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Amazonensturm

„Der hat mir ein Huhn gestohlen!“ - „Stimmt doch gar nicht, das Huhn gehörte schon immer mir!“

„Ach was, ich hab dich doch genau gesehen, wie du aus meinem Stall kamst mit einem meiner Hühner unter dem Arm. Das arme Tier war total erschrocken und hat ganz aufgeregt gegackert. Deshalb bin ich ja erst darauf aufmerksam geworden.“

„Ich bitte um Ruhe!“ ordnete ich an. „Da ihr euch also nicht einig zu sein scheint, wem das Huhn nun gehört, schlage ich vor, wir lösen das mit Hilfe einiger Fragen. Kann mir einer von euch sagen, wie alt das Huhn ist?“

Auffordernd blickte ich die beiden an. Einer meldete sich sogleich zu Wort:

„Selbstverständlich: vor zwei Jahren im Sommer wurde es geboren.“

„Wie viele Eier pflegt es denn normalerweise in der Woche zu legen?“ wollte ich weiter wissen.

„Zwei“, antwortete derselbe Mann. „Vor einigen Wochen hat es sich nämlich den Fuß verletzt und leidet immer noch darunter, so daß es weniger Futter findet als die anderen sowie weniger Eier legt trotz der Tatsache, daß ich mich bemühe, ihm eine Sonderration Korn als Ausgleich zukommen zu lassen.“

„Hast du noch etwas zu der Angelegenheit hinzuzufügen?“ wandte ich mich an den anderen, der unterdessen recht stumm geworden war. Er schüttelte mit gesenktem Haupt verlegen den Kopf.

„Dann verkünde ich jetzt mein Urteil: der rechtmäßige Besitzer möge das Huhn an sich nehmen, während der offensichtliche Dieb zur Strafe zu zwei Wochen Schäferdienst verurteilt wird. Der nächste Fall ...“

Nach dem kommenden Fall beendete ich den Gerichtstag, den ich als König in der Hauptstadt stets selbst als oberster Richter abzuhalten pflegte. Seit nunmehr sieben Jahren war ich König von Quartan, nachdem mein alternder Vater in hohem Alter verstorben war und mir als seinem ältesten Sohn die Krone übertragen hatte. Mein jüngerer Bruder, mit dem ich mich sehr gut verstand, kommandierte als Feldherr einen Großteil der Armee – ausgenommen meiner persönlichen Leibwache, die mir direkt unterstand. Dennoch kümmerte ich mich im Frieden nicht um das Heer, sondern überließ diese Aufgabe meinem in militärischen Angelegenheiten recht fähigen Bruder. Mein Königreich erstreckte sich in der Ebene von Kalos, die im Osten vom Meer, im Süden von hohen Bergen sowie im Westen von bewaldeten Hügelketten begrenzt wurde, während es im Norden allmählich in eine flache Steppenlandschaft überging, wo die Grenze zum mit uns seit langem verbündeten Nachbarkönigreich Gothlon augenscheinlich verlief. Ein Fremder, der von Norden her kam, konnte nur durch Befragung der Bevölkerung erfahren, wo Quartan begann beziehungsweise Gothlon endete. Die guten Verhältnisse zum Nachbarreich erforderten keine Grenzsicherung, so daß dort praktisch weder Patrouillen noch befestigte Orte existierten. Lediglich eine vom Laien kaum erkennbare Linie von Grenzsteinen verriet den Übergang des einen Reichs ins andere. Im Süden hingegen im an unser Land angrenzenden Gebirge lebte ein wildes Volk, das stets mit Einfällen drohte, so daß dort im Bergvorland zahlreiche Truppen stationiert waren. Die Barbaren nannten ihre felsige Heimat Bartos, was in ihrer Sprache soviel bedeutete wie „Heimat der bärtigen Männer“. In der Tat handelte es sich bei ihnen hauptsächlich um Bartträger, was als Ausdruck von Männlichkeit galt. In Quartan pflegte man sich zu rasieren, weil man einen Bart als unzivilisiert erachtete. Während die Barbaren der Berge in wilden Haufen in den Kampf zogen, herrschte hierzulande die geordnete Schlachtordnung vor. Die bei uns üblichen Einheitenaufteilungen lauteten wie folgt:

Tripel 3 Mann, Decem 10 Mann, Terza 30 Mann, Quintem 50 Mann, Sekzent 200 Mann, Quarzent 400 Mann, Millum 1000 Mann, Magnus 4000 Mann.

Diese Verbände setzten sich jeweils aus mehreren kleineren Gruppierungen zusammen, so daß etwa ein Millum aus 5 Sekzenten oder 100 Decem bestand. Bei jeder Ebene gab es einen Mann, der den Befehl über die Gesamteinheit leitete. Eine Terza beispielsweise verfügte über 1 Terza-, 3 Decem- sowie 9 Tripel-Kommandeure. Einfache Soldaten gab es 17, wobei bis zur Größenordnung Quarzent kaum ein Unterschied zwischen den Rängen vorherrschte. Freilich, ein Sekzent-Kommandeur erhielt etwa den doppelten Lohn eines einfachen Soldaten und hatte wesentlich mehr Machtbefugnisse, doch auch er mußte in vorderster Linie kämpfen. Bei größeren Verbänden hatten die Kommandeure genug damit zu tun, den Überblick über die Schlacht zu behalten, so daß sie von ihrer kämpferischen Pflicht befreit waren. Reiterei gab es generell nicht. Bei uns hatten Tiere im Kampf nichts verloren. Der Krieg zwischen verschiedenen Menschenvölkern ist laut unseren frühesten Grundvorstellungen ausschließlich eine Angelegenheit zwischen diesen Völkern. Andere Lebewesen haben dort einfach nichts zu suchen. Allerdings wurden Pferde als Arbeitstiere oder für schnelle Nachrichtenverbreitung eingesetzt, aber das ist etwas ganz anderes.

In der Hauptstadt Demagon, die in einer kleinen Bucht des Ozeans namens Wodan-Meer, benannt nach einem unserer Hauptgötter, Wodan, lag, befand sich zur Bewachung meines Palastes ein Quarzent. Ferner sorgte die elf Meter hohe Stadtmauer mit ihren zahlreichen Türmen dafür, daß sich die 15000 Einwohner zählende Bevölkerung recht sicher fühlte. Der durch die Bucht sowie eine vorgelagerte Insel vor Stürmen geschützte Hafen sorgte mittels zahlreicher verkehrender Handelsschiffe zudem dafür, daß Demagon eine der wirtschaftlichen Hochburgen des Reiches bildete. Daneben gab es noch Tremlok im Nordwesten sowie Xervan im Westen, die man zu den Quellen des Reichtums meiner Schatzkammern zählen konnte. Das Leben in Quartan konnte ich getrost als unbeschwert beschreiben, denn selbst die Bauern hatten genug zu essen. Natürlich kam das alles nicht von ungefähr. Wohlstand schafft man nur durch weises Ausbalancieren der Reichtümer, die einem zur Verfügung stehen. Insofern hatte ich stets auf unnötige Ausgaben insbesondere im militärischen Bereich verzichtet, um dafür die Wirtschaft – allem voran den sehr einträglichen Handel – zu fördern. Aus diesem Grund schätzte man die in unserem Lande gefertigten Vasen selbst jenseits des Ozeans für ihre Qualität. Daneben exportierten wir zahlreiche weitere Güter wie Trauben, Weizen, Roggen, Holz oder auch Wein, der in den umliegenden Ländern ebenfalls sehr geschätzt wurde.

Trotz unseres Wohlstands zählte die Armee gerade mal 5 Magnas, von denen je 2, ausgenommen kleinere Reserveverbände sowie natürlich meine Leibwache, im Westen bzw. Süden standen. Im Westen stand uns nämlich das verfeindete Königreich Alonsien gegenüber, mit dem schon seit 10 Jahren eine Fehde herrschte. Es fing alles mit einer harmlosen Uneinigkeit bezüglich des genauen Verlaufs der Grenzlinie an und endete in mehreren Gefechten in den weiten Wäldern, bis ich vor zwei Jahren schließlich einige besonders unwegsame Kilometer Waldgebiet als Niemandsland deklarierte und unsere Truppen etwas zurücksetzte bis auf eine besser zu verteidigende Linie. Als die Gegenseite bei einem Angriff auf diese Position schwere Verluste erlitt, endeten die offenen Feindseligkeiten mit einem Schlag. Seitdem herrschte hingegen ein trügerischer Frieden, dem ich jedoch nicht recht traute. Meine größte Befürchtung war von zwei Seiten aufgerieben zu werden. Doch für die Bergvölker im Süden war Diplomatie offenbar ein Fremdwort, denn sie operierten eigenständig und nicht mit Alonsien zusammen gegen uns – Wodan sei Dank nicht!

An meiner Seite standen zwei Berater, die mich beim Regieren mit ihren Ratschlägen unterstützten: Alek Guzma war ein emotionaler Mensch mit starken Fähigkeiten in allen wirtschaftlichen Fragen sowie einer ausgeprägten Menschenkenntnis. Ihn mochte ich bei Verhandlungen nicht missen, denn er hatte mehr als einmal die wahre Absicht der Gesprächspartner erkannt. Den zweiten Berater, Numa Jasod, konnte man als „Analytiker“ bezeichnen, denn er hatte ein sehr feines Gespür für seine Umgebung, die er mit offenen Augen zu betrachten pflegte und wenn es irgendwo einen Mißstand gab, dann war er der erste, dem dies auffiel. Zudem wachte er über Lagerbestände, Einnahmen, Ausgaben und alles, was besondere Gründlichkeit erforderte. Beide standen mir äußerst loyal gegenüber, was für einen Mann in meinem Amt sehr wichtig ist, denn nur durch internen Zusammenhalt ist die Verwaltung eines Reichs wie Quartan über einen längeren Zeitraum hinweg möglich.

Soeben stolzierte ich vom Thronsaal in Richtung meiner Privatgemächer, als mir meine Frau, mit der ich gemeinsam regierte, entgegen kam. „Wollen wir einen kleinen Ausritt unternehmen?“

„Eigentlich wollte ich noch über den Bau einer neuen Mühle nachdenken ...“

„Das kannst du doch auch während des Ausflugs!“ meinte Talia bestimmt, was ausreichte, um mich zu überreden. Es fiel mir einfach schwer, meiner lieben Ehefrau einen Wunsch abzuschlagen. Begleitet von zwei Dutzend Soldaten der Leibwache ritten wir über die westliche Ebene, durch einen ausgedehnten Wald, der als ergiebiger Holzlieferant eine wichtige Rolle für den Häuserbau spielte, denn der Hauptbaustoff im Lande bestand aus Holz, das von zahllosen Holzfällern gefällt und in kleinen Sägewerken zurechtgeschnitten wurde.

Nach etlichen Stunden flottem Galopp hielten wir zu einer kurzen Rast an. Freilich war es alles andere als angenehm, ständig von Leibwächtern umgeben sein zu müssen, aber die Existenz von Leuten, die mir den Erfolg mißgönnten, stand außer Frage. Manchen reichen Adligen im Lande hatte ich mir zum Feind gemacht durch meine Grundvergabegesetze sowie meine Steuerpolitik. Um Gerechtigkeit sowie Wohlstand für alle zu erreichen, hatte ich nämlich im Rahmen einer Ausgleichsaktion eine Neugüterverteilung durchführen lassen. Dabei hatten arme Bauern beschlagnahmtes Land oder Besitz von Reichen bekommen, denen dies natürlich gar nicht gefallen wollte. Das Volk hingegen verehrte mich seitdem und schätzte mich auch sonst für meinen Großmut. Was zählten da schon ein paar erboste Großgrundbesitzer oder Kaufleute? Noch dazu wo ihnen sowieso genügend Besitz geblieben war. Wenn man von einer Sache quantitativ sehr viel in seinem Eigentum hat, so hat man immer noch viel, falls man davon die Hälfte abtreten muß. Leider sahen dies nicht alle Wohlhabenden so, aber der Großteil akzeptierte diese Entscheidung. Einer hatte mir wörtlich mitteilen lassen, daß er mit einer gleichmäßigen Verteilung der Volksgüter kein Problem hatte. Das sei sogar noch besser, als wenn die Bauern von sich aus kämen, um sich den ihnen zustehenden Teil gewaltsam zu holen. Wirklich ein weiser Mann … schade, daß ich mich an seinen Namen nicht mehr erinnern konnte. Jedenfalls erlaubte meine Regentschaft jedem Bürger ein geordnetes Leben. Falls eine arme Bauernfamilie beispielsweise nur eine Kuh besaß, dann mußten sie keinerlei Steuern bezahlen, sondern bekamen sogar noch Unterstützung in Form von Getreide oder aber – falls vorhanden – etliche weitere Kühe als Darlehen, von deren Erträgen (Milch, Butter, Käse) ein bestimmter Anteil abgeführt werden mußte, bis sich die Kühe so stark vermehrt hatten, daß das Darlehen zurückgegeben werden konnte, ohne dabei den Bestand der Bauernfamilie zu gefährden. Ein anderes Beispiel: bestellte ein Bauer ein Feld, dessen Erträge etwa durch Stürme ausfielen, so bekam auch dieser Naturalien zur Verfügung gestellt, um sich und seine Familie über die Runden zu bringen. Hungern mußte also niemand. Bei aller Gemeinschaftsgroßzügigkeit gab es natürlich auch solche, die dies schamlos ausnutzten. Um gegen solche Schmarotzer und Volksparasiten gefeit zu sein, wachten mehrere hundert Arbeitsaufseher im ganzen Königreich in regelmäßigen Abständen über die Bürger. Stellten sie fest, daß sich ein Bürger aus Faulheit oder anderen minderwertigen Gründen Hilfszuwendungen ergaunerte, dann wurde sofort ein Gericht einberufen. Regelstrafe: 3 Jahre Steinbruch oder Torf stechen. Maximal mögliche zu verhängende Höchststrafe: 10 Jahre. Es kam allerdings recht selten vor, daß jemand vorsätzlich versuchte, die Volksgemeinschaft zu betrügen. Man darf ferner nicht vergessen, daß die Nachbarschaft da auch ein Auge drauf hatte: schließlich läßt es sich vor den Nachbarn kaum verheimlichen, daß man öffentliche Zuwendungen bezieht und wenn man dann auch noch dabei gesehen wird, wie man anderweitig für Lohn Arbeiten verrichtet, dann sieht der Nachbar in der Regel rot und meldet diesen Umstand sofort, wie es sich für einen gesetzestreuen Bürger gehört.

„Woran denkst du?“ riß mich Talia aus meinen Gedanken.

„Ach, an nichts Bestimmtes“, meinte ich nur. „Langsam sollten wir wieder zurückreiten, denn sonst müssen wir wohl außerhalb der Stadt übernachten.“

Um das zu vermeiden, was jedoch zumindest meiner Frau nichts ausgemacht hätte, kehrten wir direkt im Anschluß um, so daß wir noch in der Abenddämmerung in Demagon ankamen, wo wir nach einem ausgiebigen Bad sofort zu Bett gingen. 130 Soldaten meiner Leibwache würden schichtweise in und um den Palast herum über unseren Schlaf wachen.

 

*

 

Die milden Frühlingswochen vergingen recht schnell, um dem einsetzenden Sommer Platz zu machen, der die Weintrauben reifen und das Getreide schnell wachsen ließ. Es sah dieses Jahr erneut nach einer guten Ernte aus. Am Tag der Sommersonnenwende feierten wir in der ganzen Stadt ein fröhliches Fest mit Spielleuten, Gauklern, Wein, Bier, Brot, Fischen, Fleisch sowie erlesensten Speisen aus Fernost. Wie von mir beabsichtigt worden war, tauchte die ganze Hauptstadt ein in den Glanz der Festlichkeiten, die bis in die Morgenstunden des folgenden Tages dauerten. Erst am späten Nachmittag suchte mich mein Berater Alek auf, um die Situation der Lagerräume zu erörtern.

„Das gestrige Fest hat unsere Weinvorräte bis auf drei Fässer schrumpfen lassen. Ferner ist das Bier gänzlich ausgegangen, während alle anderen Speisen nach wie vor reichlich vorhanden sind.“

„Wie hoch belaufen sich denn umgerechnet die Gesamtkosten?“

„Laut meinen Berechnungen exakt 24718 Kuponen.“

Die in Quartan gültige Währung war der aus Kupfer bestehende Kupon mit einem Gewicht von 4 Gramm je Stück, egal wie nun der Nennwert lautete. Die unterschiedlichen Münzen unterschieden sich lediglich in der Prägungsaufschrift sowie den darauf eingestanzten Zahlenwerten. So gab es Münzen zu 1, 4, 12, 40, 100 sowie 400 Kuponen. Wie man sieht, stellt die Zahl 4 in Quartan etwas besonderes dar, weshalb viele Dinge des alltäglichen Lebens einen unmittelbaren Bezug zu dieser Zahl haben, Laut einer Legende wurde das Königreich Quartan nämlich vor langer Zeit von 4 Stammesanführern gegründet, die ihre Ländereien vereinigten und als Quartaner gemeinsam über das Gebiet herrschten. Zu dieser Zeit wurde auch die damalige Hauptstadt Kerases weiter im Landesinneren erbaut, die jetzt jedoch halb verfallen ist. Nichts desto trotz überlebten zahlreiche Sagen über die 4 Herrscher aus jenen alten Tagen, die den Kult um die Zahl 4 sowie den ebenso davon abgeleiteten Stammesnamen Quartaner, vier Herrscher, begründeten.

Um wieder zurück auf den Nennwert einer Kupone zu kommen: für eine Kupone bekam man zwei Laib Brot, für 100 Kuponen eine Kuh. Die Sommersonnenwendfeier hatte also ordentlich was gekostet, aber laut Numa lohnte es sich, denn die Veranstaltung trug maßgeblich zur Motivation des Volkes bei. Angesichts dieses Hintergrundes fanden zu wichtigen Anlässen stets große Feten in der Hauptstadt statt, zu der auch zahlreiche Bürger extra aus dem Umland angereist kamen. Irgendwie mußte man sein Volk ja auch bei Laune halten. Dies gedachte ich durch gerechte Steuerpolitik sowie regelmäßige Volksfeste zu erreichen, was mir bislang recht gut gelang.

Am folgenden Tag unternahm ich einen kleinen Spaziergang durch die Gänge des Palasts. Meine Königin Talia fand ich in der Bibliothek beim Lesen vor.

„Na meine Teure – was liest du denn Schönes?“

„Die Übersetzung von 'Entdecke das Paradies'“, antwortete sie geheimnisvoll. Das mußte eins der Bücher sein, die ein persischer Händler mitgebracht hatte, bei dem es sich meines Wissens nach um eine Abhandlung über ein Kraut handelte, welches die Macht hatte, einen ins Paradies zu führen. Von solchem Schnickschnack hielt ich allerdings nicht besonders viel. Vermutlich war das irgend eine Art der Zauberei, aber wenn es wirklich eine so starke Macht besäße, dann würden die Perser das Wissen darüber nicht verkaufen, sondern vor allen anderen geheim halten. Obwohl, geschäftstüchtig konnte man die Kerle aus dem Osten durchaus nennen. Ein derartiges Kraut könnte einigen Reichtum einbringen, aber noch hatten sie nicht versucht, uns davon etwas zu verkaufen.

„Was steht da so alles drin?“ wollte ich nichts desto trotz wissen.

„Ach, alles möglich über eine Pflanze, deren Blätter man verbrennen muß, um den Rauch einzuatmen, der einen ins Paradies führt.“

„Und solch einen Unsinn glaubst du?“

„Nein, aber dieses Kraut interessiert mich. Es kann doch kein Schaden sein, es zumindest einmal auszuprobieren, ob wirklich so viel dahinter steckt, wie in dem Buch beschrieben.“

„Da hast du natürlich recht, meine Liebe. Wie wäre es, wenn wir jetzt trotzdem zusammen auf die Jagd gehen?“

„Du weißt doch, daß mich die Jagd immer ziemlich langweilt“, meinte Talia in sanftem Tonfall. „Aber dir zuliebe komme ich mit – damit du dich nicht langweilst ...“

 

*

 

In den kommenden Wochen zeigte sich der Sommer von seiner warmen Seite und trug durch viel Sonnenschein für fruchtbares Wachstum auf den Feldern bei. Um die Getreidepflanzen mit genügend Wasser zu versorgen, dienten lange Bewässerungsgräben, von denen der Großteil bereits über hundert Jahre alt war. Natürlich mußte man gelegentlich Reparaturen durchführen, doch im Allgemeinen hatten unsere glorreichen Vorfahren viel für die Nachwelt hinterlassen. Unter anderem den gewaltigen Tempel am Nordrand von Demagon, der dem Gott Ulwin gewidmet war oder das Bollwerk am Eberforst, das mittlerweile dank einiger Landeroberungen bereits im Hinterland lag und somit seinen Verteidigungsvorteil nicht mehr ausspielen konnte. Es diente nun als Ausbildungsstätte für Rekruten.

Wenn man die Geschichte der Quartaner in den letzten 600 Jahren verfolgte, was dank akribischer Aufzeichnungen, die in der Bibliothek von Demagon lagen, ermöglicht wurde, dann stellte man fest, daß es desöfteren kriegerische Auseinandersetzungen gegeben hatte. Vor 527 Jahren etwa, als die jetzige Südprovinz Montagor (= Bergvorland) bis zu den Bergen erobert worden war. Weitaus interessanter fand ich die Geschichte von König Bergamon, der alleiniger König wurde, nachdem die 4 ursprünglichen Stammesführer, die das Reich der Quartaner gegründet hatten, allesamt ohne Nachkommen gestorben waren. Dieser Bergamon stellte schon bald fest, daß ein Volk im Westen, jetzt die höchst schlicht als Durrmir (= dunkle Wälder) bezeichnete Region, ein wildes und ungestümes Verhalten an den Tag legte. Um diesen Rivalen ohne Krieg zu bezwingen sandte Bergamon einen Boten – seine eigene Frau Letitia – zum Anführer der Eresithen mit dem Auftrag „alles zu tun, damit die unserem Bund beitreten, egal welche persönlichen Opfer du auch immer bringen mußt.“

Letitia blieb exakt zwei Tage (und Nächte), ehe sie heimkehrte mit der Kunde vom neuen Bündnispartner. Im Lauf der Jahrhunderte war aus dem einzigen Bündnispartner ein Teil der Quartaner geworden. Der Name der Eresithen sowie ihre kulturellen und sozialen Besonderheiten waren zugunsten einer größeren Idee untergegangen. Heute erinnerte nichts mehr an die früheren Bräuche. Eine andere interessante Geschichte war die Provinz Kantarien ganz im Norden, die vor 389 Jahren durch eine Heirat zwischen der Königstochter Ariadne von Quartan und einem Herrschersohn aus Kantar hervorging. Rund 120 Jahre später kam im Südwesten Ularia hinzu, welches im Rahmen eines Feldzuges gegen dort heimische Halbnomaden erobert wurde. Danach folgte einer Periode ohne Gebietserweiterungen sowie länger anhaltendem Frieden. Erst während der Regierungszeit meines Vaters hatten wir unser Reich durch eine Kolonie jenseits des Meeres vergrößert, zu der wir nur eine Verbindung über den Schiffsweg hatten. Zeitdauer der Einzelfahrt bei guten Winden: zwei Wochen. Obwohl die Kolonie, die zu Ehren eines bedeutenden Staatsmannes Pythien genannt wurde, erst vor 14 Jahren durch uns besiedelt wurde, stellte sie durch ihre Erzvorkommen sowie ihre Fruchtbarkeit speziell für Trauben einen wichtigen wirtschaftlichen Punkt dar.

In der letzten Unterredung mit meinen beiden Beratern war die Stärke der Kolonie aus einem von Numa angefertigten Bericht sehr schön hervorgegangen: 24 von 56 Tausend Tonnen Trauben insgesamt waren dort geerntet worden. Ganz zu schweigen von den 11 Tausend Tonnen Eisenerz sowie vielen anderen Erzeugnissen. Überlegungen das Gebiet der Kolonie noch weiter Richtung Süden auszudehnen, mußten wir aber verwerfen auf Grund der Präsenz des Persischen Reiches, das noch ein Stück weiter nach Westen hin verlief und vagen Gerüchten zufolge recht groß sein mußte. Zwar hatten über die Grenze geschleuste Späher keine besonderen militärischen Tätigkeiten festgestellt, aber das konnte genauso gut bedeuten, daß man nicht mit einem Angriff rechnete und darum auch keine Einheiten nahe der Grenze stationiert hatte. Mal abgesehen davon standen mir in unserer Kolonie Pythien nur schwache Verbände in der Größenordnung eines Millums zur Verfügung. Kaum ausreichend um einen größeren Feldzug zu führen geschweige denn gleichzeitig auch noch die Verteidigung zu übernehmen.

Alek schlug vor, neue Einheiten auszuheben, denn laut Unterlagen standen uns etwa 12700 wehrfähige Männer im bevorzugten Alter zwischen 18 und 25 zur Verfügung und ferner weitere 14100 von 25 bis 35 Jahren. Gegen eine Aufstellung neuer Truppen standen die Kosten für Ausbildung, Waffen, Sold sowie die Ertragsausfälle bei Herauslösung aus der derzeitigen wirtschaftlichen Tätigkeit auf Feldern oder in Handwerksbetrieben. Zusammen genommen entsprach das einem ordentlichen Batzen Geld verbunden mit dem Risiko, am Ende noch von den Persern besiegt zu werden. Zu viele negative Faktoren auf einmal, so daß ich von weiteren Plänen bezüglich einer Landerweiterung absah. Außerdem ging es uns bereits gut genug. Solange die Bürger reichlich zu essen hatten und die Handelsbilanz weit im positiven Bereich angesiedelt war, bestand für mich kein Grund zur Sorge. Man muß schließlich auch mit dem zufrieden sein, was man bereits hat. Die meisten Menschen tendieren dazu immer nach mehr zu streben, egal wieviel sie schon besitzen, doch irgendwann geht es auf Grund natürlicher Begrenzungen einfach nicht mehr weiter und was dann? Da ist es besser frühzeitig zu lernen, einfach stehen zu bleiben, denn dann tut man sich wesentlich leichter zu akzeptieren, daß es nicht mehr weiter voran geht. Diese Erkenntnis hatte mir mein Vater gelehrt.

Die Ernte in diesem Jahr fiel überaus reichlich aus, was uns vor das ernste Problem stellte, nicht genügend Lagerraum für die Erträge zu haben. Aus diesem Grund ordnete ich Sonderrationen für jeden Bürger an. Vom Rest gab ich 40 Prozent zum Verkauf frei, während der andere Teil als Reserve für Notzeiten dienen sollte. Außerdem beinhaltete das den Vorrat für den Winter.

 

*

 

An einem stürmischen Herbsttag arbeitete ich gerade in meinen Arbeitsräumen in meinem Palast an dem Verlauf einer neuen Handelsstraße von Tremlok nach Kalasch, das bereits im Nachbarkönigreich Gothlon lag. Die bisherige Verbindung führte weiträumig um einen großen Sumpf herum, was zwar einen sicheren Weg ergab, aber auch überproportional lang dauerte. Um wieviel schneller würde wohl eine Reise mitten durch den Sumpf gehen? Freilich mußte man dafür einen Großteil des Pfades befestigen, aber man sparte sich dadurch einige Tage. Vielleicht sollte man den Sumpf gleich ganz trockenlegen? Aber das war noch um einiges mehr aufwendiger, denn man mußte hierzu mehrere Ablaufgräben anlegen, die bei der gehörigen Größe des Sumpfes eine große Anzahl an Arbeitern erforderte. Nein, ein Knüppeldamm würde eher den gewünschten Effekt bringen. Ich war mit der Detailroute noch nicht ganz fertig, als es an der Tür klopfte.

„Herein!“ rief ich laut. Alek trat mit einem Pergament in der Hand ein und stellte sich vor meinen Schreibtisch.

„Mein König, soeben ist ein Schiff aus Pythien eingetroffen. Die Liste der an Bord befindlichen Waren wird wohl uninteressant sein auf Grund der brisanten Neuigkeiten, von denen der Kapitän berichtete.“

„Fahre fort“, forderte ich ihn neugierig auf.

