Cover

Prolog



Sie hatte alles. In den drei Jahren hatte sie Freunde gefunden, gute Freunde. Ein schönes Umfeld, ein schönes Zuhause. Und auch wenn nicht viel Geld dagewesen war, so war sie glücklich gewesen.

Musik drang durch die Kopfhörer in ihre Ohren. Bäume zogen schnell an ihr vorbei, während sie im Auto aus dem Fenster sah. Nun müsste sie wieder von vorne anfangen, irgendwo anders. Es war nicht das gewesen, was sie wollte, doch ihre Mutter hatte sich dazu entschlossen.
Nachdenklich sah sie weiter hinaus, registrierte nicht, dass ihre Mutter ab und an mit ihr versuchte zu reden. Nein, sie wollte Ruhe. Sie wollte Musik hören, nachdenken und in Erinnerungen schwelgen. Schon einige Male waren sie umgezogen. Der härteste Schlag hatte sie erwischt, als sie nach zehn Jahren von Baltimore nach Missouri zogen. Sie hatte ihren besten Freund zurückgelassen und auch der Kontakt war nach einiger Zeit vollkommen eingeschlafen. Nach den 3 Jahren Missouri kam Nebraska. Und nun waren sie auf den Weg in eine völlig neue, unbekannte Welt. Bilder vergangener Tage spielten sich vor ihrem inneren Auge ab. Freude, Tränen, Streit, Erfolg. All das hatte sie mit ihren Freunden geteilt.

Seufzend griff sie in ihre Tasche, die hinter ihr auf dem Sitz lag. Umständlich klaubte sie ein Buch heraus und holte es nach vorne, schlug es auf.
Vor der Abreise hatten all ihre Freunde etwas in dieses geschrieben. Ihre schmalen Finger fuhren über die erste Seite, die Schrift war spürbar zu fühlen.

„Em! Du wirst mir fehlen! Es war eine so schöne Zeit mit dir. Ich hoffe, dass wir uns noch einmal sehen können. Ich werde dich besuchen, oder du mich. Und dann können wir wieder durch die Gegend rennen und Unsinn veranstalten, ja? Bleib so wie du bist und lass dich nicht einwickeln.

xoxo
Chris“



Auch auf den folgenden Seiten standen entweder Texte oder auch nur ein Satz und darunter eine Zeichnung. Sie hatten sich so viel Mühe gegeben. Emmas Mundwinkel verhärteten sich und sie riss sich zusammen, nicht gleich loszuweinen.

„Du bist der tollpatschigste Mensch, den ich je getroffen habe! Totale Liebe!

Samantha“



Bilder waren in das Buch eingeklebt worden.

„Glaub mir, auch wenn du jetzt wegziehst, du bist nicht allein. Ich werde immer irgendwo in deiner Nähe sein. Schau in deinem Herzen nach. Ich habe mir da eine kleine Wohnung gemietet ;D

Mia“



Emma holte tief Luft und hob den Blick, sah zum Fenster heraus. Sie schloss das Buch. Ihre Finger verkrampften sich um den Einband. Als sie nach vorne blickte, sah sie die Wolkenkratzer, die sich vor ihr erstreckten. Immer mehr Häuser tauchten auf, als sie die Waldstraße verlassen hatten. Das Mädchen rutschte tiefer in den Sitz. Sie presste das Buch an sich, als würde gleich jemand kommen und es ihr wegnehmen wollen. Sie klammerte sich nahezu an all die Erinnerungen ihrer Freunde.

Ihre Gedanken kreisten um das Vergangene und auch um das Neue.
Und wieder ging alles von vorne los, doch nun sollte alles anders werden.


Kapitel 1 – Der Schulbus



Es war Sommer. Eigentlich mochte sie den Sommer, nur dieser Tag machte es einem sehr schwer, irgendwie ein frisches Lüftchen aufzugreifen – Die Luft stand. Und trotzdem fand heute Schule statt. Es war der erste Tag nach der langen Sommerpause und sie war mehr als gespannt, was passieren würde. Neue Gesichter, neue Klasse, neues Jahr. Emma war gerade mit ihrer Mutter hierher nach Kalifornien gezogen, weg aus Nebraska. Ihre Mutter hatte hier einen neuen Job und eine neue Liebe gefunden. Für die Jugendliche war es schwer gewesen, Nebraska zu verlassen, denn hier hatte sie ihre Freunde, ihren Vater und den Rest ihrer Familie. Sie hoffte, dass diese Aktion ihrer Mutter kein Reinfall war und betete insgeheim, dass sie hier schnell Anschluss finden würde.
Sich den Schweiß von der Stirn wischend sah sie durch ihre große Sonnenbrille, wie der Schulbus ankam und vor ihr hielt. Jackson hatte ihr noch angeboten, dass er eine Limousine für sie organisieren könne und sie so nicht dem ganzen Stress im Bus ausgesetzt sei. Doch Emma hatte das Angebot abgeschlagen. Jackson war der neue Mann an der Seite ihrer Mutter. Er war ein berühmter Architekt, dessen Bauten in diversen berühmten Hochglanzmagazinen abgedruckt waren.
Es ist schon verrückt

, dachte Emma bei sich, wie das Leben so spielt.


Ihre Mutter hatte damals des Öfteren beruflich mit ihm zu tun gehabt. Irgendwann kam er zum Abendessen, allerdings erst nach diversen Dates, die ihre Mutter und er auswärts gehabt hatten, und dann stand es fest: Sie zogen um!
Es war eine Umgewöhnung: Sie hatte nun ein großes Zimmer, das nach ihrem Geschmack gestaltet worden war und ein großes Badezimmer für sie ganz allein. Es standen mindestens 4 Autos in der großen Garage. Der Garten war riesig! Er war aufwendig bepflanzt und dekoriert. Ein Pool gab es auch. Einmal hatte sich Emma daran gemacht, sich das Haus und dessen Umgebung im Internet aus der Vogelperspektive anzusehen – für sie war es recht schockierend, denn in fast jedem Garten war mindestens ein Pool. Scheinbar waren hier alle Leute in der Umgebung nicht arm davor, was ihre Jobs anging.
Emma war eigentlich ein bescheidener Mensch. Sie konnte mit diesem ganzen, imposanten Drumherum nichts anfangen. Es ängstigte sie auch irgendwie ein wenig. Viel lieber wäre sie doch in ihrem kleinen Zimmer geblieben, in dem kleinen Apartment in Nebraska.
Doch nun...

Langsam trugen Emmas Füße sie in den Bus. Ihr gedankenversunkener Blick glitt durch diesen.
„Such dir einen Platz, Kleine. Wir müssen weiter“, murrte der Busfahrer und schloss die Tür, bevor er langsam anfuhr. Die Jugendliche sah zum Busfahrer, der ihr mit dem Kopf zeigte, dass sie sich aus dem Bereich der Fahrerkabine begeben sollte und Emma seufzte leise. Vorsichtig ging sie weiter nach hinten. Einige der Schüler stritten sich, andere saßen da und sahen aus dem Fenster, Musik hörend, wiederum gab es auch Schülerinnen, die kicherten und sich unterhielten. Keiner schien sich auch nur für das neue Mädchen zu interessieren.
Freier Platz, freier Platz... Am Besten an einem Fenster

