieser mysteriösen Waffe samt den Steinen endlich einen entscheidenden Vorteil in Händen zu halten. Aber wenn die Steine so stark waren, wie Syrus behauptete, wie konnten sie diese Gefahr verantworten?

Pareios drückte wieder leicht ihre Schulter. „Wir werden das verhindern, Aurelia. Irgendwie schaffen wir das schon!“ sagte er fest, wieder ein Mal so, als könne er ihre Gedanken lesen.

Schließlich richtete er sich aus der gekrümmten Haltung auf und stützte dann auf der Seite liegend den Kopf auf die Hand. Sie wünschte sich, er würde sie umarmen, oder noch besser, küssen, aber er machte keine derartigen Anstalten. Stattdessen strich er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und machte ein ungezwungenes Gesicht.

„Weißt du was? Du solltest auch Meggan und Dante kennen lernen, die zwei Elevender, die oben in Dänemark gefangen gehalten wurden. Dante ist übrigens der Kerl, mit dem ich in Berlin gefoltert wurde. Ich war ziemlich überrascht, ihn ausgerechnet dort wieder zu treffen. Aber er kann sich an nichts erinnern.“

Erstaunt sah sie ihm in die Augen. „Oh mein Gott, er hat also überlebt? Warte, und was wollte dann Gregorowicz von ihm? Du hast doch gesagt, sie waren im selben Raum. Hattest du schon Gelegenheit mit ihm zu sprechen?“

Pareios schmunzelte verhalten, fast künstlich, stellte sie verwundert fest.

„Ich war der Einzige, mit dem er gesprochen hat, also nehme ich an, er erkennt mich zumindest auf irgendeiner Ebene wieder. Ansonsten weiß er gar nichts, nicht mal seinen eigenen Namen. Ich habe ihn Dante getauft, weil er, seit er hier ist, wie ein Besessener in Dante Alighieris „La divina commedia“ liest. Er hat keine Ahnung welchen Tag, Monat oder Jahr wir haben, geschweige denn wie alt er ist….“ Er machte erneut eine rhetorische Pause und in seinen Augen lag jetzt ein bedrohliches Glitzern.

„Das Einzige, das er weiß und dessen er sich absolut sicher zu sein scheint, ist, dass er dein Gegenstück ist!“

36

„Wie bitte?“ Aurelia war wie vom Donner gerührt und ihr Gehirn weigerte sich, den Sinn dieser Worte zu begreifen.

„Ich glaube, du hast mich verstanden.“ Pareios lag zwar immer noch neben ihr im Bett, aber innerlich war er meilenweit weg. Sie starrten einander an, Aurelia verwirrt, Pareios abwartend. Er bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, was angesichts dieser Situation bizarr wirkte, als hätte er eine steinerne Maske aufgesetzt. Vielleicht stand auch er unter Schock?

Ihr Verstand beschäftigte sich mit einer minutiösen Bestandsaufnahme von Pareios‘ Mimik, wollte sich einfach nicht mit dem eben Gehörten auseinandersetzen. Denn wenn dies wirklich der Wahrheit entsprach, veränderte dies die Bedeutung der letzten Tage nicht grundlegend? Was genau hatte ihre Intuition in diesem alten Bauernhof gewittert? Warum war dieser Dante dort gewesen? Was hatte er mit den Versuchsreihen zu tun?

„Und, ist er es?“

Pareios lachte bitter und in seinen Augen las sie eine gut verborgene Trauer. „Find’s raus. Nur du weißt es sicher!“

Aurelia wollte seine Hand ergreifen, ihn trösten, ihm sagen, dass alles gut werden würde. Sie wünschte sich, sie könnte die Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit, die sein markantes Gesicht zeigte, vertreiben. Aber wie sollte dieses „gut“ denn bitteschön aussehen, wenn der fremde Elevender wirklich ihr Gegenstück war? Was sagte man in einem solchen Moment? ‚Der Typ hat einen Knall, der irrt sich garantiert?‘ oder ‚Was gegen einen flotten Dreier?‘. Na ganz bestimmt!

„Pareios, ich…“

„Lass‘ es, Aurelia.“ presste er durch die zusammengebissenen Zähne heraus. „Klär‘ das mit Dante, dann reden wir. Dieses Thema ist auch so schon schwer genug, ich kann einfach nicht über ungelegte Eier diskutieren!“ Mit diesen Worten schwang er die Beine über die Bettkante und saß nun mit dem Rücken zu ihr. Die Sehnen an seinen Unterarmen traten hervor, als er die Finger in die Matratze krallte. Schließlich stand er auf und schlug wieder einen geschäftsmäßigen Ton an.

„Dante ist ebenfalls hier auf der Krankenstation. Markus hat entschieden, dass er und Meggan noch eine Weile dort bleiben sollen, bis wir sicher sind, dass wir ihnen trauen können. Er hätte die beiden wahrscheinlich gar nicht in den Bunker gelassen, wenn ich Dante nicht gekannt hätte. Egal, ähm, wenn du willst, schicke ich ihn zu dir…“

„Ja, ok..…“ stammelte Aurelia beunruhigt, weil plötzlich alles so schnell ging. Sie verfolgte ihn mit ihrem Blick, wie er den Raum verließ. Es tat weh ihn einfach so gehen zu lassen, ohne ein letztes Wort, eine liebevolle Geste, aber sie wusste, nichts was sie tun oder sagen könnte, würde es besser machen. Nun, da sie alleine war, brachen die vielen Gedanken über ihr zusammen.

Sie sollte ein Gegenstück haben? Sie hatte nie damit gerechnet, es zu treffen, selbst wenn es existieren sollte. Der wesentlich beunruhigendere Aspekt war, wie sie sich getroffen hatten. Denn konnte sie jetzt noch sicher sagen, dass ihre Intuition ihr den Weg zur Lösung des Rätsels um die Steine oder aber den Weg zu ihrem Gegenstück gewiesen hatte? War sie nicht immer stärker geworden, je weiter sie den Spuren gefolgt und je näher sie dem dänischen Hinterland gekommen waren? Gegenstücke verstärkten die Kräfte des anderen…

Verflucht noch Mal, ein Gegenstück! Im Berufsleben war Timing ihre große Stärke, aber privat hatte sie dafür schlichtweg kein Händchen!

Sie wurde immer nervöser. Ihr war heiß und kalt, bis sie verschwitzt war und das Warten machte sie schon nach kurzer Zeit wahnsinnig. Um nicht weiter nachzugrübeln, befasste sie sich ausgiebig mit dem Putz der weiß gestrichenen Wände und den klinisch wirkenden Möbeln im Zimmer. Der Infusor neben ihrem Bett gab ein leises Ticken von sich, dann wurde der Kolben der eingespannten Spritze mit Betäubungsmittel mechanisch einen Millimeter weiter nach unten gedrückt. Man gab ihr konstant etwas gegen die Schmerzen und sie spürte unmittelbar, wie die Wirkung eintrat. Nachdem sie sich von dem kurz aufflammenden Rauschgefühl erholt hatte, war es ihr schließlich möglich, sich aufzusetzen. Aber als sie den rechten Arm in eine bequeme Position gebracht hatte, verspürte sie trotzdem das dumpfe Pochen der Wunden in Brust und Schulter. Mit der Linken, die lahm und koordinationslos war, versuchte sie den Haufen an Haaren, den sie auf ihrem Kopf vermutete, zu glätten. Sie gab jedoch schnell auf, weil der Arm zu schwer wurde. Egal, dachte sie, falls Dante wirklich ihr Gegenstück war, müsste so was ja wohl nebensächlich sein!

Während sie weiter in Gedanken versunken, die weiche Decke über ihren Beinen glatt strich, vernahm sie, wie die Tür geöffnet wurde.

 

 

 Kurz geschah nichts, als ob die Person im Türrahmen zögerte, die Spannung in Aurelia erreichte ihren Höhepunkt. Als dann ein junger Mann eintrat und sich lässig an die Wand im Eingangsbereich lehnte, explodierte Aurelias Kopf förmlich vor Assoziationen.

Sie kannte diesen Kerl!

Auf so viele Arten erkannte sie ihn wieder, es war ein verstörendes und doch erhebendes Gefühl zu gleich. Von der ersten Sekunde an, fühlte sie sich zu ihm hingezogen.

Der Mann lächelte vorsichtig, die Augen von der Farbe karibischen Meerwassers hatte er fest auf sie gerichtet. Seine Statur war hochgewachsen und obwohl er abgemagert aussah, konnte man erkennen, dass er einen breiten Brustkorb und kräftige Schultern besaß. Das kastanienbraune Haar mit goldblonden und bronzefarbenen Strähnen lag in Wellen und reichte ihm bis knapp über die Ohren.

Der wohl bestaussehendste Mann, der ihr je begegnet war, zumindest für sie.

„Hi!“ hauchte er mit einer tiefen Stimme, deren Klang ihre Reise des Wiedererkennens vervollständigte. 

Verflucht und zugenäht. Er war der Engel, der sie in Sicherheit getragen hatte, für den sie so viel Zuneigung empfunden hatte. Der, den sie als Erlösung in ihrem vernebelten Geist wahrgenommen hatte. Und auch jetzt war das Wohlgefühl, das er sofort im Raum verbreitete und diese unglaubliche Anziehungskraft, die von ihm ausging Beweis genug. Diese sanfte Stimme, die ihr schöne Schauer über die Haut jagte. Augenblicklich wünschte sie sich, er würde näher kommen. Sie sehnte sich nach einem Kuss von den vollen Lippen dieses fremden und doch vertrauten Mannes. Ihre Augen hingen an dem verführerischen Mund und als er noch ein wenig breiter Lächelte, traf es sie wie ein Blitzschlag.

 

Sie hatte ihn schon vor einer ganzen Weile zum ersten Mal gesehen! Nicht im Bunker, oder auf irgendeiner Mission, nein!

Er war der Kerl aus ihrer Vision.

Die Erinnerung war so klar, als wäre sie nur ein paar Minuten alt. Sie sah ihn geradezu vor sich, wie er den Stein in der Hand gehalten hatte und in blendendes verzehrendes Licht getaucht gewesen war. Sie hatte seine Augen nicht sehen können, aber das Haar, das Kinn, das Lächeln. Er war es.

Ihre Vision hatte ihr damals ihr Gegenstück gezeigt und auch sein Leben war mit den Steinen untrennbar verwoben. Kein Wunder, dass sie ihre ganze Reise als ihr Schicksal empfunden hatte. Es war ihre Bestimmung gewesen, diesen Weg zu gehen und Dante zu finden. Jedoch, was würde er mit diesem Stein anfangen, wenn es so weit sein würde? Vage erinnerte sie sich, dass sie sich damals nicht sicher gewesen war, ob der Mann in ihrer Vorahnung ihr Leid zugefügt hatte, oder ob es jemand anderes gewesen war. Denn bei genauerem Betrachten hatte sein Schatten sie von den verbrennenden Lichtstrahlen geschützt. Oder war das ihre jetzige Wunsch-Interpretation?

Oh Mann, Chaos! Ihre Gedankenwindungen ächzten. So viele Gefühle erfüllten ihren ganzen Körper, dass sie sie kaum mehr von einander trennen konnte und ihr Gehirn klinkte sich aus. Es war einfach alles zu viel auf ein Mal. Diese ganzen Fragen, was ihre Zukunft jetzt für sie bereithielt, da ihr Gegenstück plötzlich vor ihr stand, die Steine und…Pareios.

Ihr logischer Verstand nahm sich eine Pause und übrig blieben nur die Empfindungen dieser surrealen Begegnung mit diesem Mann, dem es vorherbestimmt war, sie zu lieben, für alle Zeiten. Der Mann, den auch sie verehren, begehren und schützen würde, bis an ihr Lebensende.

Wehmut und Sorge, aber auch Freude und Glück mischten sich, sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, also saß sie einfach nur still da und starrte ihn an, während die Emotionen in ihr mit einander rangen.

„Darf ich?“ fragte er und deutete auf einen der Stühle, die neben ihrem Bett standen. Sie nickte beklommen, begierig seine Nähe zu spüren. Obwohl er noch geschwächt sein musste, waren seine Schritte fest und elegant. Er strahlte eine zurückhaltende, aber dennoch geheimnisvolle Stärke aus. Die offenkundige Ruhe, die in den Bewegungen lag, diente dazu etwas Anderes, etwas Rohes und Ursprüngliches zu zügeln. Irgendwie fand sie sich selbst so gleich in ihrem Gegenüber wieder und in ihrem Bauch begann es zu kribbeln. Ein Gefühl, das sie vorher nur für Pareios reserviert hatte. Der Gedanke an ihn versetzte ihr einen Stich ins Herz.

Dante setzte sich und stützte die Ellenbogen auf die Knie, dabei lehnte er sich nach vorn.

„Aurelia, nicht wahr?“

Nachdem sie erneut nur nicken konnte, fuhr er mit freundlichem Gesichtsausdruck fort. „Man nennt mich Dante. Mein Gedächtnis lässt mich zur Zeit im Stich, ich weiß nicht, ob ich wirklich so heiße.“ Seine Augenlider klappten nach unten, als er beschämt zu Boden sah. Die Geste offenbarte Verwirrung und Unsicherheit.

„Nein, ähm. Den Namen hat man dir hier gegeben, weil keiner den echten kennt.“ Aurelias Stimme war kratzig, nun da sie sie wiedergefunden hatte. Dante tat ihr Leid und sie wollte ihm dieses Verloren-Sein nehmen. „Aber ich habe dich schon Mal gesehen.“

„Wirklich? Wo denn?“ Unverkennbare Aufregung brachte seine wehmütigen Augen, umrahmt von langen bronzefarbenen und blonden Wimpern zum Aufleuchten.

Sie zögerte, die volle Wahrheit war wohl für den Anfang zu viel. „Ich hatte eine Vision von dir, mit viel Licht und so, war ziemlich beeindruckend.“

Beide grinsten sich an.

„Und was habe ich getan?“

„Nicht so viel, hauptsächlich hast du dagestanden.“

„Oh ja, das klingt ganz nach mir. Sehr beeindruckend.“ witzelte Dante in ironischem Tonfall. „Obwohl, woher soll ich das schon wissen?!“ Diese sarkastische Seite teilte er mit Aurelia und sie lagen unbestreitbar auf einer Wellenlänge. Sie kamen ohne Weiteres ins Gespräch, wobei er ihr sofort sympathisch erschien

„Du bist also eine Hellseherin?“

Aurelia schüttelte  langsam den Kopf, aber es ging jetzt schon viel besser als vorher und auch sonst erholte sie sich zusehends schneller. Vielleicht weil er bei ihr war?

„Naja, so was in der Art. Normalerweise ist es mehr so eine Intuition für die nächsten Sekunden bis Minuten. Wenn ich weiter in die Zukunft gehe, wird es wirr und undeutlich und auch gefährlich für mich. Es ist schwer zurück zu finden und nicht alles, was ich sehe tritt auch ein, es hängt von verschiedenen Entscheidungen ab.“

„Klingt… komplex.“

„Ja!“ Sie lachte. „Und du? Was ist deine Gabe?“
„Gute Frage, wüsste ich auch gerne. Ich fühle mich stark, glaube ich. Aber Pareios hat mir erklärt, dass das normal für Elevender ist.“

„ Erinnerst du dich an gar nichts?“

Dantes helle Augen richteten sich in die Ferne, als würde er versuchen etwas Spezielles zu erkennen, aber schon bald schloss er sie müde.

„Ich weiß in etwa, wie die Welt funktioniert, Elevender, Menschen, Hegedunen. Aber der Rest… Ich bin vorgestern in diesem Raum aufgewacht und Gregorowicz… ich glaube, er hat mir etwas gespritzt… und dann kam Evrill rein und hat ihn in Schach gehalten. Kurz darauf sah ich Pareios und dann kamst du… und… ähm… dann war das Wie, Wo, Wer egal. Du hast ums Überleben gekämpft. Das Wichtigste war, dich zu retten.“

Betreten sahen sie einander wieder an. Dantes Blick wanderte über ihr Gesicht und den Oberkörper zu den Händen, langsam ergriff er die Unverletzte. Die Berührung kam einer Offenbarung gleich, selbstverständlich schoben sich ihre Finger in einander, als hätten sie dies schon hunderte Male getan. Seine Haut war für sie geradezu exquisit, fast heilsam. So komisch, dass ein quasi Fremder ihr dies alles vermittelte.

 

„Spürst du es auch?“

Heftiges Wummern in der Brust und eine magische Verbindung zwischen ihnen? Den Eindruck, die Grenzen seines eigenen Selbst nicht mehr erkennen zu können, weil man scheinbar in der anderen überging? Als wäre man Eins. Ein Atem, ein Herz, eine Seele. Verdammt, diese Gegenstück-Erfahrung war einfach unglaublich.

„Ja.“ hauchte sie die Antwort, aber er wusste es schon. Er konnte es durch die Berührung ertasten. Es würde ihn nicht viel Zeit kosten, auch den Rest über sie und ihre Vergangenheit in ihr zu lesen. Aber es würde keine Rolle spielen, genauso wenig wie es für sie eine Rolle spielte, wie alt er war, woher er kam, oder was er getan hatte. Sie gehörten zusammen, alles Andere war zweitrangig. Keine Angst, keine Zweifel, nur Ruhe und Gewissheit.

Aber da fiel ihr etwas auf. Denn während er offensichtlich in ihr las, wie in  einem offenen Buch mit vielen beschrieben Seiten, konnte sie ihrerseits in ihm nur leere, weiße Blätter erspähen. Nichts außer den jüngsten Ereignissen und dieser unerwarteten und doch lodernden Leidenschaft für sie, Aurelia. Dieses Gefühl schien in ihm alles zu beherrschen, seine Gedanken einzunehmen. Sie errötete prompt und natürlich wusste er warum, keine Ausrede möglich.

„Hör zu, ähm. Ich weiß nichts über mich, außer, dass ich wohl gerne lese und… dass wir... Ich meine, zuerst dachte ich, ich erkenne dich aus meinem alten Leben wieder, aber Pareios hat mich darüber aufgeklärt, dass wir uns nie vorher begegnet sind und ich weiß nicht wieso, aber ich vertraue ihm. Ich glaube, er ist ein aufrichtiger Typ.“

Aurelia schmerzte es wieder, als Pareios‘ Name fiel. Sie war eingenommen von Dante und seiner reinen, männlichen Aura, die gepaart mit dieser unschuldigen Naivität noch attraktiver war  und doch… Entschlossen schnitt sie selbst diesen Faden ab, aber es tat weh.

„Ich denke du vertraust Parios, weil sich eure Wege schon Mal gekreuzt haben. Ihr wurdet beide in Berlin gefangen gehalten. Er mochte dich. Er respektierte dich.“ Jetzt war sie wirklich ernsthaft traurig, während Dante erstaunt die Augenbrauen hob, die eine perfekte Form hatten und seinem Aussehen etwas Zeitloses und Vornehmes verliehen.

„Was ist dort mit uns passiert?“ fragte er in schneller Wortfolge nach, voller Neugier darauf, seine leeren Seiten mit ein paar Informationen über sich zu füllen.

„Man hat euch gefoltert. Ihr musstet einander dabei zusehen und Pareios hat viele Narben davon.“

Dumpfes Begreifen formte sich in seinem schönen Antlitz, als könne er nun eine Verbindung herstellen.

„Ich habe auch Narben, aber ich dachte, ich hätte sie von Gregorowicz… Wer hat das getan und warum?“

„Ich weiß nicht, aber es waren Hegedunen. Damals dachten wir du wärst tot.“ Es war schrecklich, ihn so zu sehen, völlig auf sie angewiesen, etwas über sich selbst zu erfahren. Nichts davon gehörte mehr ihm und alles was ihm Halt gab, waren diese intensiven Gefühle zwischen ihnen beiden.

Mittlerweile fühlte sie kaum mehr körperlichen Schmerz und die Bewegungen waren schon wieder flüssig, als ob sie sich Kraft von Dante geliehen hätte und diese sie jetzt durchströmte. Das ganze Gefühlchaos, gekrönt von der Sehnsucht nach diesem unbekannten, rätselhaften Mann, den sie aus unerfindlichen Gründen mit jeder Zelle als ihr Eigen betrachtete. Meins, war die klare Botschaft ihres Unterbewusstseins. In ihr regte sich der Wunsch, in das kastanienfarbene Haar zu greifen, seinen Geruch und Geschmack auf der Zunge zu schmecken und jeden Zentimeter und Winkel seines Seins zu erkunden. Alles schien schon jetzt wie für sie gemacht.

„Pareios ist also freigekommen, aber ich….?“

„Damals war es nicht möglich… es war ein Wunder, dass wir überhaupt überlebt haben. Von dir habe ich erst später erfahren und dann, wie gesagt, dachten wir, du seist dort umgekommen. Ich konnte ja nicht ahnen, wer du bist.“ begann Aurelia sich vor dem fast Fremden zu rechtfertigen. Aber sie fühlte sich verantwortlich, unsinnigerweise, denn woher hätte sie dies alles wissen sollen? Sie hatte ihre Intuition nicht ein einziges Mal in ihrem Leben dazu benutzt, etwas über ein etwaiges Gegenstück herauszufinden. Wer hätte schon gewusst wo ihre Gabe sie bei diesem Vorhaben überhaupt hingeführt hätte und ob sie dann auch wieder zurück gekommen wäre. Das Risiko war ihr immer zu hoch und die Liebe zu gefährlich erschienen.

„Das heißt, du warst dort und hast ihn befreit?“ erkundigte er sich vorsichtig mit einer Spur Argwohn in der Stimme.

Sie gab es zu und tauchte dabei in dieses karibische Paradies von schillernden Türkis- und Jade-Tönen in seinen Augen ein. Es vermittelte die Wärme der tropischen Temperaturen und auch eine geheimnisvolle Exotik, die sie noch nicht ganz fassen konnte, aber als ungemein betörend empfand. Obwohl sie zunächst sein Mistrauen gespürt hatte, sprach nun aus seinem Gesicht eine liebevolle Hingabe. Als hätte er etwas nach kurzem Widerstreben akzeptiert.

 

„Dieser Pareios und du, ihr habt da Etwas, oder?“

Aurelia biss sich unwillkürlich auf die Lippen. Klar, dass sie vor Dante nichts verborgen halten konnte, schon gar nicht einen so großen Bestandteil ihrer selbst, den Pareios immer noch darstellte, wurde sie sich verwundert bewusst.

Aber wie hatte sie sich das auch vorgestellt? Dass in dem Moment, in dem man seinem Gegenstück begegnete, alles ausgelöscht wurde, was man vorher gefühlt hatte?

Wohl kaum. Und jetzt konnte sie auch Viktors Verhalten auf eine ganz andere Weise verstehen. Nur weil er Meredia getroffen hatte, hieß das nicht, dass der ganze Berg an verworrenen Emotionen, den er für Aurelia gehegt hatte, verschwunden war. Es war immer noch da und wahrscheinlich würde es erst mit viel Zeit verschwinden, wenn überhaupt.

Oder war es eine Frage der Wahl? Die Frage einer Entscheidung?

„Ich liebe ihn. Wir sind ein Paar, glaube ich.“ gestand sie schließlich leise. Sie wollte Dante dabei nicht ansehen, konnte den Blick aber auch nicht abwenden. Er hatte seine Hand nicht weggenommen, also fühlte sie sowieso, was ihre Worte in ihm bewirkten.

Das vorrangige Gefühl war Eifersucht, danach kam sofort eine schwere Wehmut, aber da war auch ein tiefes Verständnis, als er die Problematik erfasste.

„Da komme ich also genau zum richtigen Zeitpunkt!“ schloss er wieder in diesem sarkastischen Ton und ließ den Kopf entmutigt nach vorne fallen.

Aurelia wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Wie die Dinge lagen, würde alles Leugnen sie nicht weiter bringen. Die Wahrheit war schwer, aber der einzige Weg, die Sache irgendwie wie Erwachsene zu regeln. Obwohl sie keine Ahnung hatte, ob es für diese Art von Situation überhaupt eine Lösung gab. So etwas wie ein Patentrezept für absurde, verkorkste Dreiecks-Konstellationen?

Aber sicher, das konnte man sich bestimmt über Nacht per Express nach Hause liefern lassen!

 

Aurelia konnte dem Drang nicht widerstehen, ihm mit dem Daumen über den Handrücken zu streichen.

„Aber, wie es aussieht, bist du mein… Gegenstück.“ Es auszusprechen machte es noch wirklicher und ein Schauer durchfuhr sie. Sie konnte jedoch nicht sagen, ob er wohliger oder angstvoller Natur war. Die Ambivalenz ließ sie aufhorchen.

Sogleich fand sie sich von seinen strahlenden Augen gefangen. Sein triumphierendes Lächeln war breit und entblößte gut gepflegte Zähne.

„Und du bist meins. Das trifft sich doch gut!“ Aber als er ihre unglückliche Miene bemerkte, legte er den Kopf schief und betrachtete sie lange nachdenklich. Dann stellte er sanft fest: „Du weißt nicht, was du jetzt tun sollst. Das hier ist alles noch neu und frisch, ihn kennst du, ihn liebst du. Nicht zu vergessen, wir wissen alle nicht, wer ich bin.“

Aurelia war überwältigt von seiner Offenheit und dass er offensichtlich eine wache, natürliche Intelligenz besaß, die ihn befähigte, nicht nur ihrer beider Situation zu erfassen, sondern auch ganz klar seine eigene Lage hier im Bunker zu klassifizieren.

„Verzwickt.“

„Ja!“ pflichtete sie ihm aus tiefstem Herzen bei.

„Sieh mal. Ich will, dass du glücklich bist. Ich will dich… natürlich… kennen lernen, aber wenn dein Glück bedeutet, dass ich mich fernhalten soll, dann…“ Er schluckte hörbar. „.., dann ist es das. Du wirst von mir bekommen, was du willst,… egal was.“

Darüber zu sprechen, sich so ergeben zu fühlen, wirkte irgendwie fehl am Platz, wo sie sich gerade erst kannten und kein Wort über Liebe oder dergleichen verloren hatten. Aber dennoch, da war diese unbestreitbare, tiefe Verbindung zwischen ihnen und da sich schon jetzt so viel zwischen ihnen abspielte, wusste sie instinktiv, dass ihre Gefühle ihm gegenüber schon bald noch stärker werden würden.

Sie seufzte, als er sich ihr so bereitwillig auslieferte. Schon dieses Gebaren ließ eine heiße Zuneigung in ihr aufwallen. Ob es typisch für ein Gegenstück war, sich so zu verhalten, oder ob es typisch für ihn war, konnte sie nicht beurteilen, aber sie war beeindruckt. Mehr noch, sie verehrte ihn dafür.

Langsam entzog sie ihm ihre Hand, um sie an seine Wange zu legen. Seine Haut war weich, nur ein kurzer brauner Bartschatten kratze unter ihren Fingern. Er musste sich vor kurzem rasiert haben.

„Du bist mein Gegenstück. Wie könnte ich das wollen?“

Zurückhaltende Freude spiegelte sich in seinem nun jungenhaft wirkenden Gesicht.

„Dann wirst du ihn gehen lassen?“

37

„Ich… ich…“ stammelte Aurelia, unfähig über jegliche Konsequenzen nachzudenken, wenn sie sich von einem von beiden abwenden musste. Sie ließ die Linke sinken und drückte sie in die Decke. Vielleicht half Schreien oder Brüllen, oder eine Ohnmacht vortäuschen… Sie fühlte eine heftige Beklemmung und den Wunsch, diesem Augenblick so schnell wie möglich zu entkommen. Das ganze Laufen, real und vor sich selbst, hatte sie wohl zum Fluchttier gemacht.

„Ich kann das nicht entscheiden. Nicht jetzt und nicht so. Das ist alles so viel und plötzlich und…“ sie brach verzweifelt ab und beobachte wie er den Aufruhr in ihrem Körper in sich aufsog.

Beide wandten sie die Köpfe zur Tür, als es laut klopfte und Syrus kurz darauf erschien. 

Er schob einen kleinen Wagen, auf dem Verbandsmaterial und andere medizinische Gerätschaften aufgehäuft waren.

„Hallo Aurelia. Wie fühlst du dich?“ fragte er in die gespannte Stille hinein und kam langsam auf das Bett zu, wobei er das fahrbare Wundversorgungsmobil hinter sich herzog. Er schien sich nicht bewusst zu sein, auf welcher Party er gerade ungebeten erschienen war.

Nur mit Mühe konnte Aurelia sich jetzt auf eine ärztliche Konsultation konzentrieren, aber sie war doch eine willkommene Ablenkung von der problematischen Wendung, die ihr Gespräch genommen hatte.

„Besser, denke ich. Aber ich bin kein Arzt.“ Und die Schmerzmittel überdeckten wahrscheinlich alles, was noch von den körperlichen Strapazen übrig geblieben war. „Vielleicht brauche ich das hier nicht mehr.“ Hoffnungsvoll wies sie mit dem Daumen auf das Gerät neben ihrem Bett. Das Zeug machte sie ganz schummrig im Kopf und gerade jetzt sehnte sie sich nach Klarheit.

Dante erhob sich langsam. „Dann lasse ich euch Mal alleine.“  Ihr Gegenstück akzeptierte wohl, dass jedes weitere Drängen in diesem Moment sinnlos war und wechselte geschickt die Strategie. „Bestimmt werde ich noch eine Weile auf der Krankenstation festsitzen. Wie wäre es also irgendwann mit einem gemeinsamen Abendessen? Eine Chance habe ich doch wenigstens verdient?“ Er beugte sich vor und einige Strähnen seines schönen Haars fielen ihm dabei auf eine sehr nonchalante Weise in die Stirn. Seine Lippen streiften ihre Wange. Das elektrisierende Gefühl bewirkte, dass sich jedes noch so kleine Härchen an ihrem Körper aufrichtete. Verwirrt und erstaunt blickte sie auf, spürte den Kuss wie eine Brandwunde, nur nicht halb so schmerzhaft. Fast hätte sie die Hand gehoben, um die Stelle zu berühren. Schließlich nickte sie, unfähig ihm ihre Zustimmung zu verweigern. Wie unsichtbare Fäden zwischen ihnen, eine Verbindung, die sich schon jetzt nicht mehr abstreiten ließ. Egal was passieren würde, sie war es ihm und auch sich schuldig, ein paar Antworten zu finden.

„Gute Besserung.“ Er lächelte vorsichtig optimistisch, zwinkerte ihr zu und verließ dann das Zimmer. Sie war selbst überrascht, dass sie das Zwinkern äußerst sexy fand.

 

Schweigend ging Syrus ans Werk und befreite ihren Arm vorsichtig von den meterlangen Bandagen. Gemeinsam besahen sie die Pflockwunde an der Schulter, die schon weitestgehend verschlossen war. Die kreisrunde Stelle, an der sich die zart rosafarbene, neugebildete Haut schrumpelig zusammen zog, befand sich über der rechten Achsel, nur ein oder zwei Zentimeter unterhalb des Schlüsselbeins.