„Es war die Rede von plündernden Reiterhorden, die das Grenzgebiet im Nordosten der Provinz unsicher machen.“

„Was?“ fragte ich ungläubig. „Reiterhorden?“

„Es soll sich dabei um Kriegerinnen handeln. Wie sicher diese Information ist, vermag ich allerdings nicht zu sagen.“

„Was ist denn sonst noch bekannt?“

„Nun, lediglich daß im Grenzgebiet einige Dörfer verwüstet wurden. Mehr war zum Zeitpunkt der Abfahrt des Schiffs nicht bekannt.“

Erzürnt stand ich von meinem Stuhl auf, um leicht aufgeregt hin und her zu laufen.

„Die sind wohl nicht ganz dicht da drüben. Lassen sich von irgend welchen Barbaren ein paar Ortschaften niederbrennen und glauben dann Weiber gesehen zu haben. Dabei weiß doch jedes Kind, daß die im Kriege nichts verloren haben, also können die auch nicht gesehen worden sein. Weiß Wodan was oder besser: wen unsere Soldaten gesehen haben. Vermutlich ein paar zerlumpte Barbarenhaufen, die zum stehlen über die Grenze gekommen sind. Da haben unsere glorreichen Soldaten dann Gespenster gesehen und sind getürmt – ich wette, daß es sich genau so abgespielt hat. Alek, ich bin gerade zu beschäftigt – kümmere du dich um diese Angelegenheit. Schreib einen Brief an den Oberkommandierenden der Truppen von Pythien. Forder ihn auf mit diesen Eindringlingen kurzen Prozeß zu machen. Das erwarte ich von ihm. Ferner soll er mir einen ausführlichen Bericht über die Angelegenheit zukommen lassen.“

„Alles klar. Ich erledige das“, versprach Alek, ehe er mich allein ließ. Ich drehte schweigend noch ein, zwei Runden im Zimmer, bevor ich mich wieder hinter meinen Schreibtisch setzte.

„Jetzt werden die allein nicht mal mit ein paar verlausten Grenzgängern fertig ...“, murmelte ich unverständig vor mich hin. „Von Kriegerinnen wollen die angegriffen worden sein, pfff. Ja ja, Pythien – das Land des Weines. Die sind schon total verweichlicht vom vielen Saufen.“

 

*

 

Nachdem ich den Plan der Straße durch das Sumpfgebiet vollendet hatte, gab ich die Anweisung sie nach meinen Ausarbeitungen zu bauen. Der zuständige Bauleiter sah sich meine Aufzeichnungen durch und schätzte in einem halben Jahr damit fertig zu sein, was von mir wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. Das sollte die Handelsbeziehungen mit Kalasch verbessern und die Zusammengehörigkeit von Gothlon sowie Quartan demonstrieren. Zufrieden mit mir selbst verließ ich im Beisein einiger Leibgardisten meinen Palast um ins Theater zu gehen. Der Herbstwind zerzauste mein Haar und zerrte an meinem Gewand, doch davon ließ ich mich nicht abhalten. Zwar fand normalerweise um diese frühe Uhrzeit keine Vorstellung statt, doch wenn der König Unterhaltung wünschte, dann hatte man sich danach zu richten. Den Theatervorsteher wies ich an, „Frijk und Rulas“ spielen zu lassen. Eine Komödie eines längst verstorbenen Künstlers namens Tschacksbir, die mich ziemlich amüsierte. Das Stück war eben immer wieder aufs neue nett zum zuschauen. Aufgeheitert kehrte ich zum Palast zurück, wo ich den Empfang eines persischen Gesandten vorbereitete, der in den nächsten Tagen angekündigt war. Unsere gemeinsame Grenze umfaßte zwar lediglich 150 Kilometer oder etwas in dieser Größenordnung, jedoch existierte eine früchtetragende Handelsbeziehung mit den Persern, deren Ausbau es zu besprechen galt. Wenn ich schon den Gedanken hatte fallen lassen müssen, an Pythien angrenzende Teile von Persien zu erobern, so mußte doch noch irgend eine andere Möglichkeit ausgeschöpft werden, Profit aus der Existenz unserer Nachbarn zu schöpfen. Es muß ja nicht immer die Eroberung von Land sein.

Als der persische Botschafter schließlich mit einem Gefolge aus vierzig Mann eintraf, empfing ich ihn mit einem Bankett in meinem Thronsaal, in dessen Verlauf auch diverse Unterhaltungen in Form von Tanzeinlagen sowie Zweikämpfen stattfanden. All dies sollte Eindruck auf unseren Gast machen, was seine Wirkung auch nicht verfehlte. In einem persönlichen Gespräch mit Botschafter Harud al Raschjd diskutierten wir über neue Arten der Zusammenarbeit. So begriff ich recht schnell, daß der Perser weitaus mehr an Eisenerz sowie Holz interessiert schien als an erhöhten Lieferungen von Wein. Dabei machten wir mit Wein laut Numa die höchsten Gewinne. Sowohl relativ als auch absolut. Wir einigten uns auf eine unveränderte Höhe von Weinlieferungen, einem gesteigerten Eisenverkauf – zu einem etwas höheren Preis – sowie einer fast verdoppelten Menge an Holz. Im Gegenzug dafür bot man uns Duftstoffe für Frauen, Medizin aus Kräutern, die dem Inhalierenden die wunderlichsten Träume brachten, Purpur, Samt, Textilien, Gläser und Schmuckstücke aus Gold in beliebiger Menge an.

Nach den erfolgreichen Verhandlungen klang die Besprechung mit ruhiger Harfenmusik aus, ehe die Perser uns verließen. Sofort beauftragte ich Alek zu berechnen, wie hoch im kommenden Jahr unser Gewinn ausfallen würde bei Einkalkulierung der neuesten zu erwartenden Handelsdaten. Erst am Tag drauf konnte er mir handfeste Zahlen liefern. Die Gesamteinnahmen durch den Handel würden voraussichtlich um 27 Prozent ansteigen. Kein schlechtes Wachstum für ein einziges Jahr. Allein erreicht durch geschickte Absprachen – das konnte sich sehen lassen.

 

*

 

Einige Wochen vergingen, in denen alles seinen geregelten Lauf nahm. Handelsschiffe aus Persien brachten ihre Fracht in unsere Häfen um beladen mit Wein oder Erz zurückzusegeln. Auch unsere Schiffe lieferten Waren über den Ozean in die persischen Häfen Balnir, Hashan und Perkas el Awosch. Freilich karrten wir auf dem Landweg auch große Menge an Gütern nach Gothlon, die uns ihrerseits reichlich mit Hafer, Granit und Bronze versorgten. Auf einem der Handelsschiffe aus Persien befand sich ein Schmuckhändler, der sich anbot, mir in meinem Palast einige seiner erlesensten Stücke vorzuführen. Talia schien hellauf begeistert zu sein, deshalb gab ich ihm eine Audienz. Der Händler ließ von seinen Dienern hintereinander verschiedenste Kästchen hereintragen, aus denen er verschiedene Stücke wählte, um sie mit erklärenden Worten vorzustellen. Juwelenbesetzte Broschen, goldene Ohrringe mit Opalen, Edelsteinketten, Smaragdarmbänder – kurz: er verstand etwas von seiner Profession. Talia zeigte sich an mehreren Stücken sichtlich interessiert. Auf mein Winken hin kam mein Leibdiener herein, der die besagten Objekte mit Geldmünzen aus meinem Privatvermögen bezahlte.

„Auf daß der Schmuck dich noch hübscher macht als du ohnehin schon bist“, flüsterte ich meiner Königin schmeichelnd ins Ohr. Gelegentlich mußte man seiner Frau eben einfach eine kleine Freude bereiten.

Der fortschreitende Herbst richtete in einigen Dörfern mäßige Schäden vor allem an Dächern an, die jedoch sofort von Bautrupps repariert wurden. Die sinkenden Temperaturen sorgten zudem für einen höheren Holzverbrauch. Auch in meinem Palast brannten nun einige Öfen, denn ich gedachte nicht mir den Hintern abzufrieren – oder andere weitaus edlere Körperteile. Mein Blick fiel zum Fenster hinaus über die Dächer der Stadt. Man merkte an den blattlosen Laubbäumen, daß der Herbst bald in den Winter übergehen würde. Wenigstens schneite es bei uns in Quartan nicht, aber vom südlichen Gebirge wußte ich, daß dort der erste Schnee wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen sollte. Wie es die dortigen Barbaren nur in so einer unwirtlichen Gegend aushielten … unglaublich. Aber ihnen blieb wohl kein anderer Ausweg. Im Norden verhinderten wir, daß sie einwanderten, im Osten die Perser, im Westen existierte ein weiterer Ozean und im Süden war Berichten zufolge das Land zu unfruchtbar um dort überleben zu können. Ein leichter Kälteschauer jagte mir den Rücken hinunter. Ich beschloß ein Bad zu nehmen zwecks Erwärmung sowie Säuberung des Körpers. Folglich rief ich nach Elroi, meinem Leibdiener, dem ich anschaffte, ein Bad für mich bereiten zu lassen. Mehrere Diener trugen heißes Wasser heran, um es in die Vertiefung meines großen Baderaums zu schütten. Besonders lange mußte ich nicht warten, ehe mich Elroi aufsuchte und mir mitteilte, daß das Wasser nun die richtige Temperatur habe. Freudig betrat ich das Bad, wo man mich allein ließ. Nachdem ich meine Gewänder ausgezogen hatte, stieg ich ins Wasser, das richtig schön warm war. Hier konnte man sich mal ausgiebig von den Pflichten eines Königs erholen ohne gestört zu werden. Das flüssige Element wärmte meine Haut und gab mir das Gefühl ein Teil davon zu sein. Einfach ein himmlisches Gefühl. Entspannt schloß ich die Augen um mich noch intensiver der wohltuenden Aura des Bades hinzugeben. Auf diese Art gedachte ich den Moment noch gehaltvoller in mich aufzunehmen. Ein plötzliches Klopfen riß mich aus meiner Besinnung. Leicht erbost schlug ich die Augen auf, Richtung Tür gewandt. „Jetzt nicht!“

„Es ist dringend“, vernahm ich gedämpft Aleks Stimme.

„Also schön, komm herein“, ließ ich mich erweichen. Normalerweise mochte ich solche unliebsamen Störungen überhaupt nicht, denn irgendwann mußte auch ein König mal ein bißchen Freiraum für sich allein haben. Aber wenn Alek behauptete, es sei wichtig, dann war es das in der Regel auch. Die Tür öffnete sich einen Spalt und langsam trat er ein.

„Es gibt eine neue Botschaft aus Pythien betreffend der eingedrungenen Plünderer“, setzte er vorsichtig an.

„Sie wurden hoffentlich aufgerieben?!?“ vermutete ich optimistisch.

„Nicht ganz. Wie soll ich sagen ... sie haben die Stadt Eral dem Erdboden gleich gemacht.“

Einen Moment lang fehlten mir die Worte. Eral – das war immerhin die Provinzhauptstadt von Pythien!

„Was ... was soll das heißen?“ stammelte ich unsicher. „Ich hatte doch Befehl gegeben die Plünderer anzugreifen.“

„Nun ja, wie mir scheint ist das nicht ganz gelungen. Die Lage dort drüben ist laut Meldung etwas unklar und zur Zeit scheint alles drunter und drüber zu gehen. Von einem geordneten Widerstand kann nicht die Rede sein.“

Diese Neuigkeit verdarb mir den Genuß meines Bades. Ich rief meinen Leibdiener herbei, der mir ein mannshohes Handtuch sowie frische Gewänder brachte, die ich eilig anzog. Anschließend stapfte ich vor Alek gehend in Richtung meines Arbeitsraumes, wo ich zumeist die Besprechungen abhielt. Diese Angelegenheit mußte ich unbedingt mit meiner Frau bereden.

„Wo ist meine Frau?“ wollte ich von Elroi wissen, der keine Ahnung hatte.

„Such sie!“ forderte ich ihn nachdrücklich auf. „Und bring gleich Numa mit.“

Während wir auf die beiden warteten, nahmen Alek und ich schon mal Platz. Kurz darauf trafen die von mir angeforderten Personen ein, die sich ebenfalls auf meinen Wink hin setzten.

„Talia“, sprach ich zuerst meine Frau an. „Numa – es ist etwas sehr ernstes eingetreten, daß mir Alek gerade mitgeteilt hat: in Pythien scheint man offenbar zur Zeit nicht mit einigen dahergelaufenen Plünderern fertig zu werden. Eral wurde soeben zerstört.“

Numa murmelte ein paar unflätige Worte, die ich nicht verstand. Das machte aber nichts, denn ich erkannte an seinem Tonfall sowie seinem Gesichtsausdruck, was er gerade dachte.

„Was sollte man in dieser Situation machen?“ fragte ich in die Runde, denn ich wollte zuerst andere Meinungen als meine eigene hören. Talia begann als erste: „Ganz einfach: möglichst viele Truppen hinschicken und dann ist das Problem erledigt.“

„So einfach wird das nicht sein“, meinte Numa. „Unsere Reserven betragen lediglich ein Millum. Wenn genauso viele Soldaten in Pythien nicht in der Lage waren, für Ordnung zu sorgen, dann ist zu vermuten, daß ein weiteres Millum allein eventuell auch nicht besonders viel ausrichten kann.“

„Dann schicken wir eben ein Magnus oder besser zwei“, fuhr Talia fort.

„Das wird nicht so leicht funktionieren“ schaltete sich Alek ein. „Erstens bringen wir so viele Truppen nicht auf unseren Kriegsschiffen unter, zweitens müßten wir die Einheiten dann aus der westlichen beziehungsweise südlichen Verteidigungslinie herausziehen. Dort ist zwar im Moment alles ruhig, aber wer weiß, wie sich das ändert, falls die da drüben bemerken, daß nur noch die Hälfte der bisherigen Verteidiger anwesend ist.“

„Das stimmt“ pflichtete ihm Numa bei. „Aber wir müssen schleunigst irgendwas tun, um die Kolonie nicht zu verlieren. Das hätte schwerwiegende wirtschaftliche Konsequenzen.“

„Wie wäre es, wenn wir den König von Gothlon um Hilfe ersuchen?“ schlug Talia vor.

„Keine schlechte Idee“, gestand ich ein. „Alek – du schickst einen Boten nach Hagadir los mit einer Nachricht für König Sarkas. Ich bitte um die Entsendung eines Magnus ins Grenzgebiet nach Pythien. Dort sollen sie auf ein Magnus von uns, das mit Schiffen ankommen wird, warten. Die Armeen werden sich vereinigen und gemeinsam die Invasoren vernichten. Numa, du legst fest, welche Einheiten bei unserem Kontingent dabei sein werden. Verwende dafür sämtliche Reserveverbände und den Rest nimm gleichmäßig aus den Verteidigungsprovinzen.“

Damit war die Unterredung zu Ende. Sofern König Sarkas zu seinem Bündnis mit uns stand, wovon ich stark ausging, dann würde er nicht lange zögern um das von mir angeforderte Magnus in Marsch setzen. Auf das unsere Armeen gemeinsam den Gegner bezwingen würden!

 

*

 

Während ich mit Numa die Zusammenstellung unserer Einheiten klärte, gab ich gleichzeitig die Aufstellung von drei neuen Magnas in Auftrag. Irgendwie traute ich der Sache nicht so recht und da wir eh einen großen Überschuß an Geld hatten, konnte es sicher nicht schaden, etwas mehr in die Verteidigung zu investieren.

Der in die Hauptstadt von Gothlon Hagadir gesandte Bote kam eher zurück als die aus allen Provinzen des Reichs angeforderten Teileinheiten, die jeweils eine Stärke von Quintem bis Sekzent umfaßten. Der Bote brachte wie von mir erwartet ein versiegeltes Pergament mit sich, das von König Sarkas geschrieben worden war. Darin stand in etwa, daß sich Gothlon selbstverständlich am gemeinsamen Feldzug beteiligen und das angeforderte Magnus sofort in Marsch setzen würde. Auf Sarkas war eben Verlaß. Sofort machte ich mich daran, ein dankendes Antwortschreiben zu verfassen, das noch am selben Tag per Boten meinen Palast verließ. Das Magnus, das sich allmählich auf Wiesen vor Demagon sammelte, stellte einen bunt zusammengewürfelten Haufen aus Truppen der verschiedensten Regionen von Quartan dar, doch das machte nichts, weil alle dieselbe Grundausbildung durchlebt hatten. Ein Reserve-Sekzent aus Coranien, eins aus Venetien, diverse Quintem aus Ularia, Kantarien, Durrmir, Montagor sowie eins aus Elementara. Im Hafen lagen sämtliche 14 verfügbaren Kriegsschiffe vor Anker um die Soldaten auf dem Seeweg nach Pythien zu bringen. Eigentlich bestand die quartanische Flotte aus 19 Galeeren, doch 5 Schiffe befanden sich momentan gerade in der Reparatur, so daß es an Bord wohl etwas eng werden würde. 4000 Mann geteilt durch 14 ergibt etwa 280 Mann pro Schiff zuzüglich der regulären seefahrterfahrenen Besatzung. Man mag nun vermuten, daß unsere Flotte schwach sei. Angesichts jeglicher fehlender Bedrohung auf dem Seeweg muß ich dies jedoch dementieren. Dreiviertel der Küstenlinie des Wodan-Meeres waren entweder in unserer Hand oder in der von Gothlon. Der Rest gehörte Persien und die würden wohl kaum die Dreistigkeit besitzen uns trotz Friedensvertrag anzugreifen. Zugegeben: die Barbaren im Süden hatten auf einem kleinen Stück auch Zugang zum Meer, aber zum Schiffe bauen waren die doch viel zu rückständig. Solche Barbaren konnten, wenn überhaupt, höchstens Flöße bauen. Auf dem Seeweg drohte folglich keinerlei Gefahr für unsere Handelsschiffe, deren Zahl laut Alek die 200 überschritten hatte. Davon dienten 30 dem Abtransport von Gütern von Pythien in die Heimat, 50 fuhren direkt von Pythien zum Handeln Richtung persische Küste, 40 kreuzten zwischen Demagon sowie Fari hin und her. Dabei handelte es sich um die Hauptverkehrsroute zwischen Gothlon und Quartan. Die restlichen 80 Frachtschiffe karrten Güter aus Quartan zu den Persern. Mehr als drei Viertel unserer Handelseinnahmen erreichten wir per Schiff. Das verwundert nicht besonders, wenn man sich die besondere Lage von Quartan vor Augen führt. Durch den Bau der neuen Handelsstraße von Tremlok nach Hagadir versuchte ich dies etwas auszugleichen um mehr Kapazität auf die Straßen zu verlegen, was uns unabhängiger vom Wind machte. Mitunter kam es auf dem Wodan-Meer nämlich vor, das tagelang Flaute herrschte.

Am Vormittag bat ein Offizier um eine Audienz bei mir, die ich ihm natürlich sofort gewährte. Es handelte sich nämlich um niemand anderen als Olivio Kasta, den Befehlshaber des für Pythien bestimmten Magnus. Er unterrichtete mich über seinen Plan Pythien zu sichern in allen Einzelheiten, was mir sehr imponierte, denn er schien ein guter Stratege zu sein.

„Olivio Kasta“, sprach ich ihn an. „Sobald Ihr Pythien gesichert habt, ernenne ich Euch zum Oberbefehlshaber der Truppen von Durrmir, die demnächst durch 3 Magnas verstärkt werden. Ich bin mir sicher, wenn es jemandem gelingt Alonsien zu erobern, so seid Ihr das!“

„Ich danke Euch für soviel Vertrauen“, erwiderte Kasta, ehe er sich grüßend verabschiedete.

Inzwischen war das Magnus vollzählig, so daß die Einschiffung im Hafen von Demagon beginnen konnte. Der Vorbeimarsch der Soldaten, den ich selbst von meinem Palast aus mitansehen konnte – denn der Palast lag schräg rechts ab des Hafenareals – machte mich gleich wieder richtig optimistisch, was die Lage in Pythien betraf. Zusammen mit der Einheit aus Gothlon würden die den Feind, wer immer er auch war, hinwegfegen. Kasta würde das ermöglichen. Der Sieg würde unser sein, auf das seine Kunde alle sonstigen Feinde vor Angst erstarren ließ!

 

*

 

Während die Flotte auslief um gen Nordosten zu segeln, nahm ich im Thronsaal zusammen mit Talia sowie meinen beiden Beratern das Mittagessen zu mir. Es gab gefüllte Hühner mit Gemüseplatte, Wein und Meeresfrüchten. Ein bißchen Luxus mußte man sich als König eben gönnen.

„Was sind das eigentlich für Plünderer gewesen?“ fragte Talia plötzlich nebenbei.

„Ach, einige unsere Soldaten sind davon überzeugt Kriegerinnen gesehen zu haben“, erzählte ich mit der Hand abwinkend. „Die sind doch nicht mehr ganz dicht ... haben wohl zu viel Wein gesoffen.“

„Ich verstehe nur nicht, wo die so auf einmal hergekommen sind. Bis vor kurzem war doch Pythien der ruhigste Platz unseres Reiches.“

„Tja, so ändert sich das eben. Offenbar wohnt da weiter im Landesinneren jenseits der Wüste noch irgend ein Volk, das erst jetzt ihre Nachbarn bemerkt hat und dann gleich scharf auf ihren – also unseren – Reichtum war. Das werden wir denen schon noch austreiben sich an unserem Besitz zu vergreifen.“

„Wäre es vielleicht zu überdenken, ob wir Pythien in der Zukunft befestigen sollen? Etwa durch eine Mauer?“ meldete sich Numa zu Wort.

„Ach was“, winkte ich mit der Hand ab. „In wenigen Wochen wird es niemanden mehr geben, der unserer Vorherrschaft in Pythien gefährlich werden könnte. Sobald Kasta siegreich zurückgekehrt ist und die drei neuen Magnas kampfbereit sind, werden wir einen Angriff auf Alonsien unternehmen.“

Überraschtes Schweigen umgab mich. Außer Kasta wußte schließlich noch niemand von meinen Plänen. Alek war der erste, der wieder zu Wort kam:

„Ein Angriff in den dichten Wäldern ist aber riskant. Wir müssen da ständig rechnen in einen Hinterhalt zu geraten. Außerdem ist die Lage im Westen in der letzten Zeit recht ruhig, so daß es vielleicht wenn dann schon besser wäre, wenn wir uns nach Süden hin konzentrierten.“

„Da bin ich anderer Ansicht. Die Berge haben für uns doch keinerlei Wert. Anders sieht es da schon mit dem Waldgebiet im Westen aus. Das kann unseren Holzertrag verdoppeln – mal abgesehen davon einen alten Konkurrenten auszuschalten.“

„Das ist richtig“, bestätigte mir Alek. „Aber was ist, wenn wir wider Erwarten den Kürzeren ziehen? Sind wir dann noch in der Lage unsere Stellung zu halten oder drängt uns dann Alonsien zurück?“

„Die bisherige Verteidigungs-Besatzung bleibt natürlich“, stellte ich klar. „Das reicht momentan ja auch um die fernzuhalten. Wir können also praktisch nur gewinnen.“

„Also ich schlage vor wir warten erst einmal solange, bis uns die Einheiten zur Verfügung stehen, ehe wir Pläne schmieden, was wir mit ihnen machen“, mischte sich Talia ein und wechselte das Thema auf die mit Äpfeln gefüllten Hühner.

 

*

 

Wochen vergingen, in denen wir nur bruchstückhafte Nachrichten aus Pythien erhielten. Doch dann eines Tages brachte man mir einen von Olivio Kasta persönlich geschriebenen Brief.

‚Mein allerhöchster König, ich bringe die Kunde von unserem Sieg!

Nach der Vereinigung mit unseren Verbündeten zogen wir los, um die Invasoren zu stellen. In schweren Gefechten errangen wir letztlich die Oberhand. Der Feind setzte ungewöhnliche Kampftaktiken ein. Beispielsweise verwendete er den Bogen sehr geschickt vom Pferde aus, was uns einige Verluste bescherte. Zudem fochten sie sehr zäh und zeigten einen erstaunlichen Widerstand. Das ungewöhnlichste jedoch war die Tatsache, daß alle Kämpfer Frauen waren. Jedenfalls konnten wir ihre Hauptmacht umzingeln und sie mit gemeinsamer Hilfe der Einheit aus Gothlon aufreiben. Dabei nahmen wir lediglich drei Gefangene, die uns allerdings nur in die Hände fielen, da sie allesamt mehr oder minder schwer verletzt wurden. Auf unserer Seite sind derzeit noch 2 Quarzent kampffähig. Leicht verwundete nicht mitgerechnet. Die Einheit aus Gothlon ist bereits zur Auffrischung heimgekehrt. Großer Imperator – ich erwarte neue Befehle.

gez. Olivio Kasta, Kommandeur des 6. Magnus‘

Wir hatten also gesiegt – aber zu einem hohen Preis. Von „normalen“ Plündererbanden war ich solch militärisch gefährliches Auftreten gar nicht gewohnt. Nun denn, die Gefahr war nun gebannt. Dann hatte sich die Kunde von den Kriegerinnen also tatsächlich als wahr herausgestellt. Unglaublich, daß diese Barbaren sogar ihre Weiber in den Krieg schickten. Es würde sich wohl anbieten, zur Sicherheit den Großteil der Truppen in Pythien zu lassen. Zudem wo das ursprünglich stationierte Magnus laut vorangegangenen Berichten sowieso kaum mehr als noch ein Sekzent zählte. Jetzt konnte ich dort also wieder auf ein vollzähliges Millum vertrauen. Angesichts der weitaus höheren Zahl der entsendeten Soldaten eine beängstigend geringe Anzahl, doch der Sieg allein rechtfertigte die hohen Verluste. Ich verfaßte eine Nachricht an Kasta mit der Order, nach Demagon zu kommen, um dort die weitere Ausbildung der neu aufgestellten Magnas zu leiten. Außerdem befahl ich alle Truppen als Besatzungsmacht in Pythien zu lassen.

Auf einer Lagekarte meines Reichs betrachtete ich nun ausgiebig den westlichen Teil. „Alonsien“ stand dort in roten Buchstaben. Ein Frontalangriff im Norden mit 2 Magnas und einer gleichzeitigen Attacke im Süden in derselben Stärke würde uns den Durchbruch ermöglichen. Bis zur alonsischen Hauptstadt Siskai war es dann nur noch ein Katzensprung. Die Unterwerfung von Alonsien würde dann nur mehr eine Frage von Tagen sein, hatten wir den prunkvollen Königspalast erst einmal in unserer Hand – mit ihm König Alonso IV und damit das Oberhaupt des Reichs.

 

*

 

Weit jenseits des Wodan-Meeres, etwa fünf Tagesmärsche vom östlichsten Punkte Pythiens entfernt, saß zeitgleich eine hochgewachsene Frau mit verzierten Goldketten geschmückt auf einem hölzernen Stuhl in der Mitte eines großen, mit Fellen bezogenen Zeltes. Von ihrer Person ging etwas stolzes, aber auch etwas wildes aus. Ihre blonden Haare reichten ihr bis zu den Schultern. Ihr Körper steckte in einem ledernen Wams, an dessen Seiten Halterungen für diverse Waffen angebracht waren, die ihr ein kriegerisches Aussehen verliehen. Am Eingang des Zeltes standen zwei Kriegerinnen mit Speeren in der rechten, einem hölzernen Rundschild in der anderen Hand.

Soeben trat eine schwarzhaarige Frau mit einem stählernen Helm in den Händen herein.

„Ich überbringe Euch eine Neuigkeit, große Königin!“

„Sprich!“ wurde sie von der blonden Frau auf dem Stuhl aufgefordert.

„Die Vorausabteilung im Westen ist nach einigen erfolgreichen Plünderungen auf stärkeren Widerstand gestoßen, der sie nicht gewachsen war. Lediglich vereinzelte Kriegerinnen konnten sich rechtzeitig zurückziehen, der Rest ist für Ruhm und Euch gestorben, Königin Daria.“

„Das sind keine guten Neuigkeiten, die du mir bringst, Leana. Woher hast du diese Informationen?“

„Von einigen vor kurzem zurückgekehrten Kämpferinnen.“

„Hol mir eine von ihnen her.“

„Sofort, meine Königin.“ Die mit Leana bezeichnete Schwarzhaarige lief nach draußen und kehrte kurz darauf mit einer zweiten Frau zurück, die abgekämpft wirkte und eine verbundene Wunde am Arm hatte. Im Gegensatz zu Leana warf sie sich demutsvoll auf den Boden, um so ihre Hochachtung der Königin gegenüber zu demonstrieren.