, dachte Emma und erblickte im mittleren Bereich des Busses eine freie Sitzgelegenheit. Gerade, als sie sich darauf zubewegen wollte, bremste der Bus scharf und sie machte einen Satz nach vorne. Ein Arm streckte sich in ihre Flugbahn und fing sie gerade noch ab. Emma keuchte erschrocken und klammerte sich an den Arm.
„Ich sagte doch, dass du dich hinsetzen sollst!“, schrie der Busfahrer und sah dabei durch den Spiegel in ihre Richtung, die Nase rümpfend. „Diese verwöhnten, kleinen Gören...“
Die Worte des aggressiven Fahrers zogen an ihr vorbei, viel mehr erholte sie sich von ihrem Sturz und blickte langsam zu der Person, der der Arm gehörte. Ein dunkles, kariertes Hemd, die Ärmel waren zur Hälfte hochgekrempelt und legten somit die Unterarme frei, wobei einer bunt verziert war. Tattoos – Also müsste er schon etwas älter sein. Eine lange, schwarze Hose – War das nicht zu warm für den heutigen Tag?!
Ihr Blick glitt weiter nach oben. Auch an der linken und für sie sichtbaren Seite seines Halses lugte ein Tattoo hervor. Etwas längere Haare verdeckten ihr jedoch die Sicht auf das Motiv. Dunkelbraun waren sie. An der Unterlippe des geschwungenen Lippenpaares befand sich rechts ein Ring. Einer der Mundwinkel war hochgezogen. Lachende, hellbraune Augen guckten sie an. Der Pony des Jungen war leicht feucht vom Schweiß und war zur rechten Seite gekämmt. Auf dem Kopf trug er eine schwarze Cap, der Schirm war nach hinten gedreht.
„Hey.. Alles okay? Hallo?“, sagte er langsam und Emma zuckte augenblicklich hoch.
„Was? Ja, ja... doch, alles okay“, antwortete sie leise und der Junge nickte.
„Gut, darf ich dann meinen Arm wieder haben, oder möchtest du ihn dir noch für eine Weile ausleihen? Ich muss mir nämlich gleich mal eine Kippe drehen und mit einer Hand geht das etwas schwer.“
Emma zog eine Augenbraue in die Höhe und hielt seinen Arm weiter fest. „Also, wenn du das mit deinem Arm – oder eher mit deiner Hand machen willst, dann behalte ich sie gerne noch. Rauchen ist ungesund“, sagte sie frech und grinste leicht.
„Schön! Eine Gesundheitsfanatikerin. Jungfrau?“, schoss er los und grinste umso breiter. Emmas Gesicht färbte sich rot. „Das geht dich ja wohl mal gar nichts an!“
„Gut, dann fordere ich hiermit meinen Arm ein“, sagte der Junge nun und sah weiter zu Emma runter. Augenblicklich und vor allem peinlich berührt ließ Emma den Arm des Jungen los und blickte auf die freigelegten Tattoos. Ein Motiv kannte sie. Es war eines von einem bekannten Künstler aus dem Street Art-Bereich.
„Na gut, dann... Willst du weiter auf dem Boden sitzen?“, fragte der Junge nun ganz nebensächlich, während er seinen Tabak, Filter und Blättchen rausholte und noch ein Stück rückte, um ihr Platz auf dem Sitz zu machen. „Ich mein, hier ist auch noch was frei. Und auf dem Boden kleben meistens Kaugummis... Nicht, dass ich damit meine, dass sie dir nicht stehen würden, aber ich mein.. Das muss echt nicht sein.“, sagte er ruhig und drehte sich nebenbei eine Zigarette, darauf achtend, was er da gerade tat. Emma sah sich schnell um und es befanden sich tatsächlich einige Kaugummis auf dem Boden. Schnell stand die Neue auf und rümpfte die Nase. „Ich würde aber dann auch gerne wissen, neben wen ich mich setze.“, sagte sie dann und verschränkte die Arme. Eine der braunen Augenbrauen hob sich, doch der Junge sah nicht auf. „Sind Namen denn so wichtig?“, fragte er dann und sah zu ihr auf. Emma blickte in seine Augen, sie lachten trotz seines verschwundenen Grinsens.
Wieder stiegen einige Schüler ein, wobei einer es sehr eilig hatte und Emma so anrempelte, dass sie halbwegs auf ihren Gesprächspartner fiel. „Ey... du gehst aber ran, Kleine“, lachte er dann und schob sie ein Stück von sich, wobei ihr Blick wieder auf die Tattoos fiel. Bewegten sie sich etwa?! Emma grummelte leise und setzte sich letztendlich neben den Jungen, sah zur Seite. Belustigt stupste er das Mädchen mit dem Ellenbogen an. „He! Nun sei doch nicht so angepisst! Scheinst wohl neu zu sein, hm?“, fragte er locker und schob sich seine fertige Zigarette hinter eines seiner Ohren. Tabak, Blättchen und Filter verschwanden in dem großen Rucksack des Jungen. Emma grummelte innerlich. Die Schule hatte noch nicht mal angefangen und schon hatte sie sich so etwas Peinliches geleistet. Und zudem war dieser Typ einfach nur komisch! „Gut, wenn du mir nicht deinen Namen sagen willst, dann gebe ich dir eben einen“, sagte Emma nun mit fester Stimme und wandte den Blick stur auf ihre Knie.
„Wirklich? Und der wäre dann..?“
„Inky, weil du tätowiert bist und sie sich scheinbar bewegen“, sagte das rothaarige Mädchen und zog eine Schnute. Der Junge blinzelte etwas perplex, dann fing er an laut zu lachen. Im Bus war es augenblicklich still und es schien, als würden die Blicke der anderen die Sitzreihe von Emma und dem Jungen durchbohren. Einige Mädchen fingen an zu tuscheln. Die Jungen weiter hinten konzentrierten sich nach einer Weile auch wieder auf ihre Rauferei.
„Inky?! Okay... Ich muss gestehen, dass dieser Name echt die Härte ist!“, lachte der Junge weiter und kringelte sich fast auf seinem Sitz. Emma rutschte indessen etwas tiefer in ihren Sitz, den Blicken der Mädchen ausweichend. Konnte der nicht mal etwas leiser lachen?
Als Emma ihre neue Bekanntschaft jedoch so neben sich auf dem Sitz betrachtete, musste sie doch ein wenig grinsen. Irgendwie hatte der Typ ein fröhliches Gemüt.
Nach und nach beruhigte er sich doch und sah dann mit kleinen Tränen in den Augen zu Emma. Er wischte sich die Tränen weg und gluckste noch ein wenig, dann atmete er tief durch.
„Du bist zum Piepen. Echt. Aber okay, mit Inky könnte ich nicht Leben und schon gar nicht mit der Tatsache, dass du meinst, dass sich meine Tattoos bewegen. Mein Name ist Jonathan, aber nenn' mich Jona“, sagte er gelassen und strich sich den Pony aus den Augen. Er ließ sich nicht anmerken, dass er alarmiert war. Sie sah, dass sich seine Tattoos bewegten? Das konnte doch gar nicht sein! „Und du bist..?“, fragte er dann gelassen.
„Emma“, sagte sie und lächelte zaghaft.
„Emma... Hm... Auch nicht schlecht“, sagte Jona grübelnd und zwinkerte ihr zu.
Das Mädchen setzte sich wieder aufrecht hin.
„Danke“, sagte sie ruhig und zupfte an ihrem T-Shirt herum. Der Junge guckte zum Fenster, sah jedoch nicht hinaus, sondern betrachtete Emmas Reflexion in diesem. Ihre roten Haare glänzten bei dem einstrahlenden Sonnenlicht. Ihre Schuhe schienen verwarzt, ein paar ausgelaufene Chucks in schwarz. Unter dem langen, hellen T-Shirt guckte ein Minirock hervor. Nachdenklich lehnte Jona den Kopf nach hinten und sah zur Decke des Busses. „Was treibst du so?“, fragte er dann nach einer Weile und schielte zu Emma rüber, die gerade ihr Handy aus der Tasche gezogen und lautlos gemacht hatte.
„Ich? Ach, nichts besonderes. Wir sind vor ein paar Tagen hierher gezogen. Also meine Mutter und ich. Seither waren wir mit dem Einrichten des Hauses beschäftigt und ich hatte noch nicht so wirklich Zeit, um mich mal umzusehen“, sagte Emma und blickte zu Jona rüber, der gerade mit seiner Zigarette zwischen den Fingern spielte.
„Hm, okay. Klingt ja so, als bräuchtest du wen, der dir alles hier zeigt“, murmelte Jona und hob den Kopf ein wenig. „Bist du aufgeregt? Die schöne, neue Welt entdecken? Ich kann dir sagen, wenn du diese Ecke nicht gewöhnt bist, dann wird es ein relativer Schock werden.“
Emma zuckte mit einer Schulter. „Mir ist es nur recht. Und zu dem Schock: Den hatte ich schon verdaut, als ich heute das Haus verlassen habe.“ Kurz kramte sie in ihrer Umhängetasche und holte ihren MP3-Player heraus, sowie die Kopfhörer. „Wie lange fahren wir noch?“, fragte sie nach einer Weile und legte sich die Kopfhörer mit dem Bügel in den Nacken. Den MP3-Player steckte sie sich durch den Kragen ihres T-Shirts, ließ ihn durchfallen und steckte ihn dann in die Tasche des Rocks.
Jona schob sich die Zigarette wieder hinter eines seiner Ohren und zeigte nach draußen. „Wir sind gleich da“, murmelte er und wischte sich über die feuchte Stirn.
Emma blickte zum Fenster und sah das große Gebäude. Eine helle Fassade, eine große Uhr am höchsten Punkt des Gebäudes, ein Gehweg, der zu den Treffen des Haupteingangs führte und an beiden Seiten Grünfläche, Bänke mit Tischen sowie ein Fahnenmast.
Gerade, als Emma aufstehen wollte, legte der Busfahrer eine scharfe Bremsung ein. Der Rotschopf fiel wieder zurück in ihren Sitz und grummelte. „Verdammt nochmal! Selbst der Busfahrer in Nebraska ist besser gefahren, als Sie es tun!“, schrie das Mädchen aufgebracht und der ganze Bus war wieder still.
„Zügel deine Zunge, junges Fräulein“, knurrte der Busfahrer und öffnete die Türen. Jona zog eine Schnute und hob eine Augenbraue. „Der Typ hat bestimmt wieder seine Tage, also mach dir keinen Kopf.“
Emma schnaubte verächtlich, stand erneut auf und positionierte ihre Umhängetasche. Langsam verließ sie den Schulbus und sah sich draußen um. Viele Schüler kamen mit dem eigenen Auto oder wurden gebracht. Der Rotschopf hob eine Augenbraue. Jona verließ ebenfalls den Bus und sah neben sich zu der Neuen. „...und du bist doch geschockt“, gluckste er, dann entzündete er seine Zigarette, die er vom Ohr weggeholt und sich in den Mundwinkel geschoben hatte.
„Mir fällt dazu nicht wirklich etwas ein“, murmelte das Mädchen.
„Bonzenkinder? Verwöhnte, reiche Idioten?“
„Nein. Ich kann mir doch jetzt nicht schon ein Urteil erlauben.“
Jona rollte mit den Augen. „Ich gebe dir Zeit bis maximal zur Mittagspause.“
„Fein. Wenn du meinst.“
„Oh ja, das tue ich.“
„Schön!“
„Gut!“, gab Jona von sich und nahm einen Zug von seiner Zigarette.
„...Musst du immer das letzte Wort haben?“, fragte Emma dann und verschränkte die Arme. Bis jetzt hatte sie sich noch kein Stück weiter bewegt. Schüler gingen an den beiden vorbei und achteten nur selten auf sie. Alle wollten hoch zu ihren Klassen, oder erst zu ihren Freunden.
Jona hatte die Zigarette zur Hälfte aufgeraucht, warf diese dann vor seine Füße und trat sie aus. Emma beobachtete sein Tun mit gehobener Augenbraue. Was für eine Geldverschwendung!
„Ja. So, Kleine. Einmal tief durchatmen und dann geht es los. Und keine Sorge – Ich werde dir schon zur Seite stehen, so gut es geht“, nuschelte der Junge und richtete sein Cap. Emma atmete tief durch und nickte Jona nochmal zu, dann gingen sie gemeinsam los.
Das muss sie sein. Ich muss es Liam unbedingt mitteilen

, dachte Jona und sah dem Haupteingang schweigend entgegen.


Kapitel 2 – Der erste Tag und die Folgen



Jona hatte Emma noch ins Sekretariat gebracht und hatte ihr noch seine Handynummer gegeben, damit sie sich in der Mittagspause oder in der Pause, die sie auch dazwischen hatten, treffen konnten.Sie hatte ihm im Gegenzug auch ihre gegeben.
Im Sekretariat wartete sie auf den Direktor, der sich gleich für die neue Schülerin Zeit nahm und sie zu ihrer Klasse begleitete. Emma war nicht aufgeregt. Für ihren Geschmack war es mittlerweile mehr als normal. Die Schüler hatten sich schon in ihre Klassen begeben und nur noch sie und der Direktor gingen die langen Korridore entlang.
„Ich habe gesehen, dass du gute Noten hast, Emma. Ich habe mir deshalb erlaubt, dich in dem Kurs 'Philosophie' anzumelden. Weitere stehen dir zur Verfügung“, sagte er ruhig und reichte ihr einen Zettel, auf dem sie ankreuzen konnte, wofür sie sich interessierte. Emma sah beim Gehen auf den Zettel und nickte dann.
„Du kannst ihn dann ausgefüllt im Sekretariat reinreichen.“
Sie hielten vor einer Tür und der Direktor klopfte an, dann öffnete er die Tür, ging rein und Emma folgte. Der Direktor sah in die Runde.
„Guten Morgen. Ich bringe hier eine neue Schülerin in die Klasse. Na dann, ich habe noch andere neue Schüler, wir sehen uns.“ Mit diesen Worten verließ er auch gleich wieder den Raum und Emma stand da wie ein Fragezeichen. Alle blickten zu ihr und warteten. Der Lehrer der Klasse reichte ihr die Hand.
„Du bist Emma, richtig?“
„Ja“, sagte sie ruhig und schüttelte seine Hand.
„Stell dich doch einmal vor, bitte.“
Emma drehte sich zur Klasse und nickte allen zu.
„Hey, ich bin Emma. Bin mit meiner Mutter hierher gezogen. Also in den Sommerferien. Ich bin 16 Jahre alt und... ach, fragt mich einfach“, sagte sie grinsend und die Schüler der Klasse beäugten sie interessiert – Alle, bis auf einen. Dieser hatte eine Kapuze auf, das Gesicht war zur Tischplatte gerichtet und er schien zu zeichnen.
„Also dann! Wo ist denn noch ein Platz frei“, nuschelte der Lehrer und im nächsten Moment schoss die Hand eines recht ausgefallen gekleideten Mädchens hoch. Nervös und aufgeregt winkte sie und sagte hastig: „Hier!!! Hier, hier!“
„Gut. Emma, setze dich zu Yuka. Ich bin übrigens Mr Truman.“
Emma nickte zu dem Lehrer, bekam von diesem noch ein Buch und ging dann langsam zu dem freien Platz zwischen Yuka und dem beschäftigten Jungen, um sich zu setzen.
„Heeey! Willkommen an unserer Schule! Ich bin Yuka“, sagte das Mädchen. Genau wie Jona hatte sie Tattoos, doch Emma kümmerte sich nicht darum.
Emma lächelte leicht und packte ihre Tasche neben den Platz. Langsam setzte sich der Rotschopf und kassierte dabei einen Seitenblick des Jungen, der am Zeichnen war, kümmerte sich jedoch nicht weiter darum.
„Freut mich, dich kennen zu lernen, Yuka“, sagte Emma leise und wandte dann den Blick zur Tafel, an die der Lehrer gerade etwas schrieb.