„Hervorragend.“ kommentierte Syrus ihre Wundheilung. „Selbst für einen Elevender sehr zügig.“ Kurz runzelte er die Stirn, während er ihr forschend in die Augen blickte. Obwohl sie keine telepathischen Kräfte besaß, meinte sie doch, erraten zu können, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging. Anstatt eines weiteren schlauen Kommentars bat er sie, den Oberkörper frei zu machen und zupfte dann das riesige, weiße Pflaster von ihrem Brustbein. Von oben konnte sie nur die untere Hälfte der langen Linie sehen, die bezeugte, dass ihr Thorax geöffnet worden war. Aurelia empfand dabei eine merkwürdige Distanz, als ob ihr Geist sich weigerte, zu akzeptieren, dass ihr das alles passiert war.

„Die Kugel hatte die linke Herzkammer durchstoßen. Du hattest verdammt viel Glück.“ Wieder widmete er sich der Begutachtung der ehemaligen Wunde. „Sehr gut.“ Sanft aber bestimmt bewegte er ihren Arm in alle Richtungen und bat sie dann, es selbst auch noch Mal zu tun. Nachdem sie seine Anweisungen befolgt hatte, setzte Syrus ein selbstzufriedenes Lächeln auf. „Du kannst dich wieder anziehen, das muss nicht mehr verbunden werden. Und in Anbetracht der Fortschritte deiner Genesung, denke ich, können wir die Schmerzmittel tatsächlich absetzen.“

Während er die Schläuche aus ihrem Arm entfernte, betrachtete Aurelia nachdenklich sein Profil. Unweigerlich kehrten ihre Gedanken zu den Steinen und der Situation im Bunker zurück, nun da sie sich offensichtlich in Rekordzeit erholte, was sie wahrscheinlich hauptsächlich Dante zu verdanken hatte. Sie fragte sich unwillkürlich, ob Viktor auch schon öfter von dieser Art von Verbindung profitiert hatte? Entschlossen forderte sie sich selbst zu mehr Konzentration auf. Steine, Bunker.

„Wie steht’s mit den ganzen Tests?“

Sofort verschloss sich Syrus‘ Miene und er gab sich äußerst beschäftigt damit, die medizinischen Gerätschaften abzustellen und zur Seite zu rollen. „Keine nennenswerten Fortschritte.“ brachte er schließlich hervor, während er ihr den Rücken zu wandte.

„Wozu machst du sie eigentlich?“

Nach einem kurzen Moment, in dem er zu überlegen schien, sah er über die Schulter zum Bett. „Das hat viele Gründe. Aber sei versichert, dass ich nur die besten Absichten habe. Wir könnten auf so vielen verschiedenen Wegen von ihnen profitieren, wenn wir sie erst ganz verstehen.“ Die vage Aussage machte Aurelia misstrauisch, obwohl sein Tonfall sehr überzeugend gewirkt hatte.

„Und wie passen dann deiner Meinung nach die Forschungsreihe und die ganzen Spuren, denen wir gefolgt sind, und Gregorowizc ins Bild?“

„Gar nicht.“ kam die knappe Antwort. „Ich glaube, wir übersehen etwas Wichtiges. Es scheint als hätte jemand Brotkrumen für uns ausgestreut, um uns an der Nase herum zu führen und den eigentlichen Zweck der Steine zu verschleiern.“

Aurelia war verdattert. „Der da wäre?“

Syrus zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Ich wünschte, ich könnte auch diese Frage beantworten, aber noch konnte ich mit meinen Nachforschungen keinen Durchbruch erzielen.“

 „Äußerst aufwändige, überzeugende Brotkrumen.“ entgegnete Aurelia, nachdem sie einen Augenblick über seine Worte nachgedacht hatte. „Was wäre, wenn ich derselben Meinung wäre?“

Nun blickte sich auch Syrus im Raum um, als ob er etwas suchte. Er fühlte sich sichtlich unwohl, aber er kehrte doch zu ihrem Bett zurück und stellte ein kleines Gerät auf dem Nachttisch ab, das er sofort anschaltete.

„Es sendet hochfrequente Störwellen ab, so kann unser Gespräch nicht durch technische Mittel belauscht werden.“ Syrus ließ sich auf demselben Stuhl nieder, auf dem Dante gesessen hatte. Seine Züge wirkten erschöpft und man sah ihm sein menschliches Alter deutlich an. Der weiße Kittel, den er über den dunklen Hosen trug, war zerknittert, er zog ihn enger um den schmalen Körper, als er die Arme verschränkte. „Also, was genau meinst du?“

„Sagen wir, ich habe kürzlich eine Information erhalten, die unsere Mission zu großen Teilen in ein anderes Licht rücken könnte. Ich kann noch nicht beurteilen, was relevant für die Steine ist.“ Sie zögerte und hatte das große Bedürfnis mit jemand ganz Bestimmtem darüber zu sprechen, um ihre Gedanken zu ordnen. Mit dem Einzigen, dem sie absolut uneingeschränkt vertraute. Die aufkommende Wehmut legte sich bitter auf ihr Gemüt, aber sie schluckte sie fürs Erste herunter. „Was hältst du von Markus‘ Verhalten?“ Ob er wusste, dass er in Markus‘ Auftrag Vorbereitungen für den Bau einer mächtigen Waffe traf?

„Markus hat sich verändert.“ Weise Worte eines Mannes, der sehr genau beobachten konnte. „Er war schon immer ein berechnender Stratege, aber er war nicht kalt. Jetzt gibt er sich undurchsichtig, was seine Beweggründe angeht und ich kann seine Entscheidungen nicht mehr nachvollziehen.“ Syrus stützte sein Kinn auf die geschlossene Faust.

„Heute Morgen gelang es mir endlich, die DNA eines der Steine zu entschlüsseln. Vor dem Hintergrund, dass die Steine organischen Ursprungs sind, bezweifle ich zu diesem Zeitpunkt, dass es ein Material gibt, das diese Energie aufnehmen und sie weiterverwenden kann. Ich habe versucht einen Stoff zu synthetisieren, der als Katalysator oder vielleicht sogar als eine Art Batterie fungieren könnte. Es gab dazu eine Formel in den Daten die ihr in Berlin entwendet habt.“

„Hast du deswegen das Labor sperren lassen? Weil das gefährlich ist?“

Syrus nickte.

„Aber wozu willst du so etwas herstellen? Was versprichst du dir davon, was verspricht sich Markus davon?“

„Ich will vor allem herausfinden, wozu die Steine hergestellt wurden. Da die Unterlagen über die Forschungsreihe nicht in primärem Zusammenhang zu den Steinen gebracht werden können und Gregorowizc jegliche Informationen verweigert, scheint mir dies der einzige Weg. Wozu sollten die Hegedunen menschliche Versuchskaninchen brauchen? Was sollten diese besitzen, an das sie nicht auch ohne einen solchen Aufwand gekommen wären? Und selbst wenn es um Energie ginge, wir wissen doch, dass es jetzt schon ausreichend regenerierbare Energiequellen gibt, wenn sie auch vor den Menschen geheim gehalten werden. Es muss einen anderen Grund für die Existenz der Steine geben. Was Markus‘ Motive angeht, kann ich nur Vermutungen anstellen.“

Aurelia erkannte erschrocken, dass Syrus wahrscheinlich Recht hatte. Sie war so auf ihr Gefühl konzentriert gewesen, dass sie der richtigen Spur gefolgt waren, hatte sich so sehr auf ihre Gabe verlassen, dass sie versucht hatte, alles was geschehen war, danach zu interpretieren. Doch nun, da ihr die Sicherheit fehlte, dass ihre Intuition ausschließlich auf der Jagd nach der Lösung um das Geheimnis der Steine gewesen war, sah sie sich gezwungen, auch andere Blickwinkel in Betracht zu ziehen. Die Hegedunen hatten etwas mit den Steinen vor und sie hatten sich große Mühe gemacht, eine Menge Fußspuren zu platzieren, denen die Legion folgen hatte können. Zusätzlich waren da die Pläne, die Markus und der Rat umzusetzen versuchten. Eine Waffe zu bauen, die so mächtig war, dass sie vielleicht einen Krieg entscheiden könnte, war ein Unterfangen, das mit äußerster Vorsicht zu betrachten war. Sicherlich stellte es einen unschätzbaren Wert dar, ja vermochte vielleicht sogar, das sprichwörtliche Ass im Ärmel zu verkörpern, doch hätte sie nie mit einem solch riskanten, gefährlichen Schritt gerechnet. Ein Krieg hätte viele Tote auf allen Seiten zur Folge und selbst wenn die Legion und die Menschen ihn zu ihren Gunsten wenden würden können, würde er den Planeten, die Grundlage allen Lebens, in Mitleidenschaft ziehen, möglicherweise sogar zerstören. Ein Preis, den bisher keine der beteiligten Parteien zu zahlen bereit gewesen war.

Und irgendwo in diese Überlegungen musste ihr Gegenstück passen, das sie nun unwissentlich in den Bunker geholt hatten, wo sich auch die Steine befanden. Ihre Vision war nicht mehr nur ein bloßer verschwommener Schatten in der Zukunft.

Aurelia fluchte bei dieser Erkenntnis ungehalten, doch noch hatte sie die Hoffnung, dass Dante auf ihrer Seite stehen würde, sollte es zum großen Show Down kommen. Dies hatte ihre Vision mehr oder weniger offen gelassen. Fest stand jedoch, dass sie ihn im Auge behalten musste, so oder so. „Sind die Steine sicher verwahrt?“

„So sicher wie möglich. Ich habe das Labor abriegeln lassen.“ Auch das hatte ihr Pareios schon berichtet, aber das hatte sie nicht gemeint.

„Nur du solltest Zugang haben, das wäre vorerst das Beste.“ Sie wusste nicht, ob sie Syrus anvertrauen sollte, dass Dante ihr Gegenstück und der Mann in ihrer Vision war. Aber etwas anderes musste sie dringend ansprechen, um zu klären, ob sie sich in diesem Punkt auf den Wissenschaftler verlassen konnte. „Machst du die Steine zu einer Waffe?“

Syrus zeigte keine Überraschung, was Aurelia wiederum nicht verwunderte. Er war wirklich erschreckend intelligent, nicht mal ihre Intuition konnte da mithalten.

„Ich bin Arzt. Die Herstellung eines Mordinstruments widerstrebt meinen ethischen Grundsätzen. Bei dieser Frage verwechselst du den Adressaten.“ erklärte er schließlich kühl. Obwohl der ältere Mann es nicht zeigte, spürte Aurelia, dass diese Erkundigung eine Art Beleidigung für ihn bedeutete.

„Also hat dich jemand darum gebeten?“

„Nicht wortwörtlich. Aber dieser Jemand schließt eine militärische Nutzung der Steine bestimmt nicht aus.“ Sie waren sich beide im Klaren darüber, über wen sie sprachen. „Ich glaube allerdings nicht, dass dies bei der aktuellen politischen Lage Rückhalt unter den Elevendern der Legion finden wird.“

Aurelia verzog das Gesicht. Sie war sich da nicht mehr so sicher. Da sich der Rat gerade jetzt versammelte, konnte sie diese Möglichkeit nicht mehr ausschließen. „Ich fürchte, das könnte sich ändern.“

Syrus fixierte sie aufmerksam, mit nachdenklichem Gesichtsausdruck beugte er sich vor. „Sprichst du von besagten Informationen, die du erst kürzlich erhalten hast?“

„Auch.“ Widerstrebend sprach sie weiter, wobei sie ihn ihrerseits genau beobachtete. „Du solltest Markus auf jeden Fall an der kurzen Leine halten, wenn es um deine Forschungsergebnisse geht. Außerdem wäre ein Plan B nicht schlecht. Vielleicht wird es irgendwann nötig, die Steine unschädlich zu machen. Hast du darüber schon Mal nachgedacht?“

„Jeder Organismus hat eine Schwäche.“ sagte er nur.

„Aber wirst du es auch tun, wenn der Zeitpunkt gekommen sein sollte?“

Sie suchte seinen Blick, als er ihr mit einem Neigen des Kopfes seine Zustimmung gab. „Du kannst dich darauf verlassen, dass ich das Richtige tun werde.“

Während Aurelia noch aufging, dass er damit nicht auf ihre Frage geantwortet hatte, stand der Grauhaarige schon auf. Seine Kniegelenke und der Rücken knackten, als er sich vollends aufrichtete. „Was deine Geheimniskrämerei betrifft, so lass dir gesagt sein, dass du Markus in nichts nachstehst.“

Aurelia wollte etwas erwidern, aber er hob abwehrend die Hand, schon bei dem kleinen Verbandswagen angekommen, den er gar nicht benutzt hatte. „Ich begreife die Notwendigkeit, Informationen zurück zu halten, aber du wirst mir zustimmen, wenn ich sage, dass ich nicht blind agieren kann.“

„Ich verstehe.“ gab sie nach einer kurzen Pause zurück und er verabschiedete sich höflich.

 

Aurelia sinnierte weiter, wurde jedoch bald von wesentlich primitiveren Bedürfnissen abgelenkt. Ihr Magen knurrte, als hätte er schon eine ganze Weile nichts mehr bekommen, was wahrscheinlich auch der Fall war, sie konnte sich kaum an ihre letzte Mahlzeit erinnern. Schon bald verkrampfte sich das leere Organ zu einem schmerzhaften Knoten in ihrem Oberbauch, doch zuerst wollte sie sich der Körperhygiene zuwenden, die in letzter Zeit auch zu kurz gekommen war.

Sehnsüchtig blickte sie zu dem Durchgang gegenüber von der Tür zum Flur. Milchglas versperrte die Sicht in ein kleines Bad, das an das Krankenzimmer angeschlossen war. Die Waschräume auf der Krankenstation waren besonders ausgebaut, sodass sie auch von Verwundeten und ihren Betreuern benutzt werden konnten. Aurelia schob erst ein Bein aus dem Bett, dann das Zweite, vorsichtig belastete sie beide ein wenig. Da sie nicht nachgaben wurde sie mutiger und stand langsam auf. Nach einer Verschnaufpause, in der sie ihr Gleichgewicht einzuschätzen versuchte, schlurfte sie los in Richtung Bad.

Auf halbem Wege jedoch, begann das Zimmer um sie herum zu schwanken wie ein Schiff bei heftigem Seegang. Unsicher geworden streckte sie die Hände aus, um sich bei einem Sturz abzufangen. Gerade geriet sie in eine gefährliche Schieflage und machte sich schon auf einen unangenehmen Aufprall gefasst, als sie an den Schultern gepackt und stabilisiert wurde. Der Druck auf der ehemaligen Wunde auf der rechten Seite verursachte einen stechenden Schmerz und ließ sie zischend durch die Zähne Luft holen.

„Entschuldige!“ Sie verlor den Boden unter den Füßen, als Pareios sie auf seine Arme hob. „Hast du noch Schmerzen?“ Die Stirn an seine Schulter gelehnt, schüttelte sie leicht den Kopf und hoffte, dass der Schwindel schnell vergehen würde.

„Wolltest du ins Badezimmer?“ Ohne auf eine Antwort zu warten oder sie anzusehen, setzte er den Weg fort und platzierte sie auf einem Hocker in der Dusche. Der geflieste Raum war groß genug, dass man mit einem Rollstuhl hinein fahren konnte und besaß außer der ebenerdigen Dusche noch ein Waschbecken und eine Vielzahl von Ablagen und Haltegriffen. Schummriges Licht ersetze die Sonne, da es keine Fenster, sondern nur eine leise dröhnende Lüftung an der Decke gab, wie überall im Bunker.

Wortlos nahm er einen Kamm von einer der Ablagen und begann sanft ihr Haar zu entwirren. Er waren angenehme Gesten, die Fürsorge rührte Aurelia so tief, wie es sonst niemand bewirken konnte, auch nicht Dante. Das erstaunte sie, aber sie genoss die Berührung zu sehr, um sich weiter Gedanken darüber zu machen. Strähne für Strähne nahm er sich vor, hielt sie am Ansatz fest, während er kämmte, damit es nicht ziepte und ging dabei gründlich und ohne Hast vor. Seine Finger strichen immer wieder über ihren Hals, die Hornzinken kratzten vorsichtig über die Kopfhaut und beides jagte ihr Schauer über den Rücken.

Als er fertig war, legte er sein Werkzeug zur Seite und strich ihr den dunklen Schopf aus dem Nacken, um die Bänder des Kittels zu öffnen, den man ihr nach der Operation angezogen hatte. Er zog sich zurück, überließ ihr das weitere Entkleiden, indessen er den Duschkopf kurz über den Boden hielt und ihn anstellte. Nachdem er die Wassertemperatur geprüft und für zufriedenstellend befunden hatte, wandte er sich ihr zu und sah ihr in die Augen.

Die Intensität seines Blickes versengte sie, in seiner sonst grauen Iris glühten nicht nur Kohlen, es wirkte, als tanzten kleine Flammen darin. Komischerweise kam sie sich in ihrer Nacktheit nicht entblößt vor, eher erfasste sie eine freudige Erwartung und sie fühlte sich – anhand seiner unverkennbar männlichen Reaktion – begehrt. Diese Tatsache verstörte sie nicht halb so sehr, wie sie es vielleicht sollte, da sie vor noch nicht ein Mal ganz einer Stunde ihr Gegenstück getroffen hatte. Aber Pareios‘ Gegenwart verdrängte diese Überlegung. Allein, dass er hier stand und sich zum wiederholten Male um sie kümmerte, während sie ihm nichts zurück geben konnte, als Leid. Vielleicht war es einfach so, dass sie sich bei ihm zu Hause fühlte, weil er ihr Herz besaß. Und wenn dem so war, lag es nicht mehr in ihrer Hand darüber zu verfügen… oder es einem Anderen zu schenken. Trotzdem ließ sich ihre Verbindung zu Dante nicht wegleugnen und ihr Gewissen machte sich bemerkbar. Ihre Augen füllten sich mit heißen Tränen, aber sie blinzelte sie weg, ohne sie über ihre Wangen rollen zu lassen. Sie wollte ihn vor ihrem eigenen Schmerz schützen, aber gleichzeitig war sie nicht selbstlos genug, ihn fort zu schicken. Denn zweifellos wäre dies jetzt angebracht gewesen, wenn sie wollte, dass er wenigstens eine Chance hatte, diese Sache zwar mit ein paar Narben mehr, aber ungebrochen hinter sich zu lassen.

Pareios kam langsam auf sie zu. „Beug‘ den Kopf nach hinten.“ forderte er leise. Sie gehorchte und er hielt den angenehm warmen Wasserstahl an ihr Haar, ließ ihn dann weiter nach vorn spülen, schützte aber ihr Gesicht und ihre Ohren mit der anderen Hand. Er nahm Shampoo und verteilte es in den nassen Wellen, bevor er es zärtlich einmassierte. Aurelia schloss vor Genuss die Augen, beinahe hätte sie geschnurrt. Es war so einfach, sich ihm anzuvertrauen, sich bei ihm sicher zu fühlen. Sie schmolz unter seinen Berührungen und das Verlangen, ihn ihrerseits anzufassen, erwachte. Sie hielt sich zurück, obwohl es sie einiges an Kraft kostete, nicht sicher, ob er es überhaupt zulassen würde. Als der Schaum mitsamt dem Schmutz und dem getrockneten Blut aus ihren Haaren gewaschen war, half  ihr Krieger ihr dabei, sich einzuseifen. Seine großen, rauen Hände glitten über Arme und Beine und hinterließen eine heiße Spur. Sie wünschte sich, dass sie fester zupackten und sie die Angst vor dem Verlust vergessen ließen. Aufmerksam folgte sie seinen Bewegungen, wie er hingebungsvoll einen Fuß mit schäumendem Duschgel bedeckte, gleich danach mit dem anderen auf dieselbe Weise verfuhr und ihr schließlich aufhalf, um sie noch ein Mal abzuduschen. In der aufgestauten Hitze und dem heißen Wasserdampf, der sich in dem kleinen Bad gebildet hatte, war ihr nicht kalt, als sie die Hände auf seine Schultern legte und sich an ihm abstützte. Er steckte den Duschkopf in die dafür vorgesehen Halterung, gemeinsam wuschen sie auch den letzten Rest der vergangenen Nacht und des Schreckens ab. Bevor er dazu kam, das Wasser abzustellen, hielt sie es nicht länger aus und durchbrach die Stille.

„Pareios.“ Das Herz war ihr schwer, so schwer als ob Tonnen von Gewicht darauf lasteten.

„Ist das der Moment der Wahrheit?“ fragte er mit brüchiger Stimme.

Er musste in ihrem Gesicht gelesen haben, welche Worte sie nicht aussprechen konnte, denn er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. „Sag es noch nicht. Gib uns Zeit.“ Sein Daumen strich über ihre Wange. „Gib mir noch ein wenig mehr Zeit mit dir.“ murmelte er, dann küsste er sie. In ihrem Magen wurde es flau vor lauter Schmetterlingen und ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Ihr Körper und ihr Herz öffneten sich für ihn, gewillt, ihm alles zu geben, wonach er verlangte.

Leidenschaftlich erwiderte Aurelia den Kuss. Spürte wie Pareios sie damit in Besitz nahm und tat es ihm gleich, indem sie ihn fordernd an sich zog. So geriet er vollbekleidet unter den Strahl der Dusche, aber es kümmerte sie beide nicht. Die starken Arme dieses großen Mannes schlossen sich um sie, sie klammerten sich an einander fest und versuchten zu vergessen. Nur noch eine kleine Weile. Eine kostbare, köstliche Weile.

Aurelia schob sein Shirt hoch, aber da es durch die Nässe an seinem Körper klebte, musste er mit anfassen. Sie legte die Handflächen auf die breiten Muskeln auf seiner Brust und spreizte die Finger, fuhr die Konturen der Narben nach, küsste die goldbraune Haut. Dabei hielt er sie, ein Arm um ihre Taille geschlungen. Sie prägte sich seinen Geschmack ein, wollte jeden Moment auskosten, wo es doch vielleicht das letzte Mal sein konnte.

Ihre Lippen fanden sich wieder, heißer, keuchender Atem strich ihr über das Kinn. Ihr Geliebter brannte für sie, das Blut schien in seinen Adern zu kochen. Noch mehr Dampf erfüllte die Luft und er feuerte auch ihr Verlangen weiter an, als er zuerst sacht über ihr Brüste streichelte, dann eine umschloss und sie fest knetete. Bald schon waren seine kundigen Finger überall und brachten ihr Innerstes zum Vibrieren. Sie wollte nichts weiter als sich in seiner Umarmung zu vergraben und Welt da draußen hinter sich zu lassen. Zitternd öffnete sie die schwarze Cargohose, die zur Alltagskleidung der Elevender im Bunker gehörte und Pareios zog sie mit einiger Anstrengung samt Schuhe und Socken aus, wobei sie einander stützten.

Er bedeckte ihren Körper mit Küssen, erkundete die nasse, glitschige Haut mit Zunge und Zähnen. Gänsehaut rieselte ihren Rücken hinunter und ihre Brustspitzen richteten sich vor Vorfreude auf, wenn er seine harte Erektion gegen ihren Körper drückte. Schließlich hob er sie erneut mühelos hoch, schlang sich ihre Beine um die Hüften. Nur einen Moment später spürte sie ihn in sich, erstickte ein lautes Stöhnen an seinem Hals und begann, sich mit ihm zu bewegen.

 

Wie schon in ihrer ersten Nacht war die Begegnung berauschend. Die Nähe, die Berührungen und das schwere Klopfen seines Herzens, all das vereinnahmte sie. Wenn sie ihm in die Augen blickte, sah sie, was sie hätten sein können, sah, was sie waren und was er ihr bedeutete. Aurelia wurde klar, dass, egal wie sie sich auch entscheiden mochte, einen Teil ihres Herzens und ihres Selbst würde immer Pareios gehören. Er hatte sie erweckt und ihre gezeigt, zu welch tiefen Gefühlen sie trotz all ihrer Vergehen und schlimmen Taten noch fähig war. Er hatte sie befreit, indem er ihr vermittelt hatte, dass auch sie eine solche Zuneigung verdiente. Vielleicht war es der Entstehungszeitpunkt, der diese Beziehung so wertvoll für sie machte, vielleicht war es auch einfach nur Pareios. Aber etwas in ihr hatte sich auf einer Ebene an ihn gebunden, auf die sie möglicherweise keinen willentlichen Zugriff hatte.

Sie konnte ihn nicht zurückweisen, konnte ihn nicht zurücklassen. Jetzt nicht und vielleicht niemals.

38

Nachdem sie sich abgetrocknet und in die flauschigen Frotteehandtücher gewickelt hatten, setzte sich Pareios auf den Stuhl in der Dusche und zog sie auf seinen Schoß. Lange umschloss er sie und vergrub das Gesicht in ihrem feuchten Haar. Aurelia kuschelte sich an seine kräftigen Schultern und wollte den Moment nicht enden lassen, in dem sie so etwas wie Frieden in seinen Armen empfand. Es verblüffte sie, dass die Gefühle zu Pareios stark genug waren, um mit denen für ihr Gegenstück zu konkurrieren, zumindest jetzt noch. Vage erfasste ihr Verstand, dass ihre einzige Option, ihre Emotionen zu beeinflussen, in ihren Handlungen lag.

Wenn sie Abstand zu Dante hielt und sich weigerte, ihn näher kennen zu lernen, konnte sie womöglich verhindern, dass die Verbindung zu ihm so stark wurde, dass sie die zu Pareios überschattete, auch wenn sie Dante nicht vergessen würde können. Bräche sie den Kontakt zu Pareios ab, würde der umgekehrte Fall eintreten.

Es lag also an ihr, eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die sie weder treffen wollte, noch konnte, nicht heute und auch nicht in der Zukunft.

 

Sachte legte er sie auf dem Bett ab und gab ihr einen letzten Kuss, bevor er verschwand um Kleidung und etwas zu Essen zu besorgen.

Wenig später saßen sie beide angezogen auf der Bettdecke und ließen sich Pareios‘ Errungenschaften schmecken. Er hatte leckeren Braten mit Soße und Kartoffelpüree aufgetrieben, dazu ein paar gedünstete Brokkoliröschen. Aurelias Geschmacksknospen jubilierten unter den Ansturm der Aromen des deftigen Fleisches und des cremigen Pürees und sie verschlang alles genüsslich. Gründlich kratzte sie die letzten Reste vom Porzellan,  spähte dabei schon auf Pareios‘ Teller, den er bis jetzt nicht angerührt hatte und den er ihr nun auch noch herüber schob. Nach der zweiten Portion lehnte sie sich gesättigt und leicht schläfrig zurück, eine Hand auf den gut gefüllten Bauch gelegt. Tatsächlich waren die Schmerzen nicht zurückgekehrt, jetzt wo das Schmerzmittel langsam abflaute. Die Nahrung tat ihr übriges, sodass Aurelia sich schon fast wieder wie die Alte fühlte, lediglich ein leichtes Zwicken in Brust und Schulter erinnerte an ihre Verletzungen. Nach ein paar weiteren Stunden würde man davon keine Spuren mehr entdecken können.

Pareios rückte neben sie und stützte den Rücken ebenfalls am Kopfteil ab. „Du hast dich sehr schnell erholt.“

„Es liegt an ihm.“ antwortete sie und biss in den sauren Apfel, ihm die Wahrheit zu sagen. So sehr sie sich auch gewünscht hatte, dem bevorstehenden Gespräch zu entkommen, sie konnte es nicht länger aufschieben, vor allem, da es nicht nur ihr privates Problem betraf. „Er ist mein Gegenstück.“

Der Dunkelhaarige erstarrte und Aurelia wagte kaum zu atmen, während sie zu ihm herüber sah. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war nicht zu deuten und auch wenn nicht ersichtlich war, dass ihn die Worte getroffen hatten, ihr tat alles weh. Sie holte tief Luft und wappnete sich gegen seine Reaktion.

„Und was wirst du jetzt tun?“ Sehr leise.

„Ich… weiß es nicht. Er ist der Mann, den ich in meiner Vision von den Steinen gesehen habe, Pareios.“ Er fuhr ruckartig herum und starrte sie entsetzt an. „Er könnte der Feind sein…., oder meine Rettung.“

„Das heißt, ich habe nicht nur dein Gegenstück in den Bunker geholt, sondern auch noch dafür gesorgt, dass deine Vision jetzt tatsächlich eintreten kann?“ Schlagartig stieg die Raumtemperatur an. Pareios strahlte eine derartige Hitze ab, dass sie von ihm abrücken musste, um den Auswirkungen seiner Wut zu entgehen. Als er bemerkte, wie Aurelia Reißaus nahm, riss er sich jedoch schnell am Riemen.

„Es ist nur, ich… Du hättest dich nicht für mich opfern sollen. Du wärst beinahe gestorben und wozu? Du hast eine Zukunft, ein Schicksal, das auf dich wartet und noch vor dir liegt. Ich dagegen… habe jetzt nur noch die Vergangenheit. Es hätte keinen Unterschied gemacht.“

Hätten sich Silben manifestieren können, hätten sie Aurelia ins Fleisch geschnitten. Dieser verzweifelte, traurige Zorn in seiner Stimme. Die Worte, die klangen, als hätte sie sich schon entschieden, als befänden sie sich bereits am Ende des gemeinsamen Wegs.

Panik stieg in Aurelia auf. Die Möglichkeit, dass Pareios ihr die Entscheidung abnehmen könnte, war ihr bisher nicht in den Sinn gekommen. Aber wenn sie darüber nachdachte, war die Reaktion nur logisch. Welche Optionen hatten sie denn? Ein Leben mit ihm würde immer von dem Wissen beeinträchtigt werden, dass ihr Gegenstück irgendwo da draußen war. Dass eine Verbindung zu einem Menschen existierte, die mit nichts anderem zwischen Himmel und Erde verglichen werden konnte. Wie hätte er gegen so etwas ankommen sollen?

Andererseits gab es auch nichts, zu dem er hätte zurückkehren können und wenn sie sich für ihn entscheiden sollte, dann wäre er doch offensichtlich ihre erste Wahl. Es musste doch einiges wert sein, vor einem Gegenstück den Vorzug zu erhalten. Sie hatte noch nie davon gehört, dass ein Elevender, der sein Gegenstück getroffen hatte, sich dagegen entschied, mit ihm zusammen zu sein. Ob dies trotzdem schon ein Mal vorgekommen war? Vielleicht, wenn man auf gegnerischen Seiten stand, aber so?