„Steh auf“, wurde sie nach einer Weile von der immer noch sitzenden Königin Daria aufgefordert. „Erzähl mir, was vorgefallen ist.“

Die Angesprochene berichtete von der Erkundungsabteilung, die nach etlichen Tagen im Westen kaum befestigte Ortschaften vorfand, die im Handstreich überwältigt und geplündert wurden. Einige zur Verteidigung herangezogene militärische Verbände konnten dabei vernichtet werden, doch dann tauchte eine starke Feindarmee auf, gegen die sie verloren.

„Aber wir haben dem Feind schwere Verluste zugefügt“, meinte die Kriegerin grimmig. „Sie haben sich regelrecht zu Tode gesiegt. Wären wir nur einige hundert Kriegerinnen mehr gewesen, so hätten wir die Oberhand gewonnen.“

„Ich danke dir für deine Ausführungen. Du darfst dich jetzt zurückziehen.“

Nachdem Königin Daria wieder allein mit Leana war, die offenbar eine beratende Tätigkeit ausübte, begann Daria: „Das sollen uns diese Fremden büßen. Es ist ein heiliges Gesetz, daß wir uns holen, was immer wir wollen. Wer sich dagegen wehrt, wird gnadenlos niedergemacht. Angesichts dieser Provokationen müssen wir wohl ein Exempel statuieren. Niemand soll es in Zukunft wieder wagen uns zu verbieten, daß wir uns nehmen, was wir brauchen. Sende Boten in alle Lager aus. Wir versammeln uns bis zum nächsten Mond am Hügel der Sonne. Ich werde persönlich unsere Kämpferinnen anführen.“

Mit einem zornigen Blitzen in den sonst so sanften bläulichen Augen umgriff sie den Griff ihres Dolches, der in ihrem Gürtel steckte. Leana verneigte sich kurz. „Wie Ihr befehlt, meine Königin.“

 

*

 

Zwischenzeitlich hielt ich in meinem Palast einen Empfang ab für König Sarkas, der ein paar Tage mit einer Gefolgschaft von 200 Mann auf Besuch gekommen war. Wie es sich für einen guten Verbündeten gehörte, wies ich ihm den besten Flügel des Palastes zu. Zusammen feierten wir unseren Sieg über die wilden Horden in Pythien. Trotz aller Festlichkeiten gedachten wir den gefallenen Soldaten, die auch auf Seiten von Gothlon zahlreich gewesen waren.

„Mir wurde berichtet, daß es sich bei den Plünderern ausnahmslos um Frauen handelte“, raunte mir Sarkas zu. „Ich wollte in Gothlon gäbe es nur halb so viele Weiber dieses Schlags. Damit könnten wir uns Alonsien ein für allemal vom Halse halten.“

Gothlon grenzte nämlich ebenfalls direkt an Alonsien.

„Da kann ich euch getrost beruhigen“ erzählte ich großspurig. „Schon bald wird es Alonsien nicht mehr geben. In wenigen Wochen werde ich dort einmarschieren. Wenn Ihr auch ein Stück vom Kuchen haben wollt, so wäre die Gelegenheit günstig sich an unserem Feldzug zu beteiligen ...“

Sarkas trank sein Weinglas auf einen Zug leer.

„Mit einem Magnus könnte ich mich theoretisch beteiligen. Mehr kann ich wohl auf Grund der jüngsten Ausfälle nicht abstellen.“

„Das reicht völlig“, versicherte ich ihm. „Eigentlich würde ich das auch im Alleingang schaffen, aber angesichts unserer fruchtbaren Zusammenarbeit in Pythien ...“

„Informiert mich einfach, sobald der Angriffstermin feststeht. Ihr wißt sicher, welches Gebiet von Alonsien ich gerne beanspruchen würde?“

Natürlich wußte ich das. Es grenzte direkt an Gothlon an und erstreckte sich bis weit in den Westen mit fruchtbaren Böden. Quartan würde weitaus mehr Land südlich davon besetzen – sollte Sarkas also bekommen, was er begehrte.

Es vergingen noch zwei Wochen bis Olivio Kasta mit einer kleinen Eskorte sowie den genannten drei weiblichen Gefangenen in Demagon eintraf. Von einer starken Neugier getrieben verlangte ich, daß man die Gefangenen zu mir in den Thronsaal brachte. Schließlich wollte ich sehen, wer sich mir derart heftig zu widersetzen vermochte. Begleitet von sechs Soldaten brachte man drei junge Frauen mit auf den Rücken gefesselten Händen herein, die mir schon rein optisch durch ihre muskulösen Körper auffielen. Als man sie zu Füßen meines durch Treppenstufen erhöhten Throns auf die Knie niederdrückte, wie es sich für Gefangene vor dem König des Siegers gehörte, sah ich nicht in die Augen von demoralisierten Kriegern, die eine Schlacht verloren hatten. Nein, mir funkelten drei entschlossene Augenpaare entgegen, deren Ausdruck ich überhaupt nicht zu deuten vermochte. Es lag weder Haß, noch Angst darin, eher eine Art Gleichgültigkeit, aber dennoch untermauert durch ein eiskaltes Blitzen, das mich etwas verunsicherte.

„Wer seid ihr?“ fragte ich bestimmt. Man gab mir keine Antwort. Leicht erzürnt erhob ich mich von meinem Thron, um ein paar Schritte auf die drei zuzukommen. Vielleicht mußte ich es anders versuchen. Ich schritt auf die Frau ganz links zu, deren lange, blonde Haare in Zöpfen herabhingen. Ihre stahlblauen Augen musterten mich desinteressiert.

„Du“, sprach ich sie direkt an. „Wie ist dein Name?“ Schweigen. Einer der Soldaten verpaßte ihr von hinten einen Tritt mit dem Knie. „Willst du wohl dem König antworten?“

Mit der Hand gebot ich meinen Soldaten diesen Übereifer einzustellen. Mit dieser Methode würden wir garantiert nichts erreichen. Es sah so aus, als wären diese Mannweiber durch Gewalt nicht sonderlich einzuschüchtern. Langsam schlenderte ich zur mittleren weiter. Sie hatte lange, bräunliche Haare und ebenso gefärbte Augen.

„Was ist mit dir? Bist du auch stumm?“ Wieder keine Antwort. Die Frau ganz rechts hatte rötliche Haare und grüne Augen. Eine eigenwillige Kombination. Nicht unattraktiv, wenn nur dieser harte Blick nicht wäre.

„Verstehst du meine Sprache, Weib?“ wandte ich mich an sie.

Wider Erwarten öffnete sie den Mund: „Wir verstehen dich.“

Sie sagte diese Worte mit starkem Akzent und eigentümlicher Betonung.

„Wieso antwortet ihr mir dann nicht?“ hakte ich nach.

„Weil wir mit euch dreckigen Männern nicht sprechen wollen.“

Beinahe hätte ich mich der Neigung hingegeben ihr einen Faustschlag zu verpassen, doch für einen König schickte sich so etwas nicht. Schon gar nicht gegen einen unbewaffneten, wehrlosen Gegner – der zudem noch eine Frau war. Aber diese Provokation hatte eben ihre Wirkung durchaus nicht verfehlt.

„Jetzt hört mir mal genau zu“, schritt ich alle drei ab. „Ihr seid hier in meiner dreckigen Hand und ich mache mit euch, was mir meine dreckigen Gedanken eingeben. Ich kann euch öffentlich vor hunderten von dreckigen Männern auspeitschen lassen, ich kann euch diesen dreckigen Männern vorwerfen, auf daß sie mit euch machen, was sie wollen ... ein Fingerzeig von mir genügt um euch hinrichten zu lassen. Kurz: ihr seid völlig in meiner Hand und solltet euch lieber mit mir gut stellen, wenn ihr keinen Wert darauf legt, einen langsamen Tod zu erleiden.“

„Was willst du von uns?“ meldete sich nun die Blonde mit eben derselben akzentbehafteten Sprache zu Wort, die der unsrigen ähnelte, aber nicht dieselbe zu sein schien. Wirklich erstaunlich. Offenbar ein Vertreter der gleichen Sprachfamilie wie die unserer Vorfahren.

„Sagt mir erst mal eure Namen“, erklärte ich. Die Blonde stellte sich als „Mera“ vor, die Braunhaarige als „Xaja“ und die Rothaarige als „Jai“. Ungewöhnlich für meine Ohren.

„Gut“, faßte ich zusammen. „Wo kommt ihr her?“

„Wir haben keine feste Heimat. Wir ziehen in der Gegend herum“, antwortete Xaja. „Momentan leben wir im Land der Skiriber.“

Das sagte mir überhaupt nichts. mußte wohl jenseits der Wüste sein, die im Osten an Pythien anschloß. Da es sich dabei um eine sehr trockene Region handelte, hatte ich abgesehen dorthin Erkundungstrupps loszuschicken.

„Wieso seid ihr zum Plündern in mein Reich eingedrungen?“

„Weil wir es können. Außerdem seid ihr Männer nur unsere Sklaven.“

„Wie bitte?“ verschlug es mir fast die Sprache angesichts solchen Frevels. Es wußte doch jeder, daß einzig der Mann dem Ebenbild Wodans entsprach, wohingegen die Frau nur als Gefährtin für den Mann geschaffen wurde. Alle heiligen Schriften bewiesen das.

„Ihr seid dazu bestimmt unsere Sklaven zu sein und wir werden euch wieder dazu machen, so wie es Hippolyte vorhergesehen hat“, klärte man mich auf.

Alek, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, lachte schallend los, bis ich ihm mit einem energischen Wink gebot, ruhig zu sein.

„Ihr seid also davon überzeugt, daß wir Männer eure Sklaven sein müssen. Woher nehmt ihr denn diese Weisheit?“ fragte ich Mera spöttisch, weil auch mich das gesagte amüsierte.

„So steht es geschrieben in den heiligen Tafeln von Ma-Ak Bai“, erwiderte sie.

„Die Schrift beherrscht ihr also, so, so. Wie heißt denn euer Stamm?“

„Wir nennen uns ...“ Sie erwähnte ein Wort mit einem komischen Zischlaut in der Mitte, das sich am ehesten wie „Amazonen“ anhörte.

„Von eurem Stamm habe ich noch nie etwas gehört“, meinte ich herablassend.

„Dieses Stadium wäre jetzt wohl überschritten“ sagte Mera ironisch. Schlagkräftig gab sie sich ja – das imponierte mir direkt, obwohl sie eine Feindin meines Volkes war. Dennoch würde ich ihren Willen brechen. Je größer der Widerstand desto reizvoller fand ich es.

„Seid ihr viele? Oder besser formuliert: gibt es noch mehr von euch? Oder sind alle von euch in der Schlacht bei Kolga draufgegangen?“

Natürlich erhielt ich auf diese Frage nun keine Antwort.

„Aber, aber, ich bitte euch. Wollt ihr denn, daß ich eine Antwort auf diese Frage aus euch herausfoltern muß? Meint ihr, es macht mir Spaß, wenn ich euch vor Schmerzen schreien höre?“

„Ich habe keine Angst vor Folter“, erklärte Mera stolz. „Ihr könnt mich zu Tode foltern lassen, aber ich werde niemanden meiner Kameradinnen verraten.“

Mein Blick wanderte zu Jai, die mir das schwächste Glieder der Kette zu sein schien. Sie spürte meinen Blick und erwiderte furchtlos:

„Foltert mich, solange Ihr wollt. Glaubt aber nur nicht, daß irgend etwas von dem, was ich euch sagen werde, der Wahrheit entspricht. Ihr werdet nie erfahren, wie stark ich gelogen habe.“

Sehr imponierend fand ich dieses Verhalten. Unfaßbar – dabei handelte es sich bei denen lediglich um Weiber. Ich wollte, meine eigenen Soldaten hätten diesen Schneid. Zwar hatte mir Mera keine direkte Antwort gegeben, aber ich schloß, daß es doch noch mehr von ihnen geben mußte. Sonst hätte sie wohl gesagt, daß sie die einzig verbliebenen seien. Da sie das nicht getan hatte, blieb nur die Schlußfolgerung übrig, daß es noch eine größere Zahl von ihnen gab. Aus Neugierde stellte ich eine letzte Frage:

„Was glaubt ihr, mache ich nun mit euch?“

Ich hatte mit keiner Antwort gerechnet. An die Wachen gewandt sagte ich daher: „Bringt sie in den Südturm und sperrt sie in die sichersten Zellen, die wir haben. Einzelzellen! Behandelt sie gut und paßt auf, daß sie nicht fliehen. Ihr haftet mir mit euren Köpfen dafür!“

Das letzte war gelogen, denn ich würde niemals die Todesstrafe für ein potentiell stets mögliches Versagen bei einer Aufgabe verhängen, aber es sollte die Männer ordentlich motivieren. Das allein war der Zweck der etwas drastischen Formulierung.

Nachdenklich blickte ich den dreien nach, wie sie aus dem Saal hinausgeführt wurden. Gefesselt, aber dennoch nicht geknechtet, mit gebeugtem Gang, aber trotzdem stolz. Wenn es von denen tatsächlich noch mehr gab, dann gute Nacht. Aber die würden sich trotzdem hüten mich nochmals anzugreifen. Nach dem Totalverlust von neulich würden die einen großen Bogen um meine Ländereien machen!

 

Es sollte weitere 3 Monde dauern, ehe die Ausbildung der drei neuen Magnas als abgeschlossen betrachtet werden konnte. Sarkas hatte ich ebenfalls frühzeitig über den Angriffstag informieren lassen, so daß eigentlich nichts mehr schief gehen konnte. Die Tage von Alonsien schienen gezählt. Am Tage, als mir die Magnas als kampfbereit gemeldet wurden, suchte ich Talia auf, um ihr meine Entscheidung mitzuteilen.

„Ich werde unsere Truppen selbst anführen“, eröffnete ich ihr. „Es ist meine Pflicht ihnen persönlich beizustehen und sie zum Siege zu geleiten.“

„Hast du dir das auch gut überlegt?“

„Natürlich. Du wirst in meiner Abwesenheit unterstützt von Alek sowie Numa die Staatsgeschäfte leiten. Ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann.“

Unmittelbar vor meiner Abreise nach Durrmir verabschiedete sich Talia herzlich von mir. „Komm bald und vor allem gesund wieder.“

„Der Sieg wird uns gehören!“ kündigte ich bereits jetzt an. Meine Ehefrau umarmte mich noch einmal, ehe ich das Gebäude verließ, um im Gefolge einer Eskorte loszureiten, dem Feldlager der Truppen entgegen. Obwohl wir mit Pferden recht schnell vorankamen, mußten wir etliche Nächte in Unterkünften verbringen, was sich aber nicht besonders schlimm äußerte, denn es gab entlang der Hauptstraßen genügend Übernachtungsmöglichkeiten, die zuweilen auch einen annehmbaren Komfort boten. Die Gaststätteninhaber betrachteten es sogar als besondere Ehre, ihren König eine Nacht in ihrem Haus zu haben, was ich jedes mal durch ein großzügiges Trinkgeld noch untermauerte.

Am vierten Tage unserer Reise erreichten wir endlich den Grenzbogen, durch den ich tief ins Reich von Alonsien eindringen wollte. Doch noch blieben einige Tage übrig bis zum geplanten Angriffstermin. Die verbleibende Zeit nützte ich um mit dem beförderten Olivio Kasta die Feldzugtaktik abzusprechen. In meinem Zelt standen wir zusammen mit den beteiligten Magnusführern um einen Tisch herum, auf dem die Lagekarte lag.

„Meine Herren“, setzte ich an. „Wir werden hier mit der geballten Kraft zweier Magnas sowie an dieser Stelle im Süden in der gleichen Stärke durchbrechen und ins Hinterland vorstoßen. Das Hauptziel ist die gegnerische Hauptstadt Siskai. Falls es einer Armee nicht gelingen sollte, die feindlichen Linien zu durchstoßen, dann ist ihre Aufgabe, möglichst starke Verbände zu binden, damit die andere Gruppe besser gestellt ist. Wir werden zudem von einem Magnus aus Gothlon unterstützt, das zeitgleich mit uns angreifen wird. In der Verteidigung steht bei uns nur noch ein Magnus zur Auswahl, aber das wird vollends ausreichen, weil der Gegner gar nicht dazu kommen wird uns seinerseits anzugreifen.“

„Was machen wir im Falle länger andauernder Waldschlachten?“ wollte Olivio Kasta wissen. Ein Einwand, der mich kurz nachdenken ließ.

„Den Gegner hinhalten“ erklärte ich. „Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich gering, daß alle drei Stoßkeile längere Zeit aufgehalten werden. Einer wird sich durchsetzen und Siskai einnehmen. Der Fall von Alonsien ist damit zweifelsohne besiegelt, denn diese Stadt ist nicht nur das politische, sondern auch das wirtschaftliche Zentrum des Landes. Nehmen wir diese Stadt ein, beherrschen wir das gesamte Königreich.“

„Wäre es nicht besser alle Einheiten an einer Stelle zu versammeln um an einer einzigen Stelle durchzubrechen?“ warf ein Magnus-Kommandeur namens Tarmin Jolaka ein.

„Nein“, belehrte ihn Kasta. „Da wir nicht ahnen können, wo sich der Feind am besten festsetzen kann, ist es besser, wenn wir den Ansatzpunkt splitten – sei es nur um den Gegner zu verwirren. Also ich halte diese Strategie für aussichtsreicher, zumal in diesem waldigen Terrain, wo es uns unmöglich sein wird auszukundschaften, in welcher Stärke der Gegner vertreten ist.“

„Ganz meine Meinung“, teilte ich Kastas Ansicht. „Falls damit jedem klar ist, wie der Angriff ablaufen wird, dann schlage ich vor, jeder macht sich nochmal mit den Örtlichkeiten vertraut, bevor es ernst wird.“

 

*

 

Am vereinbarten Tag erhoben sich unmittelbar nach Morgengrauen tausende von Soldaten, um in das vor uns liegende kleine Waldstück einzudringen, das wir feindfrei wußten, doch nach dem Niemandsland würde der Gegner wohl zahlreich vertreten sein. Inmitten meiner Männer stapfend konnte ich den Moment gar nicht erwarten auf Feindkontakt zu stoßen. Doch noch blieb alles ruhig. In mehreren Linien rückten wir unablässig voran, das leise Geklirr von Metall in den Ohren. Mittlerweile wurde der Forst vor uns allmählich dichter, was darauf hindeutete, daß wir der gegnerischen Besatzungslinie näher kamen. Auf einmal zischten längliche Gegenstände durch die Luft. Einige Soldaten um mich herum wurden getroffen. Erst jetzt erkannte ich, daß es sich bei den Wurfobjekten um Pfeile handelte.

„Vorwärts!“ rief ich euphorisch und sprang mit gezogenem Schwert voran. In der anderen Hand hielt ich einen der charakteristischen Turmschilde, die in unserem Heer üblich waren, da sie den gesamten Oberkörper bis hinab zu den Oberschenkeln schützten. Unsere Truppen stürmten mir nach auf die offensichtliche Stellung des Feindes zu, Speere werfend und das Schwert schwingend. Die gut getarnte Brustwehr der Gegenseite überrannten wir binnen Kürze an mehreren Stellen, durch die wir hindurchfluteten, um den restlichen Verteidigern in den Rücken zu fallen, was unseren eigenen noch im Ansturm befindlichen Männern zugute kam. Zwischen den teilweise recht eng beieinander stehenden Bäumen entbrannten mörderische Zweikämpfe Mann gegen Mann, die sich über den gesamten Vormittag ausdehnten, denn etliche eintreffende Verstärkungen der Gegenseite, die ich als Eliteverbände identifizierte, hielten uns relativ lange hin. Den Strom unserer beiden Magnas vermochten jedoch auch sie nicht aufzuhalten. Gegen Mittag existierten diese Einheiten nicht mehr.

In geordneten Linien zogen wir weiter Richtung Westen, der Hauptstadt Siskai entgegen. Noch einmal wurden wir auf einem brach liegenden Feld von einer stärkeren Armee zum Kampf gestellt, doch der Sieg gehörte uns recht bald, als der feindliche Anführer fiel und seine Soldaten demotiviert das Weite suchten. Bei einsetzender Abenddämmerung schlugen wir ein Feldlager auf, denn vor morgen würden wir unser Ziel keinesfalls erreichen.

Nach einer etwas ungemütlichen Nacht im Zelt brachen wir erneut auf um unseren Weg fortzusetzen. Außer bestürzten Bauern kreuzte niemand unseren Pfad. Als Siskai vor uns lag, wußte ich, daß wir es geschafft hatten.

„Heute nacht schlafe ich schon im Palast von Siskai!“ war ich mir sicher. „Alle Mann zum Angriff!“

Wider Erwarten leistete man uns keinerlei Widerstand. Wie wir von einigen Bürgern erfuhren, war der König von Alonsien mit seiner Leibwache abgereist. Er hatte den Fall seines Reichs wohl vorhergesehen. Ich ließ die Einwohner der Stadt versammeln, denn ich wollte eine Ansprache halten. Als sich eine größere Menge auf dem Marktplatz angesammelt hatte, trat ich vor:

„Bürger von Siskai, hiermit erkläre ich Alonsien als von Quartan verwaltete Provinz. Euer ehemaliger König hat das Weite gesucht, als er die Kunde meiner anrückenden Truppen erfuhr. Er hat euch schamlos im Stich gelassen. Doch nun beginnt für euch ein neues Zeitalter unter der Obhut von Quartan. Ich werde euch Wohlstand und Kultur bringen, es wird euch an nichts fehlen genauso wenig wie den anderen Einwohnern von Quartan. Alle meine Soldaten haben den ausdrücklichen Befehl euch nicht als Feinde, sondern als Brüder zu behandeln. Ich begrüße euch im Königreich Quartan!“

Erst einmal herrschte nur Schweigen, doch dann begannen die ersten meinen Namen zu rufen, bis er schließlich von der ganzen Menge aufgenommen wurde und mir entgegen schallte. Offenbar hatte ich die richtigen Worte gefunden, um die Leute in mein Reich einzugliedern. Zur Sicherheit stellte ich trotzdem ein Millum zur Sicherung der Stadt ab. Wer weiß ... vielleicht drohte von irgend einer Seite noch Gefahr. Etwa von einem abgeschnittenen Haufen Feindsoldaten, die nicht einsehen wollten, daß der Krieg mit unserem Sieg endete.

Wie ich es prophezeit hatte, schlief ich in dieser Nacht im Palast von Siskai, der zwar nicht ganz so luxuriös ausgestattet war wie der meinige in Demagon, aber man konnte es dennoch aushalten. Trotz meiner leichten Bedenken gab es bis zum nächsten Tag keinerlei Aufstände oder dergleichen. Offenbar akzeptierte mich das Volk notgedrungen als neuen Herrscher. Um so besser. Dann konnten wir zur Tagesordnung übergehen: Orden verleihen und vor allem einen Provinzverwalter festlegen. Aus diesem Grund bat ich Olivio Kasta in meine Gemächer.

„Ihr habt mich rufen lassen, oh mein höchster Imperator?“ salutierte er vor mir. Sein Brustpanzer funkelte, als wäre er frisch gewachst. Vermutlich verhielt es sich auch so.

„Richtig“, bestätigte ich seine rhetorische Frage. „Alonsien braucht einen Provinzverwalter, dem ich vertrauen kann. Dabei denke ich an Euch ...“

„Euer Vertrauen ehrt mich. Ich muß jedoch sagen, daß ich Soldat bin – von Politik verstehe ich nichts.“

„Aber, aber – lieber Olivio, das macht nichts. Ihr habt Anspruch auf drei Berater Eurer Wahl, die Euch bei Eurer schweren Last helfen können. Deren Wissen in Kombination mit eurem strategischen Genie ...“

„Nun gut, wie sieht es mit der Entlohnung aus?“

Kasta zeigte erkenntlich Interesse an der Stelle.

„Wieviel verdient Ihr denn augenblicklich? Irgendwas um die 200 Kuponen im Monat, oder?“ schätzte ich grob, denn ich wußte den Sold nicht auswendig.

„226“, korrigerte mich Kasta höflich.

„Als Provinzverwalter bekämt ihr 670 Kuponen“, klärte ich ihn auf. „Etwas mehr als normal auf Grund Eurer besonderen Verdienste für das Königreich.“

„Gebt mir Bedenkzeit bis morgen – dann werde ich euch eine endgültige Antwort geben.“

Damit war ich einverstanden. Auf einen Tag mehr oder weniger kam es wirklich nicht an. Etwas später am Vormittag trafen Soldaten aus Gothlon ein, denen der Durchbruch nicht so leicht wie uns gelungen war. Für den Abend setzte ich eine Siegesfeier an, zu der alle Krieger der versammelten Truppen geladen waren. Wir amüsierten uns prächtig mit in rauhen Mengen erbeutetem Wein, der zwar qualitativ dem Wein aus Gothlon nicht das Wasser reichen konnte, aber dennoch berauschend wirkte. Nach unzähligen Gläsern drehte sich irgendwann alles um mich herum und ich wurde schrecklich müde, so daß ich mein Haupt auf die Tischplatte bettete, woraufhin ich bald einschlief.

 

*

 

Mit einem schweren Brummschädel wachte ich auf. Mann, war das gestern Abend ein Saufgelage gewesen. Nur unwillig erhob ich mich. Wo befand ich mich hier eigentlich? Ach ja – im Thronsaal des Palastes. Ungefähr ein Dutzend herumliegende Soldaten bewiesen mir, daß nicht nur ich zu viel getrunken hatte. Mißmutig schlenderte ich in die von mir belegten Gemächer, wo bereits zwei Wächter auf Posten standen. Offensichtlich hatte die letzte Nacht nicht jeder durchgesoffen. Klar – selbst bei armeeweiten Festen gab es immer eine festgelegte Anzahl an Wächtern, die die Feier der restlichen bewachten.

In meinen Räumen angekommen trank ich erst einmal viel kühles Wasser, ehe ich mich noch eine Runde auf die Matratze warf. Eben als ich beinahe nochmal eingedöst wäre, klopfte es an der Tür. Da ich nicht reagierte, trat jemand unaufgefordert ein. Leicht wütend rappelte ich mich auf um den Störenfried zurechtzuweisen, bis ich erkannte, daß es sich um Olivio Kasta handelte.

„Mein König“, begann er sofort. „Ich habe eine dringende Nachricht aus Demagon. Deshalb habe ich mir auch erlaubt unaufgefordert hier einzudringen.“

„Eine Nachricht aus Demagon?“ wunderte ich mich. „Gratuliert man mir etwa schon zum Sieg?“

„Nicht ganz. Pythien ist ... gefallen.“

„Was soll das schon wieder heißen?“ Irgendwie begriff ich nicht, was er mir sagen wollte.

„Es hat zwei Tage vor Beginn unseres Feldzuges gegen Alonsien einen Angriff auf die Ostgrenze von Pythien gegeben. Der Gegner hat dabei zuerst unsere Grenzgarnisonen aufgerieben und ist daraufhin alles verwüstend Richtung Westen gezogen. Der Provinzverwalter hat die Kolonie räumen lassen.“

„Was erlaubt sich denn der?“ rief ich zornig. „Der soll gefälligst die Kolonie halten. Wer wagt es diesmal eigentlich uns anzugreifen? Die Perser?“

„Es wurden berittene Frauen gemeldet, Eure Hochwohlgeborenheit.“

Schon wieder Frauen? Doch nicht etwa dieselben, die bereits vor einigen Monaten für soviel Unannehmlichkeiten gesorgt hatten?