Nach dem ersten Unterricht wurde der Raum gewechselt und Emma sah auf ihren Zettel.
„Biologie bei Mrs Krast“, murmelte der Junge, während er seine Sachen packte. Noch immer hatte er die Kapuze auf, die sein Gesicht etwas verdeckte.
„Danke, ja. Ich seh es gerade auch“, sagte Emma. Yuka zupfte an dem T-Shirt der Neuen.
„Lass uns zusammen hingehen!“ Euphorisch packte sie schnell ihre Sachen und wartete auf Emma. Diese packte in aller Ruhe ein und sah dann dem Jungen nach, der eben noch neben ihr saß und die Klasse verließ.
„Wer ist er?“, fragte Emma Yuka.
Diese neigte den Kopf leicht und zog eine kleine Schnute.
„Das ist Ryan. Er redet nicht viel, gibt sich auch wenig mit den Leuten aus der Klasse ab. Er hat seine Leute in anderen Klassen. Wunder dich nicht, er ist ein wenig komisch. Habe gehört, dass in seiner Vergangenheit Vieles schief gelaufen ist. Und er ist echt schräg. Gib dich besser nicht mit ihm ab. Ich hab gehört, dass er ziemlich gefährlich ist und einiges auf dem Kerbholz hat.“
Emma seufzte und nickte dann leicht, jedoch kam er ihr nicht wirklich gefährlich vor. Gemeinsam machte sie sich dann mit Yuka auf den Weg zum nächsten Raum und verwarf den Gedanken an Ryan wieder.

Während des Weges fielen ihr immer wieder einige Jugendliche auf, die entweder kurz vor einem Ohnmachtsanfall waren, oder schon weggetragen wurden. Es lag an der Hitze. Die Klimaanlage der Schule funktionierte auch nicht. Auch Emma merkte, wie schlaff sie sich von der Hitze eigentlich fühlte.
„Gibt es hier irgendwo ein Wasserspender?“, fragte sie nach einer Weile Yuka, die gerade eine SMS tippte. Die Asiatin hob den Kopf und zeigte mit dem Finger auf einen weiter entfernten Wasserspender. Kaum wollte Emma zu diesem gehen, klingelte es und eine Durchsage ertönte.
„Liebe Schüler! Aufgrund eines Schadens der Klimaanlage – und diversen Ohnmachtsanfällen einiger Schüler – fällt der Unterricht für heute aus. Eure Eltern wurden benachrichtigt. Wir teilen euch via Schüler-Intranet mit, wenn der Schaden behoben und ihr wieder zur Schule kommen könnt. Die Reparatur kann einige Tage in Anspruch nehmen. Ich wünsche euch einen schönen Tag“, sagte der Direktor und mit einem weiteren Klingeln endete die Durchsage. Yuka hüpfte fröhlich in die Luft, schrie vor Freude und sah zu Emma, die eine Grimasse zog. Die Tatsache, dass die Schule nun schon wieder zu ende sei hielt die Neue nicht davon ab, etwas zu trinken. Kaum war sie am Wasserspender und wollte sich über den kühlen Wasserstrahl beugen, bemerkte sie jemanden neben sich. Ryan. Er hatte scheinbar den gleichen Gedanken gehabt, den sie hatte. Emma erhob sich und ließ dem Jungen den Vortritt.
„Nein. Du zuerst, weil du auch zuerst hier warst“, sagte Ryan und nickte zu dem Wasserspender. Emma drehte den Harn auf und trank etwas, dann erhob sie sich nach einer Weile und wischte sich über ihren Mund. Sie sah sich um und erblickte Yuka, die in ihrer Nähe wild gestikulierend telefonierte und dabei über das ganze Gesicht strahlte.
„Emma?“, fragte Ryan dann nach einer Weile. Seine Stimme war ruhig und weich.
„Hm?“
„Der Schein trügt. Vergiss das nicht und pass auf dich auf“, sagte der Junge und hob den Kopf ein bisschen, um Emma so auf den verdeckten Teil des Gesichtes eine freie Sicht zu geben. Emma blickte in die Augen des anderen, wollte gerade etwas sagen, doch da wandte er sich ab und verließ den Gang, um zu seinem Schulbus zu kommen. Ratlos stand der Rotschopf da, hob die Augenbraue und blickte verwirrt drein. Langsam schüttelte sie den Kopf, holte ihr Handy raus und sah, dass sie eine Nachricht hatte.
„Ey, Emma! Komm zum Bus, der Typ will gleich los. Ich halte dir auch einen Platz frei.
Jona“


Seufzend sah sie zum Ausgang und blickte dann zu Yuka, die noch immer telefonierte. „Hey, Yuka. Wir sehen uns. Mein Bus fährt gleich“, sagte Emma hastig, schulterte ihre Tasche und winkte Yuka noch einmal zu und begab sich dann zum Bus. Schnell stieg sie ein und fand Jona genau auf dem gleichen Platz vor, auf dem er schon vorhin gesessen hatte.
„Und? Hat dir Schule auch so viel Spaß gemacht wie mir?“, fragte er schmunzelnd und blickte dabei aus dem Fenster.
„Es war.. komisch. Vor allem eben, als ich etwas trinken wollte. Dieser Junge aus meiner Klasse, Ryan, er hat zu mir so etwas Komisches gesagt“, nuschelte Emma und lehnte sich zurück.
„Ryan, hm? Ja, er ist schon ein wenig strange geworden...“
„Du kennst ihn?“
„Ja... er war mal mein bester Freund. Dann war er nach einem äußerst merkwürdigen Vorfall für wenige Zeit verschwunden und kam nicht in die Schule. Und nun ist er seit dem Frühling wieder da.“
Emma nickte und hörte Jona zu.
„Und seid ihr noch befreundet?“, fragte Emma dann nach einer kurzen Pause nach, doch Jona schüttelte den Kopf. „Nein. Er und ich haben mittlerweile verschiedene Freundeskreise.“ Kurz verhärteten sich die Gesichtszüge des Jungen und er strich sich wieder seinen Pony beiseite. „Er war beliebt. Wir waren in einer Gruppe. Wir nannten uns die „Shadows“. Wir haben so viel Mist gebaut und Spaß gehabt, gefeiert und nichts ausgelassen. Und dann... nichts. Als er wieder in der Schule auftauchte, hatte er sich verändert. Ich weiß noch, wie er an uns vorbeiging und nichts sagte. Ich weiß bis heute nicht den Grund, warum er jetzt so ist wie er ist. Ich meine... wir haben ihm doch gar nichts getan!“
Emma hörte ihm weiter zu, während der Busfahrer wie ein Beschränkter fuhr.Sie rutschte auf ihrem Sitz tiefer und sah zu Jona hoch. Dieser sah zu ihr und überlegte.
„Aber vielleicht hat er seine Gründe. Vielleicht... ist er zu einer anderen Religion konvertiert und darf deswegen nichts mehr zu tun haben. Oder er... ist arrogant geworden. Oder aber... ach keine Ahnung. Vielleicht beruhigt er sich ja wieder“, sagte das Mädchen und strich sich die Haare nach hinten. Jona schüttelte den Kopf. „Schon relativ lustige Gedanken, die du da hast, aber nein. Nein, das denke ich eher weniger“, murmelte Jona und kaute auf seinem Piercing.
„Und, was geht bei dir heute so? Jetzt, wo wir wieder frei haben kann man ja was starten“, sagte er dann, um das Thema schnell zu wechseln. Emma hatte das auch gemerkt und es war wohl auch besser so. „Ich weiß nicht. Vielleicht werde ich mal heute ein bisschen die Gegend erkunden.“
„Komm doch heute Abend mit! Wir gehen feiern. Also meine Freunde und ich.“
„Hört sich gut an. Ich spreche es ab und melde mich dann bei dir.“
Jona nickte und grinste schief.
Wenn sie wüsste

, dachte er bei sich und schmunzelte vor sich hin.

Es dauerte nicht lange und der Bus hielt in der Straße, in der Emma lebte. Kurz verabschiedete sie sich von Jona und stieg dann aus, um zu ihrem Haus zu gehen. Dort angekommen kramte sie die Schlüssel aus ihrer Tasche und ging langsam zur Tür. In der Auffahrt stand ein glänzender, schwarzer Wagen. Emma beäugte diesen und schloss die Tür auf, dann ging sie langsam rein.
„Hallo?“
Nichts. Sie war alleine – Alleine in dem großen Haus.

Und es kam ihr total leer vor.

Kapitel 3 – Sidewalks



Nachdenklich saß sie in ihrem Zimmer. Es war noch früh – gerade 10 Uhr. Eigentlich könnte sie sich noch hinlegen, doch sie war zu wach. Langsam sah sich sich um und presste ihre Lippen aufeinander. Schnell kramte sie ihr Handy heraus und tippte die Nummer ihrer Mutter ein, um sie anzurufen. Ob sie sie fragen sollte? Ein Versuch wäre ja nicht schlecht.
Ihr Arm hob die Hand mit dem Handy an das linke Ohr des Mädchens, welches halb von den Haaren bedeckt war.
Es klingelte.
„Hallo?“, fragte eine weibliche Stimme am anderen Ende.
„Hey Mum, ich bin's.“
„Oh, Emma! Was ist los? Geht es dir nicht gut?“
„Doch“, sagte Emma ruhig, „ich habe Schulfrei. Die Klimaanlage der Schule ist kaputt und die Reparatur wird wohl ein paar Tage dauern. Sag mal...“
„Ach Schatz, das ist ja blöd! Dann konntest du doch niemanden kennen lernen!“
„Doch, ich habe jemanden kennen gelernt. Wir wollen heute Abend weggehen, ist das okay?“, fragte Emma dann und hatte im nächsten Moment ein ungutes Gefühl.
„Geh nur! Aber sei wieder rechtzeitig Zuhause. Ich muss jetzt auch weiterarbeiten. Jackson hat dir noch Geld hingelegt. Es ist in der Küche auf dem Esstisch.“
„Okay, danke. Bis dann“, sagte Emma und legte auf. Kurz streckte sie sich und ließ sich dann nach hinten auf das Bett fallen. Nachdenklich sah sie zur Decke hoch. Ob sie wirklich weggehen sollte? Irgendwie hatte sie nicht so große Lust. Also würde sie sich wohl erst in der letzten Sekunde bei Jona melden. Für einige Minuten schloss sie die Augen und lauschte. Nichts. Es war rein gar keine Bewegung in dem Haus. Nur ihr Herz bewegte sich und gab hörbare Laute von sich.
Emma öffnete wieder die Augen und setzte sich auf, sah sich um. Sie hatte Hunger! Gemächlich ging sie zur Treppe und setzte sich auf das einladende Geländer, welches sie dann runterrutschte. Unten angekommen hüpfte sie von diesem runter und ging weiter in die teure, neue und mit Edelstahl verzierte Küche. Missgünstig betrachtete sie den Kühlschrank, der auch noch einen Eisspender integriert hatte. Luxus – Ein großes Haus, ein riesiger Garten, ein Pool, eine kostspielige Einrichtung und ein teures Auto in der Auffahrt. Ihr gefiel das ganz und gar nicht!
Der Schein trügt. Vergiss das nicht und pass auf dich auf.


Immer wieder schossen ihr diese Worte durch den Kopf. Was meinte Ryan damit? Vielleicht, dass sie keinem vertrauen sollte?
Vorsichtig öffnete sie den Kühlschrank, sah rein und schloss ihn wieder. Irgendwie hatte sie doch keinen Hunger. Kurz sah sie zur Uhr, die an der Mikrowelle war, dann zu dem Geld auf dem Esstisch. Sollte sie es wirklich nehmen? Nachdenklich ging sie zu dem Tisch und besah sich die Scheine. Es war viel Geld, genug, um sich neu mit Kleidung einzudecken. Der Schrank würde platzen. Emma streckte die Hand nach dem Geld aus und zog das Bündel über die Platte zu sich. Etwas klackerte dabei verdächtig. Ein Briefumschlag lag anbei. Behände nahm sie das Couvert und öffnete es, holte den Zettel raus und las die Zeilen.