Neben ihrer Betroffenheit empfand sie nun ebenfalls Wut darüber, dass er sich bereits vor ihr zurückzog. Doch gleichzeitig entstanden Schuldgefühle, weil sie so egoistisch war, dass sie ihn nicht los lassen wollte. Und dann auch noch der Ärger und das Unverständnis, dass er es dafür sehr wohl konnte, auch wenn es ihn verletzte. Er war immer der stärkere von ihnen beiden gewesen. Also antwortete sie schärfer als beabsichtigt: „Wag‘ es nicht, so etwas noch ein Mal zu sagen. Wag‘ es nicht, so zu tun, als wäre jetzt alles vorbei.“

Pareios war aufgesprungen. Neben dem Bett stand er nun, die Luft um ihn herum flirrte vor Hitze, seine Pupillen glühten weiß. „Ach nein, was ist es denn dann? Was glaubst du, das du mir jetzt noch anbieten könntest? Denkst du, ich könnte dich für mich beanspruchen, wenn ich doch weiß, dass dein Gegenstück den Gang runter sitzt? Hältst du mich für einen verkappten Masochisten?“ Erschrocken bemerkte Aurelia, dass ihr Geliebter ihr gegenüber noch nie laut geworden war, umso mehr Gewicht bekam die Tatsache. Dann verengte er die Augen und sein Tonfall wurde ätzend. „Oder hast du etwa gehofft, dass wir zu dritt ins Wunderland einreiten?“

„Nein!“ Entschieden wies sie den Vorwurf von sich, sie hätte vor Entrüstung aufschreien können.  Dante war der Kerl aus ihrer Vision, ganz bestimmt hatte sie keins der Szenarien im Kopf gehabt, die Pareios ihr entgegen schleuderte. Aber sein Aufbrausen stachelte sie an und bot auch ihr ein Ventil für ihre Verzweiflung und Trauer über die ausweglose Situation, weshalb sie nun ebenfalls brüllte. „Ich kann das nicht. Ich kann mich nicht einfach so umdrehen und alles, was wir erlebt haben, was zwischen uns ist, begraben. Es ist ja schön für dich, wenn du es kannst, aber ich nicht! Ich nicht, kapiert!?“

„Entschuldige bitte, ich vergaß, dass du ja hier die ewige Masochistin bist.“ Hände ringend schritt Pareios auf und ab, die Atmosphäre im Raum pulsierte von der Energie, die er abstrahlte. „Aber dein Mitleid kannst du dir sonst wohin schieben! Du kannst nicht alle davor retten, allein zu enden. Hör‘ verdammt noch Mal damit auf, dich für mich zu opfern!“

Der Zorn zwischen ihnen beiden stieg weiter an. Aurelia war mittlerweile so erzürnt, dass sie aufsprang. Am liebsten wäre sie auf ihn zu gerannt, um ihn zu schütteln, damit er wieder zur Vernunft kam. Er konnte doch nicht allen Ernstes beabsichtigen, es so enden zu lassen? Die Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen, als sie die Fäuste ballte.

 „Ich opfere mich nicht für dich. Ich bin eine selbstsüchtige Person, falls dir das bisher entgangen ist. Kannst du denn nicht begreifen, dass mir das Herz heraus reißen müsste, um dich zu vergessen?“

Ein leises Grollen erschütterte den Boden und die Wände, sodass das Licht flackerte und das Bettgestell zu klappern begann. Pareios‘ Anblick ähnelte einem Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Seine innere Zerrissenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben, all die widersprüchlichen Emotionen lagen in der Luft, die interessanterweise nach Rauch schmeckte.

„Hör‘ auf! Nicht ein einziges Wort mehr!“

„Nein, ich..“

„Warum willst du mich quälen?“

„Ich will dich nicht quälen, ich liebe dich!“ Die Mischung aus Sehnsucht, Angst und Wut trieb ihr die Tränen in die Augen, die kurz darauf über ihre Wangen rannen.

Mit einem Knall implodierte die Energie im Raum, die Stühle flogen gegen die Wände und die Milchglasscheibe der Schiebetür zum Bad zersprang in tausend scharfkantige Scherben, welche herab regneten und einen glitzernden Sternenteppich auf dem Boden bildeten. Die Druckwelle aus heißer Luft hätte Aurelia von den Füßen gerissen, wenn sie nicht im selben Augenblick in Pareios‘ Arme gezogen worden wäre. Mit Sicherheit verpasste sie ihm ein paar Striemen an den Schultern, als sie sich darin verkrallte. Ihre Lippen suchten bereits die seinen, voller Verlangen danach, die Probleme zwischen ihnen wegzuwischen. Beide schwelgten in einer Art zornigen Begierde. Dadurch wurde der Kuss grob, strotzte nur so vor Aggression, aber sie hielten dagegen, versuchten, die Verletzung anders zum Ausdruck zu bringen, weil es keine Lösung für ihr Dilemma zu geben schien. Pareios zerquetschte sie fast, während er sie an sich presste, die eine Hand besitzergreifend auf ihrem Nacken und doch konnte sie ihm nicht nah genug sein.

Nach einem endlosen Moment lösten sie sich keuchend von einander und sahen sich an. Die Welt wäre nicht genug gewesen, um die unausgesprochenen Gefühle zu ermessen, die zwischen ihnen waren. Aber trotz allem standen sie da, mitten in einem Scherbenhaufen, in flimmernder Hitze, umringt von Zerstörung und hielten sich, so fest sie nur konnten.

 

 

 

Aurelia stand in ihrer Kammer. Sie ließ den Blick über ihre Habseligkeiten gleiten, die eigentlich keine waren. Alles war Teil der Einrichtung des Zimmers, außer der Kleidungsstücke in dem kleinen Schrank gehörte ihr nichts und hatte auch keine Bedeutung für sie. Trotzdem hatte sie es immer als ihr Zimmer betrachtet, zumindest eine Art Rückzugspunkt darin gesehen, eben einen Ort, an dem man sich ausruhen und nicht ungefragt gestört werden konnte.

Doch die Rückkehr war bei Weitem nicht so zufriedenstellend, wie es angemessen gewesen wäre. Zu viel hatte sich verändert seit sie das letzte Mal hier gewesen war, neben der Richtung, die ihre Mission nahm, auch sie selbst. Ihre Wohnung war eine winzige Kammer, ein Einzelzimmer mit einer Pritsche, die kaum neunzig Zentimeter maß, gedacht für einen einzelgängerischen Jäger, der wenig zu Hause war und den Raum eigentlich nur zum Schlafen nutzte.

Jetzt war sie nicht mehr allein. Sie war nun nicht nur an einen, sondern irgendwie sogar an zwei Männer gebunden und angesichts dieser Tatsache fühlte es sich an als hätte sie sich in der Tür geirrt, als sie ihr ehemaliges Heim betreten hatte.

Am liebsten hätte sie gleich ihre Sachen aus dem Schrank genommen und um ein neues Zimmer gebeten, aber sie hatte im Moment weitaus größere Probleme. Nachdem sie so selbstsüchtig gewesen war, Pareios zu halten, ihn nicht einfach so abzuschreiben und er seinem eigenen Verlangen nachgegeben hatte, zu bleiben, waren sie zu einer Art stillschweigenden Übereinkunft gekommen. Die Klärung dieser verworrenen Dreiecksgeschichte war zwar dringend notwendig, aber andere Dinge hatten mehr Priorität. Dass Dante sich als nebulöser Erlkönig entpuppen könnte, war dabei nur die Spitze des Eisbergs. Gregorowizc musste verhört werden, um ein Licht in die Unterlagen aus Berlin zu bringen und den Entstehungszweck der Steine zu erfahren. Außerdem musste geklärt werden, ob der Rat und der Orden, die sich bald versammeln würden, über die dunklen Geheimnisse der Steine Bescheid wussten. Immerhin war es möglich, dass Markus ihnen diese Information verschwiegen hatte, was erklären würde, warum sie sich in falscher Sicherheit wägten und Pläne schmiedeten, welcher Gestalt diese auch immer sein mochten.

Dass Markus vorhatte, eine Waffe zu kreieren war wohl mittlerweile keine Frage mehr, aber ob es auch der Rest des Rates wusste, stand auf einem anderen Papier. Sie musste dringend mit Evrill sprechen und Viktor hatte bereits die Idee aufgebracht, Kontakt zum Venus-Orden aufzunehmen, wobei Aurelia ganz seiner Meinung war.

Nachdem sie sich also noch ein wenig ausgeruht hatte, machte sie sich auf die Suche nach dem weißhaarigen Elevender, um ihn um ein paar Anrufe zu bitten, bevor sie sich der Befragung des Wissenschaftlers widmen wollte.

Sie war zur Tür raus und hatte schon ein gutes Stück Weg hinter sich, als ihr auffiel, dass sie ohne Nachzudenken den Weg zu Pareios‘ Zimmer gewählt hatte. Verwirrt blieb sie stehen, geplagt von nagenden Schuldgefühlen. Ein Déjà-vu packte sie. Hatte sie all das durchmachen müssen, nur um wieder in der Schuldgefühl-Mühle zu landen? Ihr Schicksal hatte wohl einen Sinn für Sadismus.

Nach kurzer Überlegung und einem Blick auf die Uhr – es war Abendessenszeit -  richtete sie ihre Schritte in Richtung Speisesaal. Da hatte sie jetzt wahrscheinlich die größten Chancen, Evrill zu finden.

Der hell erleuchtete Raum war vollgestopft mit Elevendern, die im Bunker lebten, oder zu Gast waren. Aurelia hatte jedoch nicht bedacht, dass nicht nur Evrill zum Essen anwesend sein könnte. An einem langen Tisch in der Ecke saß ihr komplettes Team, ergänzt von ihrem neuen Kollegen, und unterhielten sich mit gesenkten Köpfen.

„Aurelia!“ rief Row, als sie sie entdeckte. Sofort machte sie Platz und rutschte noch ein weniger Näher zu Aiden, der auf ihrer anderen Seite saß. Er schien keineswegs unglücklich darüber.

„Wie geht’s dir? Du scheinst dich ja verdammt schnell erholt zu haben!“ Evrill wies auf ihre Brust und zog fragend eine Augenbraue hoch.

„Ja.“ Langsam nervte es sie, darauf angesprochen zu werden, obwohl es sicher nicht böse gemeint war. Sie gedachte nicht, das Thema vor allen auszubreiten und vermied tunlichst, zu Pareios rüber zu schauen. Bisher hatte er noch nicht Mal zu erkennen gegeben, dass er sie überhaupt bemerkt hatte, was sie leider nicht unberührt ließ. Sie biss die Zähne zusammen.

„Ich habe mit Syrus gesprochen. Er weiß mehr, als wir dachten. Aber er steht nicht hinter Markus, zumindest nicht vollkommen.“ Den Großteil des Satzes flüsterte sie, während sie sich zu den anderen vorbeugte. Alle steckten die Köpfe zusammen, damit sie nicht belauscht werden konnten. Jedoch versprach der allgemeine Lärmpegel, dass ihre Worte in dem Geplapper der anderen untergehen würden.

Sie räusperte sich. „Gibt’s was Neues?“ Pareios flammender Blick brannte förmlich einer Gesichtshälfte, als er sie von der anderen Seite des Tisches aus fixierte. Trotz des Waffenstillstandes waren sie sich nicht einiger darüber geworden, wie viel das Team von der Misere erfahren sollte.

„Nein.“ antwortete Viktor. „Es steht fest, dass wir herausfinden müssen, ob der Rat weiß, dass die Steine von den Hegedunen zu einem bestimmten Zweck geschaffen worden sind. Dass es eine Studie gibt, die mit ihnen zu tun hat. Außerdem ist es zwar wahrscheinlich, dass sie von der Waffe wissen, aber sicher ist das nicht.“

„Können wir nicht weiter über Xandra gehen? Chronos hat viele Befürworter, wenn sich herausstellt, dass er von der Waffe weiß und die Sache unterstützt, können wir davon ausgehen, dass auch der Rest des Rates dafür ist.“ Alle wandten sich während Aurelias Worten Evrill zu, doch der schien nicht sonderlich begeistert. Bedauernd hob er die Schultern.

„Ich kann es zwar versuchen, aber macht euch keine großen Hoffnungen. Chronos hat Xandra zur Geheimhaltung verpflichtet. Das, was sie mir bisher gesagt hat, war das Äußerste der Gefühle und das ging auch nur, weil…“ er verstummte und lächelte selbstsicher. „… Naja, ihr wisst schon!“

Viktor raufte sich die Haare und ließ dann die Faust auf den Tisch sausen. Alle zuckten zusammen, als ein dumpfer Laut entstand. „Seit wann ist es hier an der Tagesordnung, alles Mögliche geheim zu halten? Das war doch früher nicht so…“

„Das fing mit den Steinen an und ging dann mit dem Ratstreffen weiter. Und wozu jetzt diese große Versammlung? Wann findet sie überhaupt statt?“

Evrill wirkte auf Aurelias Frage hin zerknirscht. „Tut mir Leid, das wollte Xandra mir nicht verraten. Aber da alles schon so genau geplant und organisiert ist, würde ich vermuten, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis es so weit ist.“

„Was ist mit deinem Vater? Könnte er an solche Informationen kommen?“

„Vielleicht. Ich denke er wird eine Ausnahme machen, wenn wir ihm klar machen, wie wichtig es ist. Aber ich weiß nicht, ob er noch Zugang zu dieser Art von Sicherheitsstufe hat. Ich werde ihn anrufen.“

"Sehr gut, danke! Kannst du auch deine Leute vom Venusorden kontaktieren und mit ihnen über dieses Treffen sprechen?" Aurelia musste lächeln, als sie daran dachte, auf wie viele Arten sich Evrill jetzt schon nützlich gemacht hatte. Die Entscheidung ihn mitzunehmen, hatte sich bezahlt gemacht.

"Kein Problem." Evrill stand auf und zückte bereits sein Handy. "Ich kümmere mich sofort darum." Mit langen Schritten und entschlossener Haltung verließ er den Speisesaal. Die Geräuschkulisse eignete sich nicht gerade für wichtige Telefonate.

„Damit hätten wir diese Sache geklärt, bleibt noch Gregorowicz. Da du wieder relativ fit aussiehst, könnten wir ihm ja doch einen Besuch abstatten."

"Daran hatte ich auch gedacht!" stimmte Aurelia Virktors Vorschlag zu und auch die Anderen hielten das für eine gute Idee.

Während sie noch eine Weile aßen und dabei beratschlagten, worüber der Wissenschaftler befragt werden sollte, bemerkte sie immer wieder Pareios‘ Augen auf sich. Es war ihr klar, dass er wollte, dass sie den anderen von Dante und den Steinen erzählte. Aber Aurelia war noch nicht bereit dazu. Sie musste erst herausfinden, auf welcher Seite Dante tatsächlich stand, sonst würde ihr Team mit Sicherheit davon überzeugt sein, dass er eine Gefahr war. Sie konnte sich nicht vorstellen, was dann passieren würde, was sie selbst tun würde. Sei konnte auf keinen Fall zulassen, dass irgendjemand ihr Gegenstück bedrohte.

Sie hatte Pareios ausdrücklich darauf hin gewiesen, dass das alles ihre Sache sei, aber seine Einwände waren natürlich nicht ganz grundlos. Dante spielte vielleicht eine große Rolle in ihrer aller Zukunft und ihr Team hatte ein Recht auf die Wahrheit, aber sie hatte nicht vor, es so weit kommen zu lassen. Sie musste herausfinden, in welchem Zusammenhang ihr Gegenstück zu den Steinen stand und dann verhindern, dass ihre Vision eintreffen konnte. Ein besorgtes Team, das sich vielleicht gegen sie stellte, konnte sie dabei gar nicht gebrauchen. Sie hoffte, Pareios würde sich an ihre Worte erinnern und ihr das Ganze überlassen.

 

Er hielt sich zurück, bis sie ihr Treffen auflösten und jeder an seine Aufgabe ging. Aurelia wollte zusammen mit Viktor zu den Gefängniszellen aufbrechen, aber Pareios stoppte sie , während die anderen schon auf dem Weg aus dem Speisesaal waren. Aurelia bedeutete seinem Bruder, dass sie gleich nachkommen würde.

„Du musst es ihnen sagen!“ kam der große Elevender unumwunden zum Punkt, sobald sie allein waren.

„Ich habe schon gesagt, dass ich erst mehr über Dante erfahren will! Er könnte genauso gut ein Opfer sein. Wir haben keine Ahnung, was Gregorowicz mit ihm gemacht hat.“ Es ärgerte sie, dass sie diese Diskussion noch ein mal führen musste. Sie verstand ja, dass das für ihn ein schwieriges Thema war, aber sie hatte jetzt keine Zeit für Eifersucht und Revierkämpfe.

„Aurelia, sie müssen wissen, dass deine Vision kurz davor steht, sich zu erfüllen und dass Dante darin eine Rolle spielt.“

„Sie werden denken, er ist gefährlich, das kann ich nicht…“

„Und was, wenn er wirklich eine Gefahr darstellt?“ Aufgebracht rubbelte er sich über das kurz rasierte Haar und bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. „Hast du zwischen all den rosa Kaninchen schon mal daran gedacht?“

„Glaubst du, ich könnte im Moment überhaupt an irgendetwas anderes denken? Aber ich kann ihn doch nicht einfach unseren Leuten aushändigen, wegen etwas, das noch gar nicht feststeht. Wenn sie hören, dass er etwas mit den Steinen zu tun hat, ist sein Schicksal besiegelt. Was wäre, wenn Nuria da im Krankenflügel säße, was würdest du dann tun?“ Erschrocken biss sich Aurelia auf die Zunge. Was ihr da heraus gerutscht war, war mehr als unfair und sie hätte es am liebsten sofort wieder zurück genommen. Doch ein mal entlassene Worte, konnten nicht wieder eingefangen werden, so wie ein abgeschossener Pfeil niemals seinen Weg zurück in den Köcher fand oder auch ein Tod nicht ungeschehen gemacht werden konnte.

Pareios riss die Augen auf. Dann kam er näher und griff sie am Ellenbogen, um sie zu sich ran zu ziehen. Diesmal fehlte allerdings jegliche zärtliche Intention.

„Du befürchtest, dass die Meinung der anderen durch deine Vision voreingenommen ist und sie voreilige Schlüsse ziehen? Du solltest dir lieber um dein eigenes Urteilsvermögen Sorgen machen.“

„Ich bin sehr wohl im Stande, meine Gefühle von diesem Fall zu trennen.“ Trotzig zog sie an ihrem Arm, aber er ließ sie nicht los.

„Ach wirklich? Wenn der Kerl nicht dein Gegenstück wäre, säße er jetzt bei Gregorowicz in der Zelle. Das wissen wir beide!“

„Du weißt gar nichts über ihn und doch steht für dich schon fest, dass er da hin gehört, obwohl ihr beide gemeinsam gefoltert worden seid. Du hast recht, im Gegensatz zu mir bist du völlig unvoreingenommen!“ keifte sie zurück und funkelte Pareios böse an.

„Siehst du, was ich meine? Du würdest jede Entschuldigung für ihn finden, obwohl doch klar ist, dass er eine potentielle Gefahr darstellt. So ist es nun mal. Genau das ist der Grund, warum du das nicht für dich behalten darfst!“

Nase an Nase standen sie da. Es hätte kaum noch ein Blatt Papier zwischen sie beide gepasst, doch neben dem Zorn, der zwischen ihnen wütete, brachen auch die Wunden von vorhin wieder auf. Sie waren sich so nah und berührten sich, sofort wurde ihr heiß und sie hätte am liebsten die Arme um seinen Nacken geschlungen und die wenigen Zentimeter zu einem wahnwitzigen Kuss überbrückt. Natürlich kam es dazu nicht, denn sie riss sich zusammen und ließ sich auf ihre Fersen zurück sinken. Tief durchatmend senkte sie die Lider.

„Will ich ja nicht. Ich will nur erst noch ein wenig mehr herausfinden und bis dahin bitte ich dich,… als mein Freund, bitte sag‘ ihnen noch nichts.“

Pareios stieß einen höhnischen Laut aus. „Als dein Freund bittest du mich jetzt tatsächlich, dir dabei zu helfen, dein Gegenstück wider aller Vernunft zu decken?“

Als sie nichts erwiderte, sondern nur flehend zu ihm aufsah, bemerkte sie genau, wann seine harte Schale einen kleinen Riss bekam, was ihn anscheinend auch wütend machte. Erzürnt starrte er erst auf seine Hände, dann auf Aurelia.

„Ich hoffe wirklich, du weißt, was du da tust.“

Aurelia hörte den Schmerz in seiner Stimme und wünschte sich sogar fast, er wäre im Stande, sie zu verraten. Dann wäre er vielleicht auch stark genug, zu verkraften, was auch immer mit ihnen geschehen mochte.

39

Pareios begleitete sie zu dem Trakt des Bunkers, in dem man Gefangene in zellenartige Räume sperrte. Diesen Zimmern war immer eine kleine Kammer angegliedert, von der aus der Verdächtige beobachtet und abgehört werden konnte. Den ganzen Weg über herrschte ein ohrenbetäubendes Schweigen zwischen ihnen und obwohl sie neben einander herliefen, fühlte es sich an, als trennte sie jetzt etwas, das immer größer zu werden drohte. Sie wusste nicht, was sie dagegen tun sollte, wünschte sich sie könnte ihre Geschichte einfach umschreiben.

Aber das würde nicht geschehen. Der verheerende Sturm ihres Schicksals hatte sie alle fest im Griff, trug sie auf eine Fahrt in unbekannte Gefilde. Ohne Wiederkehr. Ähnlich einem Moment, der verstrichen war und nicht zwei Mal erlebt werden konnte. Wie schnell sich die Vergangenheit doch ansammelte, sich hinter ihr auftürmte, während jede Sekunde ihres Lebens unaufhaltsam verstrich. Mit einem Mal empfand sie Beklemmung. Den Funken eines Zweifels, dass das alles zu groß, zu komplex für sie sein könnte. Doch da sie ihrer Zukunft nicht entrinnen konnte, führte diese Sorge nicht zu einem Umdenken. Im Gegenteil, es bestärkte sie ihrem Vorhaben, Licht in die nebulösen Ereignisse rund um die sechs kleinen Steine zu bringen, denn wenn es ihre Bestimmung war, dieser Spur zu folgen, dann musste es dafür einen Grund geben. Zwar reichte ihre Vorstellungskraft nicht aus, um sich diese Frage zu beantworten, aber sie war bereit, die Zügel wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Was auch kommen mochte, sie würde selbst entscheiden, wie es enden sollte. Sie wollte am diesem Abschluss beteiligt sein. Das erinnerte sie auch daran, dass es für sie vielleicht so oder so schlecht ausgehen konnte und sich daher viele andere Überlegungen ihr Liebesleben betreffend erübrigten.

 

Viktor erwartete sie bereits vor einer der Zellen und machte ein ungeduldiges Gesicht. „Er ist gerade aufgewacht. Vielleicht ist er noch ein bisschen weggetreten, das könnte die Sache leichter machen.“ eröffnete er ihnen, während er die Tür zum Beobachtungsraum aufhielt und sie einließ. Drinnen war es abgedunkelt und einige Überwachungsmonitore übertrugen scharfgestochene Bilder aus dem Nebenzimmer. Sie zeigten den Wissenschaftler, den Evrill aus den Erinnerungen von Jesper Svenssen gezeichnet hatte. Sie erkannte ihn an seinem Seitenscheitel und dem diabolischen Schwung der Augenbrauen. Die Brille fehlte, vielleicht hatte er sie bei ihrer Flucht und seiner Entführung verloren. Es machte keinen Unterschied, er war definitiv wiederzuerkennen.

Der Elevender saß ruhig auf der Pritsche, die an die eine Wand geschraubt war. Er rührte sich kaum und hatte die Augen geschlossen. Seine Kleidung wies Spuren von Pareios‘ Gabe und auch bräunliche rote Flecken auf. Wahrscheinlich Blut. Aurelias Blut. Ob sie es wollte oder nicht, er hatte ihr mit ziemlicher Sicherheit das Leben gerettet, wenn auch nicht ganz freiwillig. Diesen Händen, die er auf seinem Schoß gefaltet hatte, verdankte sie, dass sie jetzt noch atmete.

Verwirrt wollte sie diesen Gedanken abschütteln. Es war beängstigend, sich diesem ominösen Mann, der Gegenstand ihrer Nachforschungen war, in irgendeiner Weise verpflichtet zu fühlen, nur weil er eben die Fähigkeit  besaß, menschlichen Körpern beim Weiterleben zu helfen. Dass er dieses Wissen auf sie angewendet hatte, war nur dem Willen ihrer Teamkollegen zu schulden. Vielleicht war auch Dante an ihrem Überleben beteiligt gewesen, indem er ihr seine Kraft geliehen hatte. Sonst nichts.

„Und er hat wirklich gar nichts gesagt?“ Aurelia lehnte sich näher zu den Plasmabildschirmen vor und betrachtete die verschiedenen Aufnahmen, die die Kameras von allen Seiten von Gregorowicz aufzeichneten. So entstand ein dreidimensionales Bild.

 „Nein. Er sitzt nur da. Ach, und er wehrt sich gegen ärztliche Hilfe.“

Die hatte er auch gar nicht nötig gehabt, wie es aussah. Markus mochte ihn zugerichtet haben, aber dank seiner Elevendergene waren die Verletzungen ohne Rückstände verheilt. Er wirkte absolut unangetastet, außer dass Blut in seinen wüst verstrubbelten, braunen Haaren klebte. Aber vielleicht stammte auch das von ihr, sie konnte es nicht sagen.

„Ich gehe rein:“ entschied Aurelia und ließ die beiden Brüder in der kleinen Dunkelkammer zurück. Die Strecke nach nebenan war nicht so weit, aber es kam ihr wie eine Weltreise vor. Sie wollte so sehr glauben, dass sie kurz vor der Entschlüsselung aller Rätsel standen und dass der Mann, dem sie gleich gegenübertreten würde, der Dietrich zu diesen Geheimnissen sein konnte.

Sie atmete tief durch und drückte die Türklinke nach unten. Viktor erlaubte ihr von der Schaltzentrale aus durch ein Summen der Schließanlage den Eintritt. Ein großer Schritt und sie war drin. Es erstaunte sie selbst, wie ruhig sie dabei blieb. In ihrem Innern herrschte eine angenehme Flaute, ein Zustand, den sie selten verzeichnen konnte. Es gefiel ihr, den Kopf zum Nachdenken frei zu haben, wie praktisch, dass ihr Geist ihr dies gerade jetzt vergönnte.

Der Wissenschaftler, oder wer auch immer er war, sah auf, als sie die Tür schloss und der automatische Zylinder wieder einrastete. In dem Augenblick, in dem er sie erblickte, breitete sich ein triumphales Lächeln auf seinem Gesicht aus. Durch diese speziellen Augenbrauen erschien die Visage trotz der fröhlichen Mimik bösartig. Sie hatte keine Ahnung, womit sie dies verursacht haben konnte, aber die Geste wirkte verstörend.

„Warum lächeln sie so?“ war die erste Frage, die ihr einfiel.

„Erheiterung.“ Gregorowicz hatte eine merkwürdig hohe Stimmlage, gerade zu weiblich.

„Worüber?“ Aurelia lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand gegenüber. Eigentlich war es ihr einerlei, was er so lustig an ihr fand, aber sie war gierig auf jeden Hinweis darauf, wie er tickte. Schließlich war das sein erstes Wort hier im Bunker.

„Meine Genialität“ erwiderte er äußerst herablassend, seine Miene verzog sich, als wollte er fragen, ob das nicht offensichtlich sei.

„Wie meinen sie das?“

„Allein, dass ich ihnen das erklären muss beweist es schon.“ Gregorowicz setzte sich aufrecht hin und strich sein Haar mit pedantischer Hinwendung glatt, als wäre das alles hier nur ein langweiliges Zwischenspiel für ihn. „Ich meine, dass ich so gut bin, in dem, was ich tue, dass ich dich nur ein mal ansehen muss und jetzt schon mehr über dich weiß, als du selbst.“ Der lapidare Tonfall hätte kaum noch mehr ausdrücken können, wie wenig ihn seine Situation kümmerte.

Es war komisch mit diesem Kerl. Bei den meisten Menschen verspürte man eine gewisse Zu- oder Abneigung, wenn man Zeit mit ihnen verbrachte. Aber Gregorowicz entzog sich für sie jeglicher Schublade. Vielleicht gedachte er, sie zu provozieren, in dem er ihr solche Köderhäppchen zuwarf.

„Und was genau wissen sie nun über mich?“

„Rosen sind rot, Veilchen sind blau, Geheimnisse müssen geheim bleiben, das weißt du genau!“ reimte er flötend und ließ dabei den Zeigefinger im Takt hin und her wippen.

Ok, verarschen konnte sie sich auch allein. „Was für einen Mist ziehen sie hier eigentlich ab?“

„Ich?“ Er klang betont unschuldig. „Es ist doch dein Spielchen, ich bekleide nur eine bescheidene Rolle darin.“

Jetzt wurde Aurelia langsam wütend, der Typ zog entweder eine ziemlich miese Show ab, oder aber er hatte nicht alle Tassen im Schrank. Vielleicht hatte Viktor auch recht behalten und Gregorowicz war noch nicht wieder ganz bei sich. Alle drei Vorstellungen gefielen ihr keineswegs, sie war hier, um Informationen von ihm zu erhalten und jetzt musste sie sich ernsthaft fragen, ob sie diese überhaupt für voll nehmen konnte, neben der Gefahr, belogen zu werden.

„Was haben sie mit Jesper Svenssen und den anderen Teilnehmern der Studie ‚New Dawn‘ gemacht?“

„Nichts, was du nicht auch gemacht hättest.“ Er zuckte die Schulter und starrte auf seine Fingernägel, als enthielte diese Aussage etwas so Belangloses wie das Wetter. Was lief hier und welches Schmierentheater veranstaltete Gregorowicz gerade mit ihr? Sie hatte nicht vor, sich darauf einzulassen, aber er traf mit seinen Kommentaren genau ihre Knöpfe, hantierte mit ihrer Entrüstung wie ein Meisterkünstler. Sie schloss kurz die Augen. Er war ein harter Brocken und das hier würde nicht leicht werden.

Um dem vorzubeugen, entschied sie sich, ihre Intuition zu Rate zu ziehen. Ihre verlässliche Gabe würde ihr einen Weg durch die Klippen ans rettende Ufer zeigen, sie leiten und ihr zum Erfolg verhelfen.

Sie wollte ihre Gabe benutzen, so wie man eine einfache, sehr gewohnte Bewegung ausführte. Doch es ging nicht.

Überrascht versuchte sie es erneut. Nichts passierte.

Was zum…? Mit langsam wachsender Besorgnis begab sie sich auf die Suche in ihrem Inneren. Versuchte wie sonst auch einfach in die nahe Zukunft zu sehen und erforschte dabei, was geschah, wenn sie ihre Kraft nutzen wollte.