„Ach Wodan, du meinst es schlimm mit mir. Womit habe ich dich nur erzürnt?“ sprach ich mehr mit mir selbst als mit Kasta. „Wieso schenkst du mir zuerst einen Sieg über Alonsien, um mir dann Pythien zu nehmen?“

Mit beiden Händen bedeckte ich mein Gesicht, als wolle ich dadurch die Gunst des Gottes erringen, bis ich mich wieder Kasta zuwandte. „Was sollen wir jetzt tun?“

„Ich schlage vor, wir lassen ein Magnus hier als Besatzungsmacht und kehren mit dem Rest zurück nach Demagon, von wo aus wir einen Gegenstoß nach Pythien unternehmen können.“

„Eine sehr gute Idee, Kasta. Gebt schon mal den Befehl an die Truppen sich fertig zum Abmarsch zu machen. Die sollen zudem die Finger vom Wein lassen.“

Kasta machte kehrt um meiner Aufforderung nachzukommen. Währenddessen döste ich noch ein wenig, entschied mich dann allerdings doch fürs endgültige Aufstehen. Kurz darauf wurden mir drei Magnas als bereit gemeldet. Mich an vorderster Spitze aufhaltend ging es nun gen Osten. Fünf Tage Fußmarsch lagen vor uns, fünf Tage, in denen wir bis zur Erschöpfung marschierten, getrieben von meiner Furcht, wir könnten irgendwas verpassen, falls wir zu lange brauchten. Endlich erreichten wir Demagon, wo mich Alek noch vor den Toren der Stadt aufsuchte.

„Mein Imperator, es traf heute morgen eine Nachricht von König Sarkas ein: sein Reich wird im Osten angegriffen. Die Stadt Uskal wird belagert. Offensichtlich sind diese Weiberhorden nach der Eroberung Pythiens weiter gen Westen geritten. Sarkas bittet uns um sofortige Unterstützung.“

„Was kommt denn als nächstes?“ schüttelte ich erbittert den Kopf. Die Vorsehung meinte es in diesen Tagen wirklich nicht gut mit mir. Was hatte ich getan, daß mir die Götter derart zürnten? Hatte ich nicht im ganzen Land Tempel für sie bauen lassen?

„Kasta? Wo ist Kasta?“ blickte ich mich suchend um, doch ich sah ihn im Gewurl der Soldaten nicht. „Bringt ihn zu mir ...“

Wenig später stand Kasta neben mir. „Ja, mein König?“

„Kasta, Ihr werdet unverzüglich mit den hier versammelten Truppen weiterziehen und zwar nach Gothlon – haltet Euch dicht an der Küste und attackiert die eindringenden Reiter.“

„Die Soldaten sind müde von den langen Märschen der letzten Tage.“

„Dagegen kann ich auch nichts machen. Jedenfalls ist es erforderlich, daß wir Gothlon sofort helfen. Da können wir keine Rücksicht auf den Erschöpfungsgrad der Männer nehmen ...“

Das sah auch Kasta ein. Niedergeschlagen wegen des langen Marsches sowie vor allem den jüngsten Neuigkeiten zog ich mich in meine Gemächer zurück, wo mich Talia aufsuchte.

„Ich bin froh, daß du heil wieder zurückgekommen bist“, meinte sie erleichtert.

„Hmm, ja“, brummte ich. „Mich beschäftigen jetzt mehr Pythien und die eingefallene Reiterarmee in Ostgothlon. Das könnte zu einem ernsten Problem werden.“

„Das ist weit weg. Leg dich hin und entspann dich ...“

Talia zog mir das Hemd aus und massierte mich mit ihren grazilen Händen am Rücken. Mmmh, tat das gut. Mit einem male waren alle Sorgen weit weg.

 

*

 

Tage der Ungewißheit verstrichen. Kasta mochte nun schon die Grenze nach Gothlon überschritten haben. Wo wohl die Hauptmacht des Feindes nun stand? Eine aus Fari eintreffende Handelsflotte bestehend aus 24 Schiffen verriet uns mehr: die Reiter hatten einen Bogen um die befestigte Hafenstadt gemacht um weiter nach Westen vorzustoßen. Eine baldige Konfrontation mit unseren Truppen zeichnete sich also ab. Zusammen mit Talia suchte ich den Tempel unseres Kriegsgottes Orat auf, um ihn durch ein Opfer für die baldige Schlacht gnädig zu stimmen. Anschließend verkrochen wir uns wieder in unseren Privatgemächern. Talia machte den Vorschlag, den weiteren Tag nur für uns zu reservieren. Daher wies sie die Wachen auch an, niemanden zu uns durchzulassen – egal worum es sich auch immer handelte. Ein Königspaar braucht schließlich auch mal Zeit nur für sich selbst. Ein Zustand, in dessen Genuß wir nur selten kamen. Wir legten uns dicht nebeneinander auf je eine gepolsterte Liege. Irgendwie war meine Laune zur Zeit etwas im Keller. Kein Wunder – es ging ja das meiste schief. Von der Eroberung Alonsiens abgesehen. Wenn mich denn nur eine Nachricht von Kasta erreichen würde. Eine, in der er die Vernichtung der feindlichen Reiterhorden und die Rückeroberung von Pythien berichtete ...

„Komm, iß ein paar Weintrauben“, versuchte mich Talia aufzuheitern, was ihr nach einigen zarten Liebkosungen auch gelang. Oh, das Leben konnte so schön sein, wenn man diverse Probleme einfach vergessen konnte. Ich gab mir Mühe nicht an die Sorgen zu denken, wodurch sich ein schöner Abend mit Talia entwickelte.

Als ich erwachte, schien es mir bereits weit nach Mittag zu sein. Meine Ehefrau lag noch im Bett, doch mich hielt es jetzt nicht mehr. Was mochte sich während unseres gemeinsamen Abends und der darauffolgenden Nacht alles ereignet haben? Hatte der Gegner feige die Flucht vor unseren anrückenden Einheiten ergriffen? Diese unerträgliche Ungewißheit machte mir stark zu schaffen. Wie jeden Tag suchte ich zuerst den Nebenraum zu meinen Gemächern auf, der als komfortabler Warteraum diente. Dort pflegte stets ein Wächter zu stehen, den ich wie gewohnt losschickte um Alek und Numa zu verständigen. Hier in diesem Zimmer hielt ich mit ihnen nämlich immer die erste kurze Unterredung des Tages ab um zu klären, was anstand bzw. welche Informationen ihnen über Nacht zugespielt worden waren. Auch an diesem Tag kamen die beiden recht schnell hierher.

„Guten Morgen“, begrüßten wir uns, ehe ich begann: „Was gibt es Neues?“

„Kasta berichtet, seine Späher haben eine Vorausabteilung des Feindes gesichtet. Mehr konnte er aber noch nicht sagen“, erzählte Numa.

„Ferner hat heute morgen eine persische Flotte im Hafen von Demagon angelegt, die zur Hälfte mit Textilien und zur anderen Hälfte mit Glas beladen ist“, fügte Alek hinzu. „Der Händler verlangt auf Grund des erhöhten Bedarfs aber zwei Kuponen pro Stoffballen mehr.“

„Das interessiert mich jetzt einen Dreck“, murmelte ich mißmutig. „Ich will wissen, was Kasta treibt. Alles andere ist mir völlig egal.“

Meine beiden Berater kannten meine Launen mittlerweile und dachten sich angesichts meiner manchmal im Jähzorn geäußerten Bemerkungen vermutlich schon gar nichts mehr. Jedenfalls wußte ich nun schon mal, daß sich die Entscheidungsschlacht demnächst ankündigen würde. Wie viele Soldaten würde ich wohl verlieren? Diese bewaffneten Frauen hatten in Pythien bewiesen, daß sie stärker sind, als es sich für Weiber ziemt. Wer weiß wo die nur herkamen. Was mich weitaus mehr interessierte: was war das für ein Volk, in dem offenbar nur die Frauen kämpften – Männer hatte man unter den Plünderhorden in Pythien nämlich überhaupt nicht angetroffen. Spontan erinnerte ich mich an die noch immer im Südturm inhaftierten drei Gefangenen. Vielleicht sollte ich mal wieder eine kleine Befragung durchführen? Mit vier Wächtern der Leibgarde begab ich mich dorthin, wo uns einer der wachhabenden Soldaten zu den Zellen führte. Mal sehen, was es gebracht hatte, die drei einzeln zu inhaftieren. Wenn man den Menschen, der an sich ja ein gruppenbezogenes Lebewesen ist, längere Zeit zum Alleinsein zwingt, dann ist er danach in der Regel für jeden Kontakt dankbar, den er bekommen kann. Angesichts dieses Hintergrundes erhoffte ich mir viele freiwillige Antworten auf meine Fragen, da die Gefangenen seit Monaten niemand mehr zu Gesicht bekommen hatten. Die täglichen Mahlzeiten hatten man ihnen durch eine spezielle Klappe am Boden in die Zellen geschoben.

„Die da“, wies ich mit dem Finger auf die rothaarige Jai. Zu zweit zerrte man die besagte Dame in den Nebenraum, was den beiden Wächtern gar nicht leicht zu fallen schien, denn die Rothaarige wehrte sich nach Leibeskräften. Im Raum nebenan angekommen deutete ich auf eine Streckbank, also eine massive, tischähnliche Holzplatte mit je zwei verschließbaren Eisenringen an den Enden. Meinen Männern gelang es nur mühsam die sich heftig Wehrende dort anzuketten. Wirklich höchst erstaunlich, dieses für Frauen recht ungewöhnliche Verhalten. Als sie angekettet war, erkannte sie, daß Gegenwehr nun keinen Sinn mehr hatte und entspannte sich ganz ruhig. Meine 4 Leibgardisten flankierten den Tisch als auch den Eingang des Raumes.

„Na?“ stolzierte ich mehrmals im Kreis um die Streckbank herum. „Ist doch richtig gemütlich, unsere Holzpritsche, was?“

Zu ihren Füßen blieb ich stehen, damit sie mich ansehen konnte.

„Ich weiß, ich habe euch drei in den letzten Wochen total vernachlässigt. Unaufschiebbare Geschäfte ... aber heute nehme ich mir so richtig viel Zeit für euch – mit dir fange ich an. Ich hoffe du weißt das zu würdigen. Ihr nennt euch doch Amazonen. Was bedeutet diese Bezeichnung?“

„Das heißt ‚starke Frauen‘“, gab sie mir bereitwillig Auskunft. Die Monate der Einzelhaft schienen sich tatsächlich gelohnt zu haben. Manchmal kommt man durch psychologische Taktiken eben weiter als durch Brutalität.

„Interessant. Was ist dann mit euren Männern?“

„Wir haben keine Männer.“

„Das verstehe ich nicht“, erklärte ich. „Ihr müßt doch irgendwie zu Nachwuchs kommen?! Dazu braucht ihr doch Männer.“

„Wenn wir neue Kriegerinnen brauchen, dann nehmen wir uns, was wir wollen.“

„Wie? Ihr raubt junge Mädchen?“

„Nein, wir entführen Krieger, die uns gefallen.“

Jetzt wurde mir klar, was es hieß, Gefangener dieser Horden zu werden ...

Das bedeutete wohl Lustknabe des gesamten Stammes zu werden. Schauderhaft. Wie rückständig.

„Was macht ihr dann mit neugeborenen Knaben?“

„Die sind für uns bedeutungslos. Wir geben sie zurück in den Kreislauf der Natur – wir setzen sie in den Wäldern aus.“ Rabiate Sitten. Wo gab es denn so was, daß ein männlicher Nachkomme weniger zählte als ein weiblicher?

„Habt ihr eine Anführerin oder dergleichen?“

„Ja, eine Königin. Sie ist eine direkte Nachfahrin von Hippolyte.“

„Wer ist das denn?“

„Das ist unsere Göttin.“

„Was zeichnet diese Göttin denn aus?“ fragte ich weiter.

„Sie ist edel, gerecht, weise und stark. Sie ist der Ursprung unseres Volkes und wird uns die Macht verleihen, die ehemaligen Verhältnisse, in denen wir einst lebten, wiederherzustellen.“

„Darunter kann ich mir nichts vorstellen. Was bedeutet das denn konkret?“

„Ihr Männer sollt für uns arbeiten, so will es die Göttin. Der Mann ist dem Weibe untertan, ihr Sklave, mit dem sie machen kann, was sie will.“

Ein heidnisches Völkchen, das einem eklatanten Irrglauben zum Opfer gefallen war. Diese Amazonen schienen mir in der Tat gefährlich zu sein. Man mußte ihre Ansichten austilgen.

„Kommen wir nochmal auf eure Königin zurück – kennst du sie?“

„Nicht persönlich, aber sie hat den Ruf eine schlaue Frau zu sein. Überdies ist sie auch noch sehr hübsch.“

„So, so“ meinte ich unbeeindruckt. Immerhin betrachtete auch ich mich als intelligent und nicht unansehnlich. Mein Selbstbewußtsein war eben schon seit jeher recht ausgeprägt. Doch ich ließ mich nicht von den angeblichen Eigenschaften meiner Feinde blenden, denn ich wußte, daß ich ihnen überlegen war. Immerhin gehörte ich dem Königreich von Quartan an, das über eine lange Geschichte blicken konnte. „Wie viele Kriegerinnen seid ihr ungefähr?“

„Das entzieht sich meiner Kenntnis.“

„Die Armee, bei der du dich vor deiner Gefangennahme befandst – war das der Großteil eurer Kriegerinnen?“

„Nein, wir waren nur eine kleine Vorausabteilung.“

Das irritierte mich jetzt ein bißchen. Wenn eine „kleine Vorausabteilung“ in der Lage war, mir und den Truppen aus Gothlon Verluste in Höhe von beinahe 6000 Mann zuzufügen – was würde dann die Hauptmacht ausrichten? Auf der anderen Seite hatten auch wir unsere zahlenmäßige Präsenz verstärkt. Außerdem konnte es gut möglich sein, daß die Gefangene versuchte, mich mit Angabe falscher Daten zu täuschen. Daran würde es wohl liegen. Dennoch war mir nicht ganz wohl in meiner Haut. Zumal diese Jai mir nichts genaues über die Stärke der ihren sagen konnte – oder wollte. Vielleicht würde ich von den beiden anderen mehr erfahren.

„Macht sie los und bringt sie zurück in ihre Zelle“, wies ich zwei Wächter an. Den anderen befahl ich die nächste herzuholen. Es war die braunhaarige Xaja, die die Behandlung widerstandslos über sich ergehen ließ. Selbst das Anketten auf die Streckbank, was sie in einen Zustand der Wehrlosigkeit versetzte. Als ich vor sie hintrat, blickten mich zwei ausdrucksstarke Augen an, die etwas von der Wildheit verloren hatten, die ich noch während der letzten Unterredung bemerkt hatte.

„Wollen wir beide uns etwas unterhalten?“ begann ich formlos. „Wie wäre es, wenn du mir was über dein Volk erzählst?“

Sie schien mich oder meine Worte einfach zu ignorieren.

„Kannst du mir sagen, wie stark eure Hauptarmee ist? Was fällt dir über eure Königin ein? Wo hält sie sich momentan auf?“

Nun endlich öffnete sie langsam die Lippen.

„Königin Daria wird euch alle vernichten“, zischte sie haßerfüllt hervor.

„So, wird sie das?“ belustigte mich dieser Kommentar. „Ich befürchte ich muß dich enttäuschen – eine meiner Armeen ist gerade dabei eure Reiterhorden anzugreifen. Schon bald wird es euer Volk nicht mehr geben ...“

„Daria wird dich ihren Leibwächterinnen schenken.“

„Mich? Unsinn! Was faselst du für einen Schwachsinn? Hat die Einzelhaft dir den Verstand verdorben?“

„Mitnichten. Ich glaube eher du verkennst den Ernst der Lage. Daria ist mit ihrer Armee gekommen um dein Reich auszulöschen.“

Aus der würde ich wohl kaum etwas verwertbares herausholen können. Den zwei Wächtern von vorher gab ich die Order sie wegzubringen um die letzte herzuholen. Wiederum wartete ich solange, bis sie an den Tisch gekettet war, ehe ich mit meinen Fragen begann. Die blonde Mera hatte ich mir absichtlich bis zum Schluß aufgehoben, denn sie hatte ich noch als die Zäheste in Erinnerung gehabt.

„Na? Wie geht es uns denn so? Ist die Zelle zu deiner Zufriedenheit?“ lispelte ich süßlich, was seine provozierend gedachte Wirkung allerdings verfehlte. „Ich hab mich bereits recht angeregt mit deinen Freundinnen unterhalten. Leider fehlen mir immer noch ein paar unbedeutende Antworten, bei denen du mir sicher behilflich bist?!“

Mera schaute nur desinteressiert an mir vorbei. „Ich sage kein Wort.“

Ich gab einer der Wachen einen Wink. „Entferne ihre Kleider.“

Der Angesprochene streifte die Gewänder nach oben beziehungsweise nach unten, so weit es eben auf Grund der Ketten ging, so daß Meras Körper weitestgehend nackt dalag. Muskulöse Oberschenkeln zeugten von reger Beweglichkeit. Auch ihr Oberkörper war wesentlich muskulöser gebaut als der meiner Ehefrau. Dennoch erkannte ich auf den ersten Blick, daß hier eine Frau vor mir lag. Eine, die mir an Körperkraft mindestens ebenbürtig schien. Sanft berührte ich sie am Bauch und strich mit meinem Finger in einem Kreis um ihren Bauchnabel herum, was sie zu ignorieren schien. Im Anschluß daran kreiste mein Zeigefinger in Zickzacklinien nach unten. Eben als mein Finger zwischen ihren Schenkeln hinabrutschen wollte, bemerkte ich, wie sie ihre Oberschenkelmuskulatur anspannte, als bereite sie sich auf einen Sprung vor. Ich hielt in meiner Berührung inne und nahm die Hand von ihrem Körper.

„Du hast so schöne weiche Haut – es wäre doch wahrlich ein Frevel dich zu malträtieren. Es liegt in deiner Hand. Sag mir, was ich wissen will und dir wird nichts geschehen. Ich schenke Xaja, Jai und dir sogar die Freiheit. Ist das ein Angebot in Güte?“

Trotz meiner Großzügigkeit lehnte sie es ab mir etwas zu verraten. Einer der Wächter schlug vor, die Wasserpeitsche an ihr auszuprobieren. Dabei handelte es sich um ein raffiniertes System, das Wasser über eine von zwei Mann zu bedienende Pumpe in einem Behälter über dem Opfer sammelte und bei Erreichen einer bestimmten Menge von einem Kontakt gekippt wurde, so daß sich rund zehn Liter Wasser über den darunterliegenden ergossen. Eigentlich nicht wirklich brutal, aber wenn man bedenkt, daß das Wasser kalt und die Luft hier unten recht kühl war, besaß diese Methode schon einen gewissen „Überredungsfaktor“ zur Kooperation, denn nach kürzester Zeit fror der so behandelte wie eine gescherte Katze im Gebirge. Eine recht neue Foltermethode, die während der Regierungszeit meines Vaters erfunden wurde. Der große Vorteil darin war, daß sie keine bleibenden Schäden wie etwa abgetrennte Gliedmaßen zurückließ. Lediglich einen Schnupfen konnte man sich dabei holen. Dennoch waren derartige Verhörmethoden nicht nach meinem Geschmack. So etwas schien mir primitiv, rückständig, meiner unwürdig zu sein. Immerhin war ich kein Halbwilder, sondern der König eines der fortgeschrittensten Reiche der Welt. Daher versuchte ich es zunächst mit etwas anderem.

„Mera ... eine Frau wie du ist doch sicher empfänglich für Gold, Schmuck und Reichtümer? Wie wäre es, wenn ich dich mit Goldketten behänge, soviel du tragen kannst? Edelsteinketten, die dein Antlitz noch besser zur Geltung bringen, ein Brustpanzer gänzlich aus Gold?“

„Du glaubst doch nicht, daß du mich kaufen kannst?“ stellte Mera eine Gegenfrage. „Ich habe keine Angst vor dem Tod, also mach mit mir, was du willst, aber ich werde dir nichts verraten. Wenn es dir Freude bereitet, mich zu quälen, dann ergötze dich an meinen Schmerzensschreien. Meinen Willen jedoch kannst du nicht brechen.“

„Du hast Mut“, erkannte ich bewundernd an. „Das gefällt mir. Sind viele von euch so wie du?“

„Mehr als dir lieb sind.“

„Ich beginne langsam mich zu fragen, ob wir nicht gute Verbündete wären.“

„Unsere Königin würde niemals ein Bündnis mit euch verlogenen Männern eingehen!“ war sich Mera sicher. Irgendwie zweifelte ich daran keinen Augenblick.

 

*

 

Unweit der Nordgrenze von Quartan standen zwei Frauen auf einer kleinen Anhöhe auf Gothlon-Territorium. Die eine starrte angestrengt auf die Ebene, die sich zu Füßen des Hügels ausbreitete. Dort marschierte soeben eine größere Menge Fußvolk auf. Im Schneckentempo wälzte sich ihre Masse langsam in die Ebene hinein. „Sie kommen“, stellte die Frau mit ruhiger Stimme fest.

„Ja, Leana“, entgegnete die andere. „Sie laufen uns direkt in die Falle.“

Königin Darias Züge umspielte ein mildes Lächeln. Ihr güldener Helm glänzte in den fahlen Sonnenstrahlen wie ein Diamant. Sie drehte sich herum um die Senke hinter dem Hügel zu überblicken. Dort warteten abertausende von Reiterinnen auf den Befehl zum Angriff. Seite an Seite standen sie in breiten Reihen, bewaffnet mit Bogen, Schwert, Speer oder Lanze, geschützt durch zentimeterdickes, beschlagenes Leder, erbeutete Kettenhemden oder Brustpanzer aus Eisen. Pfeile mit grazilen Federschäften steckten in Köchern aus verziertem Holz, geschmiedete Eisenwaffen in ihren Halterungen. Eine ausgeglichene Ruhe lag über der Senke. Nur manchmal schnaubte eins der Pferde. Erneut lächelte Daria, die sich sicher war, kurz vor einem weiteren Sieg zu stehen. Es fehlte nur noch der richtige Moment für den Angriff. Sie würde alle Männer unterwerfen – denn so stand es geschrieben in den heiligen Aufzeichnungen ihrer Vorfahren.

 

*

 

Olivio Kasta hatte durch ausgesandte Späher die ersten Vorhuten der Amazonen ausgemacht. Im Eilmarsch stieß er in die Richtung der zu erwartenden Hauptmacht. Sein Plan war es, mit einem frontalen Direktangriff unter Ausnutzung des offenen Terrains eine Bresche in die gegnerischen Linien zu schlagen um sie anschließend in kleinere Kessel zu verwandeln, die einfacher aufzureiben sind. Soweit der Plan, momentan ging der Vormarsch jedoch nicht planmäßig voran, denn die Reiterinnen in der Ferne wichen Richtung Wald aus.

„Diese feigen Weiber stellen sich uns nicht zum Kampf!“ brummte Kasta zu seinem Adjutanten, der dies nur bestätigen konnte. „Die haben offensichtlich Angst vor uns.“

Überlegen trieb Kasta seine Männer zu einer schnelleren Gangart an. „Vorwärts Männer – die kaufen wir uns!“

Auf der rechten Flanke breitete sich nun ein längerer Hügel aus, der leicht bewaldet war. Obwohl nicht besonders hoch, bot er sicher einen guten Ausblick.

„Ein Tripel steigt da gleich mal rauf zwecks Erkundung der Umgebung“, ordnete Kasta an, der die Fernsichtwirkung von Anhöhen durchaus einkalkulierte. Doch noch ehe der Erkundungstrupp oben angekommen war, erfüllte ein brausendes Donnern die Luft. Kasta konnte dieses Geräusch zuerst nicht einordnen, doch dann wußte er, woher es kam: soeben brachen aus dem Waldstück vor ihnen die ersten Gruppen Reiter heraus. Zur rechten Hand oben auf dem Hügel tauchten nun ebenfalls überraschend Reiter auf, die sogleich herab galoppierten.

„Alle Mann in Verteidigungsposition!“ kommandierte Kasta hastig. „Haltet die Reihen zusammen – laßt sie nicht durch und bleibt ruhig.“

Leichter gesagt als getan, denn die beiden Hauptkeile der Reiterarmeen spalteten sich in je zwei Teile, die nach links bzw. rechts ausscherten, um somit den Kreis um Kastas Magnas zu schließen.

„Die versuchen uns zu umzingeln!“ erkannte Gerold Hamk, einer der Magnaführer.

„Die werden damit wohl auch Erfolg haben. Wie mir scheint, können wir nämlich nichts dagegen tun, um diesen Versuch zu vereiteln“, murmelte Kasta, der begriff, in eine Falle gelaufen zu sein. Zu Fuß konnten seine Männer einfach keine ebenbürtig schnellen Manöver ausführen wie es die Reiterinnen vermochten. Das relativ offene Gelände hier bot viel Platz für umfassende Bewegungen. Wie geschaffen um eine Armee einzukesseln. Doch sie würden sich ihrer Haut wehren. „Alle Mann in Stellung gehen!“

Die Reihen begannen sich umzuformieren, um den anstürmenden Reitern eine Wand aus Holzschilden, Eisenspitzen und Spießen entgegenzustellen. Inzwischen hatten die Reiterinnen den Kreis um Kastas Truppen geschlossen. In mehreren Linien standen sie hintereinander. Noch standen sie still, doch dies würde nicht mehr lange so bleiben, das stand außer Frage. Wie durch ein verabredetes Signal ging die erste Welle zum Angriff über. Donnernde Hufe fegten über den Boden, immer näher kamen die bedrohlichen Kriegerinnen. Wie ein Orkan ergoß sich die erste Woge über die Soldaten aus Quartan. Pferde wurden von Schwertern in die Flanken getroffen, von Speeren durchbohrt und brachen zusammen. Manche von ihnen bedeckten noch Soldaten unter sich, die ein leichtes Opfer für die nachfolgenden Amazonen wurden. An mehreren Stellen hatte der forsche Angriff Lücken in die Reihen der Verteidiger geschlagen. Inmitten der eigenen Reihen tobten erbitterte Zweikämpfe, doch noch hielt man den Attacken stand. Olivio Kasta griff in schneller Folge durch seine taktischen Befehle in den Kampf ein, was mehrmals brenzlige Situationen verhinderte. Die erste Angriffswelle war abgewehrt worden. Die meisten der Angreiferinnen lagen tot oder verwundet am Boden. Nur einige wenige hatten sich zurückziehen können. Aber auch auf der Gegenseite hatte es empfindliche Verluste gegeben. Manche Verteidigungslinien zählten nur noch einige Mann, so daß sie in die nächste Linie mit integriert wurden. Die zweite Welle ließ nicht lange auf sich warten und ihr rasches Eingreifen führte dazu, daß die Armee von Kasta in zwei größere Haufen aufgeteilt wurde. Dazwischen standen nun mindestens 100 berittene Amazonen, die nach beiden Seiten hin die Teilgruppen weiter bedrängten.

Kasta konnte daher nur noch Befehle innerhalb eines Heerhaufens geben. Das hatte fatale Folgen für die Schlacht, denn der andere Teil der Armee hielt ohne die akute Präsenz von Kastas starker Führerpersönlichkeit dem Ansturm nicht mehr Stand und versuchte grüppchenweise in alle Richtungen zu entfliehen, was dazu führte, daß sie einzeln auseinandergenommen wurden. Der verbliebenen Truppe drohte dieselbe Gefahr, doch Kasta war gegen diese zähe Übermacht kaum in der Lage, die Niederlage mehr als zu verschleppen. Freilich, sie fügten dem Gegner Verluste zu, doch als erfahrener Feldherr wußte er, daß die Schlacht verloren ging. Nachdem der Großteil seiner Leute gefallen war, stürzte er sich in sein Schwert, um wenigstens seine Ehre zu retten.

 

*

 

Da nicht zu erwarten war, weitere Informationen ohne Anwendung speziellster Methoden zu bekommen, brach ich mein Verhör vorerst ab. Es würde mir sowieso nicht mehr lange verborgen bleiben wie stark die Amazonen wirklich waren. Spätestens wenn sie von Kasta zum Kampf gestellt wurden, würde sich zeigen, daß uns diese Mannweiber nicht gewachsen waren.

„Mein König“, riß mich Alek aus meinen Gedanken. „Ein persischer Abgesandter verlangt nach einer Audienz. Er behauptet, es sei wichtig.“

„Ein Perser?“ wunderte ich mich. „Was will der denn?“

„Das hat er nicht gesagt. Soll ich ihn zu Euch bitten?“

„Ja, führe ihn herein. Mal schauen, was der von mir will.“

Ein in fremdländische Gewänder gehüllter Mann trat herein, der sich höflich vor mir verneigte und mir mit schönen Worten zu schmeicheln versuchte. Doch dieses Verhalten galt bei den Persern als normal, zumindest Freunden gegenüber. Kritisch wurde es, falls sie darauf verzichteten.