„Emma,
dies hier soll dir die Möglichkeit geben, dass du nicht an die öffentlichen Verkehrsmittel gebunden bist. Deine Mutter hatte erwähnt, dass du deinen Führerschein schon hast, also habe ich mir erlaubt, dir einen Wagen zu besorgen. Fahr ihn und habe Spaß. Sollte er dir nicht gefallen, dann lass es mich wissen und wir gucken uns zusammen nach einem Neuen um.

Lieben Gruß
Jackson“



Verwirrt blickte sie auf die Zeilen und schüttelte dann das Couvert, mit dem geöffneten Teil nach unten, aus. Ein Fahrzeugschein und ein Schlüssel fielen hörbar auf den Tisch. Emma betrachtete den Fahrzeugschein, dann seufzte sie und nahm sich das Geld. Es war schon nett und man merkte, wie sehr sich Jackson ins Zeug legte. Er sorgte sich scheinbar um ihr Wohlbefinden. Sie nahm die Sachen in die Hände, verließ die Küche und ging noch einmal hoch in ihr Zimmer. Dort angekommen, steckte sie das Geld ein, packte den Fahrzeugschein in ihre Geldbörse und machte einen Anhänger an den Schlüssel. Emma packte die Schulsachen aus ihrer Tasche und tat ihr Handy, ihren MP3-Player und ihr Geld rein. Dann sah sie sich noch einmal um, entdeckte ihre Sonnenbrille und setzte sie auf, verließ das Haus. Draußen hielt sie direkt vor dem Wagen und betrachtete ihn. Der Lack glänzte in der Sonne, kein Kratzer war zu sehen.
Emma holte den Schlüssel aus der Tasche und drückte einen Knopf. Sofort öffneten sich die Türen. Mit einem weiteren Knopf, den sie drückte, fuhr das Autodach zurück. Fassungslos sah sie dem Spektakel zu und hielt sich die Hand vor den Mund. Und das war jetzt wirklich ihr Wagen?
Die Innenausstattung war in einem cremefarbenen Ton gehalten. In den Türen waren große Boxen angebracht, das Autoradio bot Möglichkeit, einen USB-Stick, eine CD oder auch den MP3-Player anzuschließen. Gangschaltung, keine Automatik. Der ganze Wagen war äußerlich im Stil eines alten Straßenkreuzers aus den 50ern oder 60ern gehalten.
Emma war sprachlos.
Schnell packte sie ihre Tasche auf den Beifahrersitz und setzte sich ans Steuer. Das Lenkrad war ebenfalls sehr nostalgisch gehalten und passte zur Ausstattung.
Emma grinste leicht, atmete durch und holte ihren MP3-Player aus der Tasche, den sie an das Radio anschloss, startete den Wagen und schon ertönte von der Band „Story of the Year“ der Song „Razorblades“. Sie setzte zurück, bis sie auf der Straße war und fuhr los.

Es dauerte eine Weile, bis sie Downtown erreicht hatte, denn alles war so neu. Seitdem sie hierher gezogen sind, war sie noch kein einziges Mal richtig in dem Kern von Los Angeles.
Emma suchte sich einen günstigen Parkplatz und stieg nach dem Parken – was für sie ein wenig schwierig und ungewohnt war, da der Wagen doch ein recht großes Ausmaß hatte – aus. Sie nahm ihre Tasche und den MP3-Player, schloss den Wagen ab und ließ das Autodach wieder ausfahren. Grinsend atmete sie durch und richtete ihre Sonnenbrille, sah sich um. Auf den Gehwegen waren viele Menschen unterwegs. Schick gekleidet, mit diversen Taschen von berühmten Boutiquen in den Händen. Emma verließ den Parkplatz und reihte sich in die Masse auf dem Gehweg ein. Nach einer Weile hielt sie an einem Laden namens Planet Funk und betrat diesen. Sofort wurde sie begrüßt. Emma nahm die Sonnenbrille ab und lächelte.
In aller Ruhe sah sie sich um, fand dabei einige Teile und ging in die Anprobe. Nach einigen Minuten kam sie aus der Kabine und betrachtete sich in dem Spiegel. Ihr kritischer Blick galt dem Oberteil. Es saß nicht wirklich vorteilhaft, weswegen sie sich wieder umzog. Noch einmal kam sie aus der Kabine. Die Hose saß tief, das Oberteil legte den Bauch frei. Die verwarzten, offenen Chucks waren ein totaler Stilbruch. Emma schmunzelte und zog dann wieder ihre eigenen Klamotten an, bezahlte die von ihr als gut befundenen Sachen und verließ den Laden mit dem ersten Shoppingbag.
In aller Ruhe besorgte sie sich draußen einen Eiskaffee und ging schlürfend weiter. Kam es ihr nur so vor, oder waren die Gehwege und Straßen leerer als zuvor? Irgendwas war auf jeden Fall komisch. Langsam sah sich die Rothaarige um und stoppte dann gänzlich, als sie jemanden auf der anderen Seite der Straße entdeckte. Es war ein Junge, in ihrem Alter. Er hatte eine Kapuze auf dem Kopf, die Ärmel des Hoodies waren hochgezogen und legten seine Unterarme frei. Auch er schien Tattoos zu haben, aber keine solchen, wie Jona sie hatte. Die Mine des Jungen verzog sich nicht, die Augen waren auf Emma gerichtet und sichtbar. In seinem Blick lag etwas Unergründliches. Er schien sie zu beobachten, emotionslos und doch auf der Hut. Eine wuschelige Mähne lugte unter der Kapuze hervor. Ryan. Was tat er hier? Und warum sah er sie so komisch an?
Emma hob ganz langsam die Hand. Der Junge nickte. Die dunklen Augen blickten auf die Tasche, in der sich ihre neuen Kleider befanden.
Das Mädchen hatte keine Angst vor dem Jungen und seinen Blicken. Entweder kam er zu ihr, oder sie ging weiter. Ryan zog die Schultern an, schob seine Hände in die Hosentaschen und betrachtete weiterhin das Mädchen auf der anderen Straßenseite. Emma holte ihre Sonnenbrille raus und setzte diese auf, hob den Kopf und wollte ihren neuen Klassenkameraden gerade zu sich winken, aber er war verschwunden.
Perplex sah sich Emma um. Eben noch war es hier ruhiger und kaum Menschen zogen an ihr vorbei, doch jetzt waren die Gehwege wieder voll, Autos säumten die Straße.
Was zur...

, dachte Emma und zog die Augenbrauen zusammen. Noch einmal sah sich das Mädchen um, entdeckte ihn aber nicht und ging schnell weiter. Wieder hallte seine Stimme in ihrem Kopf: „Der Schein trügt. Vergiss das nicht und pass auf dich auf.“

Es war, als hätte er gerade neben ihr gestanden und ihr diese Worte noch einmal ins Ohr geflüstert. Emma sah sich noch einmal um.
Es war mehr als komisch! Hatte sie sich das gerade alles eingebildet? Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Er war unangenehm und Emma schüttelte sich.

Hot Topic – so hieß der nächste Laden, in den sie ging. Dieser war geschmackstechnisch schon wesentlich besser, als der andere, in dem sie zuvor noch war. Fröhlich wühlte sie sich durch die Gänge und fand einige Sachen, die ihr gefielen. Sie hatte viel von dem Laden damals geordert und wusste deswegen, dass sie hier nicht wirklich etwas anprobieren musste. Die Kleidung würde auch so passen.
Letztendlich ließ die Schülerin ganze 300 Dollar in dem Laden und hatte nun umso mehr Taschen zu schleppen. Noch einmal ging sie in einen weiteren Laden, kaufte sich neue Schuhe und machte sich dann auf den Weg zu ihrem Auto. Schnell öffnete sie diesen und verstaute die ganzen Taschen in dem Kofferraum. Als das Dach wieder nach hinten fuhr, entdeckte sie ihre Windschutzscheibe.

„Du bist nicht allein.“



Emma zuckte zusammen und zog die Schultern an, dann sah sie sich um. Kaum hatte sie ihren Blick wieder auf die Windschutzscheibe gerichtet, war der Satz auch schon wieder verschwunden. Schnell setzte sie sich in den Wagen und fuhr wieder zurück nach Hause.
Das war zu strange!