Es war, als liefen die Befehle ihres Verstandes einfach ins Leere. Die gekappten Nervenbahnen funkten weiter, ohne eine Wirkung zu erzielen. Und ebenso, wie sich ein abgetrenntes Körperteil immer noch bemerkbar machte, vernahm sie plötzlich einen geisterhaften Phantomschmerz. So irreal, dass sie zunächst dachte, sie hätte es sich eingebildet. Aber er war da und je mehr sie versuchte, ihre Gabe anzuwerfen, desto stärker wurde er.

Jetzt bekam sie es wahrhaftig mit der Angst zu tun. Was war hier los? Warum konnte sie ihre Intuition nicht benutzen? War sie verloren gegangen? Hatte sie bei ihrem Unfall Schaden genommen? Sie hatte noch nie gehört, dass das möglich war, aber wie sollte so etwas sonst geschehen? Wie bei einem Ping-Pong-Match befanden sich Frage und Annahme im flotten Schlagabtausch, ihr Hirn lief auf Hochtouren.

Und dann, als hätte sie die Antwort irgendwo aus ihrer Erinnerung ausgegraben, kamen die Bilder aus der Nacht ihrer Verwundung wieder hoch. Für einen Wimpernschlag befand sie sich erneut in jenem Keller, ging durch, was passiert war, wie es zu ihren kapitalen Fehlern hatte kommen können. Nebenbei musste sie sich fragen, warum sie nicht schon längst darauf gekommen war, dass an diesem Tag noch etwas anderes schiefgelaufen sein konnte, etwas, das in dem Chaos ihrer Verwundung und dem Auftauchen ihres Gegenstücks untergegangen war.

Sie fühlte wieder die Waffe in der Hand und Pareios neben sich, gemeinsam standen sie einer Schar von übermächtigen Angreifern gegenüber. Ihr fiel auch wieder ein, dass sie plötzlich völlig neben sich gestanden hatte und zu Boden gestürzt war. Sie erinnerte sich an das Gefühl des Verlustes, die Auflösung einer uralten Verbindung. Die einzelnen Gedankenfetzen verdichteten sich zu einem handfesten Verdacht, mehr noch, zu einer bedrohlich Befürchtung.

Mein Gott, konnte das möglich sein? Konnte so etwas wirklich passieren?

Hatte sie in diesem Augenblick tatsächlich ihre Gabe verloren?

Aber wie? Wie zu Teufel konnte man seine ureigene Kraft überhaupt verlieren? Oder war sie noch da und sie hatte nur keinen Zugang dazu?

Gregorowicz musste ihren Stimmungsumschwung bemerkt haben, denn er begann zu lachen. Der dämonische Klang ließ Aurelia aufhorchen, all das war ihr so eben unheimlich geworden. Ohne ihre Intuition als Backup fühlte sie sich nackt und verwundbar. Nie hätte sie gedacht, dass sie jemals ohne ihre Gabe zu recht kommen würde müssen und war erst völlig überfordert, schon allein mit der Vorstellung. Wie zur Salzsäule erstarrt lehnte sie immer noch am selben Fleck und ließ Gregorowicz nicht aus den Augen. Dieser erwiderte ihren Blick lässig, absolut von seiner Überlegenheit überzeugt. Da ging ein Lämpchen in ihrem Oberstübchen an, denn wenn er das tatsächlich glaubte, musste er noch weitere Informationen besitzen.

„Was wissen sie über mich?“ forderte sie in harschem Ton zu erfahren. Noch mehr Zorn breitete sich in ihren Gliedern aus und sie war froh, dass ihr Kampfgeist wieder das Ruder übernommen und ihre Schockstarre abgelöst hatte. Die Panik, die sie angesichts dieser neuen Entdeckung verspürte erfüllte sie noch, doch die Wut half ihr darüber hinweg. Das Monster in ihr erwachte und griff sofort ein. Es schob ihr Energie und Tatenkraft zu, befähigte sie dazu, die Angst nieder zu ringen. Diese Empfindungen waren ihr auch wesentlich lieber, denn sie gaben ihr die Kraft, sich von der Wand abzustoßen und mit festem Gang zu dem Wissenschaftler hinüber zu schlendern, als dieser nicht antwortete. Verwundert machte sie sich bewusst, dass, obwohl ihre Gabe sich anscheinend in Luft aufgelöst hatte, ihr Monster doch immer noch bei ihr war. Noch nie hatte sie sich so darüber gefreut. Nach all der Zeit, in der sie es verabscheut, gehasst gefürchtet, eingesperrt hatte. Im Abglanz der vielen Jahre erschien es wie ein Wunder, dass sie nun zum ersten Mal wahrhaftig dankbar dafür war, dass es da war. Ihre Erleichterung besänftigte sie weiter und ermöglichte es ihr, sich gefasst mit dem Thema zu beschäftigen, das jetzt anstand. Bedacht verschränkte sie die Arme hinter dem Rücken, während sie den Wissenschaftler abschätzend beobachtete.

„Was habe ich mit den Steinen zu tun? Warum behaupten sie, sie wüssten etwas über mich, wo sie doch anscheinend nur ein verdreckter kleiner Irrer sind?“ Jetzt lächelte sie süffisant, versuchte ebenfalls eine großspurige Art an den Tag zu legen. Sie hätte sich gerne nach Dantes Bedeutung in dieser Scharade erkundigt, doch Viktor auf der anderen Seite der Mauer machte es ihr unmöglich.

Gregorowicz verschränkte die Beine auf der Pritsche, pikiert zupfte er an dem ehemals dunkelblauen Hemd herum. „Dreckig oder nicht, ich habe etwas, das du willst und du bist zu dämlich, es allein heraus zu finden. Das hätte ich nicht gedacht.“

Da Aurelia ohnehin schon die Kraft ihres Monsters anzapfte, war die Zündschnur die zur Explosion führen sollte bereits gefährlich kurz. Mit dieser Bemerkung entzündete der andere Elevender sie zielsicher, Aurelias Wut stieg an, die Beleidigung traf sie so unerwartet, dass sie völlig untypisch den Kopf verlor und ein Sturm des Hasses in ihrem Innern losbrach. Obwohl sie wusste, dass er sie nur provozieren wollte, konnte sie sich nicht bremsen. Ihre Augen kniffen sich von alleine zusammen, ihre Kiefer begann zu mahlen.

„Um Himmels Willen.“ Gregorowicz rollte die lächerlich großen Augen. „Wie viele Hinweise brauchst du denn noch? Ich habe deine Intelligenz eindeutig überschätzt, aber was soll man auch von jemandem erwarten, der sich dazu bringen lässt, sein eigenes Fleisch und Blut abzuschlachten?“

 

Zuerst begriff Aurelia nicht was vor sich ging, denn noch bevor sie auch nur blinzeln konnte, hatte ihr Körper sich bewegt. Die grenzenlose Verachtung, die der Wissenschaftler bei ihr hervorrief wurde durch das Monster vervielfacht, überwältigte ihren vernünftigen Verstand in dem Bruchteil einer Sekunde und schon war sie an einen berauschenden Durst nach Rache für diese schrecklichen Worte verloren. Dem Durst nach seinem Blut.

Ihre Gabe mochte sie vielleicht vermissen, aber ihre Elevenderkräfte besaß sie noch, genauso wie die unausweichlichen dunklen Emotionen in ihrem Herzen. Sie legte ihren ganzen Hass in den Schlag, als sie ihre Faust auf sein Jochbein nieder sausen ließ. Der Treffer saß und Gregorowicz wurde von der Pritsche auf den Boden geschleudert, aber Aurelia verlor keine Zeit. Sofort ließ sie sich auf ihn fallen, setzte ihre Knie auf seine Brust, um ihn unten zu halten.

Dann begann sie, sein Gesicht mit harten Hieben zu bearbeiten. Sie verlor jegliches Gespür für Zurückhaltung und schlug wie von Sinnen wieder und wieder zu. Das Fleisch unter ihren Knöcheln platzte, wurde weich und breiig, bald schon entstanden schmatzende Geräusche und Blut spritze bei jeder ihrer Bewegungen. Nichts konnte ihre Raserei bremsen. Wie konnte dieser widerliche Bastard es wagen, über Eliodora zu sprechen?

Zwei kräftige Hände packten sie um die Hüften und zogen sie blitzschnell weg. Der Standortwechsel kam so abrupt, das Aurelia die Luft weg blieb und ihr auch ohne ihre Intuition klar wurde, dass es Viktor war, der sie von ihrem Opfer weggerissen hatte. Unvermittelt wurde sie von ihm gegen die Betonwand gedrückt, der Aufprall ließ ihre Zähne auf einander Schlagen.

„Bist du völlig wahnsinnig geworden?“ zischte er entgeistert und schüttelte sie leicht, als ob er versuchte, sie aus ihrer Trance zu erwecken.

Aurelia schenkte ihm keine Beachtung sondern beobachtete über seine Schultern hinweg, wie Pareios eintraf und sich neben den Wissenschaftler kniete, der jetzt wirkte, als hätte man seinen kompletten Oberkörper in rote Farbe getaucht. Er drehte den Kopf zu ihr und sah sie an. Zunächst war ein Großteil von ihr nur verärgert darüber, dass es ihr nicht gelungen war, ihn zu töten. Doch dann bewegte sich seine Visage. Ganz langsam, aber immer deutlicher zog er die Mundwinkel hoch und formte wieder dieses triumphierende Lächeln. Der verstörende Anblick ließ Aurelia aufheulen. Sie stemmte sich gegen Viktor, wollte zurück auf den Fußboden, um das zu beenden, was sie angefangen hatte. Sie verlangte mit ihrem ganzen Sein danach, Gregorowicz tot zu sehen, so sehr, dass sie glaubte, sie konnte nicht eine Minute weiterleben, wenn sie das nicht erledigte. Es war wie ein Zwang, der sie da packte und ihr die furchtbarsten Pläne über gebrochene Knochen und geknackte Schädel in den Kopf einflößte.

Ohne ihre Intuition hatte sie natürlich keine Chance gegen Viktor und er verweigerte ihr  jede Möglichkeit, sich zu bewegen. Die beiden Brüder wechselten einen Blick, bevor sie Aurelia beide fixierten. Ihre Verwirrung war ihnen in die Züge gemeißelt, sie hatten keinen blassen Schimmer, was hier vorging und woher der Wissenschaftler von Aurelias Vergangenheit wusste. Aurelias Reaktion hatte auch nicht gerade dazu gedient, sie zu beruhigen und auch sie selbst erkannte plötzlich, in welchem Zustand sie sich im Augenblick befand. Zwar war sie außerstande, ihre Raserei zu zügeln, aber Gott sei Dank konnte sie sich auf ihre Freunde verlassen.

„Lass‘ mich bloß nicht los, Viktor!“ knurrte sie, während sie sich weiter gegen seinen Griff werte. Erstaunt hob er die Augenbrauen, dann schlang er beide Arme um sie und trug sie so gefesselt aus dem Raum. Pareios folgte ihnen mit einigem Abstand, nachdem er den verletzten Elevender auf der Pritsche abgesetzt und in stabile Seitenlage gebracht hatte.

 

Obwohl Aurelia das Ziel ihres Ärgers nicht mehr sehen konnte, ließ das Gefühl nicht nach. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Diese verbrachte sie auf Viktors Schoß, da er sich mit ihr auf den Boden im Flur gesetzt hatte, aus Angst sie los zu lassen. Immerhin zappelte sie immer noch unkontrolliert in seinen Armen. Pareios hatte sich an der Wand gegenüber abgestützt und betrachtete sie nachdenklich.

„Hast du eine Erklärung für den Scheiß, den du da gerade abgezogen hast?“ fragte Viktor schließlich, wobei er ihr beinahe ins Ohr brüllte.

Sein Bruder auf der anderen Seite des Flurs wirkte mit einem Mal sehr erschöpft, er ließ sich an dem harten Beton entlang ebenfalls auf den Boden sinken. Während sie ihn ansah, gelang es ihr, sich an seinem Anblick fest zu halten, das half ihr, ihre unweigerliche körperliche Reaktion zu unterdrücken. Sobald sie nicht mehr wild zuckte, lockerten sich Viktors Arme und nur wenig später entließ er sie in die Freiheit. Aurelia kam auf die Füße und schritt auf und ab, nervös versuchte sie diesem Urtrieb nach Blut zu entkommen.

„Schluss damit, sag‘ uns bitte, was da drin passiert ist, Aurelia!“ Pareios‘ Stimme war weicher, aber nicht weniger eindringlich. Aurelia warf die Arme in die Luft. Außer sich vor Verwirrung und Überlastung stieß sie erneut einen spitzen Schrei aus.

„Ich habe keine Ahnung, warum ich plötzlich die Kontrolle verloren habe, aber als ich Gregorowicz gegenüberstand und versucht habe, meine Gabe einzusetzen, ging es nicht.“

„Was soll das heißen?“

„Das soll heißen, dass sie weg ist! Ich kann sie nicht mehr spüren verdammt noch mal!“ herrschte sie Viktor an, der es gewagt hatte, eine weitere Frage zu stellen.

„Ist das gerade eben passiert?“ Pareios war wie so oft bemüht, die Emotionen nicht noch höher kochen zu lassen, vor allem wenn sie sich in der Gegenwart Dritter befanden, aber sie konnte auch bei ihm den Anflug von Verunsicherung heraus hören. Unvermittelt wurde ihr bewusst, wie sehr nicht nur sie sich auf ihre Gabe verlassen hatte.

„Nein, ich glaube, es ist schon in Dänemark passiert. Wahrscheinlich ist es der Grund dafür, dass ich gestürzt bin und von dem Holzpflock getroffen wurde.“

Auf diese Erklärung hin herrschte entsetzte Stille im Flur. Keiner rührte sich oder sagte etwas. Aurelia konnte es ihnen auch kaum verdenken, diese Neuigkeit zeigte nur all zu deutlich, wie tief sie in der ganzen Geschichte mit drin steckte und dass ihre Entscheidungen es gewesen waren, die sie an diesen Punkt geführt hatten. Pareios wusste natürlich auch noch, dass diese ganze Jagd, die sie veranstaltet hatten, auf der sie sich alle mehrfach in Lebensgefahr begeben hatten, drohte, sich als Büchse der Pandorra zu entpuppen. Alles was sie unternommen hatten, um zu verhindern, dass etwas Schreckliches eintreten konnte, hatte sie nur weiter auf die Realisierung von Aurelias Vision zu getrieben und jetzt war auch noch ihre Intuition kaputt. Das ging nicht mit rechten Dingen zu und in ihr keimte wieder der Verdacht auf, den auch Syrus an sie heran getragen hatte.

Was wenn sie alle nur Marionetten in einer viel größeren Aufführung waren?

40

„Woher wusste er bloß von deiner Schwester?“

„Warum weiß er überhaupt irgendetwas über mich?“ entgegnete Aurelia Pareios, während sie zu Dritt zu Viktors Behausung gingen, wo ihr Team eine vorläufige Kommandozentrale eingerichtet hatte. Viktor hatte seine Familie wie besprochen zu Ezekiel und Velvet an die Ostsee geschickt, so waren sie in der Wohnung der kleinen Familie ungestört.

„Er kann es in hegedunischen Kreisen gehört haben.“ mutmaßte der ältere von beiden, aber als sie angekommen waren riss die Unterhaltung ab, da auch die Anderen über die neusten Vorkommnisse informiert werden mussten. Deswegen hatten sie weitere Diskussionen zu ihrer Inuitionslosigkeit verschoben, bis sie vollzählig waren, um nicht alles zwei Mal durchkauen zu müssen.

Der Rest ihres Teams war beunruhigt, als sie hörten, was passiert war und auch Aurelias Anblick trug seines dazu bei. Während ihre Kollegen durch einander redend beratschlagten, was ihre neue Behinderung wohl bedeuten konnte, säuberte Aurelia sich im Bad und lieh sich ein Oberteil von Meredia. Auch Pareios blieb ruhig und beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, er hatte sich in eine Ecke des großen, gemütlich eingerichteten Wohnzimmers zurück gezogen und machte eine böse Miene. Er war mit Sicherheit immer noch der Meinung, dass Aurelia endlich reinen Tisch machen sollte, dass spätestens jetzt wenigstens klar sein durfte, warum ihr Gegenstück mit den Steinen verbandelt war. Zwar bot sich noch keine Antwort auf das Wie, aber eins war aus Gregorowiczs Verhör doch hervorgegangen.

Letztlich drehte es sich um Aurelia. Nicht dass sie das nicht schon durch ihre Vision gewusst hätte, aber bisher hatte sie nur angekommen, sie würde eben irgendwann eine Rolle in der Geschichte um den Verbleib der Steine spielen. Mitbestimmen, was mit ihnen geschehen sollte beziehungsweise verhindern, dass sie in die falschen Hände gelangten.

Doch jetzt sah es so aus, als reichte ihre Beteiligung an der ganzen Sache tiefer, als sie es sich hätte vorstellen können. Als hätte sie nicht schon genug gehabt, über das sie sich den Kopf zerbrechen musste. Der Wissenschaftler wusste Dinge über sie, die er ihrer Auffassung nach nur durch gezieltes Nachforschen in Erfahrung hatte bringen können. Warum sonst hätte er das tun sollen?

Ihr gesamtes Team verhielt sich professionell und gesetzt, aber sie erkannte trotzdem, dass sie sich sorgten. Der Verlust ihrer Gabe zog weite Kreise und noch viel schlimmer daran war, dass keiner jemals von einem zweiten solchen Fall gehört hatte. Was war nur mit ihr los? War sie krank? Oder wurde sie vielleicht so schwer verwundet, dass sie ihr unsterbliches Leben eingebüßt hatte? Das machte keinen Sinn, denn normalerweise starben auch Elevender dann einfach. Sogar für ihre Körper gab es Verletzungen, die nicht mehr heilen konnten.

Sie ärgerte sich darüber, dass der Besuch bei Gregorowicz entgegen ihrer Absichten zu einem Fiasko entwickelt hatte. Nicht nur, dass sich ihre Hoffnungen, ein paar Geheimnisse lüften zu können nicht erfüllt hatten, nein, sie hatte nur weitere Rätsel bekommen. Das schien das Motto dieser Jagd und sie fühlte sich, als ob ihr das Ganze unaufhaltsam die Kraft abzog. Wie lange würde sie noch im Stande sein, weiter zu kämpfen? Sie war erschöpft, auf eine ganz ungewohnte Weise. Ohne ihre Intuition schien ihr alles mehr Aufwand, fühlte sie sich schwerfälliger und langsamer als sonst, als ob sie durch hüfthohes Wasser watete. Erst jetzt, als ihr die Nutzung nicht mehr möglich war, eröffnete sich ihr, wie weit der Einfluss ihrer ureigenen Macht gereicht hatte. Er erstreckte sich in jede ihrer Handlungen und Gedankengänge, stützte alle ihre Überlegungen. Kein Wunder, dass sie den Verlust eines wichtigen Körperteils zu verzeichnen gehabt hatte, als ihr diese Verbindung genommen worden war.

Wieder einmal gab es keine Hinweise dazu, warum ihr das passiert war und wie es sich rückgängig machen ließ. Zu diesem Schluss kamen auch alsbald ihre Kollegen, nachdem sie sich fast eine Stunde lang die Kehlen heiser debattiert hatten. Keine einzige glaubwürdige Theorie war dabei entstanden.

Gregorowicz erwies sich im Rückblick insgesamt als nicht halb so ergiebig wie gedacht. Ohne ihre Intuition fiel ihr nichts ein, womit sie ihn zum Reden bringen konnte und wie bereits Markus und auch sie selbst unter Beweis gestellt hatten, halfen weder Gewalt noch taktische Kriegsführung. Gut, ihre war natürlich heillos schief gegangen, aber sie bezweifelte, dass jemand anderes mehr Erfolg haben würde.

Letztlich berichtete Evrill, dass er seinen Vater angerufen und ihm alles erklärt habe. Natürlich war Ezekiel nicht begeistert von den Ausmaßen der Problematik gewesen, mit der sie sich herum schlugen, aber er hatte versprochen, sich mit Chronos in Verbindung zu setzen und ihn auszuhorchen, ob der Rat von der Waffe und einem offensichtlich gefährlichen Entstehungszweck der Steine in Kenntnis gesetzt worden war. Evrill hoffte, bis morgen früh wieder von ihm zu hören, weswegen sie beschlossen, sich diese Nacht zu erholen, um die verbrauchten Kraftreserven wieder ein wenig aufzufüllen. Der Schlaf war bei ihnen allen in den letzten Tagen knapp gewesen und daher waren die Gesichter von Aurelias Kollegen erleichtert und abgekämpft, als sie sich von einander verabschiedeten und für den nächsten Morgen verabredeten.

Die Pause war zwar nötig, aber Aurelia hatte Angst vor dem allein sein. Sie wollte sich nicht von ihren düsteren Befürchtungen verschlingen lassen, aber ohne Gesellschaft würde das bestimmt schwierig werden. Ein kurzer Blick zu Pareios sagte ihr, dass sie jetzt auch nicht auf seinen Zuspruch bauen konnte. Er war zu wütend auf sie und zeigte ihr nur zu deutlich, dass er sie im Moment nicht in seiner Nähe haben wollte, so sehr sie sich auch weiterhin zu einander hingezogen fühlten. Sobald Viktor die Gruppe offiziell entließ, war Pareios auf und da von, was ihre These auf traurige Weise bestätigte. Sie beließ es dabei. Ließ ihn gehen, nicht für lange, so schwor sie sich, aber auch er brauchte ein bisschen Zeit für sich. Zeit um seine Mitte zu finden und sich selbst einen Plan zu recht zu legen, wie er sich weiterhin verhalten sollte.

Als auch Aurelia aufbrechen wollte, hielt Rowena sie zurück. „Syrus sagt, dieser Dante versucht ständig, ihn über dich auszufragen. Kennst du ihn?“

Aurelia schluckte. „Ich habe ihn heute kennen gelernt.“

„Gehst du dann in den Krankenflügel? Markus hat Dantes Habseligkeiten untersuchen lassen und sie jetzt frei gegeben.“ Sie hielt eine kleine durchsichtige Plastiktüte hoch, die hauptsächlich Stoff und Schuhe zu enthalten schien. „Kannst du die mitnehmen und ihm seine Klamotten zurück geben?“

Aurelia nickte und nahm entgegen, was ihr gereicht wurde. „Haben die Untersuchungen nichts ergeben?“

„Keine Auffälligkeiten. Ich glaube, du gefällst ihm.“ Row lächelte verschmitzt und zwinkerte ihr freundlich zu. „Sei nett zu ihm, auch wenn du Pareios hast. Der arme Kerl muss einiges durchgemacht haben.“

Ha, als musste sie daran erinnert werden.

Sie verabschiedeten sich und Aurelia begab sich in die Krankenstation. Sie wünschte, sie hätte sagen können, es hätte ihr nicht gefallen, jetzt eine Ausrede zu haben, um Dante zu besuchen. Auch war es ihr so möglich, der drohenden Einsamkeit zu entrinnen und obwohl sie sich irgendwo bewusst war, dass sie mit dem Feuer spielte, war die Aussicht zu verlockend, sich wieder an die Empfindungen zu verlieren, die ihr Gegenstück ihr vermittelte. Wahrscheinlich war es eine persönliche Schwäche, zu einem anderen zu laufen, sobald Pareios sich keine Zeit mehr für sie nahm, aber sie fühlte sich auch tatsächlich schwach. Ihr Sicherheitsnetz fehlte nun, und sie musste lernen, frei auf dem Seil zu balancieren, keine übernatürliche Rückendeckung würde sie mehr retten, sollte sie einen falschen Schritt machen. Nein, sie war keineswegs in der Verfassung, dies allein zu verarbeiten.

Es dauerte nicht lange, bis sie einen Mitarbeiter der kleinen Klinik gefunden hatte und der ihr dann das Zimmer nannte, in dem man Dante untergebracht hatte. Schon von draußen spürte sie seine Anwesenheit und die Tür zu öffnen und einzutreten schien ihr mit einem Mal ganz natürlich. Es wäre nicht richtig gewesen, es nicht zu tun.

 

Dante saß auf dem Bett, als sie herein kam. Er hatte die Beine über einander geschlagen und hielt ein Buch in seinen Händen. Beim Lesen zog er die Augenbrauen leicht zusammen, als würde er sich angestrengt auf jeden einzelnen Buchstaben konzentrieren. Sie mochte, wie er dabei aussah, doch gefiel ihr dieser Umstand nicht. Es bewies nur noch einmal, dass es definitiv eine schlechte Idee gewesen war, hier her zu kommen.

Kurzentschlossen wollte sie die Tasche einfach neben der Tür abstellen und wieder verschwinden, da bemerkte Dante sie. Sofort war er aus dem Bett, das Buch lag auf dem Rücken und die Seiten ragten verwaist in die Höhe. Jetzt war die Stelle, an der er eben gewesen war, nicht wiederzufinden, aber es kümmerte ihn nicht im Geringsten.

„Hi.“ Er klang äußerst freudig und sie hatte den Verdacht, dass, wenn sie nicht so abweisend gewirkt hätte, er automatisch auf sie zu gekommen wäre. So aber stand er nur unschlüssig neben dem Bett und steckte die Fäuste in die Taschen der schwarzen Bunkerkleidung.

Vage erinnerte sich auch Aurelia, warum sie hier war und hielt die Plastiktüte vor sich. „Deine Sachen wurden freigegeben.“

„Danke.“ Jetzt begab er sich doch zu ihr herüber, um seine Habseligkeiten an sich zu nehmen. Bei der Übergabe der Tasche berührten sich ihre Hände, ein kleiner elektrischer Schlag zuckte über ihre Haut. Erstaunt sahen sie sich an und verharrten in der Position, die Tüte zwischen sich in der Luft. Die Welt schien sich einen Moment lang langsamer zu drehen und ihr blieb die Luft weg. Ihre Blicke verhakten sich in einander, sie tauchten in den jeweils anderen ein. Die Magie der Berührung offenbarte sich nur kurze Zeit später, indem sie darüber seine Sehnsucht nach ihr wahrnahm. Trotz der Zurückhaltung ihres vernunftgesteuerten Ichs, begann ihr Unterbewusstsein eine Konversation. Sie konnte es nicht genau betiteln, weil sie so etwas noch nie erlebt hatte, aber sie wusste instinktiv, dass das eine Sache zwischen Gegenstücken war. Als ob er nach ihr gerufen hätte und ein Teil ihres Seins automatisch darauf reagierte. Ihm antwortete.

Dante ließ die Tasche los. Sie fiel bereits vergessen zu Boden und der Elevender wagte es, seine Finger mit ihren zu verflechten. Er schien zu fürchten, dass sie seinen Vorstoß abweisen würde, doch sie genoss die Nähe viel zu sehr, als dass sie sich dem hätte entziehen können. Sie fühlte sich so verloren und er bot ihr Halt. Wieder hatten seine Berührungen diesen erholsamen Charakter, gleich einem Versprechen auf Heilung und Zuflucht. Wie hätte sie dazu nein sagen können, so verwundbar wie sie gerade war?

„Was ist passiert? Du siehst so bedrückt aus und… was ist mit deinen Knöcheln…?“ er brach ab, wahrscheinlich weil ein erschrockener Ausdruck über Aurelias Gesicht huschte. „Entschuldige, ich wollte nicht…“

„Ist schon gut.“ Mit der freien Hand winkte sie ab. „Es überrascht mich einfach, wie leicht es dir fällt, mich zu durchschauen, wo wir uns doch eigentlich gar nicht kennen.“

„Ja, ich weiß. Auf eine Art merkwürdig aber…“ Er strich mit dem Daumen über ihre  Haut.

 

Plötzlich schlug die Stimmung im Raum um, die kleinen Härchen auf Aurelias Unterarmen richteten sich auf. Dantes Lider hingen nur noch auf Halbmast und seine Wangen wurden von einem rosigen Ton überzogen, als er einen Schritt näher kam. Eine erwartungsvolle Verheißung erfüllte die Luft zwischen ihren Körpern, die sich beinahe berührten. Während Aurelia benommen zu ihm aufblickte, konnte sie ihren eigenen Atem hören. Überdeutlich durchschnitt er die Stille und auch Dante musste es registrieren. Seine Wirkung konnte ihm so kaum verborgen bleiben.

Er neigte sich leicht zu ihr vor und leckte sich über die wundervollen Lippen. „Es fühlt sich einfach unbeschreiblich gut an.“

Aurelia musste schlucken und ihre Augen begannen zu brennen, weil sie nicht blinzeln konnte. Hypnotisiert starrte sie in dieses türkisen leuchtende Meer und wusste, wenn sie jetzt nicht ging, war sie verloren.

Nicht dass dieser Gedanke nicht schockierend gewesen wäre, aber er war nicht aufschreckend genug, um sie zum Rückzug zu bewegen. Um ehrlich zu sein, hätte es wahrscheinlich bereits nichts mehr gegeben, das das geschafft hätte und möglicherweise hätte sie nicht mal dann verschwinden können, wenn er sie darum gebeten hätte.

So viel also zu ihrer Zurückhaltung, dachte sie noch, da senkte er bereits zögerlich den Kopf, verdrängte alles außer ihm aus ihrem Verstand. Er war so schön, fiel ihr erneut auf, und ihr Herz tanzte wie verrückt, in der Hoffnung auf noch mehr Kontakt. Ihr Wunsch war selbstsüchtig, bei allem was um sie herum geschah, aber ihr Verlangen war pur und ihr Sehnen rein. Ließ sie mal alles andere außen vor, war das moralisch gesehen doch nicht verwerflich. Nichts schien ihr mehr falsch an ihrem Tun, es fühlte sich so vorbestimmt und richtig an.

Ihre Lippen begegneten sich in einem vorsichtigen Kuss. Aurelias Augen schlossen sich und hinter ihren Lidern brannte ein Feuerwerk ab. Ihr ganzer Körper begann zu kribbeln, erwärmte sich unwillkürlich. Gespannt kostete sie von ihm und hätte fast vor Verzückung geseufzt, als ihre Geschmacksknospen das beste Aroma aller Zeiten meldeten. Dantes Bewegungen wirkten ungeübt, aber er lernte schnell, wie er ihren Kopf sachte zur Seite neigen konnte, um besseren Zugang zu haben.

Zunächst hatten sie die Lippen keusch geschlossen, aber als hätten sie ein Räumungskommando verhängt, schlängelten sich schon bald ihre Zungen hervor. Sie trafen betörend langsam auf einander, begannen sich zu umkreisen, wurden schneller.

Immer zügelloser küssten sie sich, die Sehnsucht in ihrem Inneren wurde dadurch jedoch nicht gestillt, sie verstärkte sich nur. Die Süße des Augenblicks umfing sie beide und Aurelia wollte ihn plötzlich nicht nur küssen. Ihre Hände machten sich selbstständig und wider aller guten Vorsätze zog  sie ihr Gegenstück an sich heran, presste sich gegen seine Brust. Konnte ihm gar nicht nahe genug sein, obwohl ihr Herz bereits sagte, dass sie eins waren. Nur logisch, so schien es, auch ihre Körper zu vereinigen. Genau so, wie es sein sollte, wozu sie geschaffen worden waren.