„Was führt dich zu mir?“ fragte ich ganz direkt, denn ich hatte keine Lust in dieser Stunde ewig um den heißen Brei herum zu reden.

„Oh, Ihr wollt gleich zum geschäftlichen Teil kommen?! Nun, dann sage ich Euch, wieso ich hier bin: man erzählt sich, Ihr hättet ein paar Probleme mit einem kriegerischen Frauenstamm?“

„‘Problem‘ ist das falsche Wort“, korrigierte ich ihn. „Es gibt einige Unstimmigkeiten, aber das gibt sich wieder. In diesem Augenblick verwickelt einer meiner besten Befehlshaber diese Wilden in ein Gefecht.“

„Nun, falls Ihr Hilfe brauchen solltet, so könnte Euch mein König Truppen schicken. Natürlich würde eine solche Nachbarschaftshilfe nicht ganz umsonst sein ... immerhin entstünden uns dadurch enorme Kosten.“

„Ich bin nicht daran interessiert. Wir werden mit diesen mickrigen Weiberhorden auch alleine fertig. Sag dies deinem König und bestelle ihm desweiteren noch schöne Grüße von mir.“

„Wie Ihr meint, aber falls Ihr Eure Meinung ändern solltet – Ihr erreicht mich in Balnir, wo ich die nächsten Wochen verweilen werde.“

Nachdem er den Palast verlassen hatte, suchte mich Alek auf.

„Mir scheint Persien versucht aus unserer Situation Kapital zu schlagen.“

„Das sieht mir auch danach aus“, bestätigte ich seine Vermutung. „Daraus wird aber wohl nichts werden, weil wir deren ungnädige Hilfe nicht benötigen. Außerdem: was wären denn das für Zeiten, wenn wir fremde Truppen für uns kämpfen lassen müßten?!“

Kopfschüttelnd befaßte ich mich mit der Absegnung einiger neuer Bauvorhaben. Zwei Tage später erreichte die Hauptstadt Demagon ein berittener Bote, den Numa persönlich zu mir brachte. Offenbar handelte es sich um eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit, denn erstens blickte Numa ziemlich ernst drein und zweitens verriet mir die Tatsache, daß er den Boten persönlich zu mir führte, den Wert der Nachricht, die mir direkt aus dem Munde des Überbringers mitgeteilt werden sollte.

„Was gibt es Neues?“ fragte ich neugierig, woraufhin der Bote zu sprechen begann: „Mein König, ich überbringe schlechte Neuigkeiten. Unsere Truppen wurden von starken Feindkräften umzingelt und attackiert. Olivio Kasta hat in den Kämpfen den Tod gefunden. Bis auf vereinzelte Versprengte gab es überdies keine Überlebenden.“

Man konnte die Spannung im Saal regelrecht fühlen, so mächtig war die soeben getroffene Aussage gewesen.

„Numa, du kommst sofort mit Alek in meine Gemächer.“

Ich wies den Boten an, eine Unterkunft im Palast aufzusuchen mit der zusätzlichen Auflage, mir bis auf weiteres für einen Sonderauftrag zur Verfügung zu stehen. Dann kehrte ich in meine Gemächer zurück, wo Alek und Numa schon auf mich warteten. Ich breitete eine Karte unseres Reiches auf dem Tisch aus, um den wir uns setzten. Alek zu meiner linken, Numa zu meiner rechten. Die Abschätzung der Lage begann ich selbst.

„Die gegnerische Armee steht irgendwo hier.“ Damit deutete ich auf eine Stelle nordöstlich von Wenta beziehungsweise westlich von Fari.

„Wir kennen ihre Stärke nicht genau, aber nach der Schlacht gegen Kasta werden es in Wodans Namen doch hoffentlich nicht mehr all zu viele sein. Deshalb müssen wir ihnen möglichst bald den Rest geben. Wo stehen jetzt eigentlich noch Einheiten von uns?“

Alek strich mit der Hand langsam über sein Kinn, ehe er mit dem Finger nacheinander auf mehrere Stellen deutete.

„Hier in Pythien stand mal ein Millum, das wohl nicht mehr existiert, die drei Magnas von Kasta können wir wohl anläßlich der neuesten Informationen ebenfalls abschreiben, in Alonsien steht ein Magnus, in Durrmirr ein Quarzent, in Ularia ein Sekzent und in Montagor zu guter letzt nochmal ein Magnus sowie drei Millem.“

„Hinzu kommen noch etwaige Verstreute aus Pythien sowie der Kasta-Truppen und natürlich die Leibgarde von Demagon“, fügte Numa hinzu. „Macht zusammen also mindestens ...“ Er rechnete kurz im Kopf nach. „... 11600 Mann.“

Das bedeutete Kasta war mit etwas mehr als 50 Prozent unserer gesamten Armee untergegangen. In beinahe ohnmächtiger Verzweiflung überlegte ich, was wir tun sollten. Am Ende hatte ich unsere eigenen Kräfte überschätzt. Oder lag es eher an einer Unterschätzung dieser Horde von Weibern? Das mußten wirklich exzellente Kriegerinnen sein, wenn die in der Lage waren drei unserer stärksten Magnas zu vernichten. Eine weitere Niederlage konnten wir uns zumindest nicht leisten.

„Hat jemand eine Idee, was wir machen könnten?“ stellte ich eine Frage in die Runde, weil sich in meinem Kopf nur Gedanken im Kreis drehten.

„Wir sollten Truppen vor Demagon konzentrieren, indem wir nicht dringend benötigte Verbände aus anderen Regionen abziehen“, schlug Alek vor. „Im Detail würde ich sagen, wir beschränken uns in Alonsien auf ein Quarzent, ziehen alle Soldaten aus Durrmir ab und aus Montagor alles bis auf ein Millum. Dadurch sind 10000 Mann freigestellt.“

„Das halte ich aber für sehr bedenklich“, mischte sich Numa ein. „Die Bergvölker im Süden zeigen sich seit unserer letzten Truppenreduzierung als überdurchschnittlich unruhig. Ein Standortkommandeur hat mir versichert, daß sich die für einen Angriff vorbereiten. Die wittern unsere momentane Schwäche und wenn wir jetzt weitere Verbände abziehen, dann könnte es sein, daß die das ausnutzen werden. Noch haben wir nur auf einer Seite einen Feind. Wir sollten nicht zulassen, gleichzeitig gegen zwei Seiten kämpfen zu müssen.“

Damit hatte er sicher nicht ganz Unrecht.

„Gut. Dann machen wir es so, wie Alek vorgeschlagen hat, nur daß in Montagor lediglich zwei Millem abgezogen wird. Dann sollten wir uns noch auf einen Ort einigen, wo sich die Truppen versammeln sollen.“

„Demagon“, meinte Numa. „Durch die Seelage haben wir nämlich jederzeit die Möglichkeit unsere Einheiten per Schiff nach Norden – oder Süden, falls dort Einbrüche erfolgen – zu transportieren. Zudem ist der wichtigste Punkt unseres Reiches, die Hauptstadt, in jedem Fall bestens beschützt.“

„Einverstanden. Wie lange wird es etwa dauern, bis alle Verbände eingetroffen sind?“

„Nun ja, die Truppen aus Alonsien haben den weitesten Anmarschweg. Ich würde schätzen mindestens eine Woche, vorausgesetzt wir schicken dorthin Eilboten. Alle anderen dürften spätestens in drei Tagen ankommen.“

„Dann bleibt uns nur zu hoffen, daß die Amazonen währenddessen auf keine dummen Gedanken kommen. Falls die Gothlon verlassen sollten und dann im Norden unseres Reiches zum plündern anfangen ...“

Numa zeigte auf die Provinz Kantarien. „Die bisherige Stoßrichtung der Amazonen war Westen. Sie sind von Osten her kommend in Pythien eingedrungen, haben sich dann direkt gen Westen nach Gothlon gewandt, was darauf schließen läßt, das sie weiterhin in diese Richtung wollen. Das würde bedeuten, am gefährdetsten ist demnach Tremlok.“

Eine unserer wichtigsten Handelszentren. Noch dazu derzeit völlig schutzlos.

„Hmm“, grübelte ich. „Dann wäre es wohl das beste den Verband aus Alonsien direkt nach Tremlok zu schicken, damit die in der Lage sind die Stadt zu verteidigen.“

Dem stimmte nach etwas zögern auch Alek zu.

„Wir können die Situation dann sogar nutzen, um dem Feind mit den vor Demagon gesammelten Kräften in den Rücken zu fallen. Ein exzellenter Plan.“

„Das sehe ich ebenso“, erklärte ich. „Dann kümmert ihr euch um den Abzug der Truppen, während ich mich mit anderen Sachen befasse ...“

 

*

 

Etliche Tage später traf erneut ein Kundschafter aus dem Norden ein. Seine Meldung ließ keinen Zweifel an der Kampfbereitschaft der Amazonen: Die befestigte Stadt Wenta im Norden Venetiens war eingeschlossen worden. Offiziell standen dort keinerlei regulären Kampftruppen bereit. Sprich: der Stadtkommandant würde zur Verteidigung wohl oder übel auf die Bevölkerung zurückgreifen müssen. Mit 3800 Einwohnern war es die fünftgrößte Stadt des Reiches, doch davon konnte man wohl nicht mehr als 1100 Bürger als kampftauglich einstufen. Ein Großteil davon hatte zudem noch nie ein Gefecht aus der Nähe gesehen. Wie deren Kampfwert gegen einen solch harten Gegner wie es die Amazonen zu sein schienen, zu betrachten war – dem gegenüber gab ich mich keiner Illusion hin. Doch immerhin war diesmal ein Faktor anders: es würde keine offene Feldschlacht geben, sondern einen Sturmangriff gegen eine drei Meter hohe Stadtmauer. Mal sehen, was diese Weiber dagegen unternehmen wollten.

Inzwischen meldete Alek die eingetroffenen Einheiten aus den Randprovinzen. Zwei Millem sowie ein Quarzent warteten auf weitere Befehle, während der Verband aus Alonsien noch nicht in Tremlok eingetroffen war. Dies würden wir aber wohl erst mit zwei oder drei Tagen Verspätung erfahren, denn genauso lang brauchte ein flinker Reiter um von dort nach Demagon zu gelangen – trotz Pferdewechselmöglichkeiten alle 20 Kilometer. Erneut hielt ich eine Diskussion mit Alek und Numa. Alek plädierte dafür, die Reserven vor Demagon in Höhe von 2400 Mann sofort nach Norden zu schicken, um der eingeschlossenen Stadt Wenta zu helfen. Numa hingegen machte sich für eine Eingriffsreserve stark, die in Demagon zudem an einem äußerst wichtigen taktischen Knotenpunkt lag. Das sah ich genauso, weshalb ich einen Brief an die Kommandeure vor der Stadt entsenden ließ mit der Aufforderung, in die Stadt einzumarschieren um in den Unterkünften unterzukommen. Dort sollten sie sich in Alarmbereitschaft halten. Dieser Schritt bedeutete für die Soldaten, daß sie in den um diese Jahreszeit sehr kühlen Nächten nicht mehr im Zelt schlafen mußten, sondern es in beheizten Häusern wesentlich gemütlicher hatten.

In dieser Nacht schlief ich ausgesprochen schlecht. Auf Grund einer inneren Unruhe sprang ich aus dem Bett, um auf den Gang hinaus zu stürzen, wo ich meinem Unmut Luft machte: „Kasta, Kasta, gib mir meine Magnas zurück!“

Ein Soldat meiner Leibwache stand unvermittelt vor mir und redete beruhigend auf mich ein. „Mein König, Ihr habt vermutlich nur schlecht geschlafen.“

„Ja, natürlich, aber das mußte gesagt werden“, murmelte ich vor mich hin, ehe ich mich wieder ins Bett legte. Talia, die ebenfalls wach geworden war, schaute mich verständnisvoll an.

„Komm her, komm ganz nah zu mir ...“ Sie streichelte mich zart am Bauch und kraulte mich am Kopf. „Mein armer, kleiner Imperator ...“

 

*

 

Es verstrichen mehrere verhältnismäßig ruhige Tage, in denen unter anderem der Verband aus Alonsien seine Zielstadt Tremlok erreichte. Ansonsten gab es keinerlei bedeutende Ereignisse. Am Nachmittag schließlich sollte sich dies ändern: Wenta war gefallen. Jetzt stand nichts mehr zwischen den Amazonen und der Hauptstadt des Reiches. Aber laut Numa würde der Feind eh Richtung Tremlok weiterziehen – sofern er sich nicht irrte. Da mir die Lage wirklich etwas brisant schien, beorderte ich meine Berater zu mir. „Was meint ihr? Sollen wir die Armee aus Tremlok in Marsch gen Osten setzen um den Gegner abzufangen?“

„Nein“, meinte Alek entschieden. „Wir sind uns – bis auf Numa – doch gar nicht sicher, ob die Amazonen wirklich nach Westen ziehen werden. Das wird sich erst in den nächsten Tagen zeigen. Darum sollten wir Kundschafter in alle potentiell möglichen Richtungen aussenden, damit wir erstens die Stoßrichtung des Feindes und zweitens dessen Stärke abschätzen können. Erst dann empfiehlt es sich darüber nachzudenken, was wir mit dem Tremlok-Magnus machen. Da wir sowohl Tremlok als auch Demagon gut befestigt haben, sind wir also auf beide Fälle ausreichend vorbereitet. Trotzdem würde ich es begrüßen, wenn wir die Bevölkerung von Demagon bewaffneten.“

„Hmm, ja, das ist wohl das beste. Aber falls die tatsächlich nach Süden ziehen sollten – Demagons Stadtmauern sind 11 Meter hoch! Das müßte doch eigentlich unbezwingbar sein.“

„Für uns vielleicht schon“, schätzte Numa. „Für die vielleicht nicht … wenn sich die die Zeit nehmen Belagerungsmaschinen zu bauen, dann können sie mit einer starken Armee durchaus Erfolg haben. Es sieht zumindest so aus, als verfügten die über wesentlich mehr Kriegerinnen, als wir vermutet hatten. Aushungern können sie uns schon mal nicht, weil wir Versorgung über das Meer bekommen. Das würde denen sicher nicht lange verborgen bleiben. Fazit: wenn sie Demagon erobern wollen, dann müssen sie es entweder gewaltsam tun oder mit einer List.“

„Was davon haltet ihr eher für möglich?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher“, gestand Alek. „Bisher zeigten sich uns diese Frauen recht kriegerisch, doch das muß nicht heißen, daß sie nicht anders können. Vielleicht gab es bislang nur keinen triftigen Grund anders vorzugehen. Warum Diplomatie betreiben, wenn es mit der Brechstange geht?“

Mein zweiter Berater hingegen war sich sicher:

„Die werden versuchen mit dem Kopf durch die Wand zu rennen. Entweder mit Sturmleitern, Belagerungstürmen, Wall aufschütten, Mauer untergraben, Katapulte bauen oder sonst irgendwie.“

„Wie wäre es, wenn wir von uns aus versuchten Diplomatie zu betreiben?“

„Ein Versuch kann nicht schaden“, erörterte Numa. „Nur wann und wo sollen wir dies probieren?“

„Ganz einfach: indem wir einen Mann mit einer weißen Fahne losschicken – der Gegner wird das schon nicht gleich als feindliche Geste einstufen. Auf der anderen Seite: ich wäre gern dabei, wenn es Verhandlungen gibt und falls ich mitreiten würde, dann könnte es sein, daß diese Halbwilden mich festnehmen. Danach habe ich auch kein großes Verlangen.“

Das konnten meine Berater verstehen. Wir einigten uns darauf, vorerst auf Verhandlungen zu verzichten. Noch stand es immerhin nicht so schlecht um uns, wie es den äußeren Anschein hatte. Trotzdem konnte uns eine Stärkung des Verteidigungspotentials nicht schaden.

„Dann gebe ich hiermit schon mal den Befehl, die wehrfähige Bevölkerung von Demagon bewaffnen zu lassen. Es sollen einige Übungen unter der Leitung von regulären Soldaten stattfinden.“

Alek hatte ausgerechnet, daß wir genügend Waffen sowie Ausrüstung vorrätig hatten, um 5000 Mann der Einwohner auszustatten. Sehr gut, das erhöhte die Verteidiger von Demagon auf 7800 Mann (davon 2800 reguläre Soldaten), meine Leibgarde bereits inbegriffen. Wenn ich nur wüßte, wir stark der Gegner war. Hoffentlich konnten die ausgeschickten Kundschafter auf diese Frage bald eine Antwort finden.

 

*

 

Königin Daria nahm die Nachricht von der kompletten Eroberung der Stadt Wenta gelassen hin. In der einen Hand noch das Schwert haltend, mit dem sie gerade einen der letzten Widersacher getötet hatte, stand sie triumphierend auf der Hauptstraße.

„Alle beweglichen Gegenstände plündern und die Stadt niederbrennen. Tötet jeden, der sich uns noch in den Weg zu stellen wagt. Verschont alle anderen, die unsere Dominanz anerkennen.“

Die Mauern von Wenta zeigten an mehreren Stellen große Löcher, vor denen zahlreiche Kriegerinnen lagen. Doch die Wehrgänge der Mauern boten ein ähnliches Bild: auch hier schien der Boden bedeckt zu sein mit im Kampfe Gefallener. Der Unbeteiligte konnte nur noch erahnen, welches Gemetzel sich hier abgespielt haben mußte. Doch trotz der Verluste zählte die Armee der Amazonen noch immer sehr viele Kriegerinnen, wenngleich sich die Ausfälle allmählich bemerkbar machten.

Trotz der spürbaren Kälte der weichenden Jahreszeit entledigte sich Königin Daria an einem der vielen Brunnen der Stadt erst mal ihres Obergewandes, damit sie ihren Körper säubern konnte. Sie haßte es überall auf der Haut eine Mischung aus Staub und Schweiß zu spüren. Hinzu kamen diverse Blutspritzer auf ihrem Lederwams, die sie wegzuwaschen trachtete. Das kühle Wasser benetzte ihre zarte Haut, was kleine Tropfen zurückließ, die in der Luft trockneten. Ein wohltuend erfrischender Hauch wehte um den nackten Oberkörper Darias. Ihr Blick richtete sich zum Himmel, als erflehe sie auch weiterhin den Segen von Hippolyte in kommenden Schlachten. Die zierliche Nase rümpfte sich kaum wahrnehmbar beim Anblick einiger dunkler Wolken am Horizont. Sah nach Regen aus. Bibbernd bedeckte Daria ihre Brüste mit ihren Händen.

„Bringt mir vielleicht mal jemand ein Stofftuch?“ wandte sie sich an eine ihrer Leibwächterinnen. Diese holte sogleich vom Sattel ihres Pferdes ein langes Wolltuch, das sie ihrer Königin um die Schultern legte. Nachdem sie sich trocken gerubbelt hatte, streifte sie ihr Lederzeugs wieder über. „Leana?“

„Ja, Königin?“ - „Wir marschieren in zwei Stunden weiter. Richtung Süden. Dort soll laut Aussagen eines Gefangenen die Hauptstadt dieses Reiches liegen. Es wird Zeit, daß wir die Entscheidungsschlacht suchen.“

 

*

 

Eine Woche verging, in der die in aller Eile aufgestellten Hilfstruppen in der Handhabung mit Waffen ausgebildet wurden. Zwischenzeitlich kehrte auch einer der Kundschafter zurück, der meldete, daß die Amazonen nach der Einnahme Wentas gen Süden zogen – direkt auf Demagon zu! Das hatte ich schon beinahe befürchtet. Ferner berichtete er davon, daß die Kolonne der Reiterinnen weiter als das Auge reichte. Da durfte man wohl mit wesentlich mehr als nur ein paar tausend rechnen. Nur Wodan wußte ihre genaue Zahl, doch eins kristallisierte sich felsenfest heraus: die Schlacht um Demagon würde die Zukunft von Quartan mitbestimmen.

Eines der eintreffenden Handelsschiffe aus Persien brachte Teer mit, den ich sofort aufkaufte und einlagern ließ. Damit konnte man sich bestens von der Mauer aus gegen aufdringliche Angreifer zur Wehr setzen. Da die Ankunft der ersten Amazonen vor den Toren der Stadt vermutlich nicht mehr all zu lange auf sich warten lassen würde, ordnete ich bereits die gleichmäßige fässerweise Verteilung des Teers an sowie eine generelle Ausgangssperre für alle Bürger. Nun durfte man nur noch mit Spezialerlaubnis aus der Stadt hinaus. In den Gassen breitete sich eine ungewohnte Hektik aus. Klar, solange die Gefechte weit entfernt gewesen waren, war jeder seiner alltäglichen Tätigkeit nachgegangen, doch wenn dann der Kampfschauplatz in die direkte Umgebung versetzt wird, fühlt sich selbst der Unbedarfteste in die Enge getrieben, weil er bemerkt, daß seine Welt zu zerbrechen droht. Bei diesem Schauspiel hatten die Soldaten mit mir als ihrem Anführer nur eine Statistenrolle: wir mußten verhindern, daß die Routinewelt der normalen Bürger vernichtet wurde. Wie? Indem wir die Welt der anderen vernichteten!

An diesem Tag fühlte ich mich wie ein Akteur in einem der zahllosen Dramen, die ich mit großem Interesse immer im Stadttheater zu besuchen pflegte. daß es sich um ein Drama handelte, würde bedeuten, daß es kein gutes Ende nehmen würde. Die Frage blieb zu stellen, wessen Ende dies war. Meines oder das von jener Königin Daria, die ich nur zu gern einmal kennen gelernt hätte. Vielleicht spielte es auch keine Rolle, wer in diesem Finale unterlag. Nach den schrecklichen Niederlagen der vergangenen Monate, die fast die gesamte Jugend von Quartan aufgezehrt hatten, konnte nicht mal mehr ein finaler Sieg über die Amazonen vor Demagon dazu beitragen, meinen Namen in den historischen Aufzeichnungen mit Sieg, Ruhm und Wohlstand zu verbinden. Den Amazonen hingegen würde ein Sieg weitaus mehr bringen: für sie war es eine Demonstration femininer Stärke über die Männergesellschaft. Fraglich blieb, wie lange sie dieses Gefühl auskosten konnten. Es würde sich wohl bald ein neuer Feind finden und man kann sich bekanntlich auch zu Tode siegen. Ferner war mir das Ziel der Amazonen nicht klar. Wollten die auf Quartans Boden eine neue Heimat gründen? Falls ja, würden sich daraus dieselben Probleme ergeben, denen auch wir begegneten. Die unbezähmbaren Bergvölker im Süden, ungesicherte Grenzen im Westen (Alonsien) sowie die Perser jenseits des Meeres, die auf ein aggressives Weibervolk ebenfalls nicht gut zu sprechen waren. Hinzu kam noch die Bedrohung aus Gothlon durch unsere Verbündeten. Die Amazonen würden also kaum auf besonders viele Gleichgesinnte stoßen. Nur was konnte das uns noch helfen? Jetzt wo der Feind nach meiner Krone zu greifen trachtete. Ich nahm mir vor, keine Gedanken mehr an solch demotivierende Themen zu verschwenden, sondern begab mich stattdessen mit Talia ins Bad, um mich der entspannenden Reinigung hinzugeben. Talia setzte sich mit dem Rücken gegen den meinigen gelehnt ins Wasser und wir genossen beide das wohltemperierte mit ätherischen Ölen veredelte Wasser. Am Anfang wollten meine Gedanken auch weiterhin nur um ein Thema kreisen: wie konnte man die Amazonen besiegen und gleichzeitig mein Reich vor noch größeren Verlusten bewahren? Durch liebkosende Streicheleinheiten reduzierte Talia meine Welt auf acht mal acht Meter – die Größe meines persönlichen Palastbades. Gegen Ende des Tages hielt ich eine Besprechung mit meinen Beratern ab betreffend der allgemeinen Situation.

„Die Lage ist bedenklich, aber nicht gänzlich hoffnungslos“, faßte ich meine Eindrücke der letzten Wochen zusammen. „Wie sieht es mit Waffen aus? Ist genügend Ausrüstung vorhanden?“

Alek, dem ich das durchzurechnen aufgetragen hatte, nickte kurz. „Ja, wir besitzen 24000 Speere, die sich auch zum Werfen einsetzen lassen, 6400 Schwerter, 3900 Äxte, 1100 Bögen mit 38000 Pfeilen. Damit können wir alle Soldaten ausstatten und haben sogar noch eine Reserve. Allerdings haben viele der Hilfstruppen keinen richtigen Körperschutz. Es fehlen insbesondere Helme – etwa 3700 – sowie Brustpanzer: rund 2100.“

„Könnten wir vielleicht bei den Persern etwas in der Art einhandeln?“

„Nun ja, das wäre eine Idee. Aber wir bräuchten das Zeugs eigentlich jetzt und nicht in zwei bis drei Wochen. Eventuell kommt die Lieferung zu spät, was uns ebenso wenig bringt. Aber probieren sollten wir es trotzdem.“

Wir führten noch eine längere Unterhaltung über die effizienteste Verteilung der Truppen auf die Mauern sowie Türme. Numa bestand darauf eine Eingriffsreserve in Höhe eines Millums zu bilden. Dem gegenüber äußerte sich Alek ablehnend. Meiner Meinung nach brachte es in der Tat wenig, einen Teil der streitbaren Einheiten vom Kampf auszusparen, während zeitgleich ihre Kameraden dem Feind gegenüberstanden. Zugegeben: im Falle eines Einbruchs bietet eine Reserve die Möglichkeit der schnellen Bereinigung, doch wenn man alle Männer gleich in vorderster Linie einsetzt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einem Einbruch kommt, geringer. Letzten Endes setzte ich meinen Willen durch. Es sollte keine Reserve geben.

Noch am Nachmittag desselben Tages sichtete einer der Turmwachen unbekannte Reiter vor der Stadt. „Die Tore schließen!“ gellte der Schrei der Torwache. Im Nu wurden die schweren, eisenbeschlagenen Holzpforten verriegelt, die auf Grund des Alarmrufs herbeistürmenden Soldaten aus den Unterkünften bezogen ihre Posten auf der Mauer. Die Belagerung Demagons begann.

 

*

 

Am ersten Tage zeigten sich uns lediglich ein paar Späherinnen, die in respektvollem Bogen außerhalb der Reichweite der Türme blieben. Man wollte sich vorsichtig vortasten, soviel schien klar. Herausfinden, wo unsere Schwächen lagen. Da würde nichts zu finden sein, Demagon glich einer Festung: bereits frühzeitig ausgebaut, erst einmal vor 386 Jahren attackiert, aber glorreich gehalten vom damaligen König Asrek. Mit meinen Beratern kam ich überein, daß der voraussichtliche Angriffspunkt das Tor sein würde. Eine Tür stellt immerhin seit jeher die beste Möglichkeit dar, einen Raum zu betreten. Doch dank unserer Vorkehrungen würden wir einen heißen Empfang bereiten können. In der Nähe des Tores befanden sich nämlich nahezu sämtliche

überzähligen Teervorräte. Alek äußerte Bedenken hinsichtlich der Meerseite. Dort konnte man die hohen Mauern einfach umgehen, indem man per Schiff durch die schmale Einfahrt fuhr. Da jedoch davon auszugehen war, daß die Amazonen über keine seetüchtigen Schiffe verfügten – schwimmend würden sie wegen der von Nord nach Süd verlaufenden Strömung niemals hineinkommen – würde von dieser Seite folglich auch kein Angriff drohen. Das sah auch Alek letztendlich ein, woraufhin Numa Konzepte zur Verteidigung vorbrachte. Das erste sah vor, die Mauern mit Bogenschützen zu besetzen, um den Gegner auf Distanz zu halten. Sollten die ersten Feinde kurz vor der Erklimmung der Mauer stehen, so hatten sie ihre Positionen mit dahinter bereit stehenden Nahkämpfern (Schwert, Speer, Axt) zu wechseln und sich daraufhin selbst mit Nahkampfwaffen auszurüsten. Der zweite Vorschlag lief darauf hinaus, die Bogenschützen im Innenhof zu versammeln um – geleitet von in den Türmen sitzenden Beobachtern – mehr oder weniger ziellos im Bogen über die Mauer auf die Heranstürmenden zu schießen. Das hörte sich chaotisch an, doch angesichts der Tatsache, daß der Großteil der Bogenschützen Leute der schlecht ausgebildeten Hilfstruppen waren, war eh nicht mit besonders hoher Treffsicherheit zu rechnen. Dafür blieben die Mauern komplett frei für die anderen Soldaten. Alek meinte, man könne eventuell einen Mittelweg gehen, indem man nachweislich gute Schützen auf den Wehrgang stellte und den Rest in den Hof zwecks indirektem Feuern. Diese Idee gefiel mir am besten, so daß ich sie umzusetzen gedachte.

„Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen muß?“

„Ja.“ Aleks Stimme kam von der linken Seite. „Der Kommandeur der Flotte hat angefragt, ob er den Hafen verlassen soll. Er hatte Bedenken, daß seine Galeeren während der Kampfhandlungen etwa durch in die Stadt geschossene Brandkörper beschädigt werden könnten.“

„Diese Angst sollte eigentlich unbegründet sein“, meinte ich. „Noch sind wir nicht mal richtig eingeschlossen, geschweige denn, daß die Amazonen Katapulte herangerollt hätten. Die Flotte bleibt vorläufig wo sie ist.“

Spontan erinnerte ich mich an den Kundschafter, den ich im Palast einquartieren ließ. „Holt mir den mal her“, verlangte ich.

Als er eintraf, trug ich ihm auf, sofort Richtung Tremlok loszureiten, um das dortige Magnus sofort im Eilmarsch herabzubeordern. Dafür gab ich ihm einen von mir unterzeichneten Marschbefehl mit, den ich mit dem roten Königssiegel verschloß. Mit dieser Einheit im Rücken würden die Amazonen ihr blaues Wunder erleben!

 

*

 

Die ersten Vorhuten erreichten an einem kühlen Winternachmittag die Ebene vor Demagon. Mächtige Mauern, die im fahlen Licht schon von weitem eindrucksvoll wirkten, kennzeichneten Demagon, die größte Stadt am Wodan-Meer. Die schwache Vorhut bestand lediglich aus drei Kriegerinnen, so daß mehr als vorfühlen gar nicht drin war. Doch so sehr sich die Späherinnen auch Mühe gaben, sie konnten keine Schwachstelle entdecken, egal aus welchem Winkel sie die Wehranlagen auch beäugten. Unverrichteter Dinge kehrten sie zurück zum Feldlager der Hauptmacht des Heeres, wo sie von den Wächterinnen sogleich zu Königin Darias Zelt geleitet wurden.

„Was könnt ihr mir über Demagon berichten?“

Nach der obligatorischen Verbeugung erzählten die Späherinnen einzeln in für einen Außenstehenden nicht nachvollziehbaren Reihenfolge über ihre Erkenntnisse der Aufklärungsmission.

„Die Stadt ist von ungewöhnlich hohen Mauern umgeben, in die in regelmäßigen Abständen Türme eingelassen sind. Die einzige Schwachstelle scheint das Tor zu sein, doch das wird von zwei protzigen Türmen eingerahmt und dementsprechend stark verteidigt sein.“

„Wie man von der nahen Küste aus sehen konnte, ist die Hafeneinfahrt etwas schlechter gesichert, doch dort ist natürlich ein Angreifer auch in einer keiner guten Position. Theoretisch müßte es rein von der Entfernung her möglich sein im Schutz der Dunkelheit schwimmend einzudringen. Allerdings kann ich nicht beurteilen, ob es dort Strömungen gibt.“

„Auf den Mauern standen nicht gerade wenig Soldaten. Eine Erstürmung würde also höchstwahrscheinlich kostspielig werden. Mit Leitern sind die Mauern auf Grund der exorbitanten Höhe nur schwer zu erklimmen. Mit Belagerungstürmen wäre die Erfolgschance wohl größer.“

Daria legte die Stirn in Falten. So kurz vor dem Ziel würde sie nicht aufgeben. Wenn Demagon fiel, war Quartan restlos am Ende.

„Laßt mich allein“, schickte sie alle Frauen aus ihrem Zelt hinaus. „Ich brauche Zeit, um nachzudenken.“

 

*

 

Bereits reichlich früh am folgenden Morgen klopfte es an der Tür zu meinen Gemächern. Verschlafen rief ich den Störenfried herein.

„Guten Morgen, allerhöchster Imperator!“ grüßte mich Alek. „Wir sind auf der gesamten Linie umzingelt worden. Die zahlenmäßige Überlegenheit des Gegners ist offensichtlich.“

In meinem Nachtgewand folgte ich ihm hinaus auf den Gang und von dort aus Richtung Südostturm, von wo aus man die Ebene vor der Stadt am besten im Blickfeld hatte. Zwei Stufen auf einmal nehmend erklomm ich die Treppen und kam außer Atem oben an, wo einige Posten vom Hergang des feindlichen Aufmarsches erzählten.

Aber ich sah es bereits selbst: auf der gesamten Breite der Landmasse vor der Stadt wimmelte es von Menschen, die eine undurchdringlich wirkende Linie mit mehreren Reihen gebildet hatten. Die Zahl getraute ich mir nicht zu schätzen, aber sie mochten wohl mindestens so viele sein wie wir. Eher mehr. Nur mit dem Unterschied, daß bei uns zu drei Vierteln unerfahrene Soldaten der Hilfstruppen kämpften. Dafür hatten wir den Vorteil der befestigten Stellung sowie das Magnus im Rücken des Feindes – sofern der Kundschafter es gestern überhaupt geschafft hatte durch die Linien der Amazonen zu schlüpfen.

„Was haben die jetzt bloß vor?“ wandte ich mich an Alek, der neben mir stand.

„Sie zeigen uns erst mal ihre zahlenmäßige Stärke. Früher oder später werden sie wohl zentral angreifen, denn das sie uns nicht aushungern können, wird denen auch klar sein – oder werden.“

„Hmm, die sollten aber noch mindestens eine Woche dafür brauchen um adäquate Belagerungsmaschinen zu bauen. Mit einfachen Stall-Leitern werden die unsere Mauern kaum erklimmen.“

„Schon klar. Vermutlich werden sie entweder einen Rammbock bauen, dessen Chancen natürlich dank unseres Teers sehr schlecht stehen oder sie versuchen es mit einigen Belagerungstürmen zugleich. Das wird wohl noch etwas dauern, bis die ein paar von solchen Dingern herankarren. Das gibt uns noch die Zeit um die Hilfstruppen etwas intensiver im Umgang mit Waffen zu unterrichten.“

 

*

 

Nach dem Aufmarsch ihrer Kriegerinnen in einer umfassenden Linie um Demagon herum, betrachtete sich Daria die Festung mit eigenen Augen.

„Leana?“ Die Angesprochene löste sich aus dem Schatten einiger Bäume, um vorzutreten. „Meine Königin?“

„Was hältst du von der Angelegenheit, Leana?“

„Nun ja, so wie es aussieht, wird die Eroberung wohl nicht eben einfach werden. Vielleicht sollten wir die Stadt einfach belagern.“

„Aushungern können wir die doch eh nicht, solange denen ein Versorgungsweg über das Meer bleibt. Nein, das können wir vergessen. Es sei denn, wir blockieren die Zufahrt zum Hafen, aber da wir keine Schiffe besitzen, wird das wohl nicht möglich sein.“

„Also bleibt uns nur noch übrig, mit Hilfe eines Rammbocks das Tor einzurennen, damit wir eine Bresche nach innen freiräumen können.“

„Das wäre ein Weg“, dachte Daria laut nach. „Doch wahrscheinlich nicht der beste. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß die Türme links und rechts davon nur zur Zierde da sind. Die werden sicher voll mit Feinden sein, die Felsbrocken, Fackeln und sonstiges auf den Rammbock herunterwerfen können. So stabil können wir das Gerät gar nicht bauen, daß es bei der Fallstrecke zu keiner Beschädigung kommt.“

„Alternativ könnten wir Katapulte bauen, um mit ihnen die Mauern zu beschießen“, schlug Leana vor. „Oder wir graben einen Tunnel unten hindurch.“

„Erstens machen mir die Mauern einen ziemlich robusten Eindruck und zweitens haben wir wohl ziemliche Schwierigkeiten hier genügend große Steine zu finden. Die müßten wir vermutlich irgendwo aus dem nächsten Steinbruch herankarren. Das dauert einfach zu lang. Die Idee mit dem Tunnel hingegen ist nicht schlecht, wird sich zeitlich aber wohl auch hinziehen, wenngleich es wohl nicht ganz so schlimm sein wird.“

Einen Moment blickte Daria abwesend auf die befestigte Stadt an der Küste.

„Mir kommt gerade eine bessere Idee. Laß zwei Kriegerinnen zu Fuß auf das Tor zugehen. Die werden das hoffentlich als Akt der Verständigungsbereitschaft empfinden. Falls ich mich nicht irre, werden die ihrerseits zwei Leute nach draußen schicken, denen sinngemäß folgendes mitzuteilen ist: Königin Daria von den Amazonen wünscht den König von Demagon zu sprechen. Zeitpunkt: sofort, Ort: in doppelter Bogenreichweite vor dem Tor. Keine Waffen, keine Begleitung. Das wäre alles.“

Leana nickte knapp, um die Anweisung auszuführen.

 

*

 

Nachdem ich mich am durchgehenden Ring der Amazonen um die Stadt herum sattgesehen hatte, suchte ich meine Gemächer auf, um mich anzukleiden. Es machte schließlich keinen guten Eindruck in total unpassendem Aufzug auf den Gängen herumzulaufen. Nach dem morgendlichen Frühstück mit meiner Frau im Speisesaal beaufsichtigte ich eine Schwertkampfübung der Hilfstruppen. Durch bloßes Zusehen erkannte ich schnell, daß ein paar Monate Belagerung nicht schaden würden. Doch den Gefallen würde uns die Gegenseite sicherlich kaum machen. Ein schwarzhaariger Mann der Hilfstruppen demonstrierte soeben geschickt seine Schwertkampfkünste, was durchaus ansehnlich wirkte. Doch bei ihm handelte es sich leider um eine der wenigen Ausnahmen. Da mußte man im Großen doch noch einiges machen, aber es blieb einfach nicht mehr die Zeit dazu. In spätestens ein bis zwei Wochen konnte der erste Frontalangriff erfolgen und bis dahin würde aus dem Bauernhaufen keine schlagkräftige Armee entstehen.

„Mein König“, sprach mich eine der Mauerwachen an. „Es kommen gerade zwei Frauen auf das Tor zu.“

Unvermittelt folgte ich dem Soldat bis zu seinem Mauerabschnitt, wo ich sah, was er angedeutet hatte: ungefähr in der Mitte zwischen der Umschließungslinie der Amazonen und dem Tor gingen zwei Frauen zu Fuß in unsere Richtung. Eine Weile sah ich interessiert zu, bis sie stehen blieben.

„Das sind vermutlich Unterhändlerinnen, die mit uns verhandeln wollen“ vermutete der Soldat neben mir.

„Zwei Mann nach draußen schicken“, befahl ich. „Mit voller Bewaffnung. Mal hören, was die uns vorzuschlagen haben.“

Ich wartete an meinem momentanen Standort, um zu schauen, was passierte. Nach einer kurzen Unterredung kehrten unsere beiden Soldaten wieder zurück, während die Amazonen stehenblieben. Voller Erwartung harrte ich der Ankunft der beiden. Einer von ihnen erstattete mir sogleich Meldung:

„Die Unterhändlerinnen der Amazonen haben Euch, oh mein König, folgendes Angebot zu machen: eine Besprechung zweihundert Meter vor der Stadt zwischen Euch und der Königin der Amazonen. Dabei sind keine Waffen mitzuführen und Begleitung ist ebenfalls nicht gestattet. Man erwartet eine sofortige Antwort.“

Numa, der inzwischen herbeigeeilt kam, riet mir davon ab, darauf einzugehen.

„Wer sagt uns denn, daß das kein Anschlagversuch auf Euch werden soll?“

„Die Königin von denen setzt sich doch ebenfalls dem Risiko aus getötet zu werden.“ beschwichtigte ich meinen besorgten Berater.

„Was ist, wenn sie lediglich eine einfache Kriegerin losschickt mit dem Auftrag Euch zu töten oder gefangenzunehmen?“

„Ich werde doch eine Kriegerin von einer Königin unterscheiden können?!? Außerdem bringt es denen doch gar nichts, wenn sie versuchen mich umzubringen. Das wird unsere Leute erst recht zum Widerstand ermutigen. Wer ergibt sich schon einem Feind, der sich nicht an seine Abmachungen hält?“

Bei diesem Punkt mußte er mir Recht geben. Dennoch hatte ich ihn nicht ganz überzeugen können, was mir aber egal war. Immerhin ging es um mein Leben. Von der Harmlosigkeit der Zusammenkunft überzeugt wandte ich mich wieder an den auf eine Entscheidung von mir wartenden Posten.

„Sag ihnen, ich bin einverstanden.“

Der Soldat kehrte zu den noch immer wartenden Amazonen vor der Stadt zurück, um ihnen meine Einverständniserklärung zu übermitteln. Daraufhin zogen sie sich nun zu den ihren zurück, während ich mich zum Tor begab. Mit kurzen Schritten stolzierte ich zum verabredeten Treffpunkt. Auf der Gegenseite löste sich nun ebenfalls eine einzelne Gestalt, die mir entgegen marschierte. Je näher wir uns kamen, desto mehr Details konnte ich erkennen. Wallendes, blondes Haar wehte im Wind, ein braunes Lederwams umhüllte den Oberkörper der Frau, deren Beine ebenfalls in einer Hose aus Leder steckten. An einer Stelle, der meiner Schätzung zufolge den Treffpunkt bezeichnete, blieb ich stehen. Nur noch wenige Schritte trennten mich von der Anführerin der Amazonen, die die letzte Distanz zwischen uns mit schnellen Schritten überwand. Blaue Augen musterten mich neugierig.

„Ich bin Königin Daria“, stellte sie sich vor. Ihre Stimme klang weich, aber bestimmt.

„Ich bin König Jalek“, gab auch ich mich zu erkennen. „Falls Ihr mir Euren Rückzug anbieten wollt, so lasse ich Euch unbehelligt ziehen.“

Ein Lächeln umstrich die Züge von Daria, die sich offenbar über meinen großspurigen Vorschlag amüsiert hatte, was mich verärgerte.

„Ihr seid nicht in der Position um solche Forderungen zu stellen. Euer Reich umfaßt nur noch die Hauptstadt Demagon – der Rest fällt uns nach deren Eroberung von selbst in die Hand. Da Ihr jedoch keine Chance habt, habe ich mich entschieden, Euch die Möglichkeit einer ehrenvollen Kapitulation anzubieten. Wenn Ihr bis morgen mittag den Widerstand einstellt, all Eure Waffen an uns abgebt und die Tore öffnet, verschonen wir Euch."

Jetzt durfte ich nur keine Schwäche zeigen.

„Das ist ein sehr großzügiges Angebot“, bewertete ich spöttisch. „Die Mauern von Demagon sind elf Meter hoch, wie man sehr gut sehen kann – ich sehe also keinen Grund mich vor einer baldigen Eroberung fürchten zu müssen.“

„Ihr seid also tatsächlich der Ansicht, die Mauern würden Euch ewig schützen? Die halten uns vielleicht etwas länger auf, aber am Ende steht dennoch unser Sieg. Wieso gebt ihr Euch denn so eigensinnig? Als guter König muß man erkennen, wann die Zeit zum Abtreten gekommen ist. Allein schon um dem eigenen Volk weitere Opfer zu ersparen.“

„Ich werde Demagon niemals freiwillig übergeben, solange noch ein Soldat unter meinem Kommando steht!“

Daria zögerte einen Augenblick etwas zu erwidern, stattdessen zeigte sie mir bei einem milden Lächeln ihre strahlend weißen Zähne. Soeben kam ihr ein Einfall, der ihr richtig gut gefiel. Eine Methode, Demagon zu erobern ohne auch nur einen einzigen Verlust zu erleiden. Einer spontanen Eingebung folgend antwortete sie in einem versöhnlichen Tonfall:

„Biete ich Euch denn nicht genug an? Freiheit, Leben und Eigentum – Ihr müßt dafür nur eingestehen, daß ihr den Krieg nicht mehr gewinnen könnt. Was wollt Ihr denn noch mehr?“

Sie näherte sich mir bis auf eine Distanz, die der Länge meines Dolches entsprach, der in meinen Gemächern lag. Vor mir stand eine selbstbewußte Anführerin, die sich ihrer Wirkung auf mich wohl durchaus vorstellen konnte. Obwohl sie meine Feindin war, konnte ich ihr eine gewisse Attraktivität nämlich nicht abstreiten. Sie verringerte den Abstand zwischen uns so weit, daß ihr Körper beinahe den meinen berührte. Einen Moment befürchtete ich, sie würde einen versteckten Dolch ziehen, um mich zu töten, doch nichts dergleichen geschah. Nur nicht die Nerven verlieren, schärfte ich mir ein. Das ist alles nur ein Test, wer die bessere Beherrschung hat. Ein Test, den ich bestehen werde. Daria beugte sich jäh nach vorn um mich zu küssen, ehe ich etwas dagegen unternehmen konnte. Instinktiv wollte ich einen Schritt nach hinten machen, doch irgendetwas hielt mich gefangen, hinderte mich daran meine Füße zu bewegen. So kam es, daß wir eine Weile ganz dicht beieinander standen. Noch einmal berührten ihre Lippen die meinigen. Ihre Zunge fühlte ich ganz sanft, wie sie sich einen Weg in meine Mundhöhle suchte. Auch darauf reagierte ich nicht, als sei mein Körper wie gelähmt. Die blauen Augen durchdrangen mich und ihre zarte Stimme drang zärtlich an mein Ohr: „Ich erfülle dir jeden deiner geheimsten Wünsche. Sag mir, was immer du begehrst ... ich weiß, daß du es willst ...“

Nach diesem etwas längeren Moment geistiger Umnachtung hatte ich mich plötzlich wieder unter Kontrolle. Mit einer energischen Bewegung drückte ich Daria von mir weg.

„Ich ... ich“ stammelte ich mit zitternder Stimme. „Du versuchst mich zu verhexen! Was willst du, Weib?“

Diese Aura, die jene Amazonenkriegerin umgab, machte mir regelrecht Angst. Unsicher stapfte ich einige kleine Schritte rückwärts. Nur weg von ihr. Darias Blick bekam von einer Sekunde auf die nächste einen zornigen Ausdruck.

„Ich war bereit, dir nicht nur als Anführerin deines Feindes entgegen zu kommen, sondern auch als Frau. Wenn du mein edles Angebot nicht zu schätzen weißt, dann prophezeie ich dir schon jetzt eure Zukunft: ich werde Demagon solange angreifen, bis uns niemand mehr Widerstand zu leisten vermag. Alle Überlebenden werden versklavt und für uns im Steinbruch oder bei der Feldbestellung arbeiten. Für dich jedoch habe ich was ganz spezielles vor: du wirst mein persönlicher Sklave werden, mein Bettvorleger, mein Fußabtreter. Bereite dich schon mal darauf vor, hilflos meinen Launen ausgesetzt zu sein. Dank meiner Großzügigkeit gebe ich dir Bedenkzeit bis zum nächsten Morgengrauen. Sollte ich dann keine Nachricht erhalten, so trage die Folgen.“

Stolz drehte sie sich um, denn offensichtlich wollte sie das Gespräch mit mir nun beenden. Auch ich wandte mich herum um den Weg bis zum Tor zurückzulegen, das hinter mir mit einem lauten Ächzen ins Schloß fiel.

„Was ist da eigentlich vorhin passiert?“ kam mir Numa entgegen.

„Sie hat mich geküßt“, murmelte ich noch immer etwas benommen vom Erlebten.

„Wie bitte?“ Numa stand händeringend vor mir, als wolle er auf diese Weise eine zufriedenstellende Antwort erflehen.

„Ich weiß es auch nicht genau“, erklärte ich umständlich. „Sie hat mir zuerst freien Abzug gewährt, falls wir Demagon räumen, was ich abgelehnt habe. Dann hat sie mich geküßt und mir zugesteckt, daß ich noch viel mehr haben kann, wenn ich will.“

„Ein Teufelsweib“, kommentierte Numa nüchtern. „Die scheint Euch aber ganz schön verzaubert zu haben – so blaß wie Ihr im Gesicht seid, mein König.“

Ja, das hatte sie in der Tat. Dabei war ich ein glücklich verheirateter Mann. Doch das spielte interessanterweise jetzt überhaupt keine Rolle. Daria schien mich regelrecht verhext zu haben. Hexen gab es in unserer Kultur doch nur in der Mythologie – die waren doch nicht real!

„Hat sie sonst noch was gesagt?“ hakte Numa nach.

„Sie hat angedroht, daß – falls ich nicht auf ihr Angebot eingehen sollte – jeder Überlebende versklavt wird und ich soll ihr persönlicher Sklave werden.“

Numa wußte, welches Prinzip diesem Handeln zugrunde lag: Zuckerbrot und Peitsche. Auf diese Art gedachte diese Amazonenführerin ihren König Jalek zu einem gefügigen Werkzeug zu machen. Dadurch, daß sie ihm diverse Zugeständnisse machte, falls er sich so verhielt, wie sie es wollte, und gleichzeitig drohte, was passierte, falls er sich anders verhielt, spielte sie quasi zwei Trümpfe zur selben Zeit aus. Eine schlaue Frau. Das gab Numa bewundernd zu. Zu seinem König sagte er nach reiflicher Überlegung jedoch folgendes:

„Wenn sich die Amazonen sicher wären, über uns zu siegen, dann hätten sie uns dieses Angebot nicht gemacht, sondern sie wären einfach über uns hergefallen, wie sie es bereits in Pythien getan haben. Der Umstand, daß sie es gemacht haben, deutet für mich darauf hin, daß sie starke Zweifel haben, Demagon so ohne weiteres einzunehmen.“

Eine wohldurchdachte Theorie, das erkannte ich zweifelsohne an. Doch mir kamen Bedenken, ob diese Frau, die mir noch vor kurzem so nahe gewesen war, derart logisch dachte. Eigentlich wußte ich gar nichts über sie. Nur, daß sie meine Feindin war und mit allen Mitteln nach meinem Thron zu greifen bereit schien. Eine denkbar ungünstige Konstellation.

„Die Wachen werden ab sofort verdoppelt“ ordnete ich an. Etwas erhöhte Sicherheit durch gesteigerte Wachsamkeit konnte nicht schaden. Nicht solange vor den Toren jene Kriegerinnen lagerten, denen ich den Verlust eines nicht unerheblichen Teils meines Reiches zu verdanken hatte.

 

*

 

Königin Daria hatte sofort nach ihrer Rückkehr von der Unterredung mit König Jalek ihre engste Vertraute Leana zu sich gerufen, die ihr nun in ihrem Zelt gegenüberstand. „Edle Königin, wie verlief die Verhandlung?“

„Nicht ganz nach meinem Geschmack. Dieser König Jalek ist ziemlich stur und sieht nicht ein, daß er schon längst verloren hat. Zudem hat er mein Angebot, mit seinen Truppen zu kapitulieren, abgelehnt – trotz meiner aufopfernden Überredungskünste. Mir ist jedoch ein Gedanke gekommen, wie uns die Stadt von alleine in die Hände fällt. Teure Leana, du wirst drei zuverlässige Kämpferinnen auswählen, die erstens gut schwimmen können und zweitens auch im Anschleichen vortreffliche Qualitäten besitzen.“

„Zu Befehl, meine Königin.“

„Bring sie dann gleich zu mir. Ich werde sie selbst instruieren.“

Leana entfernte sich nach einer würdigenden Verbeugung um kurze Zeit später mit den drei verlangten Frauen zurückzukehren.

„Das ist Eria“, stellte sie eine sehr groß gewachsene Schwarzhaarige vor, „Ula“ - damit meinte sie eine Blonde mit üppigen Proportionen sowie einer daumenlangen Narbe am Hals.

„Wadila“ nannte sie den Namen der letzten Frau, die mit ihren struppigen, blonden Haaren aussah, als würde sie sich niemals waschen. Alle, die sie besser kannten, wußten, daß dieser erste Eindruck falsch war. Daria stand auf, um die vor sie Hingetretenen einzeln zu begutachten, bevor sie ihnen die zu erfüllende Mission mitteilte.

„Eure Aufgabe wird es sein, über die Seeseite nach Demagon einzudringen. Dazu geht ihr irgendwo an einer sicheren Stelle an der Nordküste ins Wasser, von wo aus man euch von der Festung aus nicht sehen kann. Paßt vor allem auf Strömungen auf und peilt immer die beiden Hafentürme an, durch die ihr schwimmen müßt, um ins Innere der Stadt zu gelangen. Sobald ihr dort angekommen seid, werdet ihr König Jaleks Gemächer aufsuchen, die sich irgendwo im Nordteil des Palastes befinden, der wiederum direkt dem Hafen zugeneigt ist. Den könnt ihr eigentlich gar nicht verfehlen. In Jaleks Schlafgemach kümmert ihr euch zuerst um ihn selbst – seine Frau ist unwichtig. Ach ja: ihr sollt ihn nicht töten, sondern entführen. Falls er nicht freiwillig mitkommt, dann gebraucht Gewalt. Wenn er sich in eurer Hand befindet, könnt ihr selbst entscheiden, was ihr tun wollt: notfalls könnt ihr den König ja als lebendes Schutzschild verwenden. Das wäre alles. Zeigt euch meiner würdig.“

 

*

 

Am ersten Abend der Belagerung speiste ich wie gewohnt mit meiner Frau im Speisesaal. Es gab gebratenes Schwein mit Füllung, Bratäpfeln, Kartoffeln, heißen Zwetschgen und andere Leckereien. Bei den Getränken handelte es sich selbstverständlich um Wein. Was sonst in einem berühmten Weinland? Dank der Seelage der Stadt würden wir keinerlei Auswirkungen der Landblockade fürchten müssen. Das bedeutete insbesondere für mich: keine Beschränkungen der Mahlzeiten, sondern reichhaltige Kost. Später besuchte ich eine Sonderveranstaltung im Theater. Zur allgemeinen Aufheiterung eine Komödie, denn man wollte angesichts der derzeitigen Anspannung auch mal zum Lachen kommen. Nach dieser unterhaltsamen Abendgestaltung schritt ich mit Numa nochmal die ganze Länge der Mauer ab, wobei wir uns von den erstklassigen Vorkehrungen unsererseits überzeugten sowie neugierig gen Feind blickten, wo in einer Art Lichterkette unzählige Lagerfeuer brannten.

„Wie viele mögen da draußen wohl liegen?“ fragte ich mich.

„Sicher einige tausend“, schätzte Numa. „Wer weiß. Vielleicht haben die im Hinterland noch mehr Truppen, die sie uns bewußt nicht zeigen. Da wir keinen Kontakt mehr zu anderen Regionen des Reichs haben, kann man das schlecht feststellen. Die Vermutung liegt jedoch nahe, daß es mehr als zehntausend sind. Wie viele genau – das wissen die Götter.“

„Wenn nur der Kundschafter nach Tremlok durchgekommen ist und das Magnus bald hier eintrifft ...“

„Mir fällt eine Möglichkeit ein, um herauszufinden, ob unser Bote den Amazonen in die Hände gefallen ist“, meinte Numa. „Wir haben doch drei von ihnen im Kerker – wie wäre es, wenn wir der Gegenseite anbieten, sie gegen Leute von uns einzutauschen? Wenn sie darauf eingehen und der Bote ist dabei, dann wissen wir sicher, daß mit dem Magnus aus Tremlok nicht zu rechnen ist. Falls der Bote nicht dabei ist, dann kann das heißen, daß sie ihn getötet haben. In diesem Fall wissen wir also nicht sicher, was los ist. Dasselbe gilt, wenn man sich weigert Gefangene mit uns auszutauschen.“

„Warum sollten sich die weigern?“

„Das weiß ich doch nicht“, gab mein Berater zu. „Frauen reagieren manchmal eben sehr unlogisch. Deshalb habe ich diesen Fall miteinkalkuliert.“

Schweigend schlenderten wir auf dem Wehrgang weiter. Mittlerweile hatten wir den nördlichsten Mauerabschnitt von Demagon erreicht, der direkt ans Meer angrenzte. Hier vernahm man bereits das gedämpfte Rauschen der Brandung. Ausgeglichen, ruhig, friedlich. Von den Ereignissen ganz in unserer Nähe ahnte ich natürlich nichts. Sonst wäre ich nie so ruhig in den Palast zurückgekehrt um mich zur Ruhe zu begeben. In Gedanken ließ ich noch einmal den Tag Revue passieren. Am meisten hatte mich die Verhandlung mit Königin Daria beeindruckt. Eine außergewöhnliche Frau. Vor allem die Erinnerung an ihren Kuß beschäftigte mich einige Zeit bis ich einschlief. Irgendwann rüttelte mich jemand unsanft aus meinem Schlaf. Als ich benommen die Augen öffnete, sah ich nur eine dunkle Gestalt über mir. „Was zum Henker ...“, brummte ich wütend, erstarrte dann aber sofort, als sich etwas kaltes an meinen Hals schmiegte. Obwohl es im Raum zeitbedingt recht dunkel war, konnte ich am Blitzen der Klinge erkennen, daß es sich dabei um ein Messer handelte. ‚Meuchelmörder‘, durchzuckte mich ein Gedankenblitz. Man wollte mich um die Ecke bringen! Obwohl – wenn man mich hätte umbringen wollen – wieso hatte man mich dann erst extra aufgeweckt? Wahrscheinlich durften die aus religiösen Gründen niemanden töten, der schlief. Erst jetzt sah ich eine weitere Person unmittelbar neben der ersten kauern.