Kapitel 4 – Der Besuch und der Abend



Es dauerte, bis sie wieder Zuhause war. Immer wieder hatte sich Emma verfahren, dachte über die komischen Ereignisse nach und über den Jungen. Alle Gedanken kreisten nur darum.
Sie parkte den Wagen auf der einladenden Auffahrt und sah, dass sie scheinbar dieses Mal nicht alleine war. Sie stieg aus, holte die Sachen aus dem Kofferraum und schloss den Wagen ab. Zwei Stopschilder und drei rote Ampeln hatte sie übersehen. Beinahe hätte sie auch noch einen Unfall gehabt, konnte jedoch, trotz der Konzentrationsschwäche all dem ausweichen und schnell reagieren. Schnell ging sie zur Tür und schloss auf, ging rein.
„Bin wieder Zuhause“, rief die Jugendliche und sah sich um.
„Emma! Komm her, du hast Besuch!“, rief eine männliche Stimme aus dem Wohnzimmer. Emma folgte dem Ruf, stellte zuvor noch ihre Taschen im Flur ab und ging dann zu Jackson. Als sie durch dir Tür kam erstarrte sie.
„Hey“, sagte Jackson und sah sie an. Emma war bei kreidebleich. Da saß ER!
„Was...“, begann sie, brach aber wieder ab.
„Ryan hat geklingelt und meinte, dass ihr verabredet seid“, sagte Jackson und zog etwas ratlos die Augenbrauen zusammen. „Em? Ist alles okay?“
„Ich... ich... Ja, schon. Danke für alles, Jackson.“
Sie riss sich zusammen.
„Gefällt er dir?“, frage Jackson und lächelte sanft.
„Was.. wer?!“, fragte Emma verwirrt.
„Der Wagen.“
„Ach... Der Wagen, haha, ja“, sagte sie angestrengt und ließ den Blick nicht von ihrem neuen Klassenkameraden.
Ryan saß auf dem Sofa und Jackson im Sessel. Der Jüngere der beiden sah Emma eindringlich an, hatte die Ellenbogen auf den Oberschenkeln abgestützt und den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt.
„Komm mit, Ryan“, sagte Emma dann und wandte sich langsam ab, ging in den Flur und nahm ihre Sachen. Ryan folgte still und ging hinter Emma her, bis sie oben angekommen waren. Komischerweise sah er sich nicht in ihrem Zimmer um, sondern setzte sich gleich auf ihren Schreibtischstuhl. Emma stellte die Sachen ab, schloss die Tür und drehte sich zu dem Jungen um. Dieser nahm seufzend seine Kapuze ab und sah zu Emma. „Wir müssen reden“, sagte er. Seine Stimme war sanft und ernst zugleich.
„Ja, das müssen wir!“, sagte Emma biestig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wer bist du, dass du mir auflauerst? Wer bist du, dass du mir etwas sagst, was mir den ganzen Tag nun schon durch den Kopf geht? Und wer bist du, dass du mir eine Nachricht auf die Windschutzscheibe schreibst? Und dann war die Nachricht auf einmal weg! Ryan! Was soll die ganze Kacke?! Klär mich auf, verdammt!“
Der Angesprochene blieb ruhig sitzen, ließ sich von ihrem kleinen Ausbruch gar nicht wirklich beeindrucken.
„Lass dich nicht auf ihn ein“, sagte er dann ruhig und blickte mit seinen karamellfarbenen Augen zu ihr hoch.
„Auf wen?“
„Das weißt du ganz genau“, sagte er ruhig und beugte sich vor.
„Du meinst Jona? Ihr solltet mal miteinander reden. Er hat mir alles erzählt.“
Ryan schüttelte den Kopf. „Das stimmt nicht, dass er dir ALLES erzählt hat.Und diese ganze Kacke, die ich hier abziehe, dient dazu, dass du sicher vor denen bist. Ich sagte doch, dass der Schein trügt.“
„Fein! Warum lässt du mich das nicht selber herausfinden?“
„Emma...ich..-“
„Nix Emma!“, sagte sie wütend und stapfte an Ryan vorbei zum Fenster. „Kaum bin ich hier, da gibt es schon Stress! Ich hab da kein Bock zu, okay?“
„Hör mir zu, Emma. Ich pass auf dich auf, weil ich meine Gründe habe. Ich kenne dich und des...-“
„DU?! Und mich kennen? Ha!“, schritt sie sofort ein und sah Ryan an, als sei dieser nun total verrückt. Ryan behielt weiterhin die Ruhe, was Emma umso mehr aus der Fassung brachte. „Geh! Sofort!“, sagte sie und zeigte zur Tür. „Lass mich in Ruhe!“
Ryan verzog schmerzerfüllt das Gesicht und presste die Lippen aufeinander.
„Gut, ich habe dich gewarnt. Und dennoch werde ich ein Auge auf dich haben. Geh heute Abend weg, mach es und du wirst schon sehen, was ich meine.“ Mit diesen Worten erhob sich Ryan und wandte sich zum Gehen.
„Willkommen in Los Angeles.“ Ryan setzte wieder seine Kapuze auf. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie ihn und sah, wie sich auf seinen Unterarmen etwas zu verändern schien. Er öffnete die Tür, verließ das Zimmer und kurze Zeit später war es still. Emma hatte noch nicht einmal die Haustür zufallen hören. Was war da eben mit seinen Unterarmen passiert?
Jackson kam kurze Zeit später hoch und klopfte an die Tür des Mädchens. „Emma? Ist alles in Ordnung?“
„Ja, bestens. Ich mach mich jetzt für heute Abend fertig, muss die Sachen noch auspacken“, murmelte sie und widmete sich den ganzen Taschen.
„Wo ist Ryan?“, fragte Jackson und öffnete die Tür. Emma war damit beschäftigt, sie ganzen Sachen einzuräumen und sich schon einmal einige Kleidungsstücke auf ihrem Bett zurecht zu legen. Irgendwas musste sie ja anziehen.
„Hat er sich nicht bei dir verabschiedet?“, fragte Emma bitter.
„Ach er wollte gehen? Ich habe ihn nicht die Treppe runterkommen hören. Na dann, bestimmt ist er ziemlich leise gewesen, um mich nicht zu stören. Netter Junge.“
„Mhh.“
„Na ja, ich lass dich mal in Ruhe weitermachen.“, sagte Jackson und schloss die Tür wieder.
Emma ging zu ihrer Anlage, schaltete sie ein und drehte die Musik ganz laut auf. Porcelain and the Tramps spielten gerade. Kurzzeitig blieb sie im Raum stehen und sah sich um, stemmte die Hände in die Seiten und dachte noch einmal nach, dann ging sie sich fertigmachen.
Nebenbei wählte sie eine Nummer.
„Heeeeey Sonnenschein!“
„Ich komme mit“, sagte sie monoton.
„Gut, ich hol dich gegen 20 Uhr ab.“
„Bakerstreet 125“, sagte Emma noch und legte dann auf.

Es klingelte an der Haustür.
Langsam ging ihre Mutter hin und öffnete. „Hallo, bist du derjenige, mit dem meine Tochter heute weggeht?“, fragte sie.
Jona grinste schief und nickte.
„Ja, hi. Mein Name ist Jonathan. Aber alle nennen mich Jona. Ist Emma denn schon fertig?“
„Freut mich dich kennen zu lernen, Jona. Komm doch rein, es kann bei ihr bestimmt noch etwas dauern. Möchtest du etwas trinken?“
Er schüttelte den Kopf und lächelte leicht.
„Wo ist sie denn?“
„Einmal die Treppe hoch und gleich die Tür geradezu.“, sagte die Mutter und Jona nickte. Langsam stieg der Jugendliche die Treppen hoch und klopfte an. „Emma?“
Emma war indessen dabei, sich umzuziehen. Als es klopfte, zuckte sie zusammen, bekam Panik und griff nach einem T-Shirt. Augenblicklich wirbelte sie herum, stolperte dabei über ihre Chucks und packte sich hin. Es schepperte unüberhörbar.
„Alles okay?“, fragte Jona vor der Tür.
„Aua! Eh.. Ja, mir geht es gut!“, rief Emma und raffte sich schnell auf, zog sich ihr Oberteil an. Schnell schlüpfte sie in ihre neuen Nikeschuhe und nahm ihre Tasche, in der schon alles Wichtige drin war. Dann öffnete sie die Tür und wollte gerade rausgehen, prallte jedoch in Jona, der kurz keuchte. „Holla! Ganz langsam, junge Dame“, sagte er grinsend und hielt sie an den Schultern fest. Emma sah zu ihm auf und zog die Augenbrauen zusammen. „Kajal?“, fragte sie.
„Ja, warum nicht? Ich find es gar nicht so übel und außerdem ist es jetzt auch nicht mehr so warm draußen“, antwortete Jona und zog eine Schnute. Emma nickte und ließ die neue Kette in dem Ausschnitt ihres langen Shirts verschwinden.
„Na dann, bist du fertig?“, fragte Jona und ließ Emma langsam los.
„Ja, wir können.“

Jona war mit seinem eigenen Wagen vorgefahren. Während der Fahrt hatte er ihr erzählt, dass er morgens meist keine Lust hatte, mit dem Wagen zur Schule zu fahren, trotz aller Bequemlichkeit. Emma sah aus dem offenen Fenster, ließ sich den Wind um die Nase wehen und atmete tief durch. Es tat mehr als gut!
Der Junge am Steuer beobachtete Emma aus dem Augenwinkel, schmunzelte und drehte die Musik lauter. Nickend zur Musik fuhr er weiter und passierte den Highway, erhöhte dabei das Tempo. Mehr und mehr entspannte sich Emma und ließ alle Gedanken, die sie sich über den heutigen Tag gemacht hatte, davonfliegen. Jona schmunzelte, und es war nicht mit der Freude verbunden, dass Emma mitkam. Er würde siegen, wenn sie einsteigen würde. Er würde Ryan besiegt haben.
Der besagte Junge folgte unauffällig, machte sich Sorgen. Ihr durfte nichts passieren! Und wenn, dann würde er dafür sorgen, dass sie wieder heil zurück nach Hause kam.
Nach einer Weile waren sie in Long Beach angekommen und Jona parkte den Wagen. Es war ein abgelegener Platz in der Gegend, direkt am Strand.
„Ist nicht mehr weit, komm“, sagte Jona und sah zu Emma, die nickte und ihm folgte. Während des Gehens drehte er sich eine Zigarette und steckte sie sich an.
„Du rauchst viel, oder?“, fragte Emma und hob eine Augenbraue.
„Ja, schon. Du siehst übrigens sehr gut aus“, sagte Jona und blickte zu ihr. Emma lächelte leicht und hob kurz eine Schulter. „Danke.“
„Ich will dich meinen Freunden vorstellen. Die werden dich mit Sicherheit mögen.“, sagte Jona gelassen und zog an seiner Zigarette.
Augenblicklich und je näher die beiden der Gruppe kamen, kroch in Emma ein komisches Gefühl hoch – Und es war kein positives Gefühl. Dennoch war sie der Meinung, dass sie sich die Leute ja erst einmal angucken könnte. Der einzige Nachteil war nur, dass sie auf Jona angewiesen war.
Als sie ankamen, sah Emma, dass der Strand weiter abschüssig lag. Ein größeres Feuer war entzündet worden, einige Menschen saßen oder tanzten dort, knutschten oder unterhielten sich. Augenblicklich wurde es jedoch still und alle unterbrachen ihr tun. Ihre Blicke wandten sich zu den Ankömmlingen. Emma betrachtete das Szenario kritisch. Warum hatten die Leute da, obwohl sie sich um das Lagerfeuer versammelt hatten, keine Schatten?
Ein Mädchen sprang auf und rannte auf die beiden zu. Beim näheren Hinsehen erkannte Emma, dass es sich um Yuka handelte.
„Emma!“, rief sie freudig und umarmte das Mädchen fest. Emma keuchte, lächelte und drückte ihre Klassenkameradin kurz. „Hey.“
„Jona! Oh wie toll, dass du sie mitgebracht hast!“, sagte Yuka euphorisch, als sie von Emma gelassen hatte. Jona zog einen Mundwinkel hoch, rauchte auf und sprach nicht.
Ja, und schon bald gehört sie zu uns