Dante stieß die Finger in ihr Haar, wühlte in den Locken, während seine andere Hand ihren Rücken hinab fuhr. In ihrem Kopf begann Musik zu spielen, romantische Klänge, die ihrem Kuss eine übernatürliche Note verliehen. Sie hätte schwören können, dass sich ein Herzchenschauer über ihnen ergoss, es kam ihr vor wie in einem schnulzigen Teenie-Film. Die Gefühle waren so überwältigend, als wäre es ihr aller erstes Mal.

Sie sah keinen Grund, den anderen Elevender zu stoppen, als er sich von ihrem Mund löst und küssend ihren Hals hinunter wanderte. Denn so löschte er den Brand, der auf ihrer Haut entstanden war, linderte damit ihren Schmerz. Sie wünschte sich seine Zuwendung nicht nur, sie brauchte sie. Wie ein unnachgiebiges Ziehen drängte ihr Verlangen nach mehr, brachte ihren Körper dazu, sich Dante entgegen zu recken. Sehnsüchtig packte sie seine Hand und führte sie zu ihren Brüsten, wollte von ihm angefasst werden.

Unverzüglich kam er ihrer Forderung nach und es fühlte sich an wie pure Wonne, doch schon bald reichte ihr auch das nicht mehr aus. Völlig verloren an die Lust rieb sie sich an ihm und als hätte sie verständliche Worte ausgesprochen, eine verzweifelte Bitte ausgestoßen, erhörte Dante sie.

Unvermittelt ließ er sich vor ihr auf die Knie fallen. Die sanften Fingerspitzen kitzelten ihre Haut, während er langsam aber bestimmt den Knopf ihrer Hose öffnete und dann seine Zunge über jeden Zentimeter der freigelegten Haut folgen ließ. Er zog den Reißverschluss herunter, hakte den Daumen unter das Bündchen ihrer Unterwäsche und schob sie samt Hose auf ihre Oberschenkel.

Bevor sie sich entblößt fühlen konnte, küsste er ihre Scham und ihre Knie wurden gefährlich wackelig. Der Kuss ging ihr durch und durch, das weiche seidige Streicheln seiner Lippen an dieser äußerst intimen Stelle trafen sie bis ins Mark und als er dann auch noch seine Zunge dazu gesellte, konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten. Im nu befand sie sich auf dem Rücken, denn Dante hatte ihren Sturz abgefangen. Ein zufriedenes männliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel, wobei er zu ihr aufschauend ihre Beine ganz von ihrer Kleidung befreite.

Liebevoll schob er sie aus einander und wanderte an der Innenseite ihrer Schenkel nach oben. Die verheißungsvolle Erwartung in Aurelia zog sich zu einem festen Koten in ihrem Unterleib zusammen, sie spannte sich vor Ungeduld an, wobei ihr jedes einzelne Tasten und Küssen überdeutlich bewusst war. Denn dies war tatsächlich eine Premiere für Aurelia, nie war sie zuvor auf diese Weise berührt worden, obwohl sie nicht nur mit einem Mann geschlafen hatte. Keiner von ihnen hatte sich bisher so um ihren Körper bemüht und je näher Dante ihrem Zentrum kam, desto intensiver wurden die Eindrücke, sie musste die Augen schließen, um nicht völlig überwältigt zu werden.

Schließlich spreizten seine Hände ihre Beine weit und der erzte Kuss traf sie zunächst etwas überraschend. Aurelia stieß einen erschrockenen Laut aus, aber er geriet sofort zu einem lustvollen Seufzen. Egal was sie bisher über das Thema Oralsex gedacht hatte, es wurde einfach ohne viel Federlesen vom Tisch gefegt. Ohne ihr Zutun hoben sich ihre Hüften, um den Druck zu verstärken, aber da begann seine Zunge auf Wanderschaft zu gehen. Damit sandte er ihr Nervensystem auf einen abgefahrenen Trip, es spielte komplett verrückt, so atemberaubend gut fühlte es sich an. Er machte tiefe genüssliche Geräusche während er sie erkundete und nach einer Weile sein Streicheln und Lecken auf den empfindlichsten Punkt konzentrierte. So trieb er sie auf ihren Höhepunkt zu, ließ sie eine Weile direkt vor dem Abgrund taumeln, zögerte das Vergnügen noch ein wenig hinaus. Ihre Finger krallten sich in das außergewöhnlich weiche Haar ihres Liebhabers, damit sie ihn an sich drücken konnte, dann ließ er sie springen.

Sie landete zitternd in seinen Armen, die Hände hatte er in ihren Hintern gegraben. Den Kopf immer noch in ihrem Schoß versenkt, half er ihr die Welle zu reiten, jede Nuance dieses herrlichen Loslassens auszukosten. Ihre Muskulatur kontrahierte sich überall unwillkürlich, während sie in dieser köstlichen Erlösung versank. Doch schon das eine Streicheln, das ihrem Höhepunkt folgte, brachte sie wieder auf Touren, ließ sie nach mehr hungern. Vielleicht hatte diese Begegnung zweier Gegenstücke tatsächlich viel mehr mit Instinkt zu tun, als sie erwartet hatte und dieser sagte ihr klip und klar, dass er sich jetzt noch nicht zufrieden geben würde. Und noch während sie halb weggetreten da lag, hatte sich Dante aufgerichtet. Sie bekam die Augen kaum auf, ihre Beine waren schlapp und kraftlos, aber sie vernahm, wie ein weiterer Reißverschluss aufgezogen wurde.

Eins ihrer Knie wurde angewinkelt, dann teilte die heiße Spitze seines Glieds ihr Fleisch. Gleichzeitig stöhnten sie auf, drängten sich auf einander zu, ganz und gar an das Bestreben verloren, ihre Verbindung zu vervollständigen. Und als dies geschah, ihr sehnsüchtigster Wunsch der letzten Minuten erfüllt wurde, erkannte sie, dass ihre Körper tatsächlich eins wurden. Nicht nur im übertragenen Sinne oder weil sie sich so nahe waren, sie wurden wahrhaftig zu einem Wesen mit nur einem Bedürfnis, einer einzigen, rohen Begierde.

„Oh, verdammt!“ entfuhr es da ihrem Gegenstück, seine Hüften verfielen in wilde Zuckungen und in ihrem Unterleib breitete sich ein warmes Gefühl aus. Sie fand es so erotisch, genau zu spüren, wie er kam. Eine weitere Erfüllung, obwohl sie nicht mal geahnt hatte, dass sie so danach gegiert hatte. Fest schlang sie Arme und Beine um Dante und hielt ihn, küsste seinen Hals und sein Kinn. Dort konnte sie noch Spuren von sich selbst schmecken und die anregende Erinnerung brachte sie dazu, sich neckend an ihn zu schmiegen.

Nachdem seine Ekstase abgeflaut war, gab es keine Pause, kein Luftholen. Ihre Lippen wurden von seinen versengt, überall jubilierten die Sinneszellen, als er sich wieder zu bewegen begann. Es dauerte nicht lange, bis sie beide erneut den Gipfel der Leidenschaft erreicht hatten, diesmal zeitgleich und als hätten endlich alle Puzzelsteine ihres Wesens den richtigen Platz gefunden, ging sie in ihrem Gegenstück auf. Erfasste, dass Dante für sie gemacht worden war, dass jeder Moment so verlaufen musste, dass der Ort, an den sie gehörte in seinen Armen lag.

Bei dieser Erkenntnis verstärkte sich das unbeschreibliche Wonnegefühl, das er ihr schenkte noch einmal, aber gleichzeitig versetzte sie ihrem Herzen auch einen Stich. Denn neben dem Beginn dieses neuen Abschnittes, kündigte sich auch der drohende Abschluss eines alten an. Trotz ihres Schwebezustandes konnte sie die Trauer nicht ganz verbannen, widerstreitende Emotionen rangen immer wieder in ihr. Nichts konnte darüber hinweg täuschen, dass, obwohl sich alles so fabelhaft und großartig anfühlte, sie gerade zur Betrügerin geworden war.  

 

Der Rausch, dem sie und Dante anheim gefallen waren hielt die ganze Nacht an. Sie schliefen noch einige Male mit einander, Aurelia hörte irgendwann auf zu zählen. Ihr Gegenstück füllte gekonnt die Leere, die ihre fehlende Gabe hinterlassen hatte und auch die Einsamkeit hielt er von ihr fern. Sie war unbestreitbar dabei, sich ziemlich tief in den Dreck zu reiten, doch das Schicksal ließ sich nicht abwehren. Ungefragt schmiedete es ein Band zwischen ihnen beiden. Aurelia war sich jedoch nicht sicher, ob es nicht schon vorher existiert hatte und erst durch ihre Einwilligung, die sie ganz unbewusst während ihres Zusammenseins gegeben hatte, sichtbar geworden war.

Im Nachhinein schienen ihr die Vorkommnisse dieser Nacht unausweichlich. Egal wie sehr sie sich gegen die Vorstellung von einem Gegenstück gesträubt hatte und wie sehr sie Pareios auch liebte, sie war nicht fähig gewesen, sich Dantes Anziehungskraft zu entziehen. 

41

Mitten in der Nacht erwachte sie schlagartig. Zumindest empfand sie es als ziemlich spät, wobei sie im Schummerlicht, das durch die Milchglasscheibe zum Bad fiel, keinen Anhaltspunkt auf eine Uhrzeit fand. Außerdem flößte ihr der Anblick besagter Schiebetüre sofort die Erinnerung an den vergangenen Tag ein, und einen verdrehten Augenblick lang sah sie das große Glasquadrat zersplittert am Boden liegen, spürte die Hitze, die geherrscht hatte. Ein schlechtes Gewissen überflutete ihren Verstand, ihre Seele.

Mein Gott, wie sollte sie Pareios je wieder unter die Augen treten?

Reflexartig wollte sie diesen Gedanken verdrängen, ein Blick neben sie zeigte, dass Dante noch tief schlief. Seine Augen zuckten im REM-Schlaf unter seinen Lidern hin und her, sein Atem war langsam und flach. Ihn zu betrachten, rief ein warmes Glühen in ihr wach. Die Zuneigung zu ihm hatte sich intensiviert, war zu einem Teil ihres Herzens  geworden, das wie betrunken hin und her schwankte zwischen Schuld und Liebe, Glück und Verzweiflung. Das Chaos machte sie ganz schwindelig.

Aber gleichzeitig wurde sie auch restlos aus dem betörenden Bann gezogen, unter dem sie die vergangenen Stunden durch den Mann auf dem Bett gestanden hatte. Anscheinend war der Instinkt, der sie zu ihrem Gegenstück trieb, extrem stark und einnehmend, schwer zu bezwingen, wie sie gerade eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte. Na toll, sollte Pareios am Ende recht behalten? War sie solch ein Sklave ihrer Triebe?

Offensichtlich, beantwortete sie sich die Frage selbst, während sie die Beine aus dem Bett schwang. Wie niederträchtig sie doch war, als ob nicht nur ihre Gabe, sondern auch ihre mentale Stärke und ihr Sinn für Moral verschwunden wären.

Sie hoffte, noch Zeit für eine Dusche zu haben, um die Spuren zu verwischen, und vielleicht für ein wenig Training, das ihr einen klaren Kopf verschaffen würde, bevor sie sich mit ihren Teamkollegen treffen musste. Sie schlüpfte in ihre Klamotten, die überall im Zimmer verteilt lagen, schlich dabei immer wieder um das Bett herum und betete, dass Dante nicht aufwachen möge. Denn sie war sich nicht sicher, ob sie dann in der Lage sein würde, zu gehen. Wie sie gestern erst bemerkt hatte, gab es da Komplikationen, wenn er sich bei diesem Vorhaben einmischte.

In ihren eigenen Taschen fand sie nichts, womit sie die Zeit bestimmen hätte können, damit sie abschätzen konnte, wohin sie zuerst gehen sollte. Doch beim Anziehen der Socken stolperte sie schließlich über Dantes Tüte und beschloss, darin nach einer Uhr zu kramen. Vielleicht besaß er ja eine.

Sie kippte den Inhalt auf den Boden und trennte die Schuhe von dem dunklen Shirt und der Hose, die beide abgerissen und schmutzig aussahen. Sonst fand sich da auf den ersten Blick nichts. Mit den Händen tastete sie die Hosentaschen ab und stieß auf einen harten Widerstand in der Rechten. Nachdem sie den Gegenstand zu Tage befördert hatte, musste sie allerdings feststellen, dass es keine Taschenuhr war.

An ihrer Hand baumelte ein großes, schweres Amulett an einer dicken Silberkette. Sie griff danach und brachte es näher an ihr Gesicht, drehte es in den hellen Schein aus dem Badezimmer. Tiefe, reichhaltige Ornamentik reflektierte das Licht, ein verschlungenes Muster zierte Vorder- und Rückseite. Es war so dicht, dass sie keine genauen Formen ausmachen konnte, aber da fiel ihr Blick auf das kleine Scharnier an der Seite, was bedeutete, dass das Schmuckstück irgendwie zu öffnen war. Mit Sicherheit war es nicht richtig, in Dantes Sachen herum zu schnüffeln, doch ihre Neugier siegte.

Nach einigem Gepfriemel klappte das Vorderteil auf und offenbarte ihr den Inhalt. Die linke Hälfte des Amuletts brachte eine Fotographie zum Vorschein. Eine junge Frau, die ein Kind auf den Armen hielt. Im Hintergrund waren Bäume zu sehen, sie waren im Freien, beide trugen Sommerkleider und beide hatten sie dieses kastanienbraune Haar mit den bronze- und goldfarbenen Strähnen und diese ungewöhnlichen Augen. Sie lachten ausgelassen, sahen direkt in die Kamera. Ein schönes Bild, das Aurelia in eine heile Welt voller Glücksgefühle versetzte. Das Kind musste Dante sein und die Frau war wahrscheinlich seine Mutter, die Ähnlichkeit verriet sie einfach.

In der rechten Seite des Anhängers war eine spiegelnde Fläche eingelassen worden, darauf waren Worte in einer verschlungen Schreibschrift eingraviert: In immer währender Zuneigung, O.

Sie freute sich ungewöhnlich intensiv über ihren Fund, da sie es Dante vergönnte, heraus zu finden, dass er doch irgendwo ein Leben hatte. Eine Mutter, die auf ihn wartete, vielleicht sogar eine noch größere Familie. Vor allem in Anbetracht ihrer eigenen Geschichte konnte sie sich kaum etwas Schöneres vorstellen. Zu erfahren, dass ihre Familie am Leben wäre, käme wahrscheinlich dem größten Geschenk auf Erden gleich.

Sie klappte das Schmuckstück wieder zu und überlegte schon, ob sie Dante wecken und ihm das Bild im Innern des Medaillons zeigen sollte. In Gedanken rieb ihr Daumen über das Relief aus Silber und blieb unvermittelt in einer besonders prominenten Vertiefung hängen. Verwundert ging sie noch einen Schritt zum Bad hinüber, um mehr Licht zu haben.

Es fühlte sich an wie ein X , das tief in der Mitte des silbernen Ovals gefräst worden war, doch bei genauem Hinsehen erkannte sie, dass alle vier Seiten des Zeichens eine gerade Verlängerung aufwiesen.

Es war der Abdruck eines… Kreuzes?

Aurelia schnappte nach Luft, presste sich aber sofort die flache Hand auf den Mund. Der Schock hielt nur für kurze Zeit und sie drehte sich rasch zum Bett um, aber zum Glück machte Dante keinen Mucks. Dann kramte sie eilig in ihrer eigenen Tasche, fahrig vor Hast durchsuchte sie die kleinen Falten im Stoff, bis sie endlich das gefunden hatte, wonach sie suchte.

Das blaue Glaskreuz, das sie im Computerraum des Labors in Berlin aufgelesen und seitdem aus einer Laune heraus bei sich getragen hatte.

Ihr Puls beschleunigte sich unwillkürlich, als ihr schon auf den ersten Blick klar wurde, dass es von der Größe her ungefähr passen könnte. Ihre Finger zitterten bedenklich, während sie versuchte, Kreuz und Medaillon zusammen zu bringen. Sie musste sich erst zusammenreißen, um ihre Gliedmaßen ruhig genug halten zu können. Zuerst glitt das eine Eck in die Vertiefung, dann noch eines und mit einem leisen Klick versank das blaue Glas ganz darin.

Es passte wie hinein gegossen!

Aurelia schrak auf, starrte wie vom Hafer gestochen auf das Amulett in ihrer Hand, dessen Vorderseite nun von ihrem ehemaligen Talisman geschmückt wurde. Vermutungen schlugen wie Blitze in ihrem Kopf ein, alles drehte sich um sie herum, während sie sich bemühte, die Bedeutung dieser Entdeckung zu ergründen. Sie spürte, dass die Erkenntnis fatal sein würde, das war ihr sogar ohne ihre Intuition klar. Dann plötzlich rastete ihr Gedankenkarussell ein, kam zum Stillstand und spuckte ihre Schlussfolgerung aus.

Dante war zwar mit Pareios in dem Gefängnis in Berlin gefangen gehalten worden, aber sein Amulett oder er selbst mussten vorher einmal in dem Computerraum gewesen sein, in dem sie mit Aiden eingebrochen war. Und da man so ein Amulett, einen solch persönlichen Gegenstand nicht aus der Hand gab oder verlieh, lag die Vermutung nahe, dass er sich höchstpersönlich dort eingefunden haben musste.

Aurelias Herz raste mittlerweile auf 180, obwohl ihr Blut in eiskalten Wellen durch ihre Adern floss, ihr Hirn fühlte sich kurz schockgefrostet, weil sie sofort das schlimmste annahm. Sie glaubte zwar nicht, dass Dante ihr etwas vorenthalten konnte, doch er hatte keine Erinnerungen, nichts das sie in ihm hätte lesen können. Sie hatte angenommen, dass ihm das durch die Folter passiert war oder zu den verrückten Experimenten gehörte, die Gregorowicz durchgeführt hatte. Was wenn es aber einen anderen Grund hatte?

Was wenn damit etwas verschleiert werden sollte?

Wieder fuhr ihr Kopf zu ihrem ruhig daliegenden Gegenstück herum und plötzlich geriet Bewegung in ihren erstarrten Leib. Auf Zehenspitzen schlich sie zurück zum Bett und beugte sich über Dante. Er sah so friedlich aus, dass sie gar nicht glauben konnte, dass sie ihm tatsächlich etwas so waghalsiges andichten wollte.

Sie zögerte.

Er war ihr Gegenstück, sie konnte ihn doch nicht so in Gefahr bringen… Nein! Sie stoppte sich selbst. Beweise logen nicht und wenn sie aufklären konnte, wie Dante mit all dem zusammenhing, dann bekam sie noch so viele Antworten mehr. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihn. Ihr fiel nur ein Weg ein, wie sie das im Moment klären konnte.

Auf seinem Kissen entdeckte sie letztlich, was sie benötigte. Vorsichtig zupfte sie das bronzefarbene Haar vom Bezug und wickelte es in eins der Taschentücher, die auf dem Nachttisch in einer Nachfüllbox standen. Zusammen mit dem Medaillon wanderte das Beweisstück in ihre Tasche und schon war sie raus zur Tür.

Sie war so aufgeregt, dass sie rannte. Alle Türen, die sie passierte, ließ sie offen stehen, nahm sich keine Zeit für gute Manieren. Immer schneller hallten ihre Schritte vielfach in den kahlen Betonkorridoren des Bunkers wieder, trugen sie auf kürzestem Wege direkt zum Labor, das immer noch abgesperrt war, wie sie bei ihrem Eintreffen feststellen musste.

„Syrus!“ rief sie zwischen zwei tiefen Atemzügen, hämmerte gegen den Eingang zu dem verschlossenen Trakt. „Syrus!“

Zischend öffneten sich die Schiebetüren aus Glas, Syrus stand in der Luftschleuse und blickte ihr fragend entgegen. „Was machst du denn um diese Uhrzeit hier? Es ist halb sechs Uhr morgens! Außerdem sollte ich niemanden ins Labor lassen, es ist zu gefährlich, das weißt du doch.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust.

Aurelia keuchte immer noch, sie hatte sich bei ihrem Spurt alles abverlangt und würde sich auch jetzt nicht abweisen lassen. „Ja, ich weiß, ich will auch gar nicht rein, könntest du mir nur einen Gefallen tun?“

„Worum handelt es sich?“ fragte er und ihm war deutlich anzumerken, dass es seine Neugier weckte, von ihr um etwas gebeten zu werden. Anscheinend versprachen ihre Anliegen immer einiges an Spannung, jedoch konnte sie seine Begeisterung darüber nicht teilen.

Sie griff in die Hosentasche und holte das gefaltete Papiertaschentuch heraus. „Könntest du die DNA von diesem Haar isolieren und mit der der Steine vergleichen?“

Syrus Mund klappte vor Erstaunen auf. „Wessen Haar ist das?“ Seine Stimme klang äußerst misstrauisch.

„Das spielt nur eine Rolle, wenn du einen Treffer findest.“ entgegnete sie stur und hielt ihm das weiße kleine Päckchen unter die Nase. „Also?“

Syrus gab nickend seine Zustimmung und nahm ihr das Beweisstück aus der Hand. „Na gut. Dann komm rein, aber du bleibst neben der Schleuse stehen.“ Der Wissenschaftler wandte sich um und Aurelia folgte ihm ins Labor hinein. Es roch ein wenig angekokelt. „Ich habe die neusten Maschinchen für diese Aufgabe, es dürfte nicht lange dauern.“

Er drehte ihr den Rücken zu und hantierte mit einigen Gerätschaften an einem Arbeitstisch, dann wanderte eine kleine Glasküvette in einen großen metallenen Apparat. Syrus schloss die obere Abdeckung, drückte ein paar Knöpfe und das Ding begann zu vibrieren.

 

Während sie wartete erhielt sie einen Kaffee, aber sie war zu sehr in Gedanken, als dass sie einen Schluck davon genommen hätte. Aktuell schien ihr Handeln die einzige Möglichkeit, ihre These zu überprüfen und auszuschließen, dass Dante schon vor seinem Zusammentreffen mit Pareios in Kontakt mit den Steinen gekommen war. Sie wagte nicht, darüber nach zu denken, was es bedeuten könnte, sollte sich ihre Befürchtung bewahrheiten und wenn sie ganz ehrlich war, war sie nicht sicher, ob sie noch weitere Überraschungen verkraften konnte. Obwohl sie durch das Stelldichein mit Dante Kraft hatte schöpfen können, fühlte sie sich immer noch erschöpft. Ihre Behinderung machte sich immer deutlicher bemerkbar, sie konnte geradezu fühlen, wie die Ungewissheit über den Verbleib ihrer Gabe an ihr nagte. Stück für Stück von ihr nahm, ihre Selbstsicherheit untergrub. Die daraus resultierende Schwäche lähmte ihre Glieder und ihren Verstand, sodass sie um jede weitere Bewegung, sei sie mental oder physisch, kämpfen musste.

Zudem waren ihre Gedanken und Erinnerungen Mienenfelder. Jedes Bild konnte die verworrenen Emotionen hochbringen, die sie wegen ihrer Zuneigung zu Pareios und gleichzeitig zu Dante empfand. Überall waren dort versteckte Hinweise und Kleinigkeiten, die sie an den einen oder den anderen Mann denken ließen.

 

„Das gibt es nicht!“ rief Syrus hinter ihr aus und erschreckte sie damit so sehr, dass sie ihre Tasse fallen ließ. Sie zersprang scheppernd auf dem Betonfußboden und der heiße Kaffee verteilte sich schnell zu einer großen Pfütze, umrandet von ein paar Spritzern. Aurelia fuhr zu dem Wissenschaftler und dem Display mit der Anzeige der Maschine herum. Als erstes fielen ihr mehrere kleine Lichtlein auf, die grün blinkten, aber sie verstand nicht, warum Syrus so aufgebracht war.

„Was ist?“ fragte sie und missachtete seine Anweisungen, indem sie unwillkürlich näher kam.

„Es gibt Übereinstimmungen. Bei allen sechs Steinen!“ keuchte er und beugte sich über die Lämpchen, es waren ein halbes Dutzend an der Zahl, als könne er sie sonst nicht genau sehen und damit dem Ergebnis keinen Glauben schenken.

Aurelia erging es kaum besser, sie stand jetzt neben ihm und tat es ihm ungläubig gleich.

„Aber, wie ist das möglich?“ Die Worte stolperten in ihrer Trance völlig unkontrolliert aus ihrem Mund. „Was… was bedeutet das?“

„Das fragst du mich?“ Syrus raufte seine schütteren grauen Strähnen. Die, die noch übrig geblieben waren, stand nun von den Seiten seines Kopfes ab. „Du hast dieses Haar angeschleppt, sag du mir, was es bedeutet.“

„Nein, ich meine, wie kann es sein, dass ein Stein und ein Mensch dieselbe DNA haben?“

„Sie haben nicht dieselbe… Ok, pass auf!“ Syrus rief auf einem Bildschirm ein paar Dateien auf, woraufhin sieben Grafiken untereinander erschienen. Viele Linien verliefen durch jede Einzelne, hin und wieder wiesen sie ein paar farbig markierte Peaks auf. Syrus zeigte auf die Koordinatensysteme.

„Bei einem DNA-Vergleich pickt sich die Maschine einzelne Bereiche der DNA-Sequenz heraus und vergleicht diese. Wenn sie mehr als neun separate Übereinstimmungen findet, bezeichnet man eine Verwandtschaft als erwiesen, was hier der Fall ist. Erst ab wesentlich mehr Übereinstimmungen geht man von ein und derselben Person aus.“

„Wie interpretierst du das?“ hakte Aurelia nach, weil sie sich nicht erklären konnte, wie das alles Sinn ergeben sollte. Syrus überlegte einen Moment lang, dabei ließ er sich gedankenverloren auf einen der Bürostühle fallen.

„Da wir wissen, dass die Steine von Menschenhand gefertigt worden sind, denke ich, dass die DNA dieses Haares als Vorlage diente, vielleicht auch…“

„WAS?“ entfuhr es Aurelia. Jetzt brauchte auch sie dringend einen Stuhl. Halt suchend langte sie nach der Kante des Arbeitstisches. Der menschliche Wissenschaftler griff zum Glück ein und half ihr, sich sicher zu setzen.

„Von wem stammt dieses Haar?“ bohrte der Wissenschaftler in ihm natürlich sofort erneut nach, nachdem sie einigermaßen ruhig saß. Wieder hatte ihre Reaktion ihn spitzfindig gemacht.

Sie war zu verstört, um ihm zu antworten, zu verstört, um auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu formen, geschweige denn ganze Sätze zu formulieren. In ihrem Kopf herrschte eine einzige undurchdringliche Leere, doch nach kurzem wurde ihr klar, was sie zu tun hatte.

Sie konnte nicht mehr. Sie war am Ende ihrer Kräfte und ihrer Möglichkeiten, war überfordert mit der Tragweite ihrer Entdeckung. Sie brauchte Hilfe.

 

Ohne den älteren Menschen noch eines Blickes zu würdigen sprang sie auf und stürmte aus dem Labor. Ihre Schritte trugen sie automatisch zu Viktors Wohnung und sie platzte ohne anzuklopfen zur Tür herein. Durch eine weitere gelangte sie ins Schlafzimmer, wo sie den Elevender unsanft aus dem Bett warf.

„Spinnst du?“ murmelte er verschlafen und rieb sich die Augen, doch als er sie ansah, wich jede Farbe aus dem Gesicht. Ihr Aussehen musste einiges über ihren derzeitigen Zustand verraten, denn er wirkte sofort alarmiert. „Was ist passiert?“

„Hilf‘ mir, die anderen her zu holen! Es ist wichtig.“ forderte sie nur statt einer Erklärung und war schon wieder unterwegs.

So dauerte es nicht lange, bis sie ihre Teammitglieder und auch Evrill in der Wohnung von Viktors Familie versammelt hatten. Alle wirkten sie verknittert, nur Pareios nicht. Der sah aus, als hätte er gar nicht geschlafen. Sein Anblick schnitt ihr ins Herz, natürlich nicht wegen ihm, sondern wegen ihr und dem, was sie letzte Nacht getan hatte. Doch sie hatte jetzt keine Zeit für diese Sorte von Schuldgefühlen, denn sie hatte schon genügend davon gegenüber den anderen Elevendern in der Runde. Sie musste endlich den Rat ihres besten Freundes und Liebhabers beherzigen und ihren Kollegen reinen Wein einschenken.

Bevor sie zum Sprechen ansetzte, war ihr mulmig zumute, sie wusste, dass sich die freundlichen und offenen Gesichter gleich grundlegend verändern würden, wenn ihnen klar werden würde, dass Aurelia ihnen etwas verheimlicht hatte. Das würde ihr Vertrauen in sie noch zusätzlich erschüttern, doch da musste sie jetzt durch. Sie schluckte und nahm all ihren Mut zusammen.

Dann berichtete sie von allem, was seit ihrer Verwundung geschehen war und was sie für sich behalten hatte. Dass sie mit Dante geschlafen hatte ließ sie weg, letztlich tat es absolut nichts zur Sache, doch sie schloss mit dem, wovor sie sich am meisten gefürchtet hatte. Sie offenbarte, dass ihr Gegenstück ganz sicher mit den Steinen verbunden war, sogar die DNA belegte das und dass ihre Vision ihn zeigte. Zu guter letzt, erklärte sie, warum sie bisher geschwiegen hatte.

Sie hätte auch eine Bombe zünden können, die Auswirkungen hätten wohl kaum verheerender sein können. Sie hatte jedes Lächeln und Lachen aus den Zügen ihrer Kollegen getilgt, sie starrten ihr entgeistert entgegen und man hätte wahrscheinlich eine Stecknadel auf dem Boden aufkommen hören können.

Die geballte Entrüstung von vier Personen schlug ihr entgegen und Aurelia entging auch nicht, wie Viktor nach seinem Bruder schielte. Natürlich dachte er als erster daran, wie der sich wohl in dem ganzen Debakel fühlen musste. Mit Aurelias Gegenstück auf dem Plan und der Gewissheit, dass er vielleicht an die Steine gelangen würde, hatten sie endlich einen Durchbruch in dem Netz aus Intrigen erzielt. Obwohl sie nichts weiter über New Dawn erfahren hatten können und auch der Zweck der Steine immer noch im Dunkeln lag, hatten sie jetzt eine klare Richtung, eine deutliche Spur, der sie folgen konnten. Pech war nur, dass Aurelias Privatleben und ihr persönliches Glück dabei vor die Hunde ging, in aller Öffentlichkeit zerlegt und inspiziert wurde.

Unter den bohrenden Blicken ihrer Kollegen lief sie rot an und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst, doch sie war es ihnen schuldig, sich ihren Fragen zu stellen.