„Was wollt ihr von mir?“ fragte ich so ruhig es mir gelang.

„Wenn du ohne Widerstand zu leisten mit uns kommst, dann geschieht dir nichts“, erläuterte mir die über mir kniende Gestalt, bei der es sich laut Stimmhöhe um eine Frau handeln mußte. Klar – eine Amazone. Noch immer spürte ich das Messer dicht an meinem Hals. Mein Leben lag in ihrer Hand und diese Erkenntnis schmeckte mir überhaupt nicht. Da half es mir auch nichts, wenn sie nicht mehr weit kam, nachdem sie mich getötet hatte. Doch ihre beschwichtigenden Worte überzeugten mich davon, daß sie mich lebend bevorzugten. Man wollte mich ganz offensichtlich entführen! Klar, wenn sie mich einfach töteten, verstärkte das nur den Widerstand meiner Männer. Solange ich hingegen am Leben blieb, brachte ich dem Feind mehr ein: sie konnten mich dann nämlich als Geisel gegen meine Soldaten verwenden getreu dem Motto „entweder Demagon oder euer König“ oder aber mich selbst zur Kooperation überreden. Beides keine schönen Aussichten. Ob ich es wagen sollte nach der Wache zu rufen?

Mit sanfter Gewalt zwang mich die Frau mit dem Messer zum Aufstehen. Nun erkannte ich auch eine dritte Person, die hinter der Tür stand. Womit zum Wodan hatten sich nur die Wachen beschäftigt? Offenbar mit schlafen. Anders konnte ich es mir nicht erklären, daß es gleich drei Amazonen gelungen war, so mir nichts dir nichts hier bei mir einzudringen. Eben als die eine versuchte meine Hände zu fesseln und die andere das Messer ein Stück von meinem Hals wegnahm, trat ich wie ein Roß nach hinten aus, um sofort nach rechts Richtung Zweitausgang zu stürzen.

„Waaaache!“ brüllte ich wie am Spieß. „Waaccheeee!!“

Meine Stimme überschlug sich fast, so sehr fürchtete ich mich davor zu guter letzt doch noch gemeuchelt zu werden. Hastig riß ich die Tür auf, um in den Gang hinaus zu stolpern, wo mir bereits etliche Gardisten entgegenkamen.

„Da drin stecken drei Amazonen. Sofort festnehmen.“

Aus dem Nebenraum hörte ich kurzen Gefechtslärm, dem ein undeutliches Klirren folgte. Danach kam einer der Gardisten zurück auf den Gang heraus.

„Mein König, die Eindringlinge sind mittels eines Seils durchs Fenster geflüchtet. Wir nehmen die Verfolgung auf.“

Eine Gruppe Soldaten bestehend aus zehn Mann kam soeben den Gang entlang. Ihr Anführer erklärte mir, daß er für meine Sicherheit sorgen werde, solange die Eindringlinge nicht aufgefunden seien. Zitternd stand ich auf dem Gang, wo ich mich inmitten der Soldaten noch am sichersten fühlte. Da es mich jedoch langsam fröstelte, verlegte ich meine Nachtpause auf den komfortabler eingerichteteren Nebenraum, wo ich mich in einen gepolsterten Sessel lehnte. Es verging eine ganze Weile, ehe eine zweite Gruppe, die ein Decem umfaßte, herein trat. In der Mitte führten sie eine blonde Frau mit einer langen Halsnarbe herein, die aus einer tiefen Oberschenkelwunde blutete.

„Die beiden anderen sind im Hafen ins Wasser gesprungen und vermutlich geflohen“, berichtete mir der Decem-Kommandant. „Diese hier konnten wir gefangen nehmen.“

„Na, wen haben wir denn da?“ sprach ich mehr mit mir selbst als mit der Gefangenen. „Wie lautete euer Auftrag?“

„Wir sollten Euch gefangen nehmen“, gab sie zu, was ich bereits wußte.

„Und was dann?“ Das Schweigen – nicht im Walde, sondern in meinem Palast.

„Schafft sie zu unserem Arzt“, erinnerte ich mich an die Verletzung der Gefangenen, die bereits eine rote Lache am Marmorboden bildete. Da ich nicht damit rechnete, in dieser höchst unruhigen Nacht nochmals einschlafen zu können, blieb ich gleich auf den Beinen. Es galt noch diverse Sonderwacheinteilungen zu treffen. Beispielsweise am Hafen, der offenbar doch nicht so sicher war, wie ich es anfangs gedacht hatte.

 

*

 

„Ihr habt also versagt?“ sprang Königin Daria enttäuscht auf. „Das hätte uns ohne große Umschweife den Sieg bringen können! Na ja, ihr habt sicher getan, was ihr konntet. wenngleich es auch nicht gereicht hat.“

Demutsvoll standen Eria und Wadila pitschnaß im Zelt ihrer Anführerin, um ihr von den Details ihres Einsatzes zu berichten.

„Nun gut“, setzte sich Daria wieder. „Wenn es auf diese Art nicht geht, dann machen wir es eben mit brachialer Gewalt. Ich wünsche, daß 8 von 10 Kriegerinnen für den Walddienst in den umliegenden Forsten eingeteilt werden. Das Holz soll auf die Ebene vor die Stadt gebracht werden, damit es unserem Gegner gar nicht entgehen kann, was wir vorhaben.“

„Ähm, entschuldigt meinen Einwand, aber wäre es nicht besser unsere Pläne dem Feind nicht zu offenbaren?“ meldete sich die allseits anwesende Leana zu Wort.

„In diesem Fall nicht, weil die durch unsere sichtbaren Machenschaften stärker beunruhigt werden als wenn sie nur einmal die fertigen Gebilde zu Gesicht bekommen. Sobald genügend Holz gelagert ist, soll mit dem Bau von zwei Rammböcken sowie zehn Belagerungstürmen begonnen werden.“

 

*

 

Eine Woche verging ohne das sich irgend etwas erwähnenswertes ergeben hätte. Die Amazonen hatten sich geweigert Gefangene mit uns auszutauschen. Entweder hatten sie keinen der unsrigen in ihrer Gewalt oder sie legten auf einen Austausch keinen Wert – aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht nahmen sie normalerweise keine Gefangenen? Dann brauchten wir auf das in Tremlok stationierte Magnus wohl nicht zu warten. Dabei wäre deren Hilfe höchst wichtig. Wieso kam denn der Kommandant nicht von selbst drauf, daß etwas nicht stimmen mußte, wenn wir uns wochenlang nicht bei ihm meldeten? Vermutlich gab es die Einheit schon gar nicht mehr. Wenigstens blieb die Lage in Demagon relativ entspannt. Zahlreiche Handelsschiffe aus Persien legten an, um uns mit dringend benötigten Gütern zu versorgen. Darunter unter anderem Weizen, Roggen, Trockenobst, Körperschutz, Waffen, Pech, Textilien, Holz, Leder und unzählige sonstige Waren, deren Bezahlung meine Schatzkammer arg strapazierte.

Auf der Gegenseite hatte man damit begonnen, Holz aus der Umgebung heranzuschaffen, um quasi unmittelbar vor unseren Augen mit dem Bau von Maschinen zu beginnen, die zur Erstürmung unserer Stadt dienen sollten. Etwas mulmig wurde mir dabei schon, jeden Tag ein klein wenig höhere Gebilde zwischen den Zelten der Amazonen stehen zu sehen. Doch die Fertigstellung würde sich noch einige Zeit hinziehen, so daß vorerst kein Grund zur Sorge war. Früher oder später würde sich jedoch ein Problem daraus ergeben – nämlich dann, wenn man uns konzentriert angriff. Dafür hatten wir allerdings vorgesorgt. Knapp fünftausend Brandpfeile lagen bereit, um im Falle eines Sturmangriffs gegnerische Belagerungsmaschinen in Brand zu schießen. Ferner würden wohl auch die Pechfässer dazu beitragen, den Feind auf erträgliche Distanz zu halten. Dennoch beschloß ich mal wieder eine Konferenz mit meinen Beratern abzuhalten.

„Was können wir jetzt tun?“ stellte ich eine Frage in den Raum.

„Auf den ersten Großangriff warten“, meinte Numa mit stoischer Ruhe. „Alles andere wäre Wahnsinn.“

Alek sah das ein bißchen anders:

„Theoretisch könnten wir einen Ausfall unternehmen. Wie mir scheint befinden sich derzeit tagsüber viele Amazonen in den Wäldern im Hinterland. Das bedeutet für uns: weniger Feinde im direkten Bereich. Mit einem schnellen Gegenstoß könnten wir den Ring um die Stadt sprengen, dem Feind Verluste zufügen und die halbfertigen Belagerungstürme zerstören. Damit wäre schon mal ein Anfang gemacht.“

„Was ist, wenn das nur ein Trick ist, um uns herauszulocken?“ entgegnete Numa.

„Wir wissen doch gar nicht wie viele Leute zu welcher Zeit beim Holzfällen eingesetzt werden. Das kann genauso gut eine Falle sein.“

Wir konnten uns recht schnell darauf einigen, darauf zu verzichten, denn in der Stadt standen unsere Chancen zweifelsfrei wesentlich besser. Ein zweiter Einfall Aleks behandelte eine etwas ungewöhnliche Möglichkeit, den Krieg zu beenden: mittels eines Zweikampfes zwischen mir und Daria – auf Leben und Tod. Der Überlebende würde alles bekommen: Demagon, die Macht über Quartan, während die Armee des Verlierers sich sofort zurückziehen mußte. Diese Idee gefiel mir aber überhaupt nicht. Bei dem Gedanken ein Duell mit der Frau zu bestreiten, die mein Blut in Wallung gesetzt hatte, überkam mich ein ungutes Gefühl. Dann schon lieber ausharren auf die Dinge, die da kommen würden. Klar, wir hatten ausreichend Soldaten, aber der Großteil davon bestand aus kampfunerfahrenen Leuten. Die Amazonen hingegen hatten eine weitaus höhere Gefechtserfahrung, was ihnen zu Gute kommen würde. Dafür hatten wir den Schutz durch die Mauern. Dennoch würde es wohl sehr eng werden, wer diese Entscheidungsschlacht für sich entscheiden konnte. Mein Stolz verbot mir allerdings gegen Frauen zu verlieren. Das durfte einfach nicht passieren.

„In Wodans Namen – wieso greifen uns die nicht endlich an?“ wütete ich durchs Besprechungszimmer. „Das Warten macht mich ganz krank!“

„Größter Imperator – bitte beruhigt Euch“, redete Alek leise auf mich ein. Das war leichter gesagt als getan. Schließlich fühlte ich mich allmählich wie ein Gefangener in meinem eigenen Palast. Man konnte ja nicht mal vor die Tore der Stadt treten – zudem kam die akute Bedrohung durch den ersten massiven Angriff, der wohl bald geschehen würde. Es schien nur zwei Möglichkeiten zu geben, hier unversehrt herauszukommen: entweder dadurch, daß wir jeden Angriff abwehrten, bis auf der Gegenseite niemand mehr da war – oder auf unserer Seite – oder alternativ auf das Kapitulationsangebot einzugehen. Doch das kam für mich nicht in Frage. Solange er noch über tausende von Soldaten verfügte, unterwirft sich ein echter Krieger seinem Gegner nicht – schon gar nicht, wenn dieser eine Frau ist.

„Jetzt kommt mir eine Idee!“ rief ich entgeistert. „Schickt einen Boten zum Hafen – der Kommandant unserer Kriegsflotte soll sofort mit zwei Schiffen auslaufen Richtung Balnir, wo er den persischen Diplomaten um militärische Hilfe ersuchen soll. Ich biete dem persischen Reich als Gegenleistung eine Jahreslieferung Wein an sowie eine halbe an Eisenerz. Ferner bin ich mit einem umfassenden Allianzvertrag einverstanden.“

Numa verzog merklich die Augenbrauen.

„Ich glaube nicht, daß die Perser uns helfen werden. Nachdem wir uns in den letzten Schlachten dermaßen geschwächt haben, wird man keinen besonderen Wert mehr an einem Bündnis mit uns sehen. Zudem unsere Eisenerzförderung durch den Wegfall von Pythien auf weniger als ein Viertel abgesunken ist. Auch unsere Weinfelder im Norden des Reichs haben diesen Sommer ziemlich gelitten. Wie ihr sicher wißt, haben die Amazonen bei ihrem Vormarsch etliche Zentrallager mit großen Reserven geplündert.“

„Ja, aber warum sollten uns die nicht helfen? Die haben in uns doch einen zuverlässigen Bündnispartner. Außerdem handeln wir mit denen schon seit Jahrzehnten. Nein, ich bin mir sicher, daß man uns Hilfe schicken wird. Die Frage ist nur: wann! Immerhin haben die einen ganz netten Anmarschweg.“

„Also vor nächster Woche werden die Amazonen sicher keine Attacke wagen und wenn wir ihre Belagerungsmaschinen in Brand schießen, sollten wir uns doch eigentlich noch eine Weile halten können. Mindestens nochmal drei Wochen, denn wahrscheinlich wird sich der Gegner etwas noch raffinierteres einfallen lassen, was zu lasten der Zeit gehen wird. Aber wie gesagt: der springende Punkt bleibt der Umstand, ob man uns überhaupt Truppen schickt. Da bin ich sehr skeptisch.“

Obwohl ich stark davon ausging, daß man es tun würde, ordnete ich an, daß eine Galeere einen berittenen Boten etwas im Norden des Reiches an Land setzen sollte, damit er ungehindert nach Tremlok reiten konnte, ohne dabei vom Feind bemerkt zu werden. Von irgendwoher mußte ganz einfach Hilfe kommen. Ich sah es nicht ein, hier von einer Frauenarmee in meiner eigenen Hauptstadt festgehalten zu werden. Als einzige sinnvolle Lösung sah ich die vollständige Auslöschung des Amazonenheeres. Einzig die Durchführung derselbigen erschien mir etwas kompliziert zu sein. Eigentlich wollte ich eine offene Feldschlacht vermeiden. Zu schmerzhaft waren noch die Erinnerungen an sämtliche dergestaltige Gefechte. Was mir vorschwebte, war folgendes: wir würden den Feind gegen die Mauern von Demagon anrennen lassen, bis er sich ausgiebig geschwächt hatte. Dann würde eine Zangenoperation von Demagon aus und vom im Hinterland auf der Lauer liegenden Magnus dafür sorgen, die Reste der Amazonen zu zerschlagen. Soweit mein Plan, der von meinen Beratern auch durchaus als raffiniert empfunden wurde. Für den Boten nach Tremlok verfaßten wir daher ein entsprechendes Schreiben, das zum Inhalt hatte, daß das Magnus sofort nach Demagon in Marsch gesetzt werden sollte. Jedoch unter Vermeidung von Feindkontakt. Sobald die Zeit reif war, würde von den Türmen Demagons aus ein Signal bestehend aus Rauchzeichen gegeben werden, das einem sofortigen Angriffsbefehl gleichkam. Wegen der akzeptablen Höhe der Türme würde dieses Signal aus einer Entfernung von mindestens 40 Kilometern zu sehen sein, so daß es also in jedem Fall den Empfänger erreichte, der sich höchstens 7 oder 8 Kilometer entfernt aufhielt, so daß er innerhalb einer Stunde aktiv in den Kampf eingreifen konnte. Siegessicher begab ich mich wie in den vergangenen Tagen so oft auf den Mauerabschnitt oberhalb des Tores. Die Holzgebilde drüben auf der Ebene besaßen mittlerweile eine recht eindrucksvolle Größe, so daß ein Angriff wohl sicher bald erfolgen würde. Die sollten nur kommen! Wir würden ihnen das Fürchten lehren, sie auf den Platz zurückverweisen, wo sie hingehörten – hinter den Herd.

 

*

 

Die einzelne Galeere, die sich auf direktem Wege der Küste näherte, sah man vom Ufer aus schon von weitem. Allerdings stand hier niemand, der aufs Meer hinaus blickte. Dafür schlichen zwei Gestalten im angrenzenden Wald herum, die lautlos von Busch zu Busch huschten. Sich mit kurzen Gesten absprechend näherten sie sich auf diese Art einer kleinen Lichtung, auf der ein Eber in einer Sandmulde wühlte. Als das Sonnenlicht durch eine Lücke im Blätterdach der Bäume fiel, erkannte man eine der Personen als Frau wieder, die angestrengt Richtung Lichtung starrte, Sie hob den Bogen, spannte ihn bis zur Höhe ihres Schulterblattes – ein kurzes Surren glitt durch die Luft, ein Quieken folgte. Treffer. Zu zweit liefen die beiden Frauen nun gar nicht mehr heimlichtuerisch zu dem erlegten Wild.

„Ein guter Schuß, Brealte“, lobte die kleinere der beiden.

„Das ist kein Kunststück bei der geringen Entfernung“ erwiderte die andere lächelnd. „Laß uns mir das Tier aufladen und zu den Pferden zurückgehen.“

Gemeinsam stemmten sie den Eber auf den Rücken der Jägerin. Ihre Rösser standen angebunden an einem Baum etwa einen halben Kilometer entfernt. Noch hatten sie ihr Ziel nicht erreicht, als Brealte stehen blieb.

„Hörst du das, Vina?“

„Was?“ stellte die Kleine eine Gegenfrage. Doch dann vernahm sie es selbst.

„Ein Reiter ...“

Im Nu hatte sich Brealte den Eber abgelegt, um mit dem Bogen im Anschlag hinter einem Baum in Deckung zu gehen. Ihre Begleitung tat es ihr gleich. In schnellem Galopp näherte sich von links ein Mann auf einem Pferde. Brealte ließ ihn noch etwas herankommen, zögerte nicht lange und schoß. Während der Reiter getroffen vom Pferd fiel, lief dasselbige weiter. Langsam näherten sich die beiden Amazonen dem am Boden liegenden Mann. Brealte hatte schon einen zweiten Pfeil nachgelegt – bereit nochmal zu schießen, falls es sein mußte. Bis auf wenige Schritte gelangten sie an den Mann heran. Ein schräger Treffer ins Herz – der Mann mußte sofort tot gewesen sein. Vina beugte sich über ihn und durchsuchte seine Taschen. Sie zog ein zusammengerolltes Pergament heraus, das sie interessiert öffnete.

„Sieh dir mal das an ...“, staunte sie.

Es handelte sich um einen Marschbefehl an eine Einheit in einer Stadt namens Tremlok.

 

*

 

„Alaaaaarm!“ gellte der Ruf eines Wachpostens in der Morgendämmerung. Im Nu pflanzte er sich fort, so daß binnen Kürze die ganze Stadt informiert war. Hastig sprangen Soldaten aus ihren Schlafräumen, griffen noch halb schlaftrunken nach ihren Waffen, um auf die Mauern zu eilen. Selbst in meinem Bett schlummernd bekam ich recht bald mit, daß sich etwas ereignet hatte. Alek stürmte in mein Schlafgemach, um mir mitzuteilen, daß die Amazonen angriffen. Das würde ich denen nie verzeihen, mich aus meinem teuren Schlaf geweckt zu haben. Eilig zog ich mich an um daraufhin nach draußen zum Tor zu rennen, von wo aus ich bereits erkannte, was uns bevorstand: zehn dunkle Holztürme, die mit Fellen bespannt waren, rollten langsam auf uns zu. Ferner mit etwas Abstand zwei Rammböcke, die beide ein Giebeldach besaßen. Zwischen den Gefährten wimmelte es von Kriegerinnen, von denen die meisten einen Bogen mit sich führten, mit dem sie beim Näherkommen auf uns anlegten. Auch meine Bogenschützen machten sich bereit, doch die Entfernung war noch zu groß.

„Noch nicht schießen!“ wies ein engagierter Truppenführer seine Männer an. „Laßt sie noch ein Stück herankommen ... erst auf mein Kommando ...“

Als schließlich der Feuerbefehl ertönte, prasselte ein Pfeilregen auf die Angreifer herab. Manche blieben liegen, etliche hatte der Schild vor Verletzungen bewahrt. Doch jetzt schossen auch die Amazonen. Mit einem merkwürdigen Schaben knallten die Pfeile auf Stein, Metall und Holz. Die ersten Ausfälle stellten sich ein.

„Haltet die Schilde schräg“, gellte eine Stimme durch das Chaos. Während die Amazonen anrückten, schossen beide Seiten fröhlich mit dem Bogen aufeinander, was aber mehr Verluste bei den Angreifern zur Folge hatte. Der Großteil unserer Bogenschützen wechselte nun von normalen Pfeilen zu Brandpfeilen, um die nun kaum mehr zu verfehlenden Türme in Brand zu schießen. Treffer reihte sich an Treffer, doch zu meiner großen Bestürzung fing kein einziger zu brennen an! Im Gegenteil – das Feuer der Brandpfeile schien sogar von der überzogenen Holzwand regelrecht gelöscht zu werden. Offenbar waren die Felle, die jede der Außenwände bedeckten, mit Wasser durchtränkt, so daß dadurch jegliche Feuereinwirkung nutzlos wurde. Immer größer wuchsen die Belagerungstürme in mein Blickfeld. Da sie mir langsam aber sicher zu nahe kamen, setzte ich mich von der Mauer ab, um auf einen rückwärtig gelegenen Lagerturm zu steigen, von wo aus ich dem weiteren Kampfverlauf zu folgen gedachte. Eben als ich oben auf dem Turm angekommen war, betrug die Entfernung zwischen den Belagerungstürmen und der Mauer lediglich noch dreißig Meter. Die ersten Speere flogen, von denen einige in den Außenwänden der Türme steckenblieben, ansonsten aber keinen Schaden anrichteten. Brennende Fackeln flogen hinterher, doch auch hier zeigte sich die Beschaffenheit der Außenwände als äußerst feuerfest. Lediglich ein Turm geriet in Brand. Die anderen hingegen wälzten unaufhaltsam auf unsere Mauern zu. Gleichzeitig erreichten die neun noch intakten die Höhe unseres Wehrgangs. Enterbrücken klappten herab, über die die ersten Kriegerinnen auf die Mauer übersetzten, wo sie von meinen Soldaten gebührend empfangen wurden. Eine der Amazonen fiel gerade von einem Speer durchbohrt in die Tiefe, während eine andere einem meiner Männer ein Schwert in den Unterleib stieß, was mir natürlich weitaus weniger gefiel. Mit ungeahnter Tatkraft drang der Feind auf uns ein, was durch die Ballung der Belagerungstürme auf einen recht kleinen Raum – gerade mal vier nebeneinander angrenzende Mauerabschnitte – für eine gewisse Brenzligkeit sorgte.

„Die Reserven sofort von den anderen Mauerabschnitten abziehen“, befahl ich. Durch die Verstärkung schien sich die Lage etwas zu unseren Gunsten zu wenden, doch mir wurde klar, daß sich nicht nur die Verluste des Feindes mehrten. Pausenlos surrten Pfeile durch die Luft, manche trafen ihr Ziel, manche nicht. Eisen krachte gegen Eisen, donnerte auf Holz, schnitt sich in weiches Fleisch. Die Mauern, auf denen gekämpft wurde, füllten sich mit Toten, was den noch immer Kämpfenden nicht gerade zugute kam, denen allmählich der freie Platz ausging. Blut begann die von Natur aus dunkelgrauen Steine zu färben. Im zweiten Mauerstück zu meiner rechten Hand drohte unsere Verteidigung zusammenzubrechen, denn einigen Gruppen Amazonen gelang es bereits, über eine Treppe in den Innenhof hinabzusteigen. Dort wurden sie sogleich von etlichen Decems der Hilfstruppen gestellt, doch auf der Mauer brach der Widerstand nun völlig zusammen. Im Dutzend enterten nachströmende Kriegerinnen die Mauer um den bis in den Hof vorgestoßenen zu Hilfe zu eilen.

„Erobert die Mauer zurück, schmeißt sie aus Demagon hinaus!“ brüllte ich, woraufhin ein Sekzent von links einen Gegenstoß unternahm, der jedoch liegen blieb und sich in Einzelgefechte aufsplittete.

„Riegelt den Einbruch ab. Alle Mann vorwärts!“ trieb ich nochmal eine Möglichkeit voran, der Schlacht eine entscheidende Wendung zu geben. Doch die kampferprobten Amazonen leisteten erbitterte Gegenwehr, was nach hartem Kampf schließlich zu einer Verbreiterung der Einbruchsschneise führte. Nun hielt der Feind bereits die zwei mittleren Mauerabschnitte in seiner Hand. Lediglich im Turm dazwischen befand sich noch eine Gruppe meiner Soldaten, die sich hauptsächlich mit Felsbrocken und Pech zur Wehr setzten. Doch ich vermochte mich nicht länger auf diesen einen Turm zu konzentrieren, wo sich die Gesamtsituation doch um vieles brisanter entwickelte. Nach dem massiven Einbruch in unsere Festung kämpfte der Gegner bereits in einer Linie gegen unsere in einer Art gedehntem Halbkreis kämpfende Soldaten. Wie würde sich wohl die Nachwelt zu dieser Schlacht äußern? Würde ich als Held von Demagon in die Geschichte unseres Volkes eingehen? Als derjenige, der den feindlichen Ansturm von wilden Kriegerinnen vor Demagon aufgehalten hatte? Oder eher als der Besiegte, der diesem Ansturm erlag? In diesen Augenblicken, in denen der Kampf hin und her wogte, schien beides möglich. Doch was sollte sich wirklich ereignen?

 

*

 

Nach dem Einbruch in Demagon formierten sich die Amazonen um, indem sie große Teile der Flanken entblößten, um alles zentral in der Mitte anzusetzen, also genau auf die Stelle des Einbruchs hin. Mittels der lokalen Übermacht gelang ein weiterer Raumgewinn, der auch einige Häuser beinhaltete. Auf der anderen Seite hatte diese Entblößung der beiden anderen Angriffsflächen (die äußeren beiden Mauerabschnitte) zur Folge, daß die dortigen Einheiten etwas Luft bekamen, die sie auch nutzten: ein forsch geführter Gegenangriff mit einem Millum auf der Höhe beider vom Feind besetzter Mauerabschnitte führte zur Umzingelung der nach Demagon vorgestoßenen Amazonen.

„Jetzt sacken wir diese Drecksweiber ein!“ freute ich mich. „Geh zur Seite, Alek, jetzt hält mich nichts mehr – ich werde die Vernichtung der eingekesselten Amazonen selbst kommandieren.“

Mit gezücktem Schwert verließ ich den Beobachtungsturm, um allein durch meine bloße Präsenz eine große Anzahl quartanischer Soldaten um mich zu scharen.

„Mir nach Männer! Der Feind sitzt in der Falle! Gebt kein Pardon. Jeder, der eine Gefangene macht, darf sie als Sklavin behalten!“

Mit Hurra-Geschrei stürzte wohl mindestens ein Quarzent hinter mir her. Von den Seiten drückten zudem nochmal jeweils ein Sekzent gegen das Innere des Kessels. Jetzt mußten sich die Männer auf der Mauer nur eine Weile halten können – den Rest würden wir hier schon erledigen. Es mochten rund 250 Amazonen von uns umzingelt worden sein, deren Chancen nicht besonders gut standen. Mit brachialer Gewalt drängten wir von drei Seiten auf sie ein. Es gelang uns, den Gegner zurückzuwerfen, so daß er mit dem Rücken zur Mauerwand kämpfte. Uns entkam keine einzige lebend, wofür wir aber auch einen hohen Blutzoll entrichten mußten. Dennoch beschrien wir jubelnd diesen Teilsieg.