, dachte er.
Yuka hatte seine Gedanken gehört und kicherte leise. Sie nahm das neue Mädchen bei der Hand und führte sie nach unten. Jona folgte den beiden ruhig.
Emma sah sich um und sofort fiel ihr auf, dass es niemanden gab, der hier keine Tattoos hatte. Und alle schienen sich zu bewegen!
Als Yuka stoppte, prallte der Rotschopf direkt in die Asiatin.
Jona hielt bei einem Kumpel, begrüßte diesen und wandte sich zu den anderen. „Hey! Hört mal! Das hier ist Emma. Sie ist seit heute an meiner Schule. Lasst sie uns gebührend begrüßen!“
Jeder hob die Hand, grüßte und einige traten näher an das Mädchen heran. Sie beäugten das Mädchen neugierig, einige fassten ihre Haare an, strichen über ihre Haut an den Armen.
„Sie ist noch so frisch“, sagte ein Mädchen und blickte in Emmas Augen. „Ja, total unberührt. Wie unschuldig!“, hauchte sie.
Ein anderer schüttelte den Kopf. „Dass sie erst jetzt zu uns stößt, unfassbar.“
„STOP! Haltet euch zurück!“, ertönte eine männliche Stimme. Ein Junge mit trainiertem Oberkörper und schwarzen Haaren trat an sie heran. Jona hatte sich ein wenig abseits gestellt und beobachtete das Ganze neugierig.
Emma sah zu dem Jungen, der die anderen dazu angehalten hatte, ihre komischen Kommentare zu unterlassen. Er sah auf sie herab, abschätzend und kritisch. „Emma, hm?“, dann wandte er sich an Jona: „Und du meinst, dass sie es wert ist?“
„Auf jeden Fall. Spürst du es denn nicht?“, fragte der Angesprochene und hatte sich schon wieder eine neue Zigarette gedreht, von der jedoch ein komischer Geruch ausging. Da war noch etwas anderes außer Tabak bei.
Emma schluckte. Wo war sie gelandet?! Langsam ging sie einige Schritte zurück. Natürlich registrierten die dort Anwesenden das und sahen alle auf das Mädchen. Emma verhakte sich dabei mit ihren Füßen und fiel auf ihren Hintern. Der weiche Sand dämpfte den Fall. Emma wollte gerade aufstehen, sah zur Seite und entdeckte einige komische Sachen auf einer ausgebreiteten Decke. Daneben lag etwas. Es schien die Silhouette eines leblosen Körpers zu sein. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und stand schnell wieder auf. Dann wandte sie sich an Jona. „Was soll das Ganze?! Wer seid ihr?! Und was habt ihr mit mir vor? Sprich!“
Jona rollte mit den Augen.
„Ich sagte doch: Wir sind die Shadows. Und ich dachte, dass wir dich aufnehmen. Nun sei doch nicht so panisch, ist doch alles cool“, murmelte Jona und zog an seiner komischen Zigarette.
„Du verschweigst mir etwas. Genauso wie Ryan!“
Augenblicklich wurde Jona sauer und alle hielten die Luft an. Wie auch zuvor bei Ryan veränderten sich die Tattoos auf seinen Armen. „Du und Ryan habt Kontakt?!“, knurrte Jona und schritt auf Emma zu.
„Ja, er hat mich gewarnt.“, sagte sie leise und tat einen Schritt zurück. Jona lachte bedrohlich und entblößte dabei seine perfekten, weißen Zähne, die Eckzähne waren spitzer und länger als bei normalen Zähnen. Emma keuchte erschrocken. „Was zur...-“
„Du wirst eine von uns! Hast du verstanden?! Du gehörst in unseren Kreis!“, sagte er sogleich und packte Emma an den Schultern, hielt sie fest. Emma verkrampfte sich. Sich hatte Angst und kniff die Augen zu. Jona knurrte leise und beugte sich langsam zu ihr runter.
Im nächsten Moment ging alles schnell. Irgendjemand riss ihn weg und Emma fiel hin. Andere fauchten und knurrten. Emma verzog das Gesicht. Durch den harten Fall hatte sie einige Schnitte an den Armen abbekommen, die nur ganz leicht waren. Langsam öffnete sie die Augen. Es war auf einmal so hell! Emma hielt sich die Hand vor die Augen und kniff sie leicht zusammen.
„Lasst sie in Ruhe!“, schrie eine vertraute Stimme und die Shadows wichen. Dann wurde sie aufgehoben und weggetragen. Alles ging zu schnell. Noch immer war es gleißend hell. Emma kniff wieder die Augen zu und atmete hastig. „Was... Was war...-“
„Schht! Ich hab dich, alles ist gut.“, hauchte die sanfte Stimme.
Nach einer Weile schwand diese gleißende Helligkeit und Emma wurde auf einer Bank abgesetzt. Vorsichtig blinzelte Emma und erblickte Ryan.
„Ryan...“, murmelte sie.
Der Junge nahm die Kapuze ab und setzte sich neben sie auf die Bank. Er atmete tief durch und lehnte sich zurück. „Ich hatte dich gewarnt, Emma.“
„Es tut mir leid“, murmelte sie. Er sah zu ihr, seufzte leise.
„Hey, ist in Ordnung. Du bist ja noch heil – zumindest fast“, wisperte er und sah zu den kleinen Wunden an ihren Armen. Emma nickte leicht und sah, dass auch Ryan verletzt war. Er blutete aus der Nase, und ein Schnitt war an seinem T-Shirt zu erkennen. „Oh nein!“, sagte sie hastig und kramte in ihrer Tasche, holte Taschentücher raus.
„Lass“, sagte Ryan ruhig und atmete tief durch. „Das geht gleich wieder.“
„Nein!“, sagte sie nachdrücklich und nahm ein Taschentuch, entfaltete es und hielt es ihm unter die Nase. Ryan schielte umständlich zu dem Taschentuch und zog eine Schnute, dann nahm er es ihr ab und warf es in den Mülleimer neben der Bank. Es hatte schon aufgehört zu bluten.
„Alles okay bei dir, Emma?“, fragte er leise und sah sie an. Sie schüttelte den Kopf. Langsam ließ sie alles Revue passieren und presste die Lippen aufeinander, Tränen schossen in ihre Augen und kullerten nach und nach ihre Wangen runter.
„Ich... ich wollte doch nur feiern! Und die hatten keine Schatten.. aber sie hatten Tattoos und... und Jona hatte lange Zähne... ich... ich... hab Angst!“, schluchzte sie und hielt ihre dreckigen Hände vor ihr Gesicht.
„Hey.. hey... es ist alles okay jetzt. Ich bin da. Das wird nicht noch einmal passieren“, sagte Ryan leise und legte vorsichtig einen Arm um das Mädchen. Er wollte ihr ihre Verwirrung und die Schmerzen nehmen, doch es ging nicht. „Emma, beruhig dich. Ich werde es dir erklären, okay? Aber erst einmal bringe ich dich von hier weg.“
„Du bist mit dem.. dem Auto hier?“, fragte sie stockend und Ryan schüttelte den Kopf. Seine wuscheligen Haare bewegten sich dabei widerspenstig.
„Schließ die Augen.“
„Aber...-“
„Tu es. Es ist alles okay.“, sagte Ryan ruhig und stand auf. Langsam hob er sie hoch und hielt sie fest. Emma schloss die Augen und hielt sich an Ryan fest, als würde sie gleich versinken.
Wieder wurde es hell um sie herum. Es war, als würde ihr der Wind um die Ohren pfeifen, dann normalisierte sich alles wieder.

Kapitel 5 – Die Wahrheit



Emma hatte noch immer die Augen zugekniffen und wagte es nicht, sie auch nur einmal zu öffnen.
„Du kannst die Augen jetzt wieder öffnen, Emma“, hauchte Ryan und sah zu ihr runter.
Langsam öffnete Emma die Augen und sah sich um. Sie befanden sich tatsächlich in ihrer Straße. Ryan setzte sie ab und sah zu ihr runter. Ihre Wangen waren noch immer feucht. Vorsichtig strich er über diese und trocknete die Spuren, die die Tränen hinterlassen haben. „Lass uns reingehen.“
Emma nickte und ging voran. Ryan folgte ihr langsam und wartete an der Tür, bis Emma aufgeschlossen hatte, dann ging sie mit ihm rein und schloss die Tür hinter sich. Ryan folgte dem Mädchen nach oben und schloss die Tür ihres Zimmers leise. Dann setzte er sich in den Schreibtischstuhl und Emma ließ sich auf ihr Bett sinken.
Sprachlos sah das Mädchen zu dem Jungen und wartete. Dieser atmete tief durch.
„Das waren die Shadows. Sie haben keine Schatten, wie dir aufgefallen ist. Und ja, sie haben Zähne wie Vampire. Der Grund ist – Sie sind fast welche.“, begann er und sah sich in dem Raum um, dann stand er auf und trat an das Fenster. „Sie waren mal Menschen. Jetzt sind sie Schatten ihrer selbst.“
Ryan redete, als sei es selbstverständlich. Emma zog die Augenbrauen zusammen.
„Diese Tattoos, die sie haben... Sie bewegen sich. Genauso wie deine.“
„Du hast es also gesehen? Komisch, das kann eigentlich kein Mensch sehen“, murmelte Ryan und machte das große Außenrollo runter. Emma hob die Augenbrauen. „Was machst du da?“
„Sie werden dich nicht in Ruhe lassen. Sicherheitsvorkehrungen“, sagte Ryan und wandte sich um, blickte dann an sich herab. Da, wo der Schnitt in seinem Shirt war und eigentlich Blut austrat, war nichts mehr. „Immerhin“, schmunzelte er und sah dann zu Emma. „Du brauchst keine Angst haben, kleine Emma. Ich pass auf dich auf.“
„Aber... kann ich dir trauen? Wenn die so etwas wie Vampire sind, was bist du dann? Und was hat das mit den Tattoos auf sich?“, fragte Emma und zog die Schultern an.
„Es sind nicht nur „Tattoos“... Es sind Waffen. Sie verleihen dir Stärke. Du kannst mir trauen. Hätte ich dich sonst gerettet?“, fragte er dann und setzte sich neben sie auf das Bett. „Was ich bin.. hm.. Sagen wir so, ich bin fast das Gleiche wie sie, nur ich bin nicht auf ihrer Seite. Ich gehöre dem Licht an.“
Emma rückte weg. Er hatte also auch solche Zähne?!
Schnell griff sie nach einem Kissen und drückte es an sich.
„Hey.. nein! Hab keine Angst. Ich werde dir nichts tun.“ Er stand auf und stellte sich vor sie. Langsam wurde es etwas heller. Auch seine Haare färbten sich hell und seine Eckzähne veränderten sich nur minimal. Emma kniff die Augen leicht zusammen, sah dann prüfend auf den Boden und sah seinen Schatten. Dann wurde es wieder etwas dunkler im Raum und der Junge sah den Rotschopf weiter an. Auch die Haare des Jungen wurden wieder dunkel wuschelig. „Ich tu dir nichts.“
Emma stand langsam auf, trat näher an ihn heran und tippte leicht seine Wange mit einem Finger an. „Du bist warm“, nuschelte sie. Er nickte.
„Ich gehe besser“, murmelte er dann.
Emma sah ihn verstört an. „Nein!“
Er blickte zu ihr runter.
„Bitte bleib. Ich habe Angst, wenn ich alleine bin.“
Ryan atmete tief durch und betrachtete das Mädchen. „Und deine Eltern?“
„Ist egal. Die kommen nicht hier rein“, murmelte das Mädchen und sah zur Uhr. Es war noch früh, gerade zehn Uhr. „Hast du Hunger? Ich hab welchen“, sagte sie leicht grinsend und fuhr sich durch die Haare. Ryan zuckte mit einer Schulter. „Klar.“
Langsam verließen die beiden das Zimmer und gingen runter in die Küche. In der Küche saß ihre Mutter und las sich gerade ein Konzept durch.
„Nanu? Du bist schon zurück? Und wer ist das, wenn ich fragen darf?“, fragte ihre Mutter interessiert und nahm die Brille ab.
„Das ist Ryan, er übernachtet heute hier. Na ja, ist alles nicht so super gelaufen. Ryan hat mich abgeholt und jetzt wollten wir noch etwas essen.“, sagte Emma und zog eine Schnute. Ryan hatte sich in der Tür positioniert und blickte durch die Küche. Freundlich nickte er Emmas Mutter zu und lächelte leicht.
„Na schön. Aber nicht im selben Bett!“
„Mom!“
„Emma, du hast mich gehört.“
Seufzend machte Emma sich an dem Kühlschrank zu schaffen und holte einige Essenssachen raus, dann machten sich die beiden Jugendlichen etwas fertig und packten alles wieder zurück.
Ihre Mutter beobachtete alles mit spitzbübischem Blick.
„Und artig bleiben!“
„Mom!“, sagte Emma wieder, als Ryan und sie aus der Küche und hinauf in ihre Räumlichkeiten gingen. Ryan lachte leise und schloss die Tür hinter sich.
„Sie sorgt sich sehr, oder?“
Emma nickte nur, während sie in ihr Brot biss. Sie bemerkte, dass Ryan nur das Brot in der Hand hielt und nicht aß. „Ryan?“
„Hm?“
„Ist du das Brot überhaupt?“, fragte Emma und hob die Augenbrauen. Ryan lächelte peinlich berührt und schüttelte den Kopf: „Nein. Macht der Gewohnheit, würde ich es nennen. Ich ernähre mich schon seit einiger Zeit anders.“ Emma aß ihr Brot auf und nahm Ryan das Brot ab. „Die haben erzählt, dass du für einige Zeit gar nicht hier warst. Was ist passiert?“, fragte Emma nach einer Weile und aß das nächste Brot. Ryan setzte sich auf den Rand ihres Bettes und ließ sich mit dem Oberkörper nach hinten fallen. Seine Gesichtszüge verhärteten sich und sein Blick war zur Decke gerichtet. „Richtig, ich war verschwunden. Das Ding ist, dass diese Kraft schon immer in mir steckte. Es kommt urplötzlich im Jugendalter, dann verändert sich alles. Deine Kraft, deine Sinne, deine Ernährung, dein Verhalten, alles. Selbst deine Sichtweise auf gewisse Dinge. Dein Hunger. Man kann es nicht beschreiben. Und dann, nur, damit man sich selbst unter Kontrolle hat und all deine neuen Kräfte richtig nutzen zu können, bekommst du das hier...“, er zog die Ärmel seines Hoodies hoch, sodass seine Unterarme und die Schnörkel freigelegt wurden. Emma hörte aufmerksam zu, aß nebenbei ihr Brot und betrachtete die sich bewegenden Schnörkel auf seinen Armen. Sie aß auf und setzte sich dann zu ihm, betrachtete sie nachdenklich.
„Das sind nicht nur Tattoos. Diese Zeichen hier verleihen dir Kraft. Sie werden von einem Warlock für die jeweilige Person angefertigt. Es sind sehr individuelle Zeichen, das heißt, dass es keinen anderen gibt, der genau die gleichen Zeichen wie man selbst hat.“, fuhr Ryan fort und Emma nahm vorsichtig eine seiner Hände, um den Arm besser betrachten zu können. Sachte strich sie mit den Fingerspitzen über die Schnörkel, die im nächsten Moment leicht leuchteten. Emma zuckte zusammen und ließ augenblicklich ab. „Hab.. hab ich was Falsches gemacht?“, fragte sie hastig und zeigte auf seinen Arm. Ryan schmunzelte und blickte zu dem Rotschopf, schüttelte dann den Kopf. „Nein, alles okay, ich bin da nur etwas empfindlich. Hat ein wenig gekitzelt“, sagte er und Emma hob die Augenbrauen. „Also reagieren diese Zeichen auch auf Berührungen, ja?“
Ryan nickte. „Genau – Zumindest ist all das, was ich gerade erzählt habe, der Grund, weswegen ich für einige Zeit nicht in der Gegend war. Als ich dann zurückkam, sah ich Vieles anders. Jona hatte sich auch verändert, das hatte ich gespürt. Und seine Tattoos bewegten sich genauso wie meine, nur waren diese anders. Es mag zwar nicht danach aussehen, aber das, was er trägt sind Schriftzeilen. Sie sind nicht auf einer irdischen Sprache.“, fuhr er fort und Emma legte sich hin, drehte sich dabei auf die Seite und sah Ryan an. „Du kannst es lesen?“, fragte sie. Der Junge nickte.
„Du hast ja mitbekommen, dass Jonathan und ich früher noch sehr eng befreundet waren. Ich war in der gleichen Gruppe – bei den Shadows. Jonathan wusste von meinem Geheimnis, dass ich irgendwann eine Veränderung durchmachen würde. Er selbst war schon immer ein Mensch. Nun ist er nur noch ein Wirt.“
Emma zog die Augenbrauen zusammen. „Aber du sagtest doch, dass sie fast sowas wie Vampire sind und nun redest du davon, dass sie Wirte sind? Was soll das?“
„Nun, ich sagte ja, dass sie FAST sowas wie Vampire sind. Sie sind immer noch menschlich, nicht voll ausgebildet, ihrer eigenen Kräfte kaum bewusst. Der Einzige, der eine Ahnung von allem hat, ist Liam. Er hat diese ganze Sache in Gange gebracht.“
„Aber du bist auch noch menschlich.“
„Ja, klar. Ich meinte damit, dass sie auch eigentlich vollwertige Menschen sind und diese Gene nie in sich trugen. Sie wurden zu dem gemacht, was sie nun sind. Es hängt mit dem Okkultismus zusammen.“
Emma verstand langsam. „Es gibt Magie?“
„Natürlich gibt es sie!“, sagte Ryan, als wäre dies selbstverständlich. Er drehte sich auf die Seite und blickte Emma an. „Es gibt so Vieles, wovon die Menschheit nicht den blassesten Schimmer hat.“
„Aber was wollten sie mit mir?“
Einige Zeit schwieg Ryan, überlegte und sah dann zum Rollo. Kurz atmete er tief durch. „Du siehst, dass sich die Zeichen bewegen, hast du gesagt, ja?“
Emma nickte.
„Ist doch klar“, nuschelte Ryan dann. Emma zog die Augenbrauen zusammen. „Für mich ist gar nichts klar! Sag es mir!“
Ryan legte den Kopf ab und sah zu Emma, die ihren aufgestützt hatte. „Sie wollten dich aktivieren.“
„Was?! Aber ich bin ein Mensch, bei mir gibt es nichts zu aktivieren!“, sagte Emma hastig und setzte sich auf. Auch Ryan setzte sich auf und sah Emma an.
„Du trägst es in dir. Genau wie ich.“, sagte er langsam und mit sanfter Stimme. Er schien dabei nicht zu scherzen.
„Aber... aber...-“
„Emma, so lange du nicht zu ihnen gehst ist alles in Ordnung. Ich bin da, meine Freunde sind auch da. Wir werden dich zu nichts zwingen. Wir werden dich beschützen.“
Emma sah Ryan verängstigt an und zog die Schultern an.
„Ich bin nicht allein?“, fragte sie dann leise.
„Du bist nicht allein.“, bestätigte Ryan ihre Frage und legte einen Arm um sie, drückte sie sachte. Emma atmete durch und schloss die Augen.
„Wir halten zusammen, okay?“, sagte Ryan leise und Emma nickte leicht. „Aber, dann muss es doch wen in meiner Familie geben, der auch so ist, oder?“, fragte sie dann, doch Ryan schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe in meinem eigenen Stammbaum nachgeforscht, aber da ist nichts.“
Emma seufzte und ließ sich wieder schwungvoll nach hinten sinken.
„Es ist also nur eine Frage der Zeit?“
„Scheint so.“, murmelte Ryan und sah zur ihr runter. Er strich nachdenklich ihre verirrten Haarsträhnen aus ihrem Gesicht.
„Ich bin dann... so wie du?“, fragte Emma leise und sah zu Ryan hoch. Dieser verzog schmerzlich das Gesicht. „Ja.“
„Aber wenn die Vampire sind, was bist du dann?“
Ryan neigte den Kopf, hob die Augenbrauen abwartend und zog eine Schnute.
„Ha ha, okay, doofe Frage.“
„Hm. Sie sind keine vollwertigen Vampire. Ich schon.“
„Werde ich mein Zuhause verlassen müssen?“, fragte Emma leise und gähnte. Ryan schüttelte den Kopf. „Nein, wir werden einen Weg finden, um dich nicht auffliegen zu lassen.“
„Das ist gut...“, nuschelte Emma und schloss die Augen. Sie merkte, wie sie langsam immer müder wurde. „Ich... bin nicht... allein...“ Nach diesen Worten dauerte es nicht lange und sie war eingeschlafen. Ryan saß noch eine Weile bei dem Mädchen, beobachtete die tiefe Atmung und griff dann sachte unter den zierlichen Körper. Langsam hob er sie hoch und positionierte sie richtig auf ihrem Bett. Er zog ihr die Schuhe aus, zog die Decke vorsichtig unter ihr weg und deckte sie damit zu. Er sah auf sich herab, zog sich seine Kapuze über den Kopf und entfernte sich dann vom Bett. Er legte sich auf das Sofa, behielt die Augen offen und passte auf.