„Wo ist Dante jetzt?“ fragte Viktor, der sich als erster wieder ein wenig gefangen hatte.

„In der Krankenstation.“

Pareios Augen durchleuchteten sie, sie konnte spüren, wie er sich im Kopf zusammenreimte, wie sie an die Beweismittel gekommen war. Sie konzentrierte sich wieder auf die Unterhaltung, sie musste sich später mit seinen verletzten Gefühlen und ihrem Bedauern deswegen aus einander setzen.

„Also warten wir jetzt ab, bis dieser Typ sich die Steine schnappen will, oder wie?“ Aiden kratzte sich unschlüssig am Kopf. „Wir könnten eine Personensuche nach der Frau auf dem Foto starten. Vielleicht finden wir so mehr über ihn heraus.“

„Gute Idee!“ bestätigte Rowena. „Kann ich mal das Medaillon sehen?“

Aurelia reichte es ihr widerstandslos. Sie war perplex, dass sie keine Vorhaltungen gemacht bekam. „Seid ihr denn nicht wütend auf mich?“

Aller Augen, die auf das silberne Amulett gerichtet gewesen waren hefteten sich ein zweites Mal auf sie. Doch diesmal wirkten sie alle eher mitleidig, sogar Viktor hatte eine ganz weiche Miene aufgesetzt.

„Aurelia Liebes, dieser Kerl ist dein Gegenstück. Da gelten andere Gesetze. Wir verstehen das.“ Row berührte nachsichtig lächelnd ihre Hand. „Das muss alles ziemlich heftig für dich sein, nicht wahr?“

Ein Gegenstück, das irgendwie in die dunklen Machenschaften des Gegners verwickelt war als heftig zu bezeichnen, war wohl noch eine Untertreibung.

„Es war dumm von dir, uns nichts zu sagen, aber ich kann nachvollziehen, warum du uns das verschwiegen hast.“ fiel auch Viktor ein. „Ein Gegenstück verändert alles und manchmal lässt einem dieses Schicksal keine Wahl.“ Oh ja, gerade er konnte von dieser Erfahrung ein Lied singen! Er kannte ihre Situation ganz genau und wie sich jetzt zeigte, bemerkte auch er die Parallelen. „Jetzt müssen wir mit dem arbeiten, was wir haben, also fällt dir noch irgendetwas ein?“

 

Bevor Aurelia ihm eine Antwort gegeben konnte unterbrach das Klingeln von Viktors Communicator ihre angeregte Diskussion. In seiner gewohnten Schnelligkeit nahm er den Anruf entgegen und schon nach wenigen Worten, die hauptsächlich aus ‚Ja‘ und ‚Ok‘ bestanden, legte er wieder auf.

„Markus will mit uns sprechen.“ Sogleich tauschten sie nervöse Blicke und die Stimmung blieb beklommen, während sie sich aufmachten, um Markus‘ Anweisung Folge zu leisten. Unausgesprochen war klar, dass ihre neusten Entdeckungen unter ihnen bleiben mussten.

Sie erreichten der Konferenzraum und betraten ihn allesamt. Markus war noch nicht eingetroffen, also warteten sie eine Weile still und unruhig. Als auch nach zehn Minuten niemand kam, erhob sich Pareios, ging zur meterdicken Schiebetür des hermetisch abzuriegelnden Zimmers und versuchte, sie zu öffnen.

Sie bewegte sich keinen Zentimeter.

„Abgeschlossen!“ keuchte er entsetzt.

42

Auch mit vereinten Kräften bekamen sie die Stahltür nicht auf. Nicht umsonst war dies der bestgesichertste Raum im ganzen Bunker. Neben ihrer Bestürzung darüber dass er auch noch überraschend zu ihrem Gefängnis geworden war, stellte sich die Frage, wer dafür gesorgt hatte, dass sie hier nicht mehr heraus kamen.

„Markus!“ spuckte Viktor dem Metall entgegen. Sie teilten alle seine Befürchtung und checkten sofort ihre Handys. Kein Empfang. Aiden probierte die Computer einen nach dem anderen durch, aber jeder war tot. Bald schon gingen ihnen die Einfälle aus, wie sie sich aus dieser Lage befreien konnten. Stunde um Stunde verstrich, in der sie über den Grund rätselten, warum man sie festgesetzt hatte und der Verdacht lag nahe, dass es mit den Steinen  zu tun hatte. Sie hatten sich in letzter Zeit ausschließlich und als einzige mit diesem Thema befasst, also musste es damit zu tun haben. Aber was ging da draußen vor sich, das sie nicht mitbekommen sollten?

„Ok, lasst uns nachdenken, was wissen wir?“ warf Viktor ein Brainstorming an. Sie hatten bereits zu viel Zeit mit kopflosem herumrätseln verbracht und waren froh, dass ihr Teamleader eine Systematik in die Sache brachte. Aurelia fühlte sich ohne ihre Gabe nicht zu so etwas im Stande. So versammelten sie sich auf den Stühlen am Tisch, um flüsternd weiter zu beratschlagen.

 

„Solange wir hier drin sitzen, können wir Dante nicht beobachten.“ Pareios knurrte und wich Aurelias Blick aus. So gerne hätte sie sich einfach wie früher verhalten, die schwere Stimmung zwischen ihnen ignoriert, aber er würde es nicht zu lassen und wahrscheinlich wäre es auch nicht richtig gewesen. Außerdem hätte sie das nicht nur zur Betrügerin, sondern auch zur Heuchlerin gemacht.

„Das ist das Eine,…“ stimmte Viktor zu. „…aber wir wissen noch so viel mehr! Da sind die Steine, die von Hegedunenhand zu einem bestimmten Zweck geschaffen wurden und eine Studie, in der anscheinend Menschen gequält wurden, warum auch immer. Wir haben den Wissenschaftler, der an den Arbeiten beteiligt war, aber der redet nicht, sondern zeigt nur, dass er Aurelia kennt und deutet durch die Blume an, dass das alles irgendwie mit ihr zu tun hat, aber das wussten wir schon, als sie diese Vorahnung hatte.

Außerdem ist der Kerl in ihrer Vision ihr Gegenstück, den wir jetzt ebenfalls hier haben und der sich komischerweise an demselben Ort wie Gregorowizc befand, als wir die beiden aufgegabelt haben. Er hat kein Gedächtnis, wird aber vielleicht irgendwann einen der Steine in den Händen halten. Der Rat und der Venusorden wollen sich treffen, wahrscheinlich geht es um die Steine und Markus will eine Waffe aus ihnen machen. Was noch?“

„Jesper Svensson sagte, jemand hätte ihm alles genommen.“ erinnerte sich Pareios plötzlich an eine Kleinigkeit, der sie erst gar nicht so viel Beachtung geschenkt hatten. „Was hat er damit gemeint?“

Dies hatte Syrus auch schon angesprochen: Was wollten die Hegedunen von den Menschen? Das brachte Aurelia auf einen weiteren Gedanken, den ebenfalls der Arzt und Wissenschaftler an sie heran getragen und den sie selbst auch schon vorher gehabt hatte.

„Wir haben eine riesige Jagd veranstaltet und wir wussten, dass jemand ahnte, was wir tun. Sie waren uns immer einen Schritt voraus. Ich meine, es war doch, als ob jemand ein abgekartetes Katz-und-Maus-Spiel mit uns abgezogen hat. Von Anfang an war es Markus, der uns dazu angetrieben hat.“

„Und jetzt haben wir Dante und Gregorwizc im Bunker und die Steine auch. Die Vision kann sich erfüllen, Aurelias Gabe aber, ist plötzlich weg. Was fällt euch daran auf?“ schloss Pareios. Row zog scharf die Luft ein.

„Soll das heißen, dass Markus uns an der Nase herum geführt hat und wollte, dass wir die beiden hier her bringen?“

„Genau das will ich sagen. Und Aurelias Gabe ist deswegen weg, weil sie etwas sehen könnte.“

„Wie soll das gehen?“ warf Aurelia nachdenklich ein. „Wie zum Teufel soll er das hingekriegt haben?“ Aurelia war eigentlich gar nicht wütend auf Pareios, doch ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, all das, ihr ganzes beschissenes Schicksal war einfach nur zum heulen. Sie hatte jetzt keine Zeit, sich ausgiebig selbst zu bemitleiden, aber ganz ließ sich die Wut und Verzweiflung darüber nicht verdrängen.

„Keine Ahnung. Aber es macht doch Sinn, oder etwa nicht?!“ Pareios starrte sie herausfordernd an, als ob er wollte, dass sie ihm Widerworte gab. Sie tat es nicht. Erschreckend, wie sich alles zwischen ihnen in nur so kurzer Zeit wieder verändert hatte. Anscheinend war ihr Ende genauso stürmisch, wie ihr Anfang. Evrill lenkte ihre Aufmerksamkeit von ihrem privaten Drama ab.

„Aber warum? Was kann Dante mit diesen Steinen anstellen und was soll Gregorowizc hier? Was wollen sie im Bunker, wenn es doch um Menschen ging?“

 Bevor sie Antworten auf diese Fragen finden konnten, klickte es hinter ihnen. Ein leises Geräusch signalisierte die Entriegelung des Kolosses von Tür und sie sprangen sofort auf, gingen in Kampfposition, da sie einfach nicht wussten, wem sie noch vertrauen konnten.

Langsam glitt der Stahl zur Seite und Syrus erschien in der entstandenen Öffnung.

„Sie sind hier! Ihr müsst euch beeilen!“

„Wer ist hier?“ hakte Aiden nach und machte ein verwirrtes Gesicht, während alle auf die entscheidenden Informationen warteten.

„Der Rat und ein paar Menschen. Es sieht nach einer Versammlung aus.“

 

Alarmiert warfen die Teamkollegen einander bedeutungsschwere Blicke zu. Sofort setzten sie sich in Bewegung und folgten dem menschlichen Arzt, der ein erstaunliches Tempo an den Tag legte.

„Hat Markus uns hier eingesperrt?“ erkundigte sich Viktor, der als Schnellster neben ihrem Führer herlief.

„Ich nehme es an. Als ich bemerkt habe, dass die Elevender alle zu einer Lagebesprechung in den Speisesaal gerufen worden sind wurde ich misstrauisch und als Markus und der Rat dann im Labor auftauchten, war mir klar, dass etwas Großes vor sich geht.“

Er lief immer weiter in den Bunker hinein, aber sie richteten ihre Schritte nicht in Richtung Speisesaal. Bald ließen sie den Bereich mit den Unterkünften hinter sich, drangen immer weiter in den Versorgungstrakt und dann in die Gewächshäuser vor, beides passierten sie, bis nur noch die riesigen Lagerräume vor ihren lagen.

„Was machen wir denn hier, ich dachte die Versammlung ist weiter vorn?“ fragte Evrill und sah sich aufmerksam um. Seine Finger wanderten zu seinem Gürtel, aber keiner von ihnen hatte Waffen dabei, die trugen sie in der Regel nicht, wenn sie zu Hause waren. Wozu auch? Doch die jetzige Situation entsprach nun mal nicht der Norm und sie wussten immer noch nicht genau, womit sie es eigentlich zu tun hatten.

„Die Bewohner des Bunkers treffen sich da, der Rat und die Menschen sind hier.“ Syrus zeigte auf eine große zweiflügelige Stahltür zum größten der Lagerräume.

 

 Entschlossen blickten sie sich an. Es war ihnen schon vor einiger Zeit aufgegangen, dass sie sich letztlich in die Elevender-Politik würden einmischen müssen und jetzt war es so weit. Leise verschafften sie sich Zugang und betraten ein riesiges Gewölbe, das mit Regalen bis zur Decke vollgestellt war.  Sie wählten einen Gang durch das undurchdringliche Labyrinth, die Lichter waren nicht besonderes hell, aber schon bald vernahmen sie Stimmen, viele Stimmen, die sich in einem Wettstreit befanden. Diese leiteten ihnen den Weg und sie gelangten ans andere Ende der Halle, wo man anscheinen ein paar Regale zur Seite geschoben hatte, um Platz für eine Rednerpult und ein paar Stuhlreihen zu machen. Mucksmäuschenstill drückten sie sich in den Schatten der vielen Gegenstände, die hier aufbewahrt wurden und besahen sich das Szenario vor ihnen genau.

Markus stand an dem Pult, neben ihm wurden die Steine in einem kleinen Glasbehälter mit Flüssigkeit präsentiert. Hinter ihm an der Wand waren ein paar Baupläne angebracht worden, die Skizzen für die Waffe. Die Stuhlreihen waren beinahe voll besetzt, Aurelia kannte vielleicht die Hälfte der Gesichter, es waren Ratsmitglieder, unter ihnen auch diejenigen, die hier lebten, sowie Chronos. Desweiteren waren da aber auch unbekannte Leute, von denen Aurelia eine sieben Personen starke Gruppe als menschlich identifizierte. Sie waren im Vergleich zu den Elevendern relativ ruhig, aber auch sie beteiligten sich an der regen Diskussion.

Schon nach wenigen Minuten war klar, dass es um einen Angriff auf die Infrastruktur der Hegedunen ging. Da die Steine nicht mit Lebewesen reagierten, glaubten der Rat und der Orden anscheinend, eine Waffe gefunden zu haben, die selektiv zerstören konnte. Zivile Opfer mussten auf diese Weise nicht mehr als Kollateralschäden in Kauf genommen werden. Denn hätten sie dies zugelassen, wäre die Legion genauso schlimm gewesen wie die Hegedunen. Dies war einer der Gründe, warum nicht schon lange ein offener Krieg herrschte.

Doch nun, mit dieser Waffe, von der Markus versprach, dass sie Menschen und Elevender verschonte und auch dem Venusorden, der sich der Sache offensichtlich angeschlossen hatte, schien die Lage anders, hatte plötzlich so viel Potential und barg doch so viele Gefahren.

Die verschiedenen Argumente wurden wild durch einander gerufen, alle Beteiligten hatten hochrote Köpfe und manche waren aufgesprungen. Zwischen zwei Ratsmitgliedern, die Aurelia nicht kannte, schien es sogar bald zu einem handfesten Streit zu kommen. Markus versuchte seinerseits die Meute zu beruhigen, was aber zum aktuellen Zeitpunkt sehr unrealistisch war.

Syrus keuchte neben Aurelia, während sie diesen beunruhigenden Vorgängen folgten und als er aufsprang, um in die Versammlung zu platzen, griff sie zwar nach ihm, war aber nicht schnell genug, das zu verhindern. Jetzt, da sie ihre Intuition entbehrte, fehlten ihr die ein oder zwei Sekunden Vorsprung, wie jämmerlich sie doch war.

Der Arzt stolperte in den Mittelgang zwischen den zwei bestuhlten Seiten und weiter auf Markus zu. Dieser wirkte erzürnt über das Erscheinen des Wissenschaftlers, reagierte allerdings nicht, bis Syrus sich vor dem Pult umdrehte und einen lauten Pfiff ausstieß.

„Hallo, mein Name ist Syrus, ich habe in der vergangene Woche an den Steinen geforscht und ich muss ihnen mitteilen, egal was Markus gesagt hat, ich habe noch kein Material gefunden, das die Macht der Steine leiten und steuern kann. Was sie hier diskutieren, ist aktuell eine Zukunftsvision.“

Bei seinen ersten Worten hatte noch niemand zugehört, aber jetzt sprach keiner mehr.

Markus hatte unterdessen ein unbeteiligtes Gesicht gemacht, reine Berechnung, so schätzte Aurelia. Jetzt erhob auch der menschliche Lügendetektor wieder die Stimme.

„Das ist richtig. Aber du hast gesagt, dass es möglich ist, nicht wahr? Ich weiß dass du daran glaubst, ich kann es sehen. Also müssen wir uns früher oder später mit dieser Vorstellung auseinander setzen, jetzt wo auch unsere neuen Freunde zu uns gestoßen sind.“ Er wies zu der Division des Menschenbundes hinüber.

Das Publikum widersprach ihm nicht. Alle wussten von Markus‘ Gabe und natürlich war die Verlockung, endlich etwas gegen die Hegedunen unternehmen zu können, sehr groß. Man konnte klar erkennen, dass sie alle schon Pläne im Kopf hatten, manche wirkten dabei begeistert, andere ängstlich oder verhalten. Aurelia wandte sich zu Viktor um und sah ihn fragend an. Er nickte nur, dann stand ihr Team auf und betrat ebenfalls die Bildfläche.

Markus wollte gerade wieder zum Reden ansetzen, als er sie entdeckte, doch sogleich verstummte er. Die anderen Leute folgten seinem Blick und unruhiges Gemurmel ging durch die Reihen, 22 Köpfe wandten sich zu ihnen um.

Viktor trat vor und es war, als ob er nur zu Markus spräche. „Schau‘ mich an und sag‘ den Anwesenden ob ich lüge. Die Hegedunen haben die Steine aus einem bestimmten Grund geschaffen und wir haben starke Hinweise darauf, dass es sich um etwas Bedrohliches handelt, das möglicherweise bald geschehen könnte.“ Die stete Unruhe im Raum verstärkte sich, noch mehr Elevender waren aufgestanden.

Markus wirkte gelassen. Wie er dastand, zeigte er das Inbild des Politikers. „Du hast recht, mein alter Freund. Du lügst nicht. Aber wie ich schon sagte, ist die Lage doch unter Kontrolle, oder möchtest du mir da widersprechen? Nein? Dachte ich mir.“ Er tat ihr Team ab, wie eine lästige Fliege, als keiner von ihnen ein Gegenargument parat hatte, und wollte wieder zum Rest seines Publikums sprechen. „Wenn wir also dann wieder zum Thema kommen wollen….“

 

Wie aus dem Nichts tauchten vermummte Gestalten zwischen den vielen Regalen auf und rannten auf die versammelten Elevender und Menschen zu. Der Angriff hatte vollkommen lautlos stattgefunden, erst als Liif Alarm schlug, erkannten alle Anwesenden die Gefahr.

 

Mit einem Schlag brach das Chaos aus.

Ihre Leute standen nur einen winzigen Moment unter Schock, dann gingen alle in den Kampfmodus über. Alle Beteiligten waren erfahrene Kämpfer, auch wenn sie es schon Jahre lang nicht mehr im Einsatz taten, so hielten sie sich doch fit. Das gehörte zum Ehrenkodex der Legion. Auch die Menschen waren tapfer, aber sie hatten keine Waffen, die waren zu diesem Treffen anscheinend nicht zugelassen worden. Überall wurde gekämpft und es ertönte lautes Gebrüll. Aurelia konnte nicht erkennen, wer die Angreifer waren, aber es waren alles Elevender und es wurden immer mehr und mehr. Sie hatte keine Zeit, sich zu fragen, ob diese Phantome aus ihren eigenen Reihen stammten oder nicht. Und falls sie Fremde waren, wie sollten sie in den Bunker gelangt sein? Bald bildeten sich verschiedene Grüppchen, ihr Team schloss sich schnell um die Menschen, doch schon wurden sie von der ersten Welle erreicht.

Aurelia biss die Zähne zusammen und verdrängte die Angst in die hinterste Ecke ihres Verstandes. Ohne ihre Intuition war sie nicht viel besser geschützt als die Mitglieder des Ordens hinter ihrem Rücken. Nur eins hatte sie noch, das sie gegen den Ansturm der Gegner aufwarten konnte. Ihr Monstern.

Sie erweckte seine Wut und seine Entschlusskraft und umgab sich damit, ließ sich davon durchströmen. Ihre Muskeln spannten sich gehorsam, ihr Ritual war das alte, aber neu daran war, dass eben doch etwas fehlte, das ließ sich nicht verleugnen.

Dann fing sie den ersten Schlag von einem riesengroßen Typen ab und ging wie gewohnt in den Zweikampf über. Zum ersten Mal, hatte sie nicht die Ressourcen, um sich Sorgen um ihre Teamkameraden zu machen und war voll und ganz mit einem einzigen Gegner beschäftigt. Sonst schoss ihre Intuition ihr viele Möglichkeiten zu, verschieden Feinde auf ein Mal oder kurz hinter einander auszuschalten, doch heute war sogar der Eine ein harter Brocken. Er hatte wesentlich mehr Kraft als Aurelia, also versuchte sie sich auf ihre Schnelligkeit zu stützen. Sie wich geschickt den Hieben aus und schlug selbst immer wieder zu, versuchte, ihn mürbe zu machen.

Da traf sie etwas hart von hinten, für einen Augenblick war ihr schwarz vor Augen geworden und sie landete ausgestreckte auf dem Boden. Noch während ihr Magen überlegte, ob er sich nicht doch nach außen stülpen wollte, dachte Aurelias Hirn halb im Delirium, dass sie sich in der Vergangenheit zu sehr auf ihre Gabe verlassen hatte. Sie hatte nie trainieren müssen, darauf zu achten, was hinter ihr geschah. Ihr sechster Sinn hatte sie immer zuverlässig gewarnt. Jetzt sah die Situation ganz anders aus und sie war ein leichtes Opfer.

Sofort lag jemand auf ihr und zerrte ihre Hände auf den Rücken, Seile wurden um ihre Gelenke gewickelt. Was war hier los? Entsetzt über ihre Zwangslage sah sie sich nach ihrem Team um, doch dem erging es kaum besser. Row und Aiden lagen bereits gefesselt auf dem Boden, die Menschen und Syrus genauso. Viktor kämpfte immer noch hart mit einem Typen, der genauso schnell war wie er. Es wäre ein Spektakel gewesen, ihnen zuzuschauen, aber das Ringen, das sich um Pareios herum abspielte, lenkte sie ab. Er setzte sich mit drei Gegnern gleichzeitig auseinander und hielt sie mit seinen Feuerbällen auf Abstand. Im gedämpften Licht des Lagerraums leuchtete er hell auf, tauchte alles um ihn herum in einen sanften Schein. Aurelia konnte nicht anders, als seine Stärke zu bewundern. Seine Macht war so überwältigend, doch schon eine Sekunde später wurde ihr Glaube an seine Unbesiegbarkeit zerschmettert. Ein vierter Elevender kam hinzu und hob die Arme. Man konnte nicht wirklich sehen was passierte, aber plötzlich flirrte die Luft rund um Pareios. Der griff sich an den Hals, sein Feuer wurde kleiner und kleiner. Sein Mund öffnete sich, als schnappte er nach Luft, dann verlosch seine Glut und auch er fiel in Ohnmacht.

„Nein!“ entfuhr es Aurelia. Machtlos musste sie dabei zusehen, wie ihr Geliebter ebenfalls gefesselt wurde. Reglos lag er da, während sie ihn zu einem besonders kompakten Päckchen verschnürten. Aurelia traten Tränen in die Augen, ihre Angst war nun markerschütternd. Konnte das alles hier wirklich passieren? Wer waren diese Leute?

Sie versuchte sich zu drehen, um auch den Rest des Raumes im Auge zu haben. Der Anblick, der sich ihr bot war niederschmetternd. Mittlerweile waren auch Viktor und die Ratsmitglieder gefesselt, die Übernahme hatte kaum fünf Minuten gedauert. Aurelia und die Leute auf ihrer Seite waren alle bewegungsunfähig gemacht worden, hinter jedem stand mindestens ein Bewacher und sie bezweifelte nicht, dass diese mächtige Gaben besaßen. Viktors Gegner hatte bewiesen, dass ihre Angreifer gewusst hatten, welche Kräfte sie hier erwarten würden und hatten ihre Mitstreiter gezielt darauf abgestimmt. 

Zudem waren die vermummten Eindringlinge einfach weit in der Überzahl. Wie konnten so viele Leute nur unbemerkt in der Bunker gelangen?

Die restlichen Bewohner befanden sich bei einer weiteren Versammlung am anderen Ende der unterirdischen Gänge, niemand würde sie hören. Das war geschickt einfädelt worden!

Von wem, offenbarte sich ihr nur eine Minute später.

 

Markus stand als einziges Mitglied der Legion aufrecht und unberührt auf dem Schlachtfeld. Belustigt sah er sich um, betrachtete die am Boden liegenden Verbündeten. Er kicherte sogar ein wenig, dann wandte er sich um.

„Fertig!“ brüllte er lauthals. Seine Stimme hallte im Gewölbe des Lagers wieder.

Was? Wem rief er dies zu?

 

Aus dem Flur, aus dem auch Aurelia und ihr Team gekommen waren, traten zwei Männer heraus. Es waren Gregorowizc und Dante.

Aurelia schnappte hastig nach Luft und bekam jetzt richtig Panik. Das musste doch heißen, dass sich all ihre Befürchtungen bewahrheiten würden! Sie war wirklich kein Pessimist, aber hier und jetzt verlor sie einen großen Teil ihrer Hoffnung.

Dante wirkte irgendwie anders und da traf sie die Erinnerung wie ein weiterer Hieb in die Magengrube: jetzt sah er dem Mann in ihrer Vision noch ähnlicher. Etwas hatte sich seit ihrem letzten Zusammentreffen bei ihm verändert, das war ihm eindeutig anzusehen, auch wenn sie nicht zuordnen konnte, was es war. Doch als wäre dieser Schock noch nicht genug gewesen, gingen beide Männer einen Schritt zur Seite, um Platz für eine dritte Person zu schaffen.

Aurelia gefror das Blut in den Adern. Sie begann zu schreien.

43

Der Neuankömmling verzog bei ihrem Gebrüll das Gesicht. „Na, na, na!“ seufzte er, nachdem ihre Stimme und deren Widerhall verklungen waren. Der Elevender war sehr groß, hatte goldblondes Haar und Augen in der Farbe von Lapislazuli. Absolut gelassen schlenderte er auf den Schauplatz des Geschehens und sah sich bedächtig und offensichtlich absolut zufrieden um, dann betrachtete er Aurelia direkt.

Himmel hilf, es war so furchtbar! Alles in ihr versteifte sich, rohe, wilde Furcht drohte sie zu verschlingen. Sein Anblick schickte sie auf eine Reise in die Vergangenheit, denn er sah noch exakt so aus wie in jener Dezembernacht, als sie sich von der Legion einfangen lassen hatte. Sein Blick war so kalt und durchleuchtend, wie sie ihn in Erinnerung hatte, seine Stimme wies immer noch den vertrauten Ton auf. Eine Gänsehaut bildete sich überall auf ihrem Körper und sie schaute beklommen zwischen dem blonden Eindringling und Dante hin und her.

 

‚In ewiger Zuneigung, O.‘ hallte es durch ihren Kopf. Mein Gott, wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen?!

O wie Orcus!

 

Obwohl Aurelia äußerlich keinen Mucks machte, innerlich schrie sie wieder. Da stand er, der Inhalt all ihrer Alpträume, der Grund für den Tod ihrer Familie und der Auslöser ihres Versagens. Sie hatte geglaubt, ihn ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben, doch er war tatsächlich hier, stand vor ihr wie ihr persönlicher Fleisch gewordener Weltuntergang. Wie zum Teufel war das nur möglich?

Noch während sie in diesem aufschreckenden Entsetzen festhing, ging es ihr auf. Der Ausdruck um Dantes Augen, das, was sich an ihm verändert hatte, glich jetzt Orkus‘ oberer Gesichtspartie. Das war es also gewesen, das ihr in ihrer Vision so vertraut vorgekommen war. Bedeutete das etwa…?

„Aaahhh!“ machte Orcus mit seiner extrem tiefen Stimme, er reckte sich und breitete die Arme aus, zog die Luft ein, als könnte er den Sieg in der Atmosphäre des Raumes schmecken. Entspannt besah er sich die Gefangenen und wirkte dabei mit einem Wort königlich. Langsam schritt er mit gemessenen Bewegungen in die Mitte der Bühne, inspizierte weiter, was seine Leute, alles Hegedunen, geschafft hatten. Mein Gott, er hatte hier die Führung der Legion, 15 Ratsmitglieder, sowie eine hohe Abordnung des Venusordens vor sich und alle befanden sie sich in seiner Gewalt. Der Triumpf umgab ihn, wie ein heller Schimmer, er sah so zufrieden aus, dass Aurelia es beinahe selbst spüren konnte.

„Endlich ist der Tag gekommen.“ Orcus wandte sich plötzlich wieder ihr zu. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viel Geduld ich gebraucht habe, drei Jahrhunderte auf diesen Moment zu warten? Die Schachfiguren eine nach der anderen aufzustellen, Pläne zu schmieden, und immer wieder dieses beschissene Warten, Warten, Warten!“

„Was wollen sie?“ Aller Leute Aufmerksamkeit richtete sich auf Chronos. Er hatte furchtlos und ruhig gesprochen, seine Gesichtszüge zeigten keinerlei emotionale Beteiligung. Er war sehr alt und wirkte weniger menschlich als die anderen Elevender im Lager.

Orcus gab dem Bewacher hinter dem ältesten Ratsmitglied ein lapidares Zeichen und dieser beugte sich daraufhin vor und rammte seinem Schützling ein Messer in die Seite. Chronos blieb still, aber seine Augäpfel rollten in den Höhlen nach oben, zuckend klappte er zusammen.

„Du kannst froh sein, dass ich dich lebend brauche.“ sagte Orcus an den jetzt Verletzten gerichtet. Er sprang behände hinter dem Pult vor, kam leichtfüßig auf Aurelia zu und beugte sich zu ihr herunter. Diese vertrauliche Art ließ ihr die Galle aufsteigen.

„Wieso sagst du denn nichts, Aurelia? Hast du mich denn gar nicht vermisst?“

Alle Augen im Raum waren plötzlich auf sie geheftet, einige von ihnen schienen misstrauisch, andere, wie ihre Teamkollegen wirkten einfach nur alarmiert. Aurelia konnte am Rande erkennen, wie sie sich mit Blicken verständigten. Jede etwaige Aktion hatten sie seit Jahrhunderten einstudiert, sie suchten fieberhaft nach einer Lücke. Jedoch war Pareios immer noch ohne Bewusstsein und Viktor war ähnlich umwickelt wie sein Bruder, keine guten Voraussetzungen.

Aurelia selbst konzentrierte sich hauptsächlich auf Orcus, der mit seiner athletischen Gestalt und dem fabelhaft Aussehen direkt vor ihr kniete. Sie weigerte sich, ihn anzusehen, aber er packte ihren Kiefer und drehte ihren Kopf zu sich herum.

„Nein, das hast du nicht. Nicht wahr?“ Er flüsterte es und kam ihr dabei immer näher. Gerne hätte sie ihm entgegen geschleudert, dass sie alles dafür gegeben hätte, ihm nie wieder begegnen zu müssen, aber sie wollte ihm erst nicht die Genugtuung einer Unterhaltung vergönnen.

„Das musstest du gar nicht. Denn ich war immer bei dir. Hast du gefühlt, wie ich dir Kraft und Entschlossenheit gegeben habe?“

Jetzt musste er sie nicht mehr zwingen, ihn zu fixieren. Ihr Blick bohrte sich in seine Augen, während sie sich voller Sorge fragte, was er damit sagen wollte. Ein unheimliches Gefühl bemächtigte sich ihrer und ließ eine Gänsehaut entstehen. Seine Nähe, seine ganze Art war ihr nicht geheuer, er war das einzige Wesen auf diesem Planeten, das sie so sehr fürchtete.