„Auf die Mauern, Soldaten“, motivierte ich meine Leute. „Laßt sie uns schlachten wie die Hühner!“

 

*

 

„So kommen wir nicht durch“, stellte Königin Daria fest, nachdem eine Abteilung im Inneren von Demagon zuerst abgeschnitten und dann aufgerieben wurde. „Wir brauchen die Rammböcke – sofort.“

Leana, die sich auch im Kampf dicht neben ihrer Königin aufhielt, gab die notwendigen Kommandos. Da der Angriff mit den Belagerungstürmen nicht den erhofften Erfolg gebracht hatte, mußte man es also anders versuchen.

„Sobald das Tor offen steht, soll sich ein Viertel bereit machen, um dort einzudringen, die Hälfte schießt mit Pfeil und Bogen in die Stadt und das restliche Viertel versucht es weiterhin über die Belagerungstürme“, ordnete Daria an. Sie selbst gesellte sich unter die Gruppe, die über das Tor ins Innere kommen sollte. Dazu mußte es vorher natürlich noch aufgestoßen werden, worum sich die Rammböcke kümmern würden. Von zwei Dutzend Personen angeschoben knatterten die schweren Gefährte mit den beiden schrägen Dachflächen nur schwerfällig voran. Pfeile prallten wirkungslos an den Seiten ab oder blieben im dicken Holz stecken. Als der erste Rammbock direkt vor dem Tor angekommen war, schwenkte die Bedienung den langen, aufgehängten Baumstamm mit der massiven Eisenspitze mit aller Gewalt zurück, so daß er von selbst in die entgegengesetzte Richtung schlug, wobei er mit voller Wucht das Tor traf. Außer einem ächzenden Knarzen passierte jedoch vorerst nichts. Doch schon erschallte der nächste Stoß, der noch etwas dumpfer klang als der erste. Von den beiden Türmen neben dem Tor wurden Felsbrocken heruntergeworfen, die allerdings nicht die Energie besaßen um die Decke des Rammbocks zu durchschlagen. Durch die geneigte Deckenfläche ergab sich nämlich eine Art Ablenkungseffekt, der die Felsen beim Aufprall vom eigentlichen Ziel wegdirigierte, so daß die meisten Steine seitlich zu Boden fielen, ohne mehr als eine Delle zu hinterlassen. Erst als die Verteidiger mehrere Pechfässer auskippten, zeigte sich die Konstruktion des Rammbocks als verbesserungswürdig: durch einige Ritzen bzw. hineingebrannte kleinere Löcher träufelte das Pech ins Innere hinein. Doch noch blieb das Ding einsatzfähig. Unterdessen griff auch der zweite Rammbock aktiv ins Geschehen ein. Ein unregelmäßiges Wumm-Wumm ertönte, das von den Aufschlägen der beiden nebeneinander stehenden Rammböcken herrührte. Wieder wurde aus einem der Türme Pech herunter gekippt – diesmal mit Erfolg. Der linke Rammbock fing Feuer und schreiend rannten einige brennende Frauen aus dem Inneren hinaus, um sich auf dem Boden zu wälzen, was sie jedoch kaum davor bewahrte, bei lebendigem Leib geröstet zu werden. Das zweite Gefährt hielt dem heißen Pech stand und setzte seine Arbeit fort. Mit einem zerschmetternden Krachen splitterte das Holz des Stadttores. Weitere Rammschläge vergrößerten das Loch bis sich der Torflügel schließlich vollends aufstoßen ließ.

„Zum Angriff!“ zückte Daria ihr Schwert, um mit den bereitgestellten Kriegerinnen durch das Tor einzufallen. Eilends herbeilaufende Soldaten, die das Tor absichern wollten, wurden nach kurzem Ringen zurückgedrängt. Als sich der Torbogen komplett in der Hand der Amazonen befand, verlief der weitere Einfall dank zahlreich nachströmender Kriegerinnen leichter. Die weitere Stoßrichtung konzentrierte sich nun halbkreisförmig nach vorn, was zu heftigen Nahkämpfen führte, die sich bis in die Gassen der Stadt erstreckten. Die zurückweichenden Truppen des Feindes zogen sich teilweise in Häuser zurück, aus denen sie weiteren Widerstand leisteten. Kleinere Geplänkel um einzelne Gebäude entstanden, die sich immer mehr von der Mauer weg gen Küste verlagerten.

Nachdem das Tor verloren gegangen war, hatten sich nämlich die meisten der Soldaten in die Türme verkrochen oder in die Stadt zurückgezogen. Vor allem die beiden Türme beim Tor machten den immer noch in die Stadt eindringenden Kriegerinnen zu schaffen, dadurch daß sie Pech herunterkippten, Felsbrocken warfen oder per Speer oder Bogen intervenierten.

„Wir lassen die Türme einfach links liegen“, erklärte Daria ihre Taktik.

„Die befinden sich bereits im Rücken der Kampflinien und sind daher also nicht mehr besonders interessant. Zum weiteren Verlauf der Schlacht: wir wenden uns weiter dem Häuserkampf zu, um eine möglichst große Stadtfläche zu kontrollieren. Vermutlich wird sich der Feind auf der Höhe des Palastes wieder massiert zusammenfinden. Das sollte dann die letzte Hürde vor der Eroberung der Stadt werden. Ach ja – noch etwas: ich will König Jalek lebend!“

 

*

 

Nachdem meine Truppen, die soeben die eingekesselte Amazoneneinheit vernichtet hatten, auf die Mauern verteilt waren, machte sich eine Änderung in der Taktik des Gegners bemerkbar: er begann damit seine beiden Rammböcke gegen unser Haupttor einzusetzen, während andere Einheiten weiterhin über die Belagerungstürme attackierten. Dieses Vorgehen band starke Verbände, denn nun drohte uns in vielerlei Hinsicht Gefahr, denn das Ziel des Feindes konnte ich nicht klar erkennen. Setzten sie die Rammböcke nur ein, um uns im Glauben daran zu bestärken, daß sie nun über das Tor kommen wollten? Oder taten sie dies hauptsächlich als Ablenkungsmanöver, um vom eigentlichen Ziel, unsere Soldaten auf den Mauern nochmals zu überrennen, abzulenken?

Nun, vielleicht dachten die Amazonen gar nicht so weit. Eventuell probierten sie beides gleichzeitig aus in der Hoffnung, nun mit einem Weg durchzukommen. Trotz der verzweifelten Gegenwehr der Tortürme klaffte bald ein Loch im Tor. Das mißfiel mir natürlich ziemlich, denn dasselbige vergrößerte sich von Rammstoß zu Rammstoß bis der linke Flügel letztendlich wegklappte. Ein drei Meter breiter Durchgang nach Demagon stand dem Feind offen! Die hatten das auch schnell mitgekriegt und schon stürmten sie voran, dabei die wenigen Verteidiger, die das Tor sichern wollten, niederkämpfend. Weitere Verstärkungen zum arg bedrängten Eingang konnten ebenso wenig verhindern, daß dem Feind ein endgültiger Einbruch gelang.

„Rückzug!“ ordnete ich an. „Alle Mann bis in die Häuser der Stadt zurückziehen und von dort den Widerstand fortführen.“

Mittlerweile hatte ich erkannt, daß unsere bescheidenen Kräfte schlicht nicht mehr ausreichten, um die Amazonen außerhalb der Stadtmauern zu halten. Kein Wunder – mehr als die Hälfte meiner Soldaten lag tot oder kampfunfähig auf dem Boden. Vor den unverzüglich nachziehenden Kriegerinnen zogen wir uns mehrere hundert Schritte zurück, wo meine Männer die ersten Steinhäuser besetzten.

„Jedes Haus eine Festung!“ definierte ich die Parole. „Wer zurückweicht, der übt Verrat an seinen Kameraden.“

Um mehr Überblick über den Schlachtfortgang zu erhalten, kehrte ich mit Alek und Numa in den Palast zurück, von wo aus wir auf der Dachveranda über das Häusermeer blickten. In den Gassen auf der linken Flanke tobten wilde Kämpfe, die zwischen den Gebäuden verhielten. Vor uns zeigten sich auf Höhe des etwas weiter entfernten Theaters mehrere Amazonengruppen, die Richtung Palast vordrangen, vorher allerdings durch ungestüme Soldaten unserer Seite in Gefechte verwickelt wurden. Auf der rechten Flanke blieb bis auf kleinere Scharmützel alles recht ruhig. Man mußte kein guter Beobachter zu sein um zu erkennen, daß sich der Kampf allmählich auf uns zubewegte.

„Die Reserve soll sofort eingreifen“, befahl ich.

„Ähm, bei allem Respekt, Imperator“, wandte sich Alek entschuldigend an mich. „Wenn ich erinnern darf, daß wir keine Reserve gebildet haben ...“

Stimmt. Wir hatten ja alles auf eine Karte gesetzt. Nur leider zogen wir damals offensichtlich die Arschkarte.

„Dann sollen die Kriegsschiffe mit ihren Katapulten in die Stadt schießen!“

„Mein König, das würde auch unsere eigenen Leute gefährden“, bemerkte Numa.

„Wieso widersprecht ihr mir eigentlich jetzt beide?“ brauste ich auf. „Seht ihr denn nicht, daß wir unbedingt was tun müssen? Ich steh hier doch nicht in aller Seelenruhe um mit anzusehen, wie meine Hauptstadt erobert wird!“

Alek räusperte sich vernehmlich. „Mir scheint angesichts der Übermacht des Gegners werden wir wohl keinen Weg finden um Demagon zu halten. Aus diesem Grund schlage ich vor sofort in den Hafen zu fliehen, um mit den Kriegsschiffen auszulaufen. Wir könnten beispielsweise versuchen einen persischen Hafen anzusteuern um dort um Aufnahme zu bitten.“

„Dem muß ich zustimmen“, meinte auch Numa. „Wenn Ihr hierbleibt, mein König, dann fallt Ihr unvermeidlich in die Gefangenschaft des Feindes.“

Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann sah ich auch ein, daß der Kampf verloren war. Doch ich wollte einfach nicht wahrhaben, daß nun alles dem Ende entgegen ging. Lange Jahre als König von Quartan hatten mich im Glauben bestärkt, daß ich als der größte Imperator weit und breit galt und nun mußte ich mich einer verlausten Horde Weiber unterwerfen?

Aber so sehr ich auch daran zweifeln wollte – die Realität sah in der Tat anders aus. Was konnte ich jetzt noch tun? Hierbleiben, um bis zum letzten Atemzug zu kämpfen? Hierbleiben, um mich gefangen nehmen zu lassen? Mit den Schiffen fliehen, um vielleicht irgendwann später Rache zu üben? Es lohnte sich nicht für etwas zu kämpfen, wenn unsere Niederlage praktisch schon feststand. Außerdem würde mit meinem Tod alles zu Ende sein. Das behagte mir irgendwie nicht besonders. Die Gefangenschaft zog ich dem Tod allerdings ebenso wenig vor. Was hatte diese Königin Daria zu mir gesagt?

‚Du wirst mein persönlicher Sklave werden‘ oder dergleichen. Auf diese Form des Ausgeliefertseins konnte ich verzichten. Dann schon eher die Flucht per Schiff. Doch was machte das für einen Eindruck, wenn ein König aus seinem eigenen Reich flieht? Zudem hatte ich wohl mehr als 20.000 Soldaten auf dem Gewissen, die für mich gekämpft hatten. Auf der anderen Seite wollte ich nicht sterben und für mein Reich konnte ich am meisten tun, solange ich noch lebte. Ich würde nach Persien fahren, um von dort aus die Rückeroberung von Quartan zu leiten. In Gedanken malte ich mir bereits aus, was ich mit Königin Daria alles anstellen würde, sobald sie sich in meiner Gefangenschaft befand ...

„Mein König, es ist nicht mehr viel Zeit. Es erfordert nun eine Entscheidung.“

Numas unruhige Worte brachten mich zurück in die reale Welt in Demagon.

„Ja“ murmelte ich. „Ja ja, du hast Recht. Laß das Signal für den Rückzug zum Hafen geben. Die Soldaten sollen sich schleunigst einschiffen ...“

Mein Blick wanderte nochmal über meine Stadt, in der der Feind immer mehr Einfluß gewann. Da ich keine Anstalten machte, meinen Beratern zu den Schiffen zu folgen, wandte sich Alek an mich:

„Mein König – worauf wartet Ihr noch? Wir sollten eiligst zum Hafen gehen.“

„Ich bleibe hier“, erklärte ich. „Meine Amtszeit geht hier und heute zu Ende. Wenn es das Schicksal so bestimmt hat, dann werde ich mich notgedrungen fügen. Los, geht – ihr müßt euch in Sicherheit bringen!“

„Aber, Imperator ...“ - „Schweig! Ich befehle euch sofort zu fliehen.“

Irritiert sahen mich sowohl Alek als auch Numa nochmal an, kamen dann aber doch meiner Aufforderung nach. Zwei Soldaten meiner Leibwache wies ich an, meine Frau Talia zu den Schiffen zu eskortieren. Es würde besser sein, wenn sie gar nichts davon erfuhr, daß ich hierbleiben wollte. Die beiden Männer salutierten vor mir, um daraufhin den Befehl auszuführen. Jetzt stand ich ganz allein da vor den Resten meines Reiches. Die wenigen überlebenden Soldaten meiner Truppen hatten den Befehl zum Rückzug erhalten und begannen auf breiter Front zurückzuweichen. Die Amazonen witterten offenbar einen Hinterhalt, denn sie zögerten etwas mit dem Nachrücken. Trotzdem würden sie wohl bald herausfinden, daß diese Zurückhaltung unbegründet war. Ich verließ meinen Beobachtungsposten auf dem Palastdach um in den Thronsaal zu schreiten, wo ich mich auf meinen Thron setzte. Hier gedachte ich das Ende abzuwarten. Wenigstens hatten mehrere tausend meiner Soldaten fliehen können. Sie hatten tapfer gekämpft, ihr möglichstes gegeben.

Längere Zeit tat sich gar nichts. Ich überlegte, ob ich mir einen Kelch mit Gift zubereiten sollte – nur für alle Fälle – doch ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Zur Not konnte ich mich auch mit meinem Dolch töten. Aber Gift beschert einen süßeren Tod. Nun ja, eigentlich hatte ich sowieso nicht die Absicht mein Leben zu beenden, falls es sich irgendwie vermeiden ließ. Das würde von der Reaktion der Amazonen abhängen. Der Kampflärm drang inzwischen nicht mehr an mein Ohr. Entweder meinen Männern war die Flucht mit den Schiffen schon gelungen oder aber es handelte sich nur noch um kleinere Scharmützel in irgendwelchen Seitengassen, die zu weit vom Palast standen, als das man davon etwas hätte hören können. Die Stille in dem großen Saal lastete schwer auf mir. Wieso nur hatte ich mich entschieden hier zu bleiben? Jetzt verstand ich meine Entscheidung von vorhin nicht mehr. Wieso hatte ich nicht die Gelegenheit genutzt mich zu retten? Vermutlich, weil mir nichts an einem Leben lag, in dem ich nicht mehr König von Quartan war. Sollte ich etwa unterwürfig in Persien anklopfen, ob sie die Gnade hatten, ihren ehemaligen Nachbarn aufzunehmen? Das sah ich als unter meiner Würde an, obgleich der Begriff Würde in Notzeiten ein geflügeltes Wort ist. Dennoch vertrat ich die These „lieber in Ehre sterben als wie ein Hund leben.“

Folglich harrte ich weiter der Dinge, die da auf mich zukommen würden. Als sich die Tür zum Saal öffnete, schlichen vorsichtig vier Kriegerinnen herein. Die beiden vordersten trugen Schild und Speer, die beiden anderen hielten einen Bogen. Ausscherend näherten sich mir die Speerträgerinnen, indem sie mir ihre Lanzen entgegenstreckten, als sei ich bis an die Zähne bewaffnet. Die Bogenschützinnen zielten ebenso auf mich. Einen Moment befürchtete ich schon man würde mich einfach niedermachen, doch offensichtlich wußten sie Bescheid über meinen besonderen Status. An meinen luxuriösen Gewändern konnte man das aber schwer übersehen. Verhaltend blieben die vier Amazonen stehen. Gespannt beobachteten sie mich, doch ich gab mich passiv, beinahe unbeteiligt. Nach einer Weile traten weitere Frauen in den Raum. Eine erkannte ich als Daria wieder – die Königin der Amazonen. Sie kam in Begleitung einer schwarzhaarigen Frau, die sich dezent etwas in ihrem Schatten aufhielt, bis auf wenige Schritte vor meinen Thron heran.

„Es überrascht mich Euch hier anzutreffen“, sagte sie verwundert. „Wieso seid Ihr nicht mit dem Rest Euer Truppen geflohen?“

„Ich zittere nicht vor dem Augenblick der Entscheidung“, brummte ich. „Außerdem ist das hier meine Geburtsstadt. Hier wurde ich geboren und hier soll mein Leben auch enden. Ich werde Euch zeigen, wie ein König stirbt.“

„Ihr könnt Euch doch sicher noch an das erinnern, was ich Euch in Aussicht gestellt habe?“

Natürlich konnte ich das. Doch irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, daß sie das ernst gemeint hatte. Wenn sie mich zu ihrem persönlichen Sklaven machen wollte, mußte sie doch jederzeit damit rechnen, daß ich versuchen würde, sie zu töten. Allein schon, weil sie mir einen gewissen Haß auf sie unterstellen mußte, weil ich wegen ihr mein Reich und meine Macht darüber verloren hatte. Diesem Risiko konnte sie sich gar nicht aussetzen. Es kamen im Prinzip nur zwei Möglichkeiten in Frage:

1. sie ließ mich hinrichten als krönende Abschlußdemonstration des Sieges oder

2. sie ließ mich frei, was ich mir aber nicht vorstellen konnte.

Das hätte ich an ihrer Stelle nämlich nie getan. Zu meiner Überraschung reagierte sie völlig anders:

„Einem Sklaven wird die Ehre nicht zuteil solch kostbare Gewänder zu tragen. Zwei meiner Kriegerinnen werden Euch nach nebenan begleiten, wo sie Euch beim Entkleiden behilflich sein werden. Dort erhaltet Ihr auch gleich Eure neuen Arbeitsklamotten."

„Ich muß energisch protestieren!“ begehrte ich auf. „Ich bin König und lasse mich nicht wie einen Bauern behandeln.“

Daria schaute mich ganz streng an. „Wenn Ihr Euch widersetzt, dann müssen meine Kriegerinnen Gewalt anwenden – das muß doch nicht sein, oder?“

Notgedrungen fügte ich mich einstweilen in mein Schicksal. Zwei mit Speeren bewaffnete Amazonen nahmen mich in die Mitte, um mich in den Nebenraum zu eskortieren, wo sie mir eine braune, einfache Stoffhose und ein ebensolches Stoffhemd brachten, das ich unter starkem Widerwillen anzog. In diesem Aufzug mußte ich doch total lächerlich aussehen.

Diese Demütigung sollte meine „Herrin“ noch bitter bereuen! Vorerst jedoch beschloß ich, mich in meine neue Rolle zu fügen. Wenngleich ich auch nicht vorhatte mein restliches Leben so zu verbringen. Sobald sich eine gute Gelegenheit ergab, würde ich alles daran setzen, mich an Daria zu rächen und die Amazonen ein für allemal auszulöschen. Sie sollten im Staub vor mir liegen.

 

*

 

Die ersten Tage nach der Eroberung Demagons und meiner Absetzung waren für mich natürlich besonders schlimm. Nicht genug, daß sich die Amazonen in meiner Hauptstadt aufhielten und Daria auf meinem Thron saß. Nein, sie ließ keine Gelegenheit aus um mich zu schikanieren. Schon meine Zimmerzuteilung erschien mir meiner völlig unwürdig. Ein kleiner Dienstbotenraum mit einer schäbigen Strohmatratze auf einer hölzernen Pritsche stellte mein Bett dar. Hinzu kamen die bedrängende Enge, die schlechte Verpflegung und zwei Wächterinnen vor meiner Tür. Ohne Erlaubnis durfte ich nicht mal aufs Klo gehen geschweige denn ein Stück den Gang entlang spazieren. Ferner mutete man mir völlig unangemessene Arbeiten zu wie Darias Schlafgemach säubern, früh morgens ihre Füße waschen, sie massieren, wann immer sie wollte und dergleichen mehr. Darias tagesabhängige Launen sorgten auch nicht dafür, daß ich mich recht viel wohler fühlte. Mal ließ sie mich ihre Füße küssen unter vorgehaltener Androhung von Strafen, falls es nicht demutsvoll genug war, mal durfte ich sogar mit ihr an einer Tafel speisen. Nicht den Fraß, den ich sonst immer in meiner Schlafkammer bekam, sondern erlesene Gerichte, die ich als König jeden Tag genossen hatte.

Als ich einmal laut der Ansicht meiner „Herrin“ ihr Zimmer nicht ordentlich genug gesäubert hatte, ließ sie mich im Thronsaal auspeitschen, bis ich ohnmächtig wurde. An diesem Tag reifte in mir die Entscheidung sie zu töten. In Gedanken malte ich mir mehrmals täglich aus, wie ich ihr den Gar ausmachte. Eine Weile befriedigte mich diese Vorstellung durchaus, doch meine Motivation es auch in die Tat umzusetzen wuchs von Tag zu Tag. Wenn man jeden Morgen all die Provokationen mitansehen mußte, steigerte das den Haß nahezu bis ins Unendliche. Das schlimmste von allem bedeutete für mich jedoch die Unfreiheit das zu tun, was ich wollte. Zusammen mit der gewohnten Umgebung meines Palastes, die mir ständig alte Erinnerungen aufzeigte, als ich noch König von Quartan war, brachte mich das in eine Situation, in der ich zu allem bereit schien.

Ein Mensch konnte solch einen Zustand einfach nicht längere Zeit ertragen – dessen wurde ich mir in diesen Wochen sicher. Mein Instinkt lechzte nach einem Ventil, durch das all die angesammelte Energie entweichen konnte. Ein solches zeigte sich mir wenige Wochen, nachdem mich Daria hatte auspeitschen lassen. Die Wunden der Peitschenhiebe waren inzwischen verheilt – außer von ein paar kleineren Narben erinnerte nichts mehr an das Erlebte. Vergessen hatte ich den Vorfall allerdings nicht. Er hatte sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Wie gesagt suchte mich eines Abends eine Kriegerin auf, die mir ausrichtete, ich solle sofort zur Königin kommen. Eigentlich hatte ich zeitlich betrachtet schon frei, d.h. Daria hatte mir in ihrer manchmal durchaus vorhandenen Güte gestattet, mich ab einer gewissen Abendstunde in meine Kammer zurückzuziehen. Dennoch verwunderte es mich nicht, daß sie auch mal eine Ausnahme von der Regel machte. Ich wagte erst gar nicht mich dagegen aufzulehnen, sondern kam ihrer Aufforderung sogleich nach, indem ich ihr Quartier ansteuerte. Auf einer Tafel standen diverse unberührte Speisen, die mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen.

Daria forderte mich in versöhnlichem Ton auf mich zu setzen.

„Laß es dir schmecken.“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich mampfte soviel in mich hinein, wie mein Hunger reichte. Erst jetzt fiel mir auf, daß ein Detail zu den sonstigen Abendtafeln – an denen ich manchmal teilnehmen durfte – anders war: außer Daria und mir saß niemand sonst am Tisch. Was hatte das zu bedeuten? Etwas unruhig sah ich mich um, doch mir fiel nichts verdächtiges auf. Die Königin der Amazonen schien meine unsicheren Blicke richtig gedeutet zu haben, denn sie meinte erklärend:

„Es ist niemand hier außer uns beiden. Ich dachte, es wäre mal ganz verlockend, wenn wir allein sind. Nur wir zwei ...“

Oh weh – mir schwante übles. Da ich keine Regung zeigte, fügte sie lächelnd hinzu:

„Ich werde ab sofort regelmäßig deine Qualitäten als Liebesdiener in Anspruch nehmen. Wenn ich mit dir zufrieden bin, dann wird das nicht dein Schaden sein. Falls ich es aber nicht sein sollte, wird dir das weniger gefallen.“

Offenbar gefielen ihr meine ‚Qualitäten‘, denn seit diesem Abend lockerte sie meine Behandlung weitestgehend und gestattete mir beispielsweise mich frei im Palast zu bewegen oder stets mit ihr zu Abend zu essen. Falls auch andere Personen teilnahmen, was häufig der Fall war, durfte ich solange bleiben, bis alle wieder gegangen waren. Danach pflegte sie immer die Tür abzusperren, damit uns niemand störte, um von mir ungewöhnliche Dinge zu verlangen, die mir teilweise nicht wirklich Spaß bereiteten. Doch Daria schien sich köstlich zu amüsieren. Das Ganze lief über einen Mond lang auf diese Art, bis ich den wiederkehrenden Rhythmus schon rückwärts herunterbeten konnte. Ein Plan reifte in meinem Verstand, den ich an einem lauen Sommertag zu verwirklichen dachte. Wie gewohnt speiste ich mit Daria und noch einigen anderen Personen zu Abend. Die Gespräche beachtete ich gar nicht, weil meine Gedanken primär um die Ausführung meines Plans kreisten. Während dem Essen hatte ich mir ungesehen einen Zierdolch eingesteckt, den ich nun unter meiner Kutte versteckte. Zwar besaß er eine stumpfe Klinge, aber mit entsprechender Gewalt zugestoßen würde es ausreichen, um jemanden damit zu ermorden.

Nachdem alle bis auf Daria und mir gegangen waren, spielte sich dasselbe Ritual ab wie jeden Abend: sie ging zur Tür, sperrte ab, um daraufhin auf mich zuzugehen. Wie immer entkleidete sie zuerst mich, dann sich selbst. Dabei hatte ich verkrampft darauf geachtet, daß sie den Dolch nicht entdeckte, indem ich ihn rechtzeitig unter das Kopfkissen des Bettes verschwinden ließ.

„Komm schon“, drückte mich Daria auf das Bett herunter. In der Nähe meines Kopfes spürte ich unter dem Kissen den harten Griff des Dolches. Etwas mulmig war mir schon zumute. Klar, sie war meine Feindin, hatte mich regelmäßig gedemütigt und mich wie Dreck behandelt. Es hatte nur den einen Sinn gegeben, der mich am Leben gehalten hatte: Rache! Auf der anderen Seite aber hatte sie sich mir gegenüber manchmal auch sehr gut verhalten. Trotzdem überwogen die aggressiven Haßgefühle. Diese bedingten auch das Greifen mit meiner Hand nach dem Griff des Dolches. Daria legte sich nun auf mich, um mir über die Lippen zu schlecken, was ihr besonders gut gefiel. Ihre Augen taxierten mich als könne sie meine Gedanken lesen. Offensichtlich konnte sie es nicht, denn ich überlegte in diesem Moment, wie ich sie töten sollte. Ein Stich in den Hals oder lieber doch ins Herz? Verdammt – wieso zögerte ich denn so lange? Wenn ich jetzt nicht handelte, dann würde es zu spät sein! Doch ich brachte es nicht übers Herz sie einfach hinterrücks zu ermorden. Mit einem Mal begriff ich, daß ich sie brauchte. daß ich mit ihr auch einen Teil von mir töten würde. Ich schonte die Frau, der ich den Untergang meines Reiches zu verdanken hatte, die mich vom Thron gestürzt und mich zu ihrem Sklaven gemacht hatte. Unter ihr lag ich ja bereits, doch nun war ich auch bereit mich ihr vollends zu unterwerfen. Möge sie über meinen Körper, über mein Leben und meine Zukunft verfügen. Es machte mir nichts aus – Hauptsache sie zeigte mir jeden Tag, daß ich noch am Leben war.

 

ENDE

Imprint

Images: Mit freundlicher Genehmigung von Dashinvaine => http://dashinvaine.deviantart.com/art/Thalestris-193530617
Publication Date: 06-09-2013

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