Kleine Emma, ich werde dich beschützen. Denn da ist noch etwas, was du nicht weißt..

, dachte Ryan und beobachtete das Mädchen, bis der nächste Morgen anbrach...

Kapitel 6 – Wege kreuzen sich



Dunkelheit. Überall war es dunkel. Nicht mal die Sterne waren am Himmel zu sehen. Es wehte kein Wind.Es war kühl. Emma sah sich um und empfand keine Angst. Sie fühlte sich wohl hier.
Gerade, als sie einen Schritt tat und den Fuß absetzen wollte, bemerkte sie die Leere unter der Sohle ihres Schuhs. Schlagartig wurde ihre Sicht freigegeben. Eine Klippe lag vor ihr. Es ging scheinbar weit runter, denn der Grund war nicht zu sehen. Auf einmal hörte sie etwas. Die Rothaarige sah neben sich und entdeckte den leblosen Körper, den sie am Strand schon gesehen hatte.
Es war, als würde ein unsichtbares Band diesen immer weiter zur Klippe ziehen. Emma wich zurück und sah die Leiche die Klippe hinab stürzen.Sie wollte schreien, doch als sie die Hand an ihren Mund hob, war dieser verschwunden.
„Emmaaaa... oh Emmaaaaa..“, hallte es von irgendwoher und Emma erkannte die Stimme augenblicklich. Kaum wollte sie sich umdrehen und rennen, so griff sie jemand an einer Schulter und zog sie nach hinten. Emma konnte noch immer keinen Laut von sich geben, ihre Augen waren vor Schock weit aufgerissen. Ruckartig wurde sie umgedreht und sie blickte in Jonas Gesicht. Die Zeichnungen, die er hatte, leuchteten rötlich. Auch seine natürliche Augenfarbe war verschwunden, stattdessen sah man nur die Pupillen.
„Du gehörst uns! NUR UNS!“, schrie der Junge. Emma zitterte. Sie konnte sich losreißen und ging langsam rückwärts.
„Bleib stehen!“, befahl der Junge und knurrte leise, doch Emma hörte nicht. Unaufhörlich bewegte sie sich rückwärts auf die Klippe zu. Dann zuckte sie plötzlich zusammen. Ihr linker Arm wurde ungewöhnlich warm. Sie blieb stehen und sah an sich runter. Ihr Ärmel leuchtete hell. Vorsichtig zog sie ihn hoch und sah das Zeichen. Emma spürte, wie eine Kraft von diesem ausging und nach und nach ihren Körper ausfüllte. Sie schnappte nach Luft und bemerkte, dass ihr Mund wieder da war.
„Was...-“, begann Jona perplex, brach dann ab.
„Ihr werdet mich nicht kriegen. NIE werdet ihr es schaffen!“, sagte Emma, zog siegessicher einen Mundwinkel in die Höhe und ging weiter rückwärts, streckte die Arme aus und ließ den Blick nicht von Jona. Kurz darauf war der Boden unter ihren Füßen verschwunden und sie fiel rittlings in die Tiefe. Ihre Augen schlossen sich, sie fühlte sich frei. Sie fühlte sich sicher.
Der Fall schien kein Ende zu nehmen, doch dann landete sie sanft auf etwas.
„Emma.“, hauchte die Stimme. „Emma. Mach die Augen auf...“, wisperte die Stimme sanft. „Wach auf, kleine Emma...“