„Dämmert es dir, iubită?“ Bei diesem Wort wurde ihr ganz schlecht. So hatte er sie öfters genannt, allerdings nur an einem Ort und ihre Glieder begannen bei der unwillkommenen Erwähnung der Vergangenheit gegen die Fesseln anzukämpfen. Allein der Gedanke, den er in ihr wach gerufen hatte, ekelte sie zu tiefst an.

„Da muss ich wohl etwas nachhelfen!“ sagte er, als sie nichts erwiderte und lächelte süffisant. Die Farbe in seiner Iris wurde schlagartig einen Ton dunkler und wie aus dem Nichts wallte ein mächtiges Gefühl in ihr auf. Zuerst war sie irritiert, wartete auf einen Hinweis woher das Gefühl kam, bemerkte jedoch nur wie sich ihr Monster regte. Wie aus dem Winterschlaf erhob es sich in ihrem Inneren, ergriff langsam von ihr Besitz und da wurde ihr klar, die Empfindung stammte ebenfalls von ihm! Während die Emotion immer stärker anschwoll wurde ihr dann auch bewusst, worum es sich handelte: Begierde!

Alles in ihr verkrampfte sich, als sie begriff. Eine völlig neue Dimension der Panik eröffnete sich ihr, während die Erkenntnis wie Hagelkörner auf sie einprasselte, jeder Treffer verursachte einen Stich, bis es überall unangenehm prickelte. Dieses Verlangen, das drohte, sie zu beherrschen, konnte nicht von ihr selbst stammen und bisher hatte das Monster nur das verstärkt, wonach sie ohnehin im tiefsten Innern verlangt hatte. Sie stockte.

Oder etwa nicht…?

Orcus grinste erneut sehr selbstzufrieden. „Jaaaahhh, das ist es!“ Er machte einen Laut, als hätte er von gutem Essen gekostet. „Jetzt hast du’s.“

Erneut durchflutete sie die Macht ihres Monsters. Nein, seines Monsters, verbesserte sie sich entsetzt, während sich ihre Gedanken überschlugen und hunderte von Momente auf sie einstürzten, die plötzlich eine neue Bedeutung bekamen. Dieses Wissen krempelte sie von Grund auf um, von einem Wimpernschlag zum nächsten war sie identitätslos, fiel in den bodenlosen Abgrund, den Orcus‘ Worte gerissen hatten und doch! Das Monster war so stark, dass es all das verdeckte, es überschwemmte sie förmlich mit Zuneigung und zwar für… Dante!

Völlig verwirrt und innerlich zerrissen suchte sie nach ihrem Gegenstück und sogleich kam ihr der nächste Zweifel. Wenn das Monster sie so komplett übernehmen konnte, konnte es ihr dann auch einen Seelenverwandtschaft vorgaukeln? War Dante überhaupt ihr Seelenverwandter? Aurelia wusste nicht mehr, was sie denken sollte, was wahr war und was nicht. Wahnsinn mochte eine hochgestochene Bezeichnung sein, aber wahrscheinlich traf dies gerade auf sie zu, sie fühlte sich tatsächlich, als ob sie den Verstand verlieren würde. Immer und immer wieder formte sich nur eine Frage: Wie war das möglich?

„Schlaues Mädchen!“ Als Orcus bemerkte, wie ihr Blick trübe wurde, ließ er seinen Daumen über ihre Lippen streifen. Aurelia wollte sich ihm entziehen, aber er packte sie am Oberarm. „Klug, leidenschaftlich und stark. Das hat mir von Anfang an dir gefallen, nur diese Widerspenstigkeit muss dir noch ein für alle mal ausgetrieben werden!“ Ihr Kiefer befand sich mittlerweile regelrecht in einer Schraubzwinge, so fest pressten sich seine Finger in ihr Fleisch.

„Viel zu lange hast du mich ausgesperrt! Wie zum Geier ist dir das nur gelungen?“ Nachdenklich flippten seine Pupillen zwischen ihren beiden Augen hin und her als versuchte er, darin die verborgene Wahrheit zu sehen. Eigentlich sich selbst zu fragen, nicht Aurelia. Neben dem Problem, dass sie völlig unter Schock stand, konnte sie auch nicht erfassen, wovon er sprach. Der Rest ihrer kognitiven Fähigkeiten war immer noch mit dem Wie beschäftigt. Wie hatte er dieses Monster geschaffen? Wie konnte er sie damit kontrollieren?

„So schlau und trotzdem kapierst du es nicht.“ Wieder antwortete er auf etwas, das sie nicht laut ausgesprochen hatte, was nur noch ein Beweis für ihre widernatürliche Verbindung war. Unwillkürlich kam Aurelia sich beschmutzt vor. Die Vorstellung einen Teil von diesem Bastard in sich zu tragen war einfach nur abstoßend. Da klappte ihr Mund auf. Nein!

„Aber ja! Wunderbar, fast hätte ich meine Meinung über dich revidiert, aber du bist doch darauf gekommen!“

„Wie…? Deine Gabe…“ stammelte Aurelia. Sie hatte zwar eine schreckliche Ahnung, aber sie musste es aus seinem Mund hören. Orcus hatte ihr seine Fähigkeiten nicht nur ein Mal gezeigt. Er konnte sich Macht über Tiere verschaffen, sie die verrücktesten Dinge tun lassen. Am Anfang war sie entzückt gewesen und hatte das lustig gefunden, jetzt aber zerbröckelte dieses Bild einfach zu Staub, denn da war anscheinend so viel mehr, von dem sie nichts gewusst hatte.

„Ich habe dir gezeigt, was ich kann. Genauso wie bei den Tieren funktioniert es auch mit allen anderen Lebewesen, hast du das nicht gewusst?“ Er machte ein mitleidiges Gesicht, das aber kurz darauf zu einem boshaften Grinsen wechselte. „So wollte ich es auch! Weißt du, was am frustrierendsten war? Bei dir war es nicht so einfach wie bei anderen. Ich meine, generell dauert es bei Menschen und Elevender länger als bei Tieren, bis ich einen Teil von mir in sie gepflanzt habe, aber bei dir war es um so vieles schwieriger. Und dann ist es dir auch noch über Jahrhunderte gelungen, mich zu unterdrücken, mich auszusperren. Deine Stärke hat mich beeindruckt, aber ich wusste ja, ich musste nur abwarten, irgendwann würdest du weich werden und in der Zeit konnte ich alles vorbereiten.“

„Aber, wovon redest…“

„Muss ich wirklich die ganze Geschichte von vorn erzählen?“ Prüfend musterte er sie, während er zögerte. „Gut, du musst sie sowie so erfahren, denn ich habe noch einiges mit dir vor.“ Er warf einen Blick in Richtung Dante, der selbstsicher lächelnd die Arme verschränkt hatte. Irgendwie war dieser Ausdruck seiner Züge schief, er hatte nur einen Mundwinkel hoch gezogen, die obere Hälfte seines Gesichts war nicht an der Mimik beteiligt, es kam ihr gespenstisch vor.

„Wusstest du eigentlich, dass deine Mutter mich kurz nach unserem ersten Treffen in dieser lauschigen Kapelle aufgesucht hat?“ Bei der Erwähnung wurde Aurelia ganz taub, aber er wartete nicht auf eine Reaktion von ihr. Nie hatte sie mit ihm über ihre Eltern reden wollen, es hatte einfach zu sehr wehgetan, vor und nachdem sie erfahren hatte, was ihnen durch Orcus widerfahren war, und das hatte sich über all die Zeit hinweg nicht geändert.

„Ich weiß du willst es nicht hören, aber deine Gabe hast du von deiner Mutter, genau wie dein prachtvolles Äußeres. Sie war genauso heiß wie du. Sie hat mich angebettelt, die Finger von dir zu lassen, hat gesagt, sie hätte gesehen, dass mein Sohn dein Gegenstück sein würde und es deswegen geschmacklos sei, sich mit dir einzulassen. Die Frau hatte eine sehr engstirnige Auffassung von Anstand. Ich muss sagen, es hat Spaß gemacht, ihr das auszutreiben.“

In dieser Aussage steckten mehrere kleine Bomben, die Aurelias Universum erschütterten. Ihre Mutter war eine Hellseherin gewesen und zwar eine so fähige, dass sie so weit in die Zukunft sehen konnte? Aurelia rügte sich dafür, dass sie aus lauter Vermeidungsverhalten heraus nie in Erfahrung hatte bringen wollen, welche Gabe ihre Erzeugerin besessen hatte. Aber da war noch etwas: ihr Gegenstück war sein Sohn, Dante war sein Sohn! Ungläubig wechselte ihr Blick zwischen den beiden, doch die Wut darüber, dass Orcus sich an ihrer Mutter vergriffen hatte, dass er es genossen hatte, überwältigte sie gerade zu. Orcus bemerkte es sofort.

„Dir hätte es auch gefallen, keine Sorge. Ich hätte schon dafür gesorgt!“ in seinen Augen blitzte es auf und wieder ließ er ein Gefühl in ihr entstehen. Begeisterung. „Siehst du, es wäre unbeschreiblich für dich gewesen!“

Aurelia entbrannte in ihrem Hass. Angewidert von seiner Berührung wusste sie sich nicht anders zu helfen, als ihm direkt ins Gesicht zu spucken. Ihre Wut und Abscheu machte sie mit einem mal ganz klar. Orcus wich zurück und ließ sie los, allerdings währte das nicht lange. Nachdem er sich pikiert ihre Hinterlassenschaften abgewischt hatte, zahlte er es ihr mit gleicher Münze zurück und schlug sie so hart, dass sie Sternchen sah und ihr die Tränen in die Augen schossen.

„Du musst brav sein, wenn du die Geschichte zu Ende hören willst, Aurelia!“ mahnte er sie, fasste sie jedoch nicht wieder an. Gemächlich erhob er sich, um durch die festgenagelten Gegner zu schreiten. Benommen lag Aurelia auf der Seite, feuchte Tropfen rollten ihre Wange hinunter. Die Ratsmitglieder wirkten genau wie ihr Team hochkonzentriert. Sie waren alle hervorragende Jäger gewesen und wussten, dass sie bereit sein mussten, sollte sich nur die geringsten Chance zur Flucht bieten. Aurelia bemerkte, dass sie zwar keine Intuition mehr hatte, aber vielleicht bot ihr die Verbindung zu diesem Biest einen Weg, die anderen frei zu bekommen. Sie musste sich jetzt zusammenreißen, sie durfte nicht ausflippen, sich nicht wie ein kleines verschrecktes Kind benehmen!

Die linke Hälfte ihres Gesichts pochte heftig als sie sich aufrichtete.

„Also gut!“ sagte sie laut und deutlich. „Was ist damals passiert? Warum hast sie getötet?“ Ihre Kehle war heißer und ihr Mund trocken, ihr Herz raste nur so, aber ihre Stimme klang kühl und gefestigt.

Erstaunt drehte sich Orcus wieder zu ihr um. „Na, warum wohl? Sie wollte dich in mein Geheimnis einweihen. Ich dachte, ich könnte sie erpressen, in dem ich dich mitnehme. Sie war so mächtig, ich war sehr interessiert an ihren Fähigkeiten. Aber das Miststück war ziemlich stur, fällt dir was auf? Noch eine Gemeinsamkeit zwischen euch, nicht wahr?

Sie sagte, sie würde dich und sich selbst sofort sterben lassen, um zu verhindern, dass ich sie in der Hand hätte, aber sie hat einfach nicht aufgehört nach dir zu suchen. Mit ihrer Gabe wäre man nirgends vor ihr sicher gewesen. Du siehst, sie musste einfach weg.“

Als hätte er gar keine Wahl gehabt! Das Gesagte barg so viele schreckliche Antworten, dass Aurlia unwillkürlich die Lippen auf einander presste. Sie hatte nicht geglaubt, dass irgendetwas ihren Hass auf ihn noch hätte steigern können, doch gerade war eben dies geschehen. Nur mit aller Selbstbeherrschung konnte sie sich davon abhalten, Orcus wüst zu beschimpfen. Stattdessen kontrollierte sie ihre Emotionen, bevor sie sprach.

„Sie war eine Nummer zu groß für dich, stimmt‘s? Ich wette, du musstest sie hinterrücks meucheln, im direkten Kampf hättest du sie nie besiegt. Hab‘ ich nicht recht?“ Die letzten Worte brachte sie lauter vor, legte Dominanz hinein. Er wollte Psychospielchen spielen? Das konnte sie auch!

Aurelia lachte höhnisch.

Orcus legte den Kopf schief, die umstehenden betrachteten die Szene aufmerksam. Auch der Rat hatte die Ohren gespitzt. Keiner schien wirklich zu verstehen, was hier vor sich ging, nur Viktor war wahrscheinlich im Bilde und konnte Eins und Eins zusammen zählen. Sie wagte jedoch nicht, zu ihm herüber zu schielen, sie fixierte den Feind, bot ihm nicht die kleinste Lücke. Zu diesem Zweck begann sie, sich auch emotional abzuschotten, denn noch etwas war ihr aufgegangen. Er hatte gesagt, dass sie seine Kontrolle ziemlich lange unterdrückt hatte und natürlich konnte sie sich noch ganz genau erinnern, in welchem Moment ihre Abwehrmechanismen gegen das Monster zusammen gebrochen waren, damals, als sie vor Pareios Zimmer gestanden  und ihn gemeinsam mit dieser blonden Schönheit überrascht hatte. Sie wusste genau, wie sie vor diesem Vorfall gewesen war, wie sie das Ungeheuer unterdrückt hatte, wie sich die Leere und Eiseskälte in ihr anfühlte. Es schmerzte, dies wieder herauf zu beschwören, doch ihr blieb tatsächlich keine Wahl. Ganz langsam und vorsichtig zog sie ihre Schilde hoch, hoffte, Orcus merkte es nicht, bis sie fertig war. Doch er kam auf sie zu.

„Du magst vielleicht recht haben, aber in Sachen Intelligenz war ich ihr weit überlegen. Schließlich habe ich es geschafft, eine Hellseherin zu überlisten!“

„Und was hast du dann für mich geplant?“ fragte sie und hörte selbst, wie unbeteiligt sie schon klang. Schnell mahnte sie sich zur Vorsicht.

„Oh, deine Mutter hat mir auch eröffnet, welch wundervolle Gabe mein Sohn haben würde, sie wollte mich warnen. Sie hat tatsächlich geglaubt, ich würde mir wegen seiner unglaublichen Macht Sorgen machen, aber du kennst mich besser Aurelia. Ich war begeistert. Jedoch dauerte es eine Weile, bis mir klar war, wie ich ihn am Gewinn bringendsten einsetzen konnte und jetzt kommst du ins Spiel, Aurelia. Ich brauchte dich in der Legion, wenn ich eines Tages Zugang haben wollte und die Verbindung zu meinem Sohn machte dich zur perfekten Kandidatin. Ich wusste, ich würde so immer eine gewisse Kontrolle über dich haben, sollten alle Stricke reißen. Aber du, meine Liebe, hast dich gar nicht darum gekümmert, du wolltest nur vergessen. Eigentlich hätte ich mir gar nicht so viel Mühe machen brauchen.“

„Dazu brauchtest du mich also? Du hast dieses ganze Versteckspiel organisiert, damit du hier rein kommst?“

„Nicht hier rein! Zu ihnen!“ Er lächelte breit und wies auf die Ratsmitglieder. „Ihr seid ein wirklich wertvoller Haufen alter Säcke. Was würde die Legion wohl machen, wenn euch etwas zustieße?“ So langsam sickerte die Erkenntnis in die Hirne ihrer Verbündeten, alle sahen sie sich entsetzt an. Jetzt war es Orcus, der lachte, ausgelassen warf er den Kopf in den Nacken. „Oh ihr solltet euch sehen. Die mächtigsten Elevender, verschreckt wie kleine Hühner zu meinen Füßen!“

„Aber wozu das ganze Theater mit den Steinen, was wolltest du von den Menschen?“ unterbrach Aurelia seinen Siegestaumel herrisch. Wollte ihn von den anderen ablenken, wieder in ein Gespräch verwickeln, während sie weiter daran arbeitete, das Monster zurück zu drängen.

„Oh, iubită mea, da ist dir ein kleiner Denkfehler unterlaufen. Was soll ich denn mit Menschen?“ Er betrachtete die Division des Venusordens herablassend. „Solch schwächlicher Abschaum, der gerade gut genug ist, mir den Dreck von den Schuhen zu lecken. Sie sind zu recht Sklaven und werden es auch immer bleiben.“ Erfreut drehte er sich zu Dante und Gregorowizc um. „Wollen wir es ihr nicht zeigen? Mein Sohn, trete vor und erfülle deine Bestimmung!“

 

Dante folgte dem Ruf, mit einem letzten Blick auf Aurelia löste er sich von seinem Platz und ging zu dem Glasbehälter mit den Steinen hinüber. Er nahm sie alle heraus, schüttelte die Flüssigkeit weg und kam wieder zurück. Dabei verstaute er alle schwarzen Kugeln bis auf eine in seinen Taschen.

„Welcher zuerst Gregorowizc?“

Der Wissenschaftler betrachtete die Mitglieder der Legion nur einen Augenblick, dann wirkte er äußerst zufrieden. Er zeigte auf Cassiopaia, die sofort erschrak. „Sie ist eine mächtige Telekinetin. Fang‘ bei ihr an.“

„Hervorragend! Was für eine Beute!“ Auch Orcus schien überglücklich über diese Information und klatschte in die Hände. Hellwach folgte Aurelia ihrem Gegenstück, beobachtete, wie er sich breitbeinig, vor der Elevenderin aufbaute.

Plötzlich begann der Stein zu leuchten. Aber nicht wie bei Syrus versuchen, übertrug sich der Glanz auf Dantes Haut, der Lichtschein überzog schon bald seinen Arm, breitete sich in Windeseile über seinen ganzen Körper, bis er in gleißenden Strahlen dastand. Sie musste zunächst die Lider zusammenkneifen, doch schon kurz darauf zog es sich wieder zurück und sprang wie ein Blitz auf Cassiopaia über. Sie zuckte auf, als hätte sie einen Stromschlag bekommen, mehrere Sekunden krampfte ihre Muskulatur heftig, sie stöhnte vor Schmerz. Einige Mitglieder der Legion wollten aufspringen, wurden aber schnell von ihren Bewachern wieder nieder gerungen, Liif schrie etwas aber keiner war im Stande, zu unterbrechen, was da vor ihren Augen geschah. Es sah aus, als würde das Ratsmitglied mit Elektroschocks gequält und da fiel es Aurelia wie Schuppen von den Augen.

Elektroschocks – Gregorowizc – Dante – Elevender!

Jesper Svensson! Sie hatten eine ähnliche Prozedur an ihm durchgeführt und wahrscheinlich auch an vielen anderen, aber wozu?

Sie sah zu Viktor Aiden und Row hinüber, auch ihnen schien aufzugehen, welche Parallelen sich nun ergaben. Aurelia konnte förmlich beobachten, wie sich die Puzzelteile in ihren Köpfen zusammen setzten.

Unvermittelt trat Stille ein. Cassiopaia lag auf dem Rücken, die Beine hatte sie verdreht unter sich begraben. Die Haltung zeigte, dass sie zusammengebrochen war. Dante beugte sich über sie und presste ihr die flache Hand auf die Stirn. Ein Kreischen durchschnitt den Raum, Cassiopaia bäumte sich unter der Berührung auf, allerdings wirkte es nicht als sei sie bei Bewusstsein.

Dann sackte sie wieder in sich zusammen, aber es war, als bliebe ein heller, durchsichtiger Schatten von ihr an Dantes Haut kleben. Langsam sog er ihn auf, man konnte spüren wie er sich diese Essenz einverleibte und sich ihrer bemächtigte. Einen unheilvollen Augenblick lang atmete er nur ein, daraufhin legte er den Kopf zur rechten, dann zur linken Seite, ließ seine Wirbelsäule knacken. Ein sattes Grinsen legte sich auf seine viel zu verführerischen Lippen, träge leckte er darüber, als ob der den letzten Tropfen eines besonders köstlichen Weins beseitigte. Doch plötzlich veränderte sich etwas in ihm, der Ausdruck in seinem Gesicht wurde kalt und er streckte die Hand aus, krümmte die Finger, als würde er jemanden packen.

Gleichzeitig wurde Cassiopaia wie von Geisterhand an ihrem Hals in die Höhe gehoben. Benommen erwachte sie und während sie begann nach Luft zu schnappen, weiteten sich ihre Pupillen vor Todesangst. Sie griff nach ihrer Kehle, aber da war nichts, das ihr Widerstand bot, was sie von sich hätte schieben können. Ihr Teint wurde immer fahler, erstickte Schluchzer erfüllten den Raum, nicht nur ihre, sondern auch die des Restes der Legion.

 

„Dante, nein!“ entfuhr es Aurelia. „Kämpf‘ dagegen an, ich weiß, du kannst das! Das bist nicht du! Orcus beherrscht dich, er lässt dich das fühlen!“ Sie redete einfach immer weiter, in der Hoffnung, ihr Gegenstück irgendwie erreichen zu können. Unbewusst riss sie an den Seilen, die ihr in die Handgelenke schnitten.  

 „Ich heiße nicht Dante.“ sagte er nur mit diesem eisigen Hauch in der Stimme, dann brach er Cassiopaia mit ihrer eigenen Gabe das Genick.

44

Orcus‘ Gelächter klang in Aurelias Ohren, als sie wie betäubt zu der Leiche hinüber blickte. Die Haare der schönen Elevenderin lagen ausgebreitet um ihr Haupt herum, doch noch während Aurelia wie in Trance auf die rotblonden Wellen starrte, bemerkte sie, wie die Mähne Stück für Stück an Farbe verlor, ergraute. Mit einem Mal sah sie Jesper Svenssen sehr ähnlich und endlich verstand Aurelia.

Jesper war kein Mensch gewesen, zumindest nicht von Anfang an!

„Du…!“ hauchte sie. „Du mieses Schwein! Du dreckiges Stück Scheiße!“ Sie wollte aufspringen und sich auf Orcus stürzen, wurde aber sofort wieder auf den Hosenboden befördert. Ein grimmiger Elevender drückte sie nieder, nur die schwarzen Augen blitzten durch die Schlitze in der Sturmhaube. Aurelia wand sich weiter, ihr Zorn wütete in ihr. Orcus hatte sich nicht nur an ihr vergriffen, nein! Durch ihre Verbindung zu ihrem Gegenstück hatte sie gespürt, wie Orcus sich auch seiner bedient hatte, seine Gefühlswelt geformt hatte, wie ein begnadeter Bildhauer. Das bedeutete, er hatte seinen Sohn, sein eigen Fleisch und Blut für seine bösen Machenschaften benutzt, ihn infiltriert und übernommen, wie eine wertlose Marionette. Hatte ihn gezwungen Elevendern die Gabe zu stehlen, hatte ihm einfach sein Gedächtnis und seine Persönlichkeit genommen, als es ihm in den Kram gepasst hatte. Konnte man noch teuflischer sein?

„Ach Aurelia, hab dich nicht so. Warte, gleich genießt du es.“ Sie spürte, wie Orcus versuchte, das Ungeheuer in ihr zu erwecken, aber sie hatte sich so sehr distanziert und verschlossen, dass es nur wie ein leichtes Ziehen wirkte. Sein Kopf fuhr zu ihr herum. „Was hast du gemacht?“

Wutschnaubend kam er auf sie zu, große Schritte zeugten von seiner plötzlichen Aggressivität. Er riss sie an sich und zerrte sie an ein paar Haarsträhnen durch das Lager, vor Schmerz ganz abgelenkt wurde sie über den Boden geschleift, bis er sie praktisch vor Dante, auch wenn er nicht so hieß, fallen ließ.

„Sag mir, was sie getan hat.“ befahl er seinem Sohn.

Ihr Gegenstück ging vor ihr in die Hocke, sanft strich er ihr über die Wange, sein Blick brannte vor Zuneigung. Irritiert ließ sie es geschehen, fragte sich, wie das alles zusammen passen sollte.

„Sie hat dir den Zugang abgeschnitten.“ erklärte er schließlich. „Keine Ahnung wie, aber sie kann dich unterdrücken.“ Er betrachtete sie weiter voller Zärtlichkeit und Aurelia kam eine völlig abwegiger Gedanke. Sie war aber verzweifelt genug, nach jedem Strohhalm zu greifen. Voller Leidenschaft bohrte sie ihre Augen in seine.

Ich weiß, du bist da noch irgendwo drin, mein Liebster. Kämpfe! Bitte lass ihn nicht gewinnen! Streng dich an, tu‘ es für uns! Für mich!

Sie betete, er würde die Botschaft ihres Unterbewusstseins erspüren, hoffte sie würde den Rest seines Wesens, den ihm Orcus noch gelassen hatte, erreichen. Seine Lider zuckten unmerklich, dann war es wieder verschwunden.

Nein! War Orcus‘ Macht über ihn so umfassend?

Es wäre nicht verwunderlich gewesen, schließlich waren sie blutsverwandt. Trotzdem konnte Aurelia die Hoffnung nicht aufgeben. Sie bombardierte Dante unaufhörlich mit ihrem Flehen, wenn es auch nicht laut geschah.

In der Zwischenzeit war Orcus auf und ab geschritten, er schien außer sich, doch dann beruhigte er sich zusehends. Seine Launen wechselten so schnell hin und her, schon vom Zusehen konnte einem ganz schwindlig werden. Wie viele Teile von sich hatte er wohl bisher in andere Wesen gepflanzt? Bekam er sie auch irgendwann wieder zurück oder blieben sie für ihn für immer verloren? Und was machte das aus ihm?

„Keine Sorge!“ sagte er jetzt wieder an sie gerichtet. „Wenn wir erst Mal hier fertig sind, werde ich dich schon Gehorsam lehren. Wir haben alle Zeit der Welt, nicht wahr, Junior?“

Ihr Gegenstück kam wieder auf die Füße. „Ja, Vater.“

„Mach‘ weiter, wir haben noch einiges vor uns. Wen nehmen wir denn als nächstes?“ Wie ein Kindergartenkind vor der Eisdiele betrachtete er die Auslagen, erkundete prüfend seine Beute. „Ach ich weiß!“ Er schlug die Hände zusammen. „Markus, komm doch mal her!“

Markus wirkte überhaupt nicht begeistert, verstört blickte er an sich herunter, als seine Beine Schritte machten, so als täte er sie gar nicht selbst. „Aber, aber… du hast gesagt… Wir sind Partner, ich habe alles getan, was du verlangt hast!“ Sein Jammer war erbärmlich, das Ratsmitglied gab nur noch eine Karikatur seiner Selbst ab.

„Ja, du warst nützlich und so leicht zu korrumpieren in deiner Gier nach Macht.“ stimmte Orcus zu. „Jetzt jedoch hast du deinen Zweck erfüllt, du bist überflüssig.“ Er sprach wie ein Vater, der versuchte, dem ungehörigen Sprössling etwas einzubläuen, das doch ganz logisch war. Fast bedauernd hob er die Schultern und winkte dann seinen Sohn heran. Dieser ließ Markus die gleiche Behandlung angedeihen, wie vorher Cassiopaia, dann tötete er auch ihn kaltblütig.

So ging es weiter, einer nach dem anderen wurde mit Gregorowizc’s Hilfe ausgesucht, seiner Gabe beraubt und dann beseitigt. Zwischendurch nahm sich Dante weitere Steine, der Raum erhitzte sich von der Prozedur, anscheinend wurde die Kraft ihres Gegenstücks durch die kleinen schwarzen Erbsen vervielfacht. So offenbarte sich auch, wozu sie geschaffen worden waren, denn da sie die gleiche DNA hatten wie er, schien zwischen ihnen der Energieaustausch eben doch möglich.

Aurelia sah bei dem Morden zu, fühlte alles durch ihren Draht zu Dante verstärkt, wurde direkt in den Strudel des Grauens gezogen. Immer noch versuchte sie, den Kern ihres Gegenstücks zu erreichen, flehte ihn an, sich gegen Orcus‘ Einfluss zu wehren und mit dem Massaker aufzuhören. Unter den künftigen Opfern war indes rohe Panik ausgebrochen, ihre Rufe und Schreie legten sich über die grässliche Szene.

Aurelia überlegte, forschte fieberhaft, irgendetwas musste sie doch tun können, um das Töten zu stoppen. Ihre Gegner waren völlig von dem grausigen Schauspiel gefesselt, auch ihr Team hatte das bemerkt. Aurelia warf einen schnellen Blick zu Pareios und erkannte, dass er wach war. Er stellte sich jedoch bewusstlos, linste nur alle paar Sekunden unter halbgeschlossenen Lidern hervor. Ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase, er war nur schwach in der Luft zu ertasten, aber er war da und Aurelia suchte sogleich nach der Ursache. Sie beobachtete den großen Elevender mit der Feuerkraft und registrierte das winzige Zucken seiner Oberarmmuskulatur, als er seine Fesseln durchgeschmort hatte. Aber er hielt die Hände weiter auf dem Rücken, blieb reglos, wartete ab. Der Aufpasser hinter ihm war noch nicht misstrauisch geworden, er folgte dem Geschehen um Dante und grinste dabei selbstvergessen.

Sie brauchten eine Ablenkung!
Aurelias Augen fanden Viktors, der neben seinem Bruder lag. Fragend hob sie die Brauen und er verstand. Ein Plan entspann sich stumm zwischen ihnen beiden, ein Nicken besiegelte das Vorhaben. Sie holte tief Luft und startete die Finte, als Dante gerade Chronos getötet hatte. Evrill keuchte hinter ihr entsetzt und auch Aurelia musste an Xandra denken. Heute würden sie alle etwas verlieren.

 

„Wie kannst du das deinem eigenen Sohn antun?“ brüllte sie Orcus entgegen.

„Antun?“ Ruckartig kehrte sein Kopf zu Aurelia zurück. „Ich habe über 200 Jahre alles für ihn vorbereitet, die Steine geschaffen, damit sie seine Gabe verstärken und es ihn nicht jedes Mal fast umbringt, wenn er jemandem die Kraft nimmt. Meinst du nicht, das zeugt von meiner Unterstützung, meiner Liebe? Ich habe alles nach ihm ausgerichtet!“ Seine Augen spien Zornesfunken.

„Aber du kontrollierst ihn genau wie mich, nimmst ihm seinen freien Willen, du machst ihn zu deinem Sklaven, so wie es die Menschen sind! Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist!“ Sie spuckte ihm die Silben nur so vor die Füße und erkannte, dass sie mit dem Vergleich mit dieser, in seinen Augen schwächlichen Spezies, ihr Ziel erreicht hatte. Sie hatte ihn zum ausrasten gebracht.