Ihre Augen öffneten sich schlagartig und Emma blickte zu dem Sofa. Es war leer. Im Schlaf hatte sie sich auf die Seite gedreht.
„Emma.“, murmelte jemand unmittelbar in ihrer Nähe. Langsam richtete sich das Mädchen auf und blinzelte leicht. Sie sah zur anderen Seite des Bettes und entdeckte Ryan, der im Schneidersitz neben ihr saß. „Ist alles okay?“, fragte er ruhig und streckte sich etwas. Emma nickte zögerlich.
„Ich hab mir Sorgen gemacht, entschuldige. Ich wollte dich nicht aufwecken.“, sagte Ryan ruhig und lehnte sich dann zurück.
„Du wolltest mich nicht wecken? Aber ich bin doch von alleine aufgewacht!“, sagte Emma verwundert, doch Ryan schüttelte den Kopf. „Nein. Ich war da. Ich habe dir gesagt, dass du aufwachen sollst.“, antwortete er und sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
Emma sah ihn geschockt an. „Mach das nicht noch einmal! Ich... ich mein... na also... ich wollte... Mach das nicht nochmal!“, sagte Emma hastig. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was er sonst noch alles in ihren Träumen sehen konnte. Er könnte in jedem ihrer Träume einfach auftauchen! Er könnte Dinge sehen, die ihn gar nichts angingen! Nein, das durfte nicht passieren!
Ryan hob beschwichtigend die Arme. „He, ist doch alles okay! Ich lass es.“, grinste er und bettete dann seinen Kopf auf die Kissen. Emma lehnte sich auch wieder nach hinten und atmete durch. Irgendwie wollte sie gerade nicht über diesen Traum reden. Ryan seufzte tief. „Emma?“
„Hm?“
„Ich hab Hunger.“, nuschelte der Junge neben ihr und zog eine kleine Schnute. Emma hob eine Augenbraue. Wollte er sie jetzt als kleinen Zwischensnack missbrauchen? Schnell wollte sie aus dem Bett springen, verhedderte sich jedoch mit dem rechten Fuß in der Bettdecke und fiel auf den Boden. Mit einem Ächzen drückte sie sich wieder hoch und rieb sich ihr Kinn. Ryan schielte zu dem Mädchen rüber und versuchte so gut es ging, sich das Lachen zu verkneifen.
Emma sah über ihre Schulter zu Ryan und zog eine Schnute. „Das ist gar nicht lustig! Du fällst bestimmt auch manchmal aus dem Bett!“
„Ja, aber nicht mit solch einer Eleganz, die einem Pfannkuchen gleicht!“, gröhlte Ryan letztendlich los und Emma sprang sofort auf, krabbelte wieder auf das Bett und stürzte sich auf den lachenden Klassenkameraden. Dieser hatte seinen Hunger aufgrund des Vorfalls schnell wieder vergessen.
„Hör auf zu lachen!“, maulte sie, doch er konnte sich nicht mehr halten.
„Das... haha... Das hätte man nochmal in Zeitlupe abspielen sollen!“, lachte er weiter und Emma boxte ihm leicht in den Bauch. Dann packte sie ein Kissen und drückte es ihm murrend ins Gesicht. Ryan machte sich nichts daraus und lachte weiter. Emma begann zu schmollen und zog es ihm über den Kopf. Der Jugendliche hob eine Augenbraue.
„Du legst es also darauf an, ja?“
„Wenn du nicht aufhörst zu lachen, dann muss ich mich ja wehren!“
Wieder schlug sie ihn leicht mit dem Kissen. Ryan knurrte leise und fuhr sich durch seine Haare, die durch das Kissen nun noch mehr zerzaust waren. Emma sah ihn finster an, packte das Kissen weg und zerzauste ihm wieder die Haare. Die rechte Augenbraue wanderte in die Höhe, dann griff Ryan nach einem der Kissen und haute den Rotschopf zurück. Das Mädchen wurde getroffen, obwohl sie noch versuchte den Schlag abzuwehren. Ryan lachte finster und zwickte ihr in die Seite. Emma gab ein quietschendes Geräusch ab und zuckte sichtbar zusammen.
„An deiner Stelle würde ich es lassen“, nuschelte Ryan, während er beobachtete, dass Emma wieder ihr Kissen nahm und ausholte. Und kaum wollte sie ihn wieder hauen, so hatte er sie gepackt, drückte sie auf das Bett und hielt das Mädchen an den Handgelenken fest. Leise knurrend war er über ihr, seine Lippen umspielte ein triumphierendes Grinsen. Emmas Nase wurde kraus, sie zog eine kleine Schnute und wuselte sich unter ihm hervor und murrte leise. „Tzz, das war unfair!“
„Okay, okay, hast ja recht.“, sagte Ryan leise, setzte sich hin und horchte dann auf. Auf der Treppe waren Schritte zu hören.
„Es ist mitten in der Nacht! Und ich muss morgen arbeiten, Emma!“, sagte ihre Mutter an der Tür. „Entweder ihr seid leise, oder Ryan muss leider gehen.“
Emma verzog schmerzlich das Gesicht. „Wir sind leise, keine Sorge.“, rief der Rotschopf und sah ihren Klassenkameraden an. Dieser verdrehte die Augen und schielte dann auf seine Nase, wobei er versuchte, seine Nasenspitze mit der Zunge zu berühren. Emma unterdrückte ein Kichern.
„Gut ihr zwei. Und denkt daran: Ryan Sofa und du Bett.“ Die Mutter von Emma entfernte sich wieder von dem Zimmer des Mädchens, dann war es kurze Zeit später wieder leise im Flur.
Emma konnte bei Ryans Grimasse nun nicht mehr an sich halten und lachte. Ryan normalisierte wieder sein Gesicht und schmunzelte. Emma legte sich wieder hin und zog den Jugendlichen mit sich. „Aber ich darf doch nicht in deinem Bett liegen.“, murmelte er und drehte sich auf die Seite, um Emma anzugucken. Auch Emma drehte sich auf die Seite und gähnte hinter vorgehaltener Hand.
„Emma, du solltest wieder schlafen.“, sagte er ruhig, doch die Angesprochene schüttelte den Kopf.
„Nee, ich will aber nicht.“
Augenblicklich streckte Ryan seine Hand aus, legte sie auf ihre Stirn und Emmas Augen fielen augenblicklich zu. Ihre Atmung war gleichmäßig und tief. Ryan beobachtete das Mädchen und dachte nach.

Es war warm.
Als sie den Blick hob, schien ihr die Sonne direkt ins Gesicht und blendete sie. Automatisch hob sie ihre Hand und verdeckte die intensiven Sonnenstrahlen, die ihre Sicht trübten.
„Em! Komm, lass uns in den Park.“, sagte eine Kinderstimme und das Mädchen wandte sich zu dem Jungen um. Dann sah sie sich um und erkannte, dass sie in ihrer Heimat war: Baltimore. Emma sah ihren besten Freund an, lächelte und nickte. Gemeinsam verließen sie den Garten ihres besten Freundes und begaben sich zu dem Park.
Im Park angekommen bemerkte Emma, dass ihr Freund den Weg verließ. „Wohin willst du?“
„Da, hinterm Wald ist ein Rummel! Er ist erst ein paar Tage da. Lass ihn uns angucken!“
„Aber ich hab Angst, Lucas! Ich will nicht in den Wald.“, sagte Emma und zog die Schultern an. Der Junge lächelte und legte freundschaftlich einen Arm um die Jüngere. „Du brauchst keine Angst haben, kleine Emma. Ich pass auf dich auf.“
Emma nickte zögerlich und ging dann mit dem Größeren los in den Wald. Lucas nahm dabei ihre Hand in seine und drückte sie ab und an sachte, damit sie wusste, dass er sie nicht loslassen würde, solange sie sich im Wald befanden.
Es dauerte nicht lange, bis sie auf einer riesigen freien Fläche ankamen. Vor ihnen erstreckte sich ein großer Rummel. Zelte, Fahrgeschäfte und Buden waren dort aufgebaut. Menschen gingen ausgelassen durch die Gegend, unterhielten sich, lachten und aßen etwas. Emma sah sich um und blickte dann zu Lucas. „Irre!“
Er grinste schief und ließ dann ihre Hand langsam los. „Komm! Lass uns mal gucken, was es hier so gibt.“
Langsam gingen sie an den Buden und Fahrgeschäften vorbei. „Ich hab kein Geld mit.“, nuschelte Emma und sah sich weiter um.
„Ich hab ein bisschen was. Aber es ist auch nicht viel.“
Je näher sie dem anderen Ende des Rummelplatzes kamen, umso leerer wurde es auch. Ein Zelt stand noch weiter abseits und zog die Blicke der beiden magisch auf sich. Emma zog die Augenbrauen zusammen und sah zu Lucas, der ein mutiges Grinsen aufsetzte. Zielstrebig ging er auf das Zelt zu. Emma tappte auf der Stelle und sah ihm unsicher nach, dann blickte sie über ihre Schulter und sah einen komischen Mann. „Lucas! Warte!“,rief sie und rannte schnell hinter ihm her. Er drehte sich zu ihr und streckte rettend seine Hand aus. Sie griff nach der Hand und ging mit ihm in das Zelt.
„Lucas Ryan Ronson, Emma Williams, willkommen. Ich habe euch bereits erwartet.“, sagte die alte Stimme und eine Frau offenbarte sich ihnen. Sie hatte keine Pigmente in ihren Haaren, weswegen sie weiß waren.
Emma versteckte sich halb hinter dem Größeren. Warum kannte sie ihre Namen?
„Hab keine Angst.“, sagte die Frau warm und deutete auf die Plätze vor sich. Kurz tauschten Lucas und Emma Blicke aus, dann ging der Junge voran und zog Emma sachte mit sich. Sie setzen sich und Emma zog die Schultern an.
Die Frau lächelte sachte und betrachtete die beiden. „Schön. Ich habe schon auf euch gewartet.“
„Aber... Sie wussten doch gar nicht, dass wir kommen!“, sagte Emma und zog die Augenbrauen zusammen. Lucas neigte den Kopf fragend zur Seite.
„Doch. Und ich weiß noch viel mehr.“
„Und was?“, fragte der Junge und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Eure Wege werden sich bald trennen. Aber keine Sorge, sie werden sich wieder kreuzen. Ihr werdet unzertrennlich sein.“
Die Kinder sahen sich wieder an und blinzelten. „Aber wir sind doch hier. Und wir leben in der gleichen Straße.“, sagte Emma dann und zuckte mit einer Schulter. „So schnell kriegt uns nichts auseinander! Immerhin sind wir beste Freunde.“
Die Frau nickte wissend. „Ja, das sehe ich. Ihr werdet aber nicht mehr lange zusammen sein.Und Lucas: Du wirst der erste sein.“
„Bei was?“, fragte er dann.
„Die Sterne haben mir gesagt, dass du eine Veränderung durchmachen wirst.“
„Meine Lehrer sagen immer, dass sich jeder Mensch ändert.“, sagte Emma dann und hob die Augenbrauen. Die Frau lächelte und schüttelte den Kopf.
„Du musst noch viel lernen, Emma. Es wird eine ganz andere Veränderung sein. Geht jetzt.“
Lucas saß da, bewegte sich nicht.
„Wird sie gut sein? Ich meine, diese Veränderung?“
Die Frau lehnte sich zurück und strich sich einige ihrer weißen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Es kommt darauf an, wie du sie für dich annimmst und was du daraus machst. Geht.“

Als die beiden Kinder das Zelt verlassen hatten, sahen sie, dass auch der Rummel verschwunden war. Es war dunkel geworden und der Himmel war durch die Wolken getrübt. Lucas sah nach oben und verzog das Gesicht. „Lass uns lieber schnell nach Hause!“, sagte er, packte Emmas Hand und zog die Jüngere hinter sich her. Emma lief hinter ihrem besten Freund nach und nach schien sich eine Veränderung bemerkbar zu machen: Seine Haare wuchsen, wurden wuschelig, er selbst wuchs und Tattoos bildeten sich auf seinen Armen.
Emma starrte geschockt auf seinen Rücken, hörte aber nicht auf zu rennen. Auch sie wuchs und erreichte letztendlich ihr jetziges Aussehen – das eines Teenagers.
„Beeil dich!“, rief er von vorne, merkte scheinbar nicht, was passiert war.
„Ryan...“, hauchte das Mädchen. Der Besagte blickte über seine Schulter und zwinkerte ihr kurz zu.

Dann holte sie die Dunkelheit ein.

Lucas.
Lucas Ryan.
Lucas Ryan...



„...Ronson!“ schrie das Mädchen, als sie aus dem Traum aufschreckte. Schnell sah sie sich um, doch ihr Zimmer war leer.
„Hm?“, kam es dann aus dem Badezimmer.
Die Tür ging auf und Ryan schlurfte gähnend raus, sah Emma an und hob eine Augenbraue.
„Was ist?“, fragte er und zog die Augenbrauen zusammen.
Emma starrte den Jugendlichen an und sagte nichts.
„Sprachlos?“, fragte Ryan, verschränkte die Arme und lehnte sich schmunzelnd an die Wand neben sich.

Imprint

Publication Date: 03-21-2011

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Dieses Buch widme ich denen, die an mich glauben und immer an meiner Seite sind. Ihr seid großartig.

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