Erneut stürmte er zu ihr und trat ihr heftig gegen die Rippen. Ihr blieb die Luft weg, sie hörte es knacken und doch war sie so vollgepumpt mit Adrenalin, dass sie es kaum spürte. „Du Feigling, trittst eine Frau, die sich nicht wehren kann.“ presste sie mit ihrem letzten Atem hervor und hustete. „Du bist der Schwächling.“

Ehe sie sich versah, traf sie eine Schuhsole im Gesicht und sie wurde nach hinten geschleudert, ihre Nase brach, Blut spritzte ihr wie eine Fontäne über Mund und Kinn. Der Geschmack von Eisen breitete sich auf ihrer Zunge aus und sie musste mehrfach ausspucken, doch schon wurde sie am Schlafittchen gepackt und wieder herum gedreht. Sie starrte direkte in diese Augen, die Augen des Teufels, es hätte sie nicht überrascht, wären seine Pupillen Schlitze gewesen.

„Hüte deine Zunge, meine Liebe! Bisher habe ich deine Gabe nur unterdrückt, möchtest du, dass ich sie dir ganz nehme?“

„Das kannst du nicht!“ keuchte sie, während sie schlapp an seinem Griff ging. Sie hörte, welchen Hinweis er gerade in seinem Zorn verraten hatte, konnte sich aber nicht darüber freuen. Ihre Sprache war undeutlich durch die viele Flüssigkeit in ihrem Rachen. „Das… würde er niemals tun!“ Sie wies mit dem Kopf auf Dante und lächelte. „Aber ich… wette…, das hast du nicht bedacht.“

„Hör‘ auf zu lachen!“ donnerte Orcus und schüttelte sie, dann verdrehte er ihren Arm bis die Bänder an der Schulter nachgaben. „So ist das schon schwerer, nicht war?“

Als das Gelenk aus seiner Verankerung sprang, schrie sie laut und plötzlich wurde ihr Sichtfeld verschwommen. Verzweifelt klammerte sie sich an ihr Bewusstsein, sie durfte jetzt nicht nachgeben, musste Pareios und Viktor noch ein bisschen mehr Zeit geben. Benommen lachte sie wieder keuchend, sie musste einen verrückten Anblick bieten, doch das war ihr egal. „Er ist mein Gegenstück, das ist das einzige, das du nicht beeinflussen kannst, stimmt‘s?“

„Halt‘ dein dummes Maul!“ Er brüllte ihr ins Gesicht und legte beide Hände um ihren Hals, begann sie zu würgen. Schwarze Flecken tanzten vor ihren Augen, aber sie wehrte sich nicht, betete nur, dass ihre Rechnung aufgehen würde. Das Theater beschäftigte alle Zuschauer, sie spürte die ganze Aufmerksamkeit auf sich.

 

„Lass‘ sie los!“ ertönte es da leise aber deutlich hinter Orcus‘ Rücken.

Aurelia blinzelte angestrengt, ihre schwindende Sicht zeigte Dantes Gestalt. Er stand mit ungerührter Miene da, machte keine Anstalten, sich zu bewegen oder einzuschreiten, aber er wirkte auch nicht, als würde er nachgeben, bis seine Forderung erfüllt wurde. Erleichterung durchflutete Aurelia.

Ihr Gegenstück wiederholte es noch ein Mal, jetzt mit mehr Nachdruck. „Lass‘. Sie. Los!“

„Mein Junge, jetzt ist nicht der beste Zeitpunkt für Debatten. Nimm‘ ihre Gabe, dann gibt sie erst einmal Ruhe.“

„Nein.“

Orcus sah mehr als erstaunt aus, der gehässige Ausdruck fiel unvermittelt aus seinem Gesicht und er ließ Aurelia abrupt los. Noch während sie zu Boden fiel, spürte sie, wie er versuchte, seinen Einfluss auf seinen Sohn geltend zu machen. Er fuhrwerkte in seinem Inneren herum, als ob er die Möbel in einem Zimmer umstellen würde, bis Dantes Augen wieder leer und leidenschaftslos waren. Was auch immer ihn dazu gebracht hatte, sich zu verweigern, war von Orcus wieder begraben worden. Nur einen Moment später trat ihr Gegenstück vor sie, schaute auf sie herab. Aurelia konnte ihn fast nicht wiedererkennen, so weggetreten wirkte er, und ihr Herz wurde ganz kalt. Hatte sie ihn verloren? Hatte Orcus ihm die letzten Teile seines Ichs genommen?

„Nur zu, mein Sohn. Bald ist es erledigt.“ Ermutigte Orcus und legte seine Hand auf Dantes Schulter, kurz darauf trat er aber einen Schritt zur Seite. Brachte sich in Sicherheit, dieser armselige Wurm. Wie ferngesteuert hob der Elevender mit dem kastanienbraunen Haar den Arm, er hielt einen schwarzen Stein.

Oh, nein!

Schlagartig wurde sie in ein Déjà-vu versetzt, die Erinnerung an ihre Vision schob sich wie eine Schablone über die Realität.

Mein Gott, es war so weit!

Was hatte sie nur getan? Hatte sie sich so verkalkuliert? Würde ihr Gegenstück seine Hand gegen sie erheben?

Wieder wurden seine Umrisse heller und heller, das Licht war so intensiv, dass sie weg sehen musste. Doch wie in ihrer Vorahnung wurde sie vor den verzehrenden Strahlen geschützt. Verwirrt blinzelte sie gegen die Helligkeit an, versuchte, etwas von Dantes Gesicht zu erhaschen. Er lächelte leicht, als wolle er sich entschuldigen. Er ließ sein Licht weiter strahlen, immer stärker und plötzlich bemerkte sie, wie sich die Fesseln in ihrem Rücken lösten. Nicht nur bei ihr, sondern auch bei einigen anderen im Raum. Was zum…? Hatte ihr Gegenstück das veranlasst?

Dante ähnelte jetzt einer verdammten Supernova, sogar Orcus wich erschrocken vor ihm zurück. Ein Sturm begann sich in dem Lager zu formen, Windböen stoben durch die Versammelten, ließen kleinere Gegenstände durch die Luft fliegen.

„Hör‘ auf, mein Junge! Was tust du denn da?“ brüllte sein Vater gegen das Tosen an.

 

Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig, die Zeit schien sich zu verlangsamen, für nicht mal eine halbe Minute nahm Aurelia jedes Detail, jede Kleinigkeit um sich herum überdeutlich wahr.

Viktor trat Pareios Bewacher die Beine weg, dieser sprang auf und tötete mit seinem Feuer beide Hegedunen hinter ihnen. Daraufhin stürzten sie beide auf das Zentrum des Geschehens zu. Währenddessen verstärkte Dante das Heulen, die Atmosphäre flimmerte von der kinetischen Energie, die er sich von Cassiopaia genommen hatte, aber irgendwie schien er die Menschen und die Mitglieder der Legion davor zu schützen.

Als diese bemerkten, dass die Hegedunen plötzlich mit einem Angriff von ihrer eigenen Seite beschäftigt waren, ergriffen sie ihre Chance. Sie sprangen auf und stürzten sich auf ihre Peiniger, wieder brach ein gnadenloser Kampf aus. Viktor und Pareios hatten ihre kleine Dreiergruppe fast erreicht, sie rangen mit dem Gegenwind, kamen nur langsam voran, aber Orcus schien sie sowieso nicht zu bemerken. Aurelia fühlte, wie er versuchte, seinen Sohn wieder unter Kontrolle zu bringen, aber sie selbst redete mit ihrem Unterbewusstsein ebenfalls auf Dante ein, hielt dagegen, rang mit seinem Vater um seine Seele. Ihr Herz flüsterte immer wieder: Beende es. Mach‘ dich frei, du schaffst es!

Da war Viktor plötzlich bei Orcus angelangt, er riss ihn mit sich nieder, verwickelte ihn in einen Zweikampf und der Wiederstand im Innern seines Sohnes riss ab. Aurelia weitete sich aus, durchflutete ihr Gegenstück mit Zuversicht, sandte ihm ihre Liebe.

Ein Ton schwoll an, wie aus den tiefen eines Berges grollte es um sie herum, die Erde erzitterte und Staub rieselte von der Decke. Die kinetische Energie von Dante war so stark, dass er in einem Ball aus Licht verschwand, nichts von ihm konnte sie mehr erkennen, aber sie wurde immer noch vor den Auswirkungen bewahrt, genauso wie der Rest ihrer Verbündeten.

Als befänden sie sich im Auge eines Orkans, war es plötzlich für einen Augenblick lang still, nicht mal die Laute des erbitterten Gefechts um sie herum waren zu vernehmen, die Situation bot einen grotesken Anblick. Aber ebenso wie bei besagtem Unwetter währte die Verschnaufpause nur eine Sekunde, dann brach die Hölle los.

Die Atmosphäre um Dante herum zog sich zusammen, die Lampen flackerten, der Energieball in der Mitte gab kleine Stöße ab, wie winzige Vorbeben, dann explodierte er.

Pareios hatte Aurelia so eben erreicht und warf sich über sie, als die Druckwelle sie beide davon fegte, aber genau wie in ihrer Vision ergriff ein unbarmherziger Schmerz ihr Herz. Es schlug gequält, als stünde es in Flammen und als füllten sich ihre Adern mit schwelender Glut, breitete sich die Verbrennung in ihr aus.

Was sie in ihrer Vorahnung nicht begriffen hatte, sickerte ihr jetzt wie Säure ins Gehirn. Nicht Dante tat ihr das an, zumindest nicht direkt.

Nicht sie starb in diesem Augenblick, wie sie damals befürchtet hatte, sondern er!

So fühlte sich also der Verlust eines Gegenstücks an, dachte sie erstaunt, während sie begriff, dass die Schmerzen durch die Auflösung ihrer Verbindung entstanden waren. Sie lag in Pareios‘ Armen, während um sie herum alles pulverisiert wurde und ihre Pein machte ihr klar, dass Dante tot war, dass er sich für sie geopfert hatte.

Orcus hatte ihn so sehr zersetzt, ihn umschlungen und infiltriert, dass er anscheinend keinen anderen Ausweg gesehen hatte.

Der Lärm war ohrenbetäubend, die erste Detonation wurde von einem Sog abgelöst, die Luft floss zurück in das Vakuum, das Dantes Energie hinterlassen hatte. Die Gegenstände kamen wieder auf sie zu gesegelt, Aurelia und Pareios duckten sich erneut, um ihnen auszuweichen und sie war froh, dass er ihr dabei half. Durch ihre Qual war sie immer noch etwas außer Gefecht gesetzt. Mit einem Knall krachten die Gerätschaften, die der Sturm herum gewirbelt hatte, in der Mitte des Raumes zusammen und fielen dort zu Boden, wo ihr Gegenstück bis eben noch gestanden hatte.

Er selbst war fort, sie konnte ihn nicht mehr spüren und eisige Gewissheit erklomm ihr Bewusstsein. Die Bitterkeit darüber bemächtigte sich ihrer innerhalb eines Herzschlags. Erneut hatte ihr dieser Bastard alles genommen, hatte Schicksal mit ihr gespielt und seinen Sohn wie einen Bauern auf dem Schachfeld geopfert. In ihrer Benommenheit kam ihr der verschrobene Gedanke, dass sie nicht mal seinen richtigen Namen kannte.

Dann war es vorbei. Eine ohnmächtige Ruhe trat ein.

 

Aurelia und Pareios richteten sich auf und sahen sich um. Andere taten es ihnen gleich. In dem Chaos konnte sie keinen Hegedunen mehr entdecken, weder Orcus, noch einen seiner Gefolgsleute. Ob Dante sie mit in den Tod gerissen hatte, oder ob sie auf der Flucht waren, sie wusste es nicht.

Alle Gesichter, die zwischen den zerstörten Trümmern auftauchten, waren leichenblass, von Staub bedeckt und gekennzeichnet von dem eben Erlebten. Die Harre standen ihn zu Berge, von den Böen und der Druckwelle völlig zerzaust. Einzelne begannen nach Freunden und Bekannten zu suchen, Rufe wurden laut, verschiedene Namen fielen.

„Alles ok bei dir?“ fragte Pareios neben ihr. Seine Stimme war brüchig, aber dennoch galt sein erster Gedanke ihr.

Ok? Nein, dachte Aurelia. Ok konnte man das ganz und gar nicht nennen!

„Nein, nichts ist ok.“ Ihre bitteren Worte kamen nur widerwillig über ihre Lippen. Sie schmeckte Staub auf der Zunge, es knirschte zwischen den Zähnen, aber viel schlimmer war das leere Loch in ihrem Herzen, der Platz, der Dante gehört hatte und nun implodiert war. Sie fühlte immer noch dieses Stechen in der Brust, wie ihre Venen von Feuer zerfressen wurden und fragte sich, ob dieses Brennen jemals wieder vorbei gehen würde, nun da ihr Gegenstück nicht mehr da war.

Vorsichtig versuchte sie, auf die Beine zu kommen, strauchelte aber und ihre pochende Schulter ließ sie zusammen zucken. Erst jetzt erinnerte sie sich daran, dass das Gelenk ausgerenkt war. Pareios stützte sie.

„Beiß‘ die Zähne zusammen!“ warnte er, dann packte er ihren Arm und ließ den Kopf des Knochens mit einem Ruck wieder in die Gelenkpfanne springen. Der Schmerz war unglaublich, er durchzuckte sie und fuhr ihr tief ins Mark, aber gleichzeitig riss er sie auch aus ihrer Benommenheit. Sie unterdrückte einen Schrei, für den heutigen Tag hatte sie schon genug gebrüllt. Ihre Kehle war heißer und hatte keine Ressourcen mehr für so etwas übrig. Ausgelaugt legte sie den unverletzten Arm um Pareios Nacken und ließ ihn einen großen Teil ihres Gewichts tragen. Dabei fragte sie sich, woher er die Kraft nahm. Sein Rücken war von der Explosion zerfetzt worden, nicht nur an einer Stelle schimmerte blankes Fleisch in den Wunden. Unerschütterlich stemmte er aber ihre beiden Körper, trotzte der Schwerkraft und da spürte sie wie früher seine Lebendigkeit, die stur gegen alle Widerstände bestehen blieb. Sogar gegen das Unheil, das sie selbst über ihn gebracht hatte.

Während sie den Blick weiter über die Hinterlassenschaften des Überraschungsangriffes schweifen ließ, war ihr nur zu gut bewusst, dass sie das alles hier mit zu verantworten hatte. Mein Gott, sie hatte sich so angestrengt, einfach alles gegeben, um das hier zu verhindern und doch war es ihr nicht gelungen! Sie war kläglich gescheitert, nicht nur darin ihre Freunde und die Legion zu schützen, sondern auch darin, ihr Gegenstück zu bewahren. All diese Tode lasteten schwer auf ihr, drückten sie nieder.

                                                                                                                           

Die Liste der Opfer dieses hegedunischen Anschlags sollte noch länger werden, wie sie wenig später feststellen mussten. Neben sieben ermordeten Ratsmitgliedern, fanden sie auch alsbald Row. Sie hatte sich weinend neben Aiden zusammengekauert, zuerst erkannte Aurelia den Körper gar nicht, denn der Kopf war vom Rumpf getrennt worden und war nirgends aufzufinden. Die große blonde Elevenderin wollte die Finger nicht von seinem Hemd lösen und sie mussten sie erst lange sanft überzeugen, bis sie sich wegbringen ließ. Der Anblick war einfach nicht zu ertragen gewesen und sie wollten nicht, dass Row ihren Liebsten noch länger so sehen musste.

Eine weitere entsetzende Nachricht erschütterte die kleine Gemeinschaft, als auffiel, dass auch von Viktor jede Spur fehlte. Aurelia konnte nichts dagegen tun, dass sich eine Dunkelheit in Pareios ausbreitete, die sie nicht zu durchdringen vermochte. Die Ungewissheit über den Verbleib seines Bruders und ihres Freundes war zermalmend. Keinen Anhaltspunkt zu haben, ob er tot oder lebendig war, musste ihm stark zusetzen.

Aurelia verstand ihn sehr gut, denn nun hatten sie wieder etwas gemeinsam, beide hatten sie heute jemand wichtigen verloren, auch wenn das eine kranke Form von Verbundenheit war, so war es doch eine Tatsache.

Ihr verschrobenes Schicksal hatte erneut die Strippen gezogen, sie an einander gebunden. Unausgesprochen hatte sie dieses Erlebnis zusammengeschweißt, denn es war klar, dass sie beide auf keinen Fall den Verlust eines weiteren Freundes verkraften konnten.

45

Schwere Trauer lag über der ganzen Gruppe, oder über denen, die übrig geblieben waren. Nach den entsetzlichen Geschehnissen, wollten Row, Evrill, Pareios und Aurelia in Viktors zu Hause zurück kehren. Doch obwohl sie alle unter Schock standen, rief vorher noch die Pflicht nach ihnen. Sie halfen, den Bunker zu durchsuchen und auch die Sicherheit wieder herzustellen.

Sie fanden die restlichen Bewohner im von außen verbarrikadierten Speisesaal, die Eindringlinge hatten sie alle dort eingesperrt. Die Wachen am Eingang zu den unterirdischen Tunneln waren tot, abgeschlachtet wie die Hälfte des Rates und ihrer Freunde.

Der Venusorden war als einziger ohne Schaden aus der Sache hervor gegangen und obwohl es grausam war, war Aurelia froh, dass wenigstens die Menschen und somit das erst aufkeimende Bündnis nicht unter diesem Verlust leiden musste. Die Division trat unbehelligt die Heimreise an und man vertagte weitere Gespräche, bis wieder Ordnung innerhalb der Legion herrschte.

Aurelia wagte nicht, eine Kalkulation abzugeben, wann es so weit sein würde, denn die Nachricht von Markus‘ Verrat sprach sich schnell herum, ebenso wie die Tatsache, dass der Rat etwas hinter dem Rücken seiner Gefolgschaft ausgeheckt hatte. Das Vertrauen der Mitglieder der Legion in ihre gewählten Führer bekam einen tiefen Riss, obwohl es nicht laut gesagt wurde. Die Stimmung zeugte unübersehbar von Zweifel und Unsicherheit. Auch, dass die Lage ihres Stützpunktes jetzt kein Geheimnis mehr war, half nicht, die Sorgen der Elevender zu dämpfen.

Dazu kam, dass bald bekannt wurde, dass Aurelias Gegenstück sie an ihren Gegner ausgehändigt und die vielen Morde begangen hatte. Dass er quasi wie ein trojanisches Pferd in den Bunker eingeschleust worden war und dann den Hegedunen Einlass verschafft hatte. Aurelia konnte ihren Ärger darüber verstehen. Sie selbst war erfüllt davon, aber dennoch war ihr bewusst, dass sie ohne Dante vielleicht nicht überlebt hätten. Schließlich hatte er sie und ihre Verbündeten von den Fesseln befreit und sie vor dem Sturm geschützt, während er die Hegedunen damit in Beschlag genommen hatte. So waren sie verwundbarer für die Legion geworden.

Die Ratsmitglieder berichteten, dass sie ebenfalls einige der Angreifer erledigt hatten, jedoch waren nach der Explosion keine toten gegnerischen Krieger gefunden worden. Sie alle waren wie von Erdboden verschluckt gewesen, genau wie Orcus und Viktor. So war die Frage immer noch offen, was mit ihnen geschehen war. Hatte Dantes Macht sie zerfetzt oder waren sie getürmt?

In Bezug auf Orcus betete sie für Ersteres, aber was Viktor betraf, fühlte sie sich natürlich verpflichtet, Letzteres zu hoffen. Pareios war nur still neben ihr her gelaufen, während sie ihre Pflicht erledigt hatten und dann, als der Rat eine Nachtruhe ausrief, fanden sie sich wie alle Elevender des Bunker in kleinen Grüppchen ein. Keiner wollte allein sein, jeder kannte einen Toten näher oder war tief erschüttert durch die unglaublichen Vorkommnisse, im Kollektiv suchte man Schutz in der Gemeinschaft. Der Rat hatte für die Nacht einen starken Wachtrupp aufgestellt, morgen würde erst eine Zeremonie für die Opfer stattfinden, dann sollte ein Evakuierungsplan ausgearbeitet und umgesetzt werden. Der Verlust des Standorts traf die Legion hart, er hatte Platz für viele Elevender geboten und die meisten anderen Stützpunkte waren nicht so großzügig geschnitten.

Aurelia und ihre Freunde fanden alle ihren Weg zu Viktors Behausung. Sie hatten sich nicht abgesprochen und doch waren sie alle demselben Gefühl gefolgt. Sie verteilten sich im Wohnzimmer und hielten einträchtig wortlose Andacht. Heute war ihnen so viel entrissen worden, es würde eine Weile dauern, bis sie sich von diesem Schlag einigermaßen erholt hatten.

Später am Abend erklärte Aurelia ihrem Team alles, zum dritten Mal in ihrem viel zu langen Leben erzählte sie ihre Geschichte, fügte ihr nun neu erlangtes Wissen über Orcus‘ Rolle darin hinzu. Sie hatte irgendwie erwartet, dass ihre Freunde sie vielleicht für die Schlacht verantwortlich machen würden, aber offenbar befanden sie, dass sie mit dem Tod ihres Gegenstück und Orcus‘ Missbrauch ihrer selbst schon genug gestraft worden war.

Sie weigerte sich, genau darüber nachzugrübeln, aber sie wusste, der Tag würde kommen, an dem sie ihre Vergangenheit unter die Lupe nehmen und nach Anzeichen auf Orcus Vorhaben durchsuchen würde. Sie würde sich der Frage stellen müssen, ob sie es nicht hätte erkennen können, ob sie irgendetwas übersehen hatte.

Neben der Frage, ob Viktor pulverisiert oder verschleppt worden war, beschäftigte sie dies auch wegen Orcus. Denn sollte er noch am Leben sein, hieß das nicht auch, dass ein Teil von ihm weiterhin in ihr schlummerte?

Im Moment fühlte sie keine Gegenwart eines Monsters, aber sie traute dem Anschein nicht. Sie war viel zu leichtfertig mit ihren Annahmen umgegangen, hatte sich auf ihre Intuition verlassen und ihr blindlings vertraut, ohne zu ahnen, dass Orcus diese dazu benutzt hatte, sie zu täuschen und zu überlisten.

Während jeder von ihnen seinen eigenen Gedanken nachhing, forschte Aurelia nach ihrer Intuition. Als sie feststellte, dass sie sich plötzlich wieder zuverlässig in ihr regte wusste sie nicht, ob sie froh oder traurig darüber sein sollte, schließlich hatte ihre verfluchte Gabe sie erst in dieses Schlamassel geführt. Nicht nur sie selbst war ihren Vorgaben ohne zu hinterfragen gefolgt, auch ihr Team hatte sich voll und ganz darauf gestützt. Sie beschloss, ihrer Intuition erst einmal nicht mehr die Gelegenheit dazu zu geben, sie an der Nase herum zu führen, sollte Orcus, ihr Erzfeind, noch auf dieser Erde weilen.

Sie wünschte es ihm nicht, denn sollte sie ihn jemals zwischen die Finger kriegen, würde er sich den Tod nur so herbei sehnen.

 

Am nächsten Morgen erwachte ihre Gruppe steif. Sie hatten in Viktors Bude übernachtet und sich auf die Sofas und den Boden gebettet. Keiner hatte in dem Ehebett schlafen wollen, denn es stand immer noch aus, Meredia über den Stand der Dinge zu informieren. Sie war inzwischen wahrscheinlich krank vor Sorge, aber wenn sie ihr Bericht erstatteten, würde sich das auch nichts daran ändern.

Erneut erwies sich Pareios als der mental Stabilste von ihnen und übernahm diesen schrecklichen Dienst, während Aurelia der apathischen Row die Haare bürstete und Evrill ihnen Kaffee machte. Leicht irritiert registrierte Aurelia den Rollentausch zwischen ihr und der der blonden Elevenderin, aber es fühlte sich gut an. Ihrer Freundin Trost zu spenden, war ein bisschen wie sich selbst zu trösten. Jeder Strich durch die vom Duschen noch feuchte, seidige Mähne, beruhigte auch den stechenden, nagenden Schmerz in Aurelias Seele. Auch dort befand sich ein Loch, das vielleicht nie mehr gefüllt werden konnte und bisher hatten sich die Qualen über Dantes Tod nicht verringert. So gierte sie nach irgendeiner Form des Zuspruchs, auch wenn sie sich den selbst geben musste.

Aurelia hatte sich gesäubert, ihre Schulter und die Wunden im Gesicht waren verheilt, ebenso wies Pareios‘ Rücken keine Verletzungen mehr auf. Nachdem er von dem Telefonat zurück kam, wirkte er noch niedergeschlagener und seine Lebendigkeit flackerte nur noch gebrochen durch seine Aura. Aurelia wünschte, sie könnte Orcus dafür foltern, dass er auch Pareios‘ Leben erneut ins Chaos gestürzt hatte.

Sie wusste nicht, wie die Situation zwischen ihnen beiden weiter gehen würde, aber ihre Freundschaft, das Gefühl der Zusammengehörigkeit bestand unauslöschlich zwischen ihnen. Ihr Waffenstillstand hielt an und Aurelia fand, dass kein Thema auf der Welt es wert war, sich mit ihm zu überwerfen. Sie brauchte seine Nähe, er war der einzige Zufluchtsort der sich ihr jetzt noch bot und  außerdem:

Sie liebte ihn! Hatte nie damit aufgehört, trotz der Widrigkeiten und trotz ihres Gegenstücks. Vielleicht waren ihre Gefühle pietätlos und sie war selbst verwirrt, dass sie neben all der Trauer und der Gewissheit, dass nichts und niemand Dante, oder wie auch immer er geheißen hatte, zu ersetzten vermochte, so empfinden konnte.

Pareios schien es ähnlich zu ergehen wie ihr. Er ließ ein Stück ihrer Vertrautheit wieder zurückkehren und wich ihr nicht von der Seite, während sie zu ihren beiden Kammern gingen, um saubere Kleider für die Beerdigung zu holen. Eine merkwürdige Form der Ironie, dass Aurelia genau ein Kleid besaß und dieses ausgerechnet Schwarz war, wie der Rest ihrer Klammotten. Sie hatte es auch  schon zu Viktors Hochzeit getragen, ein grausamer Witz des Schicksals, dass sie es jetzt wieder hervor holen musste.

 

Als sie den Lagerraum betraten, in dem die gemeinsame Andacht statt finden sollte und wo sich schon die meisten Bewohner des Bunkers bereits versammelt hatten, zitterten Aurelias Beine und sie taumelte. Pareios nahm ihre Hand und hielt sie fest, gab ihr den Anker, den sie jetzt brauchte, obwohl sie auch in seinen Augen lesen konnte, wie schwer der Gang durch die Trauergemeinde für ihn war.   

Das Schlachtfeld war so belassen worden, wie es nach dem Kampf ausgesehen hatte, außer, dass man die leblosen Körper ihrer Freunde in Särge gelegt hatte. Ein Kreuz war inmitten der Trümmer aufgestellt worden, nicht weil die Elevender der Legion christlichen Glaubens waren, sondern weil es ein universelles Symbol für den Tod, den Verlust war. Bilder von Cassiopaia, Nero, Chronos, Markus und drei weiteren Ratsmitgliedern waren an den Wänden angebracht worden, auch Aidens und Viktors Antlitze lächelten ihnen von aufgehängten Fotographien entgegen. Der Schlag traf Aurelia und Pareios tief, dass man seinen Bruder offenbar zweifelfrei als verschieden erachtete.

Beklommen gesellten sie sich zu Evrill und Rowena.

„Meine ganze Familie lässt euch ihr Beileid ausrichten.“ flüsterte Ersterer, als sie sich neben ihn stellten. Er hatte einen Arm schützend um Row gelegt und strich ihr tröstend über den Rücken. Beide bedankten sie sich förmlich und Aurelia fragte sich unwillkürlich, ob die Leute gemeinhin wussten, dass Kondolenzbekundungen die Sache nie besser machten. Im Gegenteil, sie erinnerten immer wieder an die Tragödie, verhinderten das Vergessen.

Laelius, das jetzt älteste Ratsmitglied erklomm einen Schutthaufen neben dem mit dem Kreuz aus Eisen und hielt eine kleine Ansprache.

Er bedauerte das Unglück, verurteilte die Verbrecher, rief aber auch zu Zusammenhalt, Durchhaltevermögen und Widerstand auf. Es war eine ergreifende Rede, die Zuhörer schluchzten, Taschentücher wurden herum gereicht. Aurelia erging es nicht anders, sie schniefte in dem Bemühen, nicht die Fassung zu verlieren, angesichts des niederschmetternden Verlaufs ihres Schicksals und der vielen Toten.

Doch urplötzlich, wie ein Flashback oder eine unheilvolle Vorahnung, wurde ihr heiß, der Schweiß brach ihr augenblicklich aus jeder Pore aus. Noch während sie sich Luft zufächelte und sich verwirrt fragte, was da mit ihrem Körper los war, erhob sich ein unbändiger Zwang in ihr. Der Zwang, zu kichern!

Sie rang mit sich, aber als ihr klar wurde, was da mit ihr geschah, wer da erneut seine dreckigen, abscheulichen Finger nach ihr ausstreckte, war sie so schockiert, dass es aus ihr herausbrach.

Sie lachte lauthals los, der Klang ihrer Stimme hörte sich sogar in ihren Ohren wahnsinnig an. Entsetzt presst sie die Hand vor den Mund und stoppte sich.

Die gesamte Gemeinschaft drehte sich zu ihr um, Pareios starrte sie ebenso erschrocken an, wie sie sich selbst fühlte und nachdem sie eine bestürzte Entschuldigung gemurmelt hatte und Laelius weiter sprach, zerrte sie Pareios zu sich heran. Er musterte sie und was er in ihren Augen zu lesen schien, raubte auch ihm jede Ruhe.

Sie musste sich zusammenreißen, um ihm die schreckliche Mitteilung machen zu können.

„Das war Orcus, er lebt!“

 

 

 

 

- Ende -

Imprint

Text: Aven Miles (Obwohl teilweise von realen Vorkommnissen inspiriert, ist diese Geschichte frei erfunden und stellt weder tatsächliche Personen noch wahre Begebenheiten dar.)
Images: Cover by Glaux
Editing: Rechtschreibfehler und kleinere Ungereimtheiten werden im Lauf der Zeit noch ausgemerzt ;). Suche noch eine/n Beta-Leser/in. Wer Lust und Zeit hat, melde sich doch bitte per pn. Würde gerne im Gegenzug bei euch den Zweitleser machen.
Publication Date: 11-22-2013

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Dedication:
Für all jene, die noch Hoffnung haben. ***Ich danke allen Lesern und Herzchen-Gebern für eure Aufmerksamkeit und hoffe, es gefällt euch. Kommentare oder Kritik sind immer gerne gesehen :)***